Author notes: Bevor ihr euch die Geschichte zu Gemüte führt, solltet ihr einen Blick in die Anmerkungen werfen, wo einige Dinge im Vorhinein erklärt werden (Altersänderungen und dergleichen).
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Schicksalsjahre eines Hobbits
Kapitel 1: Reisepläne
Frühling 1380 AZ:
Frodo Beutlin lehnte am Stamm der großen Eiche, einem mächtigen Baum auf dem höchsten Punkt eines Hügels westlich hinter dem Brandyschloss, und kaute an einem Grashalm. Mit geschlossenen Augen genoss er die letzten warmen Strahlen der untergehenden Sonne. Er war froh, dass der lange Winter nun endlich vorüber war. "Ich liebe den Frühling!" Frodo blinzelte, als er die Worte vernahm. Meriadoc Brandybock, der von allen nur Merry genannt wurde, sein drei Jahre jüngerer Vetter, nahm einen tiefen Zug der frischen Frühlingsluft. Seine hellbraunen Locken schimmerten rot im Licht der untergehenden Sonne, als er sich neben Frodo zu Boden fallen ließ. Dieser ließ sich davon nicht stören, schloss erneut die Augen und bemerkte somit nicht, wie Merry ihn lange und eingehend betrachtete. Ein schelmisches Grinsen trat auf das Gesicht des jüngeren Hobbits und schließlich schlich er sich näher an seinen Vetter heran, streckte vorsichtig die Hand aus und kitzelte den ahnungslosen Hobbit am Bauch. Erschrocken und mit einem Schrei fuhr Frodo auf und stürzte sich sogleich auf seinen Vetter, der überrascht auf den Rücken fiel. "Ich wusste, dass dich das wieder aufweckt! Das tut es immer!" lachte Merry siegreich, schob Frodo von sich weg und stand auf, um sich das Gras von der Hose zu klopfen. "Wir werden zum Abendessen erwartet", sagte er schließlich beiläufig. "Es gibt Pilze." Frodo strahlte von einem Ohr zum anderen, sprang sogleich auf die Beine und streckte sich. "Wer zuerst zu Hause ist, darf sich auch zuerst die Pilze schöpfen!" rief er dann und rannte den Hügel hinab. "Das ist ungerecht!" protestierte Merry lauthals und eilte seinem Vetter hinterher, entschlossen, ihn einzuholen. "Frodo!" Vollkommen außer Atem erreichten sie schließlich die Haupteingangstür des Brandyschlosses, wo sich Frodo eine kurze Rast gönnte und triumphierend grinste, während Merry zu ihm aufschloss. "Das war nicht gerecht", brachte der junge Hobbit keuchend hervor und warf seinem Vetter einen strafenden Blick zu. Dann hellte sich seine Miene jedoch auf und ein verschmitztes Grinsen bemächtigte sich seines Gesichts. "Ich werde die ersten Pilze bekommen!" Mit diesen Worten stieß er Frodo von der Tür weg, stürmte hinein und eilte schnurstracks durch die vielen Gänge des Brandyschlosses. "Langsam, langsam!" Esmeralda fing ihren Sohn an der Tür zum Esszimmer auf. Frodo, der Merry auf den Schritt gefolgt war, hätte sie beinahe umgerannt. "Hallo", sagte er knapp und ging zum Tisch, während er es Merry überließ, seine Mutter zu beruhigen. An seinem Platz angekommen, schenkte Frodo seiner Mutter, Primula Beutlin, ein kurzes Lächeln und ließ seinen Blick dann suchend über den Tisch wandern. Es waren schon beinahe alle versammelt und es gab viel Gelächter und laute Gespräche, doch von den Pilzen fehlte jede Spur. Merry setzte sich schließlich neben ihn und warf ihm einen herausfordernden Blick zu, den Frodo erwiderte.
Primula Beutlin kannte ihren Sohn gut, besser, als es dem jungen Hobbit beizeiten lieb war. Sie wusste, wie gierig er werden konnte, wenn Pilze auf dem Tisch standen und würde auch dieses Mal wieder dafür sorgen müssen, dass er sich anständig benahm. Für einen Hobbit von seiner Herkunft geziemte es sich nicht, gierig zu essen. Zwar war er noch ein Kind von gerade einmal elf Sommern, doch Primula war sehr bedacht um die Zukunft ihres Sohnes und je früher sie ihn ein anständiges Verhalten lehrte, desto leichter würde es für Frodo werden, dieses in späteren Jahren umzusetzen, dabei war sie sich mit ihrem Gatten, Drogo Beutlin, einig. Sie bemerkte die Blicke, die zwischen Frodo und Merry hin und her gingen, sagte jedoch nichts. Stattdessen warf sie ihrem Sohn einen wissenden Blick zu, woraufhin der junge Hobbit den Kopf senkte. Primula lächelte. Sie hatte ihren Sohn gut erzogen, musste ihn nur ab und an daran erinnern.
An Frodos gesenktem Kopf erkannte Merry, dass sein Vetter durchschaut und ihr Spiel vorüber war. Sie würden wohl doch warten müssen, bis ihnen die Pilze auf den Teller gegeben wurden, anstatt selbst Hand anzulegen.
Gorbadoc Brandybock, einstiger Herr von Bockland, der sein Amt erst vor wenigen Jahren an seinen Enkel Saradoc weiter gereicht hatte, lachte auf, als er die schuldbewussten Gesichter der beiden Jungen sah. Er hatte die Ehre am Kopfende gegenüber dem Herrn von Bockland zu sitzen und daran würde sich auch bis zu seinem Tod nichts ändern. "Ihr seid mir vielleicht zwei Halunken! Nur Dummheiten im Kopf! Es steht euch förmlich ins Gesicht geschrieben, dass ihr es auf die Pilze abgesehen habt, aber keine Sorge, ich denke, es sind genug für alle da." Er zwinkerte den Hobbits zu und lächelte amüsiert.
Frodo konnte diesem Lächeln nichts abgewinnen, blickte stattdessen verlegen in die andere Richtung, wo er in das zufriedene Gesicht seiner Mutter blickte. Erkennend, wie leicht er zu durchschauen war, seufzte er leise, als ihn plötzlich der Duft von frischen Pilzen in der Nase kitzelte. Merry stieß ihn in die Rippen, ließ ihn seine Aufmerksamkeit auf Dienstmädchen richten, die große Töpfe mit Pilzen herein trugen. Mit leuchtenden Augen verfolgten die jungen Hobbits, wie die Schüsseln auf den Tisch gestellt wurden und sogen genüsslich den Duft der Köstlichkeiten in sich auf, während sie darauf warteten, eine große Portion geschöpft zu bekommen. Bald darauf war es still, wie es bei den Essenszeiten meist der Fall war. Kaum einer der mehreren hundert Bewohner des Brandyschlosses wollte sich durch Gespräche vom Essen abhalten lassen.
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Einige Zeit später war Frodo in seinem Zimmer im östlichen Bereich des Brandyschlosses, den er mit seinen Eltern bewohnte, und zog sich um. Im blassen Mondlicht, das durch das Fenster schien und im schwachen Schein einer Kerze kämpfte er mit den Manschetten seines Hemdes, als es plötzlich an der Tür klopfte. Merry stand im Zimmer noch ehe Frodo ihn hatte herein bitten können. Das Grinsen in seinem Gesicht reichte von einem Ohr zum anderen. "Rate mal, was ich gerade erfahren habe!" "Was?", fragte Frodo neugierig und ließ sich von Merrys Grinsen anstecken. Wenn sein Vetter so aufgedreht war, konnte es sich nur um eine gute Nachricht handeln. "Rate!" forderte der junge Hobbit. Frodo wurde ganz kribbelig. Er mochte es überhaupt nicht, wenn Merry ihn zu solchen Ratespielen zwang, wo dieser doch genau wusste, dass er sehr neugierig war und es nie abwarten konnte, Neuigkeiten zu erfahren. Noch dazu hatte er nicht die geringste Ahnung, was seinen Vetter so glücklich stimmen könnte. Er musste allerdings nicht lange raten, denn noch ehe er seinen ersten Vorschlag verlauten konnte, sprudelten die Neuigkeiten aus dem Jüngeren hervor. "Wir werden zu Bilbo gehen! Morgen. Du und deine Eltern werdet ihn besuchen und ich darf euch begleiten!" Merry drehte sich aus lauter Übermut einmal um sich selbst. Frodos Augen leuchteten vor Freude. "Wir werden zu Bilbo gehen?", frage er ungläubig. "Ja!" rief Merry beschwingt, packte Frodo bei den Händen und sprang mit ihm im ganzen Zimmer auf und ab. Als Primula den Raum betrat, lächelte sie ob der beiden auf dem Bett hüpfenden Hobbits. "Wie ich sehe, habt ihr die gute Nachricht bereits erfahren." "Wie lange?", fragte Frodo aufgeregt und war mit einem Satz von seinem Bett gesprungen, wohl wissend, dass seine Mutter es nicht gerne sah, wenn er darauf herumhüpfte. Primula nickte zufrieden und ging an den Schrank, wo sie nach einigen Hosen und Hemden suchte, die sie für die Reise einpacken wollte. "Bilbo hat uns für eine Woche zu sich eingeladen", tat Primula kund, beinahe so, als wäre dies nichts Besonderes, doch konnte sie sich das Lächeln dabei kaum verkneifen. "Eine ganze Woche?" Frodo konnte sein Glück kaum fassen. Er liebte es, seinen Onkel zu besuchen. Eigentlich war Bilbo sein Vetter, doch das machte ihm wenig aus. Für ihn war Bilbo schon immer mehr ein Onkel gewesen. Der alte Hobbit lebte im Westviertel, mehr als einen Tagesritt vom Brandyschloss entfernt und reiste deshalb nur selten nach Bockland, um Frodo und seine Familie zu besuchen. Frodo war dies nur Recht, war er schließlich viel lieber bei Bilbo zu Besuch in Beutelsend. Bilbo hatte diese große Höhle ganz für sich allein und Frodo genoss die Ruhe dort. Das Brandyschloss war zwar um einiges größer, doch hatte es auch einige Bewohner mehr. Und manchmal schien es Frodo zu überfüllt, obwohl er sich auch hier sehr wohl fühlte.
Merry sprang schließlich auch vom Bett und Primula nahm ihn sogleich bei der Hand, nachdem sie die Kleider vorübergehend auf dem Schreibtisch platziert hatte. "Es ist Zeit für dich zu Bett zu gehen", meinte sie und scheuchte den jungen Hobbit aus dem Zimmer, ehe sie ihrem Sohn einen kurzen Blick zuwarf. "Und für dich auch, mein Kleiner!" "Bis morgen!" rief Merry seinem Vetter noch zu, bevor er in sein eigenes Zimmer im mittleren Bereich des Brandyschlosses davon eilte. Frodo winkte dem jungen Hobbit lächelnd hinterher. Seine Augen leuchteten im Kerzenlicht und seine Wangen waren aus lauter Aufregung gerötet. Noch immer lächelnd ließ er sich schließlich auf sein Bett fallen, schaffte es endlich seine Manschetten aufzuknöpfen und schlüpfte schließlich in sein Nachtgewand. Mit strahlenden Augen dachte er an Bilbo. Wie sehr es ihn doch freute, den alten Hobbit bald wieder zu sehen. Er fragte sich, ob er auch Sam wieder treffen würde. Sam war der jüngste Sohn von Bilbos Gärtner Hamfast Gamdschie und nur um etwas mehr als ein Jahr jünger als er selbst. Er war ein guter Freund, doch leider konnte Frodo ihn nur treffen, wenn er in Hobbingen, also bei Bilbo zu Besuch war.
Gähnend ging er schließlich in das Zimmer seiner Eltern, das dem seinen gegenüber lag. Es waren die einzigen Zimmer im östlichen Gang und während sein eigenes klein und behaglich war mit einem kleinen Fenster, war jenes seiner Eltern groß und geräumig und besaß einen eigenen Kamin. Ein warmer Feuerschein hieß ihn willkommen, als er eintrat und der Geruch von Pfeifenkraut kroch ihm sofort in die Nase. Drogo Beutlin saß in einem Sessel vor dem Kamin, paffte verträumt an seiner Pfeife und lächelte über etwas, das Primula gesagt haben musste. Frodos Mutter saß in einem Sessel neben Drogo und besserte ein Loch in einer von Frodos Hosen aus. Ihre hellbraunen Locken schimmerten golden im Licht des Feuers und ihre blaugrünen Augen sprachen von Zufriedenheit und Glück. Als sie ihren Sohn erkannte, legte sie Nadel und Faden beiseite und winkte ihn zu sich. Lächelnd setzte sich Frodo auf die breite Armlehne ihres Sessels, umarmte seine Mutter und kuschelte sich an sie, wie er es jeden Abend tat. "Freust du dich auf Morgen?" Drogo Beutlin sah lächelnd zu seinem Sohn. Er war ein stolzer Hobbit und liebte seine Familie über alles, ganz gleich wie viel getuschelt worden war, als er vor vielen Jahren Primula zur Frau genommen hatte. Die Hobbits aus dem Westviertel waren jenen im Bockland nicht immer gut gesonnen und die Heirat eines Beutlins und einer Brandybock hatte für viel Aufregung gesorgt. Nichtsdestotrotz hatte Drogo seine Heirat und den Umzug in das Brandyschloss, den diese mit sich gebracht hatte, niemals bereut. Mit jedem Tag schien er Primula mehr zu lieben und Frodo gehörte sein ganzer Stolz. Nichts machte ihn glücklicher, als seinen Sohn wichtige und weniger wichtige Dinge zu lehren und seine Zeit mit ihm zu verbringen. Frodo war ein tüchtiger und sehr gelehriger Junge und Drogo hätte zufriedener nicht sein können. "Sehr", murmelte Frodo, schon fast eingeschlafen. "Du wirst früh aufstehen müssen. Es wird eine lange Reise", ließ Drogo ihn wissen. Frodo nickte nur schwach. Drogo lächelte kopfschüttelnd und strich seinem Sohn durch die Haare. "Komm, ich bringe dich ins Bett", sagte Primula schließlich, nahm Frodo bei der Hand und führte ihn zurück in sein Zimmer. Drogo sah ihnen hinterher und steckte sich die Pfeife zwischen die Lippen. Es würde noch einiges zu tun geben, bevor sie aufbrechen konnten.
Müde kroch Frodo in sein Bett und kuschelte sich in sein Kissen. Im schwachen Licht der Kerze schienen nicht nur seine Augen zu leuchten, sondern sein ganzes Gesicht erstrahlte in hellem Glanz. "Ich freue mich auf Bilbo. Ich kann es kaum erwarten, wieder eine seiner Geschichten zu hören", flüsterte er und seine blauen Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an. "Elben, Mama, ich würde sie zu gerne einmal selbst sehen." "Das wirst du bestimmt, Frodo, eines Tages", versicherte sie leise und deckte ihn ordentlich zu, ehe sie einen zärtlichen Kuss auf seine Stirn hauchte. Frodo kicherte, als ihre Haare ihn am Hals kitzelten. "Schlaf jetzt. Morgen wird ein anstrengender Tag werden." Frodo nickte schwach, nuschelte ein leises "Gute Nacht!" und schloss die Augen. "Gute Nacht, mein Kleiner", flüsterte sie sanft, bevor sie an das Fußende des Bettes trat und den Schrank nach einem Rucksack durchsuchte, in den sie die Kleidungsstücke einzupacken gedachte. Ihr früher Aufbruch verlange, dass sie noch heute alles zusammenpackte, auf dass es am Morgen nur mehr auf den Ponywagen geladen werden musste. Als sie die bereitgelegten Hosen und Hemden schließlich eingeräumt hatte, ging sie noch einmal zu ihrem Sohn, der inzwischen eingeschlafen war, und setzte sich neben ihm auf die Bettkante. Liebevoll betrachtete sie das zufriedene Gesicht des Kindes, wobei sie ihm zärtlich eine Strähne seines dunklen Haares aus der Stirn strich. "Du hast selbst etwas elbisches an dir, mein Sohn", wisperte sie und ihre Augen schienen nicht nur ihren Sprössling wahrzunehmen, sondern alle Stärken, Schwächen, guten und schlechten Eigenschaften, die in ihm verborgen lagen. "Ich habe es zwar nie gesehen, das schöne Volk, doch du hast ohne Zweifel etwas elbenhaftes an dir. Ein Leuchten geht von dir aus, das die Herzen aller berührt, die sich die Zeit nehmen, dich kennen zu lernen. Ich habe es selbst beobachtet. Große Dinge stehen dir noch bevor und ich bin sicher, irgendwann wirst du den Elben begegnen." Lange blieb Primula bei ihm sitzen, betrachtete das zufriedene Gesicht ihres schlafenden Sohnes. Dann strich sie ihm ein letztes Mal über die Wange und küsste seine Stirn, ehe sie die Kerze auspustete, leise das Zimmer verließ und die Türe hinter sich schloss.
Kapitel 2: Ein langer Weg
„Aufstehen! Ein langer Weg steht uns bevor.“ Frodo blinzelte verschlafen, als er die Stimme seines Vaters vernahm. Kaum ein Sonnenstrahl drang durch das kleine Fenster über seinem Bett herein und Frodo folgerte daraus, dass es noch sehr früh sein musste. Zu früh, um sich aufwecken zu lassen. Mit geschlossenen Augen tastete er nach seiner Decke, zog sie sich über den Kopf und hing seinen Träumen nach. „Ich dachte, du freust dich auf den Besuch bei Bilbo“, stellte Drogo verwundert fest, doch ein Lächeln zierte sein Gesicht, denn er wusste, dass er seinen Sohn so unter den weichen Daunen hervor locken konnte. Bilbo! Frodo hatte ganz vergessen, dass sie ihn besuchen wollten. Blitzschnell warf er seine Decke zurück. Seine Müdigkeit schien mit einem Mal verflogen, auch wenn er herzhaft gähnte, als er rasch aus seinem Nachtgewand schlüpfte, sich das Hemd überzog und in seine Hosen stolperte. „Von mir aus kann es sofort los gehen“, rief er vergnügt, während er sich noch die Hosenträger zurechtzupfte. Ein breites Grinsen zierte sein Gesicht, während er seinem Vater in einer flüchtigen Umarmung um den Hals fiel. Drogo kam nicht einmal dazu, die Zärtlichkeit zu erwidern, so schnell hatte Frodo sich wieder daraus gelöst und war aus dem Zimmer geeilt. Verdutzt blickte er seinem Sohn hinterher. Hätte er gewusst, wie rasch der junge Hobbit aus dem Bett zu bekommen war, hätte er schon viel früher daran gedacht, ihn mit kleinen Versprechungen zu locken.
Wie der Wind huschte Frodo durch die spärlich beleuchteten Gänge in den mittleren Teil der großen Hobbithöhle, in der so früh am Morgen kaum Geschäftigkeit herrschte und trat schließlich durch die Haupteingangstür nach draußen, um die ersten Sonnenstrahlen zu begrüßen. Ein kühler Morgenwind hieß ihn willkommen und verfing sich in seinen ohnehin schon zerzausten Locken. Dem jungen Hobbit lief ein leichter Schauer über den Rücken, doch hielt ihn das nicht davon ab, den schmalen Pfad zur Hauptstraße hinunter zu laufen, wo er bereits von Merry erwartet wurde. „Na endlich, ich dachte schon, man würde dich überhaupt nicht aus dem Bett bekommen!“ tadelte der jüngere Hobbit, als er von der bereitstehenden Kutsche sprang und seinem Vetter entgegen kam. „Meinetwegen kann es sofort los gehen“, ließ Frodo ihn wissen.
Er schenkte seinem Vetter nur einen kurzen Blick, trat dann aber an das braun-weiß gescheckte Pony heran, das vor den Wagen gespannt war und sie nach Hobbingen begleiten sollte. Zärtlich strich Frodo ihm über die Nüstern und wisperte leise Worte des Grußes, woraufhin Merry beleidigt die Arme vor der Brust verschränkte. „Du begrüßt das Pony, hast aber keine netten Worte für deinen Vetter übrig.“ „Das Pony war heute auch noch nicht frech zu mir, im Gegensatz zu dir“, entgegnete Frodo trocken und schielte verstohlen zu seinem Vetter, der sich in gespieltem Trotz von ihm abwandte nur um kurz darauf leise in sich hineinzukichern.
Primula, die dabei war die letzten Dinge im Wagen zu verstauen, beobachtete das Schauspiel und lächelte kopfschüttelnd ob dem nüchternen Tonfall ihres Sohnes. Die beiden jungen Hobbits liebten es, sich gegenseitig ein wenig aufzuziehen. Dass solche Spielereien auch in Streit ausarten konnten, hatte sie bei ihnen nicht zu befürchten, dazu verband sie eine zu enge Freundschaft. Selbst wenn Frodo und Merry Meinungsverschiedenheiten haben sollte, was durchaus vorkam, hatten sie sich bald darauf wieder versöhnt, unfähig, lange ohne den anderen auszukommen. Nachdem das letzte Gepäcksstück verstaut war, richtete Primula ihren Blick zum Himmel. Morgenröte erstrahlte hinter den Bäumen des Alten Waldes weit ihm Osten. Ein leichter, frischer Wind wehte über die Wiesen vor dem Brandyschloss und ließ die Grashalme erzittern. Es versprach ein angenehmer Tag zu werden.
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Drogo überprüfte noch einmal das Geschirr des Ponys, als ein Wiehern an sein Ohr drang. Überrascht hob er den Kopf und erblickte einen Ponywagen, der aus Bockenburg auf das Brandyschloss zugerattert kam. Frodo, der an einem kurzen Besuch im Badezimmer nicht vorüber gekommen war und nun in einen Umhang gewickelt neben seinem Vater stand, hörte das Wiehern ebenfalls und blickte neugierig auf den daher fahrenden Ponywagen. Er fragte sich, wer zu solch früher Stunde schon unterwegs sein konnte, als er plötzlich eine wohlbekannte Stimme vernahm und dem Wagen jubelnd entgegen sprang.
Peregrin Tuk, von allen nur Pippin genannt, saß auf dem Kutschbock und winkte seinem Vetter aufgeregt zu. Frodo hatte den fast fünf Jahre jüngeren Hobbit schon lange nicht mehr gesehen und nicht damit gerechnet, ihn ausgerechnet heute zu treffen. Pippin lebte in den Großen Smials, der Unterkunft der Tuks im Westviertel des Auenlandes, und kam nur alle paar Monate auf einen kurzen Besuch nach Bockland. Sein Vater war der Thain des Auenlandes und hatte deshalb ständig etwas zu tun, was auch der Grund dafür war, weshalb Pippin meist nur mit seiner Mutter und einer seiner drei älteren Schwestern zu Besuch kam. Umso größer war die Überraschung, dass sowohl der Thain Paladin, als auch dessen Gattin Heiderose neben seinem Vetter saßen. Kaum hatte Frodo den Wagen erreicht, sprang Pippin vom Kutschbock, um seinen Vetter, sehr zum Verdruss seiner Mutter, übermütig zu begrüßen.
Paladin brachte sein Pony zum Stehen und sprang ebenfalls vom Wagen. Voller Freude trat Drogo an ihn heran, begrüßte ihn freundlich. „Was führt euch zu solch früher Stunde her?“ „Wir wollten so viel vom Tag nutzen, wie wir konnten und sind deshalb in der Nacht gereist“, erklärte Paladin, während er Heidrose vom Kutschbock half. Freudig trat er schließlich an Drogo heran und umarmte seinen Freund brüderlich, um ihn gebührend zu begrüßen. „Verreist ihr?“, fragte er dann mit einem Blick auf den bereitstehenden Ponywagen, während Drogo auch Heiderose willkommen hieß. „Das wäre schade, denn wir hatten einen etwas längeren, wenn auch unangekündigten Besuch geplant. Pippin wollte seine Vettern wieder sehen und ich wollte sicher gehen, dass Saradoc sich ausreichend um meine Schwester kümmert“, er zwinkerte, was Drogo zum Lachen brachte. Paladin mochte seine Schwester vielleicht gerne wieder sehen, doch er wusste genauso gut, wie Drogo selbst, dass Esmeralda in guten Händen war. Als Gattin des Herrn von Bockland mochte sie zwar beizeiten sehr beschäftigt sein, doch mangelte es ihr an nichts. Ingeheim vermutete Drogo, dass Paladin viel mehr darauf erpicht war, von Gorbadocs reich gedeckter Tafel zu kosten, denn auch wenn Saradoc inzwischen Herr von Bockland war, war Gorbadocs guter Ruf noch immer weit verbreitet. Dennoch konnte Drogo sich nicht wirklich über die unbeschwerten Worte freuen und blickte betrübt zu Pippin, der bereits in ein Gespräch mit Frodo vertieft schien. Er seufzte leise. „Pippin wird sehr enttäuscht sein, denn wir wollten gerade aufbrechen. Wir werden für eine Woche nach Hobbingen gehen. Bilbo hat uns zu sich eingeladen.“
„Bilbo?“, fragte Pippin, der die letzten Worte mitgehört hatte, entsetzt. „Und ihr geht jetzt?“ Seine Stimme zitterte, während er versuchte, die Tränen, die in ihm aufstiegen, zu unterdrücken. Verzweifelt blickte er von Frodo zu dessen Vater, dann zu seinen eigenen Eltern und wieder zurück zu Frodo. Seit über zwei Wochen hatte er nun schon gebettelt, wieder einmal nach Bockland fahren zu können, doch immer hatte es geheißen, er solle Geduld haben und auf wärmeres Wetter warten. Nun war das Wetter wärmer. Er war auch endlich in Bockland, und dass ganz ohne seine Schwestern, die lieber in den Smials bleiben wollten, doch Frodo sollte nicht da sein.
Mitfühlend legte Frodo dem jungen Hobbit eine Hand auf die Schulter und sah traurig zu seinem Vater auf. Er hatte nicht erwartet, dass ein Besuch bei Bilbo auch Nachteile mit sich bringen konnte. Gerne wollte er bei Pippin bleiben, doch er freute sich auch sehr darauf, nach Hobbingen zu reisen. Hin und her gerissen konnte er sich nicht entscheiden, welche Möglichkeit die bessere war. Plötzlich hörte er, wie Merry vergnügt aufschrie, hob überrascht den Kopf und erblickte seinen Vetter, der zwischen Esmeralda und seiner Mutter den schmalen Pfad herunter kam. Einen Augenblick später war der junge Brandybock Pippin auch schon um den Hals gefallen und sprang vergnügt von einem Bein auf das andere, was Frodo ein amüsiertes Lächeln entlockte.
„Wir könnten ihn mitnehmen“, meinte Primula, nachdem sie die Tuks begrüßt und den Grund für ihre betrübten Gesichter erfahren hatte. „Bilbo hat bestimmt noch ein weiteres Zimmer frei und zur Not können wir ihn bei Frodo oder Merry einquartieren.“ Primula lächelte Pippin, dessen Augen sich augenblicklich aufhellten, zu. Sie wusste genau, dass er die Ohren gespitzt hatte, auch wenn er sich das nicht hatte anmerken lassen. Pippin war ein gewitzter Junge, immer für einen Streich bereit und konnte beizeiten recht anstrengend sein. Doch er war auch liebenswert und Primula hatte Mitleid mit ihm. Sie wusste, wie sehr Frodo und Merry an ihm hingen und zweifelte nicht daran, dass Pippin zu Tode betrübt wäre, ließen sie ihn zurück. „Ich kann mitkommen? Und Merry auch?“ Pippin blickte verwundert von einem zum anderen, richtete seinen Blick dann bittend auf seinen Vater, die grünen Augen groß und voll stillem Verlangen, sodass es unmöglich war, ihm eine Bitte abzuschlagen. Paladin ließ sich davon jedoch nicht beirren, sah wiederum fragend zu Drogo, denn hierbei hatte nicht er zu entscheiden. Frodo sah darin die große Möglichkeit, seiner Zwangslage zu entgehen. Mit einem Ausdruck, der Drogo das Blaue vom Himmel versprach, sollte er ihm diesen Wunsch gewähren, blickte er zu seinem Vater auf. Drogo musste ganz einfach zustimmen, dafür würde er in den kommenden Tagen auch sehr folgsam sein.
Drogo lachte ob dem Anblick, der sich ihm bot und wuschelte sowohl seinem Sohn, als auch Pippin durch die Haare. „Von mir aus kann er gerne mitkommen. Ob wir nun mit zwei oder drei Hobbitjungen reisen, macht wohl kaum einen Unterschied.“ Pippins Augen strahlten. Er sprang erst seinem Vater um den Hals, dann Drogo und Primula und zu guter Letzt schenkte er auch seiner Mutter eine feste Umarmung. Merry grinste von einem Ohr zum anderen und auch Frodo wurde mit jedem Augenblick glücklicher. Er sollte nicht nur Bilbo wieder sehen, sondern auch in der Begleitung seiner beiden liebsten Vettern nach Hobbingen reisen. Besser konnte dieser Tag nicht mehr werden.
„Also gut, dann kann es ja los gehen!“ rief Drogo schließlich, als Merrys Vater Saradoc mit einem letzten Rucksack an die Kutsche trat und ihn unter den anderen Gepäckstücken verstaute. „Steigt auf den Wagen!“ Pippin und Merry verabschiedeten sich von ihren Eltern und kletterten auf die Kutsche während Paladin noch einen Rucksack mit Pippins Sachen darin verstaute. Frodo machte es sich zwischen seinen Eltern auf dem Kutschbock gemütlich und drängte zum Aufbruch, als Esmeralda an Primulas Seite kam und ihr einen Korb hinauf reichte. Frodo konnte hören, wie sie seiner Mutter etwas zuflüsterte, verstand ihre Worte jedoch nicht.
Dann konnte es endlich losgehen. Mit einem Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung. Die frühmorgendliche Kälte war verflogen und auch die Morgenröte war bereits in strahlenden Sonnenschein übergegangen, als der Wagen schließlich gemächlich nach Osten, in Richtung Bockenburg ratterte. Frodo hätte zufriedener nicht sein können. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und wärmte seine Wangen. Eine Weile kuschelte er sich an seine Mutter, drehte sich dann aber zu den anderen beiden jungen Hobbits, die hinter ihm saßen und löcherte Pippin mit Fragen. Er wollte alles erfahren, was zurzeit in Tukland vor sich ging und Pippin wusste vieles zu berichten. Der junge Tuk hatte seine Augen und Ohren überall, wo sie nicht hingehörten, stellte viele Gerüchte richtig und setzte neue in die Welt. Vor allem über seine drei Schwestern und deren vorhandene, und nicht vorhandene Heiratspläne, wusste er einiges zu erzählen, was sehr zur Erheiterung von Merry und Frodo beitrug. Drogo und Primula konnten dieser Art der Neugier jedoch wenig abgewinnen und mahnten Pippin bald still zu sein. „Du steckst deine Nase viel zu tief in Dinge, die dich nichts angehen, Peregrin Tuk“, rügte Drogo streng, woraufhin Pippin eine Unschuldsmiene aufsetzte und beschämt den Blick senkte. Frodo und Merry tauschten einen kurzen Blick und brachen in schallendes Gelächter aus. Nur Pippin beherrschte diesen betretenen Gesichtsausdruck so perfekt und das allein war Grund genug, Pippin noch mehr Gerüchte und kleinere Geheimnisse aus den Großen Smials zu entlocken.
Inzwischen hatten sie die Brandyweinbrücke überquert und Frodo hatte seinen Blick wieder nach vorne gerichtet. Sie folgten nun der Großen Oststraße nach Westen. Inzwischen herrschte reges Treiben auf den Straßen und Feldern, die sich zu beiden Seiten der Straße erstreckten. Der Frühling hatte Einzug genommen ins Auenland. Es duftete nach Blumen und die ersten Frühlingsboten sprossen in allen Farben aus dem Boden. Junge Hobbits jeden Alters brachten gemeinsam eine Herde Schafe auf die Weide, Bauern pflügten mit Ochsenkarren ihre Felder, Frauen hingen ihre Wäsche zum Trocknen auf, während sie auf ihre jüngsten Kinder Acht gaben. Ein junger Hobbit erschreckte ein etwa fünfjähriges Mädchen, indem er ihm einen Frosch unter die Nase hielt. Frodo kicherte leise und erinnerte sich daran, wie auch er die Mädchen im Brandyschloss des Öfteren mit Fröschen, Käfern und anderen Kriechtieren zum Kreischen brachte. Sein Blick wanderte schließlich zum Pony, das gemächlich dahintrabte. Verträumt verfolgte er die gleichmäßigen Schritte des Tieres, ehe er seinen Blick auf die Zügel richtete, die locker in der Hand seines Vaters lagen. Schweigend ließ er seine Augen auf den abgenutzten Lederstriemen ruhen, fragte schließlich, ob auch er sie halten dürfte. Sein Vater sah ihn überrascht an. „Wenn du denkst, dass du das kannst.“ „Natürlich“, versicherte Frodo überzeugt. Drogo lachte, legte seinem Sohn die Zügel in die Hand, jedoch ohne sie los zu lassen und zeigte ihm, wie man sie richtig hielt. Frodo begriff schnell, bestand schließlich kein großer Unterschied zum Halten von Reitzügeln und Drogo blickte voller Stolz zu seiner Gattin. Frodo strahlte über das ganze Gesicht. Es dauerte nicht lange, bis er ein Gefühl für die ungewohnt langen und schweren Zügel bekam und kaum war er sicher, wandte er sich zu seinem Vettern um und verkündete stolz, dass er das Pony jetzt lenkte.
Sie hatten gerade Weißfurchen hinter sich gelassen, als sie sich zu einer kurzen Rast entschlossen. Die Kinder klagten über Hunger und Primula entschied, dass es Zeit für den Elf-Uhr-Imbiss war. Der Boden war noch feucht und so packte Primula eine Decke aus und breitete sie unter einer in voller Blüte stehenden Kastanie aus. Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht, während sie den Inhalt des von Esmeralda erhaltenen Korbes untersuchte und allerlei Leckereien, wie Kekse, Nusskuchen und belegte Brote zu Tage zauberte. Drogo war unterdessen von den Kindern in Anspruch genommen worden, die ihm stolz ihr Wissen über die ersten Blumen des Frühlings kund taten oder sich von ihm belehren ließen. Als Primula sie aber zum Essen rief, waren die Blumen schnell vergessen und alle vier Hobbits saßen binnen weniger Momente unter der Kastanie und langten kräftig zu.
Als sich der Wagen nach einem kurzen Mahl wieder in Bewegung setzte, hatte Frodo bei seinen Vettern Platz genommen. Während Primula und Drogo ihre Habseligkeiten wieder zusammengepackt hatten, hatten die jungen Hobbits die Zeit genutzt und einige Steine vom Wegrand aufgesammelt. Diese wurden nun genauestens verglichen. Jeder Splitter wurde untersucht, auf dass am Ende der schönste Stein erwählt werden konnte. Der Finder desselben, Pippin, wurde mit viel Anerkennung belohnt.
Bald hatte die Sonne ihren höchsten Stand erreicht und Pippin war der Erste, der nach einem Mittagessen fragte. Auch die anderen Jungen klagten über knurrende Mägen, was Drogo sehr verwunderte, hatten die jungen Hobbits doch nichts anderes zu tun, als im Wagen zu sitzen. Primula hatte jedoch mit dem enormen Appetit der Kinder gerechnet und eine Mittagspause im Schwimmenden Balken in Froschmoorstetten eingeplant. Sehr zur Freude von Frodo, Merry und Pippin lenkte Drogo ihr Pony nur kurze Zeit später nach Süden und folgte einem Weg, der von der Großen Ostraße abzweigte. Ein hölzernes Schild kündigte das Gasthaus bereits an und nur wenige Augenblick darauf, lag auch schon der Duft von gebratenem Speck und Eiern in der Luft.
Nur wenige Hobbits waren zur Mittagsstunde im Gasthaus anzutreffen, da die meisten zu Hause mit ihrer Familie speisten. Die wenigen Hobbits, die sich dennoch im Schwimmenden Balken eingefunden hatten, unterhielten sich lautstark. Die Blicke der drei jungen Vettern wanderten immer wieder neugierig zu einer Gruppe von älteren Hobbits deren Kartenspiel immer wieder durch laute Ausrufe oder Gelächter unterbrochen wurde. Drogo gönnte sich einen großen Krug Bier zu seiner Mittagsmahlzeit, die er mehr oder weniger schweigend zu sich nahm. Erst nach dem Essen suchte er das Gespräch mit Primula, zündete sich eine Pfeife an und lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück. Merry, Frodo und Pippin hatte er erlaubt, ein wenig nach draußen zu gehen, doch hatte er sie mehrere Male ermahnt, vorsichtig zu sein und Frodo die Verantwortung für seine jüngeren Vettern übertragen. Zwar war er sich durchaus bewusst, dass Frodo einer solchen Verantwortung nicht gewachsen war und er selbst oft die dümmeren Ideen hatte als Merry, doch wenn Drogo sah, wie glücklich Frodo ein solches Zeichen des Vertrauens machte, ließ er ihn gerne in dem Glauben, alt genug zu sein, um auf seine jüngeren Vettern aufzupassen. So lange die jungen Hobbits in der Nähe des Schwimmenden Balkens blieben, konnte ohnehin nichts passieren.
Von den neugierigen Blicken, die auf den Reisenden ruhten, bemerkten Primula und Drogo wenig. Auch das Gemurmel, das durch den Raum gegangen war, als sie mit ihren drei Schützlingen eingetroffen waren, hatten sie kaum wahrgenommen. Vielen Bewohnern des Ortes war der Herr Beutlin bekannt und selbst hier, in Froschmoorstetten, gab es einige, denen Bockland und das sonderbare Volk dort nicht geheuer war, doch wagte keiner, dies zu laut kund zu tun, da viele um Primulas Herkunft wussten.
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Der Nachmittag verging schnell. Frodo, Merry und Pippin unterhielten sich lautstark über die Neuigkeiten, die sie in Froschmoorstetten hatten in Erfahrung bringen könne, während sie mit einigen ansässigen Kindern gespielt hatten, doch mit der Zeit wurden sie immer ungeduldiger. Gelangweilt saßen sie zwischen den Gepäcksstücken und fragten immer öfter, wann sie denn endlich ihr Ziel erreichen würden. Um die aufkommende schlechte Stimmung zu vertreiben, kletterte Primula schließlich nach hinten und versuchte, die Kinder mit Ratespielen bei Laune zu halten, was ihr auch gelang. Die Vettern waren von ihrer Idee sehr angetan und Primulas Beisein war bald nicht mehr vonnöten und sie konnte wieder zu Drogo nach vorne steigen, während die Kinder zufrieden spielten.
Die Sonne stand schon tief im Westen. Nur mehr wenige der goldenen Strahlen schimmerten noch hinter den westlichen Hügeln des Auenlandes, als Drogo die Große Ostraße schließlich verließ und die Kutsche in die Wasserauerstraße lenkte. Da es abends noch recht frisch war, hatte Primula die Kinder angewiesen, ihre Umhänge anzuziehen. So saßen die drei Jungen warm eingewickelt hinten im Wagen und versuchten mühevoll, ihre müden Augen offen zu halten.
Als Drogo in den Feldweg einbog, war es bereits dunkel. Er hielt auf den Hof der Hüttingers zu, wo er sein Pony unterzustellen gedachte. Drogo hatte Bilbo zuvor gefragt, ob es einen Platz gab, wo er sein Pony für die Zeit ihres Besuches unterstellen konnte und dieser hatte ihm versichert, dass Tom Hüttinger bestimmt noch eine freie Box in seinem Stall hatte und so war es auch gewesen.
Tom Hüttinger war ein guter Freund von Bilbos Gärtner Hamfast. Er war ein herzensguter Hobbit und immer bereit, andere zu unterstützen, wo er nur konnte. Auf Bilbos Bitte hin hatte der Bauer gerne eine seiner freien Ponyboxen zur Verfügung gestellt, denn dem Herrn von Beutelsend wollte er eine solch bescheidene Bitte nicht abschlagen. Außerdem konnte er das Geld gut gebrauchen, um seine Frau Lily und seine fünf Kinder zu ernähren, auch wenn er Drogos Pony bestimmt auch ohne Gegenleistung bei sich aufgenommen hätte.
„Guten Abend, Herr Beutlin! Guten Abend, Frau Primula!“ Tom Hüttinger trat gerade aus der Eingangstür seines Hauses und eilte die wenigen Stufen in den Hof hinab. Er hatte eine Laterne in der Hand und obschon er einige Jahre jünger war, als Drogo, zierten bereits erste graue Strähnen seinen dunklen Krauskropf. „Hattet ihr eine gute Reise?“ „Guten Abend!“ grüßte Drogo den Bauern und brachte das Pony zum Stehen. Tom war sofort an Primulas Seite und half ihr, vom Wagen zu steigen. Ein breites Lachen zierte sein pausbäckiges Gesicht und das Licht der Laterne ließ dunkle Schatten über seine Wangen huschen. Primula begrüßte den Bauern freundlich und bedankte sich dafür, dass sie ihr Pony bei ihm unterstellen durften. „Das geht schon in Ordnung. Der gute Herr Bilbo hat mir schon vor ein paar Tagen mitgeteilt, dass ihr kommen wolltet und in meinem Stall ist noch genug Platz für ein weiteres Tier“, teilte dieser mit, ehe er sich verwundert umsah. „Wie geht es dem jungen Herrn Frodo?“ Mit einem Lächeln nickte Primula zum hinteren Teil des Wagens. Der Bauer folgte ihrem Blick und begann ebenfalls zu lachen. Die drei jungen Hobbits lagen eng aneinandergekuschelt zwischen den Gepäcksstücken und schliefen tief und fest. Ihre zufriedenen Gesichter wirkten ein wenig erschöpft. Die lange Reise hatte offensichtlich ihren Tribut gekostet. Drogo machte sich daran, dass Pony abzuspannen, doch der Bauer hielt ihn von der Arbeit ab und bot ihm an, sich sofort auf den Weg zu machen, in Anbetracht dessen, dass die Kleinen bereits so müde waren. „Ich werde mich um das Tier kümmern und für den Wagen finde ich auch noch einen Platz“, versicherte er, woraufhin Drogo ihn dankbar gewähren ließ und stattdessen die ersten Rucksäcke auslud. Primula weckte unterdessen die Kleinen. „Aufwachen! Wir sind da!“ flüsterte sie ihnen ins Ohr. Die Kinder blinzelten verschlafen. Pippin gähnte herzhaft, während Merry sich verschlafen die Augen rieb und Frodo nicht einmal Anstalten machte, aufwachen zu wollen. „Kommt, es ist nicht mehr weit!“ versicherte sie ihnen, als sich schließlich auch Frodo aufsetzte, sich den Schlaf aus den Augen rieb und ein wenig verwirrt von einer Seite zur anderen blickte. Primula half ihnen aus dem Wagen und reichte jedem der jungen Hobbits einen Rucksack, während Drogo sich den Großteil des restlichen Gepäcks auflud, sodass sie nur mehr einen übrigen Rucksack und Esmeraldas Korb zu tragen hatte.
Dankbar verabschiedeten sie sich schließlich von Tom, um den restlichen Weg nach Beutelsend zu Fuß zurückzulegen. Bald hatten sie die Lichter des Hofs hinter sich gelassen und waren zurück auf der Wasserauerstraße, der sie nach Hobbingen folgten. Frodo war vollkommen erschöpft und hielt sich an der Hand seiner Mutter, um nicht zurück zu bleiben, während Drogo Merry und Pippin je eine Hand reichte, denn auch sie waren müde von der langen Fahrt. Das letzte Stück ihrer Reise schien ihnen jedoch das längste, denn auch Drogo und Primula sehnten sich nun nach einem gemütlichen Bett und als die Lichter Hobbingens zu beiden Seiten die Straße beleuchteten, nahmen sie diese kaum wahr, sondern liefen zielstrebig zum Bühl, in dessen Bauch Beutelsend gegraben worden war. Frodo, Merry und Pippin stolperten die Straße entlang, konnten kaum mehr ihre Augen offen halten und waren sogar zu müde, um sich darüber zu beklagen.
Endlich erreichten sie den Bühl. Eiligst folgten sie dem Pfad, der sich an dessen Seiten entlang nach oben wand und taten die letzten Schritte zu Bilbos Höhle. Schon von weitem sahen sie Beutelsend und das einladende Licht, das durch die kleinen, runden Fenster nach draußen drang, weckte selbst in den Kindern die letzten Energiereserven und ließ sie eiligst dem warmen Lichtschein entgegen laufen. Primula hatte gerade die Gartentür aufgeschoben, als sich auch die große, runde Eingangstür der Höhle öffnete, und ein kräftig gebauter Hobbit in teuren, dunklen Samthosen und einer edlen Weste heraus trat. Sein ergrautes Haar schimmerte im schwachen Licht. Ein Lächeln zierte das fröhliche, runde Gesicht und gütige Augen strahlten vor Freude. „Da seid ihr ja endlich!“ Frodos Augen funkelten, als er den Alten sah und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Bilbo!“ jubelte er und sprang seinem Onkel in die Arme, glücklich, nach so langer Zeit wieder bei ihm zu sein. Bilbo ging in die Knie um Frodo aufzufangen und drückte ihn fest an sich. „Mein lieber Junge! Wie schön, dich wieder zu sehen!“
Kapitel 3: Besuch bei Bilbo
„Wie ich sehe, seid ihr zu fünft“, stellte Bilbo fest, als er seine Gäste herein bat. Mit Freuden traten die erschöpften Reisenden in die warme Hobbithöhle und entledigten sich ihrer Taschen, während vor allem Pippin und Merry mit großen Augen um sich blickten. In weiser Voraussicht hatte Bilbo neue Kerzen in die Halterungen an den Wänden gesteckt und sowohl jene in der Eingangshalle, als auch die im langen Gang dahinter, der zu den einzelnen Räumen führte, entzündet. Primula seufzte, froh darüber endlich wieder die behagliche Wärme und das Licht einer Hobbithöhle um sich zu haben. „Paladin und Familie kamen nach Bockland, als wir aufbrechen wollten“, erklärte Drogo unterdessen und hängte seinen Mantel an einen Kleiderhaken. „Pippin wollte Frodo und Merry besuchen und wir dachen, wir bringen ihn mit. Ich hoffe, das stört dich nicht. Er braucht auch kein eigenes Zimmer, sondern kann bei Frodo oder Merry schlafen.“ „Nein, das macht nichts“, sagte Bilbo rasch, „und der junge Herr Tuk bekommt natürlich auch sein eigenes Zimmer.“ Ein Lächeln umspielte Bilbos Lippen und er zwinkerte Pippin aufmunternd zu. Trotz seiner Müdigkeit, durch die er kaum noch in der Lage war, seine Augen offen zu halten, grinste Pippin von einem Ohr zum anderen. Die Bezeichnung ‚Herr Tuk' gefiel ihm außerordentlich.
Die drei jungen Hobbits reichten ihre Umhänge und Mäntel an Primula weiter, die sie an einen der Haken hängte. Frodo schien jegliche Müdigkeit hinter sich gelassen zu haben und machte sich sofort auf, Beutelsend zu begutachten. Wann war er das letzte Mal hier gewesen? Er wollte sich genau umsehen. Ob sich wohl etwas verändert hatte, seit seinem letzten Besuch? Mit vor Begeisterung leuchtenden Augen ging er durch den hell erleuchteten Hauptgang und schielte in jeden Raum, dessen Tür geöffnet war. Doch kein Zimmer zog seine Aufmerksamkeit so auf sich, wie jenes, das am hintersten Ende der großen Höhle lag. Das Zimmer, in dem er immer schlief, wenn er zu Besuch war. Die Tür war bereits geöffnet und Frodo lugte vorsichtig hinein. Hier brannten keine Kerzen, doch das Licht eines kleinen Feuers, das im Kamin flackerte, reichte aus, um alles erkennen zu können. Das Bett, das sich gleich links neben der Tür befand, war bereits für ihn hergerichtet worden. Die Decke lag ordentlich gefaltet am Fußende und das Kissen war frisch aufgeschüttelt. Dunkle Vorhänge wehten über einen kleinen Schreibtisch in der linken Ecke gegenüber dem Bett, als ein leichter Wind herein blies. Kein anderes Geräusch war zu vernehmen und Frodo blieb ehrfürchtig in der Tür stehen. Er liebte dieses Zimmer, hatte das schon immer getan. Etwas Besonderes schien von ihm auszugehen.
„Frodo?“, erschrocken fuhr er herum, als ein dunkler Schatten sich über ihn senkte und seine Mutter ihm die Hand auf die Schulter legte. „Ist alles in Ordnung?“ Sie beugte sich zu ihm hinab, forschte in seinem Ausdruck nach Unbehagen, fand jedoch keines. Frodo nickte. Für einen kurzen Augenblick sah er seine Mutter an, blickte dann aber wieder in das Zimmer, wobei ein sonderbarer Glanz in seine Augen trat. Das Zimmer...“, er stockte, schien einen Moment nach dem richtigen Ausdruck zu suchen, „Es ist wie für mich gemacht.“ Als er sich wieder zu ihr umwandte, waren seine Augen dunkel und er wirkte verwirrt. Vermutend, das Erschöpfung den Grund für Frodos Verwirrung darstellte, schmunzelte Primula. „Vermutlich hat Bilbo es deshalb für dich ausgewählt.“ Ein Lächeln umspielte Frodos Lippen und er nickte schwach. Primula wuschelte ihm durch die braunen Locken und küsste seine Stirn, als ein kühler Windhauch über ihre Wangen strich. Überrascht hob sie den Kopf, bemerkte das offene Fenster und machte sich auf, es zu schließen, um die Wärme des Kaminfeuers im Zimmer zu halten.
Gemeinsam gingen sie in das Esszimmer, wo Drogo bereits mit Merry und Pippin an einem großen Tisch saß und Holundersaft in ihre Gläser goss. Auf dem Tisch stand zudem eine Flasche Alter Wingert, die den Erwachsenen den Abend versüßen sollte. Frodo blickte sich staunend um. Ihm war, als hätte sich alles verändert, seit seinem letzten Besuch. Auch im Esszimmer hatte Bilbo alle Lampen und Kerzen angezündet und der Raum war förmlich von Licht durchflutet. Im Kamin prasselte ein Feuer und der Duft von Pinienholz lag in der Luft und mischte sich mit dem von Kartoffeln und frisch gebratenem Fisch, den Bilbo in eben jenem Moment herein trug. Frodo eilte zum Tisch, wo er ungeduldig darauf wartete, dass das Essen geschöpft wurde. Die Hobbitkinder schlugen zu, als hätten sie die vergangenen drei Tage nichts mehr zu essen bekommen, doch je länger sie aßen, desto müder wurden sie und am Ende war Pippin nicht einmal mehr dazu in der Lage, seine Kartoffeln aufzuessen sondern wäre beinahe über seinem Teller eingeschlafen. Merry und Frodo hatten sich bis dahin lautstark an den Gesprächen der Erwachsenen beteiligt, doch als Primula schließlich entschied, Pippin zu Bett zu bringen, tat auch Merry mit einem geräuschvollen Gähnen kund, dass er zu solch später Stunde für gewöhnlich lange im Bett war.
Während Bilbo Pippins Bett vorbereitete, ging Primula dem jungen Hobbit beim Umziehen zur Hand. Es dauerte einige Zeit, bis sie den erschöpften Tuk in sein Nachtgewand gesteckt hatte, doch kaum war ihr dies gelungen, genügten eine warme Decke und ein weiches Kissen, um den jungen Hobbit tief und fest schlafen zu lassen. Primula ließ die Türe zu seinem Zimmer offen, ging dann kurz zu Merry, um auch ihm eine gute Nacht zu wünschen und trat zu guter Letzt auch in Frodos Zimmer. Ihr Sohn war schon beinahe eingeschlafen, als sie an sein Bett trat, doch ihr Anblick entlockte ihm ein Lächeln. So erschöpft er von der Reise auch sein mochte, Primula konnte sehen, dass er glücklich war und nichts hätte ihr Herz mehr erfreuen können. „Gute Nacht“, wisperte sie und hauchte einen Kuss auf seine Stirn
Beruhigt, dass alle ihre Schützlinge wohlauf waren und in ihren Betten lagen, kehrte Primula schließlich ins Esszimmer zurück, wo Bilbo und Drogo bereits bei einem Glas Wein und einer Pfeife Altem Tobi vor dem Feuer saßen und sich miteinander unterhielten. Primula setzte sich zu ihnen. Es sollte spät werden, bis die Hobbits in dieser Nacht zu Bett gingen.
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Als Frodo am nächsten Morgen aufwachte, war er sich nicht sofort klar, wo er sich befand. Während er verwirrt die letzten Bilder eines Traumes abschüttelte, kehrte die Erinnerung jedoch zurück und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Zufrieden bettete er seinen Kopf bequemer auf das Kissen und blieb verträumt in seinem Bett liegen. Er schnüffelte. Das Feuer im Kamin war schon lange herunter gebrannt, doch der mürbe Duft des Pinienholzes war noch nicht völlig verflogen. Da war jedoch noch ein anderer Geruch, ein besonderer Duft, ohne den das Zimmer nicht die gleiche Geborgenheit ausgestrahlt hätte, die Frodo nun fühlte. Der Duft war dem im Zimmer seiner Eltern im Brandyschloss ähnlich, und doch war er ganz anders. Einige Zeit versuchte Frodo, den Geruch zuzuordnen, gab es aber bald auf und entschied, dass es sich dabei lediglich um den besonderen Geruch seines Lieblingszimmers in Beutelsend handelte.
Die Ruhe genießend, drehte Frodo sich noch einmal zur Seite und schlummerte. So bemerkte er nicht, wie sich die Zimmertüre öffnete und Pippin auf Zehenspitzen herein tapste, um sich neben ihn zu legen. „Frodo?“, flüsterte der junge Hobbit, als dieser sich im Halbschlaf rührte. „Bist du wach?“ Pippin stützte sich auf seinen Ellbogen, um einen Blick auf Frodos geschlossene Augen zu erhaschen, woraufhin sein Gesicht einen sorgenvollen Ausdruck annahm. Einen Augenblick war er versucht, seinen Vetter wachzurütteln, als dieser plötzlich blinzelte.
Der warme Hauch eines Atemzuges kitzelte Frodo am Nacken und rief ihn zurück aus der Welt der Träumenden. Verwundert wandte er sich um, als er das Gesicht seines Vetters erkannte. „Pippin, was machst du denn hier?“ Der junge Hobbit blickte verlegen zur Seite und im schwachen Tageslicht, das durch die geschlossenen Vorhänge hereindrang, glaubte Frodo zu erkennen, dass sich dessen Wangen erröteten. „Ich…“, stotterte der junge Tuk und spielte verlegen mit einem Zipfel der Bettdecke, „… es war so still in meinem Zimmer und …“ Frodo brach in schallendes Gelächter aus, was ihm sofort wieder Leid tat, als er Pippins beschämten Gesichtsausdruck sah. Sein Vetter war immerhin fast fünf Jahre jünger als er, und bestimmt noch nicht oft ohne seine Eltern verreist, wenn das überhaupt jemals der Fall gewesen war. Außerdem war Pippin die Ruhe in Beutelsend ebenso wenig gewohnt, wie Frodo selbst, denn die Großen Smials waren nicht weniger überfüllt als das Brandyschloss in Bockland. Es war nur verständlich, dass der junge Hobbit, der den Lärm vieler hundert Verwandten gewohnt war, Angst bekam, wenn er morgens aufwachte und keine Geräusche vernahm. Frodo legte einen Arm um seinen Vetter und warf seine Decke zurück, sodass Pippin ebenfalls die wohlige Wärme, die ihn umgab, genießen konnte. „Wann immer du dich einsam fühlst, kannst du zu mir kommen“, versicherte er lächelnd, erfreut darüber, dass Pippin ausgerechnet seine Nähe gesucht hatte. Pippin lächelte verlegen, kroch dann unter die Bettdecke und kuschelte sich an seinen Vetter.
Lange verweilten die jungen Hobbits jedoch nicht im Bett. Der Gang war nur mehr spärlich beleuchtet, da Bilbo die meisten Kerzen gelöscht hatte. Den Weg in die Küche fanden die jungen Hobbits dennoch ohne Schwierigkeiten, denn sie wurden vom wohlriechenden Duft gebratenen Specks angezogen, der ihre Mägen zum Knurren brachte. Frodo und Pippin gingen allerdings nicht sofort in die Küche, sondern blieben in der Tür stehen und beobachteten amüsiert, wie Bilbo alles für das Frühstück vorbereitete. Der kräftig gebaute Hobbit mit dem leicht ergrauten Haar hatte sich eine Schürze umgebunden und stand am Herd, wo er geschäftig mal in der einen, mal in der anderen Pfanne rührte. Abgesehen vom flackernden Schein der Feuerstelle, erhellte kein anderes Licht den Raum. Über den züngelnden Flammen, die sich in den Töpfen und Pfannen spiegelten, hing eine Teekanne, aus deren Nase bereits kleine Dampfwölkchen aufstiegen.
„Guten Morgen, ihr zwei! Habt ihr gut geschlafen?“ Die Hobbits tauschten einen verwunderten Blick, überrascht, dass Bilbo sie entdeckt hatte, obschon er ihnen den Rücken zugewandt hatte. Schulter zuckend traten sie an seine Seite. „Besser kann man in diesem Zimmer gar nicht schlafen, Bilbo!“ antwortete Frodo glücklich und schielte neugierig in eine der Pfannen, in der dünn geschnittene Speckscheiben brutzelten. Bilbo lächelte und schob seinen Neffen ein wenig zur Seite, um sicher zu gehen, dass er sich nicht verbrennen konnte. „Das freut mich zu hören, mein Kleiner!“
Pippin, der neben seinem Vetter stand, schielte gierig auf ein Marmeladenglas, das auf der Arbeitsfläche stand. Er konnte es jedoch nicht erreichen, nicht einmal, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte. Frodo mochte vielleicht gerade groß genug dafür sein, doch sein Vetter schien sich nicht für die Marmelade zu interessieren, sondern tapste hinter Bilbo her, als dieser die Teekanne vom Feuer nahm, da sie zu pfeifen begonnen hatte. „Können wir dir helfen?“, wollte Frodo wissen, erpicht, seinem Onkel zur Hand zu gehen. „Ich bin gerade fertig, aber ihr könntet den Tisch decken, wenn ihr wollt.“ Bilbo zeigte ihnen, wo das Besteck und die Teller zu finden waren, woraufhin Frodo Pippin sogleich am Arm packte, und sich an die Arbeit machte. Sie hatten gerade den ersten Stapel Teller und Untertassen in das Esszimmer getragen, als Merry gähnend in die Küche trat und sich den Schlaf aus den Augen rieb. „Wie ich sehe, steht das Frühstück schon bereit“, stellte der junge Hobbit fest. „Das tut es“, meinte Frodo spitz, „und ich bin froh, dass du nun auch endlich in die Küche gefunden hast. Ich hatte schon geglaubt, du würdest gar nicht aus dem Bett kommen.“ Ein schelmisches Grinsen trat auf Frodos Gesicht, doch Merry war noch zu müde für eine freche Antwort. Außerdem hatte Bilbo inzwischen alle fehlenden Tassen und Besteckstücke auf ein Tablett geladen, wodurch die jungen Hobbits nicht mehr länger in der Küche gebraucht und stattdessen ins Badezimmer gescheucht wurden.
Kurze Zeit später waren auch Drogo und Primula aufgewacht und fanden sich am reich gedeckten Frühstückstisch im Esszimmer ein. Es gab Eier, Speck, Schinken, Käse, und Marmelade und Honig für den süßen Gaumen, was vor allem Pippin sehr erfreute. Trotz ihrer großen Aufregung aßen die Kinder schweigend und kommentierten nur ab und an die Gespräche zwischen Drogo, Primula und Bilbo. Letzterer erklärte, dass er noch auf den Markt müsse und bot an, die jungen Hobbits mit sich zu nehmen. Frodo, Merry und Pippin waren von dem Vorschlag begeistert. Für die Vettern war jeder Markt ein Abenteuer und die Vorstellung, mit Bilbo auf einen für sie völlig neuen Markt zu gehen, nämlich dem von Hobbingen, ließ sie vor Aufregung ganz unruhig werden. Drogo und Primula hatten dagegen nichts einzuwenden, wollten Bilbo und die Kinder allerdings nicht begleiten und so sollte Bilbo sich kurze Zeit später in der ungewöhnlichen Situation wieder finden, mit drei übermütigen Hobbitkindern den Bühl hinunter zu laufen. Primula hatte versprochen, den Abwasch zu erledigen, denn Frodo, Pippin und Merry waren kaum mehr zu bremsen gewesen, nachdem sie ihr Frühstück beendet hatten und hatten Bilbo keine Ruhe gelassen, bis dieser schließlich früher als geplant aufgebrochen war.
Auch an diesem Tag war es sonnig und ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Bilbo hatte sich auf einen gemütlichen Besuch auf dem Markt gefreut, wollte in aller Ruhe mit den Kindern an den Ständen entlang schlendern und Primula und Drogo so einen freien Tag bescheren. Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass es so anstrengend sein konnte, auf die drei Hobbitjungen Acht zu geben. Die drei rannten ungestüm den Bühl hinunter, nahmen dabei keine Rücksicht auf ältere Damen, die mit vollen Körben die Bühlstraße herauf kamen, oder auf Männer, die mit Schubkarren und Vieh ebenfalls auf dem Weg zum Marktplatz waren. Bilbo hatte nicht einmal Zeit für einen kurzen Plausch mit dem alten Ohm, denn seine drei Schützlinge drängten zur Eile, konnten es kaum erwarten, den Markt endlich zu erreichen.
Die Augen der jungen Hobbits waren vor Staunen weit geöffnet, als sie den Marktplatz Hobbingens endlich erreichten. Stände waren aufgebaut worden, an denen Bauern die Qualität ihrer Ziegenmilch anpriesen, Frauen ihre selbst geflochtenen Körbe anboten und Handwerker ihre Arbeit präsentierten. Eine Schneiderin nahm auf offener Straße die Maße ihres Kunden, während sich auf der gegenüberliegenden Seite eine Mutter mit vier Kindern am Rockzipfel über einen überteuerten Schinken beklagte. In der Ferne konnte Frodo einen Schmied erkennen, der ein Pony neu beschlug, als plötzlich ein Junge in einem grünen Hemd, der nicht viel älter war, als er selbst, über die Straße stürmte, tobend einer flüchtigen Henne hinterher eilte und versuchte, sie wieder einzufangen. Frodo sah ihm einen Augenblick mit großen Augen und offenem Mund hinterher, als er von Merry plötzlich auf einen Hobbit in seinen Tweens aufmerksam gemacht wurde. Der Junge, lehnte an einem Holzbalken, kaute an einem Grashalm und hatte einen alten Hut tief ins Gesicht gezogen. Die Ärmel seines blauen Hemdes waren zurückgekrempelt. Das Marktgetümmel schien ihm nichts auszumachen, ebenso wenig die vier Schweine, die neugierig an seinen Zehen schnüffelten. Frodo kicherte in sich hinein und ließ seinen Blick von neuem über die einzelnen Stände und Hobbits wandern, die sich auf dem Marktplatz eingefunden hatten. Der Duft von Schinken hing in der Luft, mischte sich mit dem von Bier, Met, gebratenen Würstchen, Schweinemist und Vieh. Dies war eindeutig ein Ort, an dem große Abenteuer erlebt werden konnten.
Bilbo ging zielstrebig auf einen Stand mit Eiern und Milch zu, an dem den jungen Hobbits herzlich wenig lag. Sie waren viel mehr an den Ständen mit Schnitzereien interessiert und an jenen mit ausgestopften Tieren, Büchern und edlen Glasfiguren, in denen sich das Licht in allen Farben brach. So dauerte es nicht lange, bis die Vettern einen völlig überforderten Bilbo hinter sich ließen und sich alleine in das Marktgetümmel stürzten. Bilbos verzweifelter Ruf, sie mögen nicht zu weit weggehen, beantworteten sie mit einem einstimmigen „Machen wir!“, doch nahm keiner der drei Jungen Bilbos Worte sonderlich ernst.
Seufzend und mit einem etwas verzweifelten Gesichtsausdruck blickte Bilbo seinen drei Schützlingen hinterher, als diese hinter einem Marktstand verschwanden und kurz darauf unter den vielen anwesenden Hobbits untergingen. „Guten Morgen, Herr Bilbo!“ Lily, Tom Hüttingers Gattin, trat auf Bilbo zu. Ihre im Nacken zusammengebundenen braunen Haare schimmerten im Licht der Sonne und ein Lächeln zierte ihr schmales Gesicht. Sie hatte das Schauspiel beobachtet und war Bilbos Blick zu dem Marktstand hinter dem seine Schützlinge verloren gegangen waren, gefolgt. „Da hast du aber eine sehr lebendige Bande!“ Bilbo sah sie ein wenig hilflos an und lächelte gequält: „Wenn ich sie hinterher nur wieder finde und ihnen nichts passiert ist.“ „Mach dir da keine Sorgen. Hier kann ihnen nicht viel passieren“, versicherte sie. „Das will ich hoffen“, murmelte Bilbo mehr zu sich selbst, wobei er einen weiteren Blick in die Richtung warf, in die die drei jungen Hobbits zuvor geeilt waren. „Wenn ich sie hinterher nur wieder finde“, flüsterte er noch einmal und sah sich Hilfe suchend um.
Frodo, Merry und Pippin machten sich keine weiteren Gedanken um Bilbo. Sie kamen auch alleine zurecht und würden zur Not auch alleine zurück nach Beutelsend finden. Gemeinsam rannten sie über den Marktplatz, blieben hier und da kurz stehen, um einige Dinge genauer zu betrachten und lauschten den neusten Gerüchten Hobbingens. Etliche Hobbits hatten sich auf dem Marktplatz eingefunden und jeder konnte hier finden, was sein Herz begehrte, ganz gleich ob sich dabei um Pflanzen, Nahrungsmittel, Tiere, Nutzgegenstände oder Spielzeug und sonstige Kleinigkeiten handelte. Lachend trotteten die drei Hobbits an einer Reihe großer Spiegel vorüber, schnitten Grimassen und alberten herum, um zu sehen, wer seine Vettern am meisten zum Lachen bringen konnte. Schließlich entdeckten sie ein Kälbchen, das an einen Balken angebunden war und traurig nach seiner Mutter rief. Frodo hatte Mitleid mit dem Tier und so verbrachten die drei Hobbits lange Zeit bei dem Kalb, streichelten es, ließen es an ihren Fingern saugen und freuten sich, wenn es ihnen die Hände ableckte. Der Bauer, dem das Tier gehörte, schickte sie jedoch weg, nachdem er von seinem eigenen Rundgang durch den Markt zurückgekehrt war und die Hobbits bei seinem Kalb entdeckte. So suchten Frodo und seine Vettern nach einer neuen Beschäftigung. Als sie über den Marktplatz streiften, entdeckten sie eine Gruppe von Kindern, die bei einer angebundenen Ziege inmitten des Dorfplatzes standen. Unter ihnen war auch Samweis Gamdschie, Hamfasts Sohn. Frodo erkannte den pausbäckigen Jungen mit den goldenen Locken und den braunen Augen sofort und begrüßte ihn freudig. Kurzerhand wurde beschlossen, dass die drei Vettern den Rest des Tages mit Sam und seinen Freunden verbringen würden.
~*~*~
Stunden, nachdem er sie verloren hatte, eilte Bilbo noch immer verzweifelt über den Marktplatz und suchte unter den vielen Gesichtern nach denen seiner drei Schützlinge. Er hatte versprochen zum Vier-Uhr-Tee zurück zu sein, doch der war nun schon längst vorüber. Von Herrn Gamdschies Frau, Bell, hatte er schließlich erfahren, wo die Bande Lausebengel zu finden war und eilte rasch in die ihm angewiesene Richtung. In einer ruhigen Ecke des Marktgetümmels fand er sie dann, lachend und tratschend und einen Imbiss zu sich nehmend. Sam war bei ihnen, ebenso wie zwei von Tom Hüttingers Kindern, die Zwillinge Rosie und Wilkomm, der von allen nur Jupp genannt wurde. „Habe ich euch endlich gefunden!“ rief Bilbo erleichtert. Die Hobbits blickten überrascht auf und Frodo winkte seinem Onkel erfreut zu, doch Bilbo stand der Sinn nicht nach einem Gruß. Die Angst, die er verspürt hatte, als er sie nicht mehr hatte finden können, lag noch deutlich in seiner Stimme, als er sie zurechtwies. „Ich hatte euch doch angewiesen, nicht zu weit wegzugehen. Wisst ihr überhaupt, wie besorgt ich war?“ Die Freude wich mit einem Mal aus den Gesichtern der Kinder und während Sam, Rosie und Jupp verwirrt zwischen Bilbo und den Vettern hin und her blickten, senkten Frodo und seine Freunde betreten die Köpfe. „Wir wollten doch nur unseren Spaß“, verteidigte sich Frodo, warf seinem Onkel einen zaghaften Blick zu. „Ich hatte mich auch auf einen vergnüglichen Nachmittag gefreut“, schimpfte Bilbo, doch seine Erleichterung, die Jungen wieder gefunden zu haben, nahm seiner Stimme die nötige Schärfe, „allerdings wollte ich Teil eures Vergnügens sein und nicht verzweifelt durch die Massen irren, in der Hoffnung euch irgendwo entdecken zu können.“
Frodo verharrte regungslos und ballte unsicher seine Hände zu Fäusten. Obwohl Bilbo nicht mit ihm schimpfte, wie es sein Vater an dessen Stelle tun würde, erkannte er seinen Fehler und hörte die Sorge, die unverhüllt in der Stimme des alten Hobbits mitklang. Er schämte sich für sein Verhalten und machte sich große Vorwürfe, dem alten Hobbit einen solchen Schrecken eingejagt zu haben. Als Bilbo ihn schließlich bei der Hand nahm, murmelte er eine leise Entschuldigung. Den Kopf hielt er schuldbewusst gesenkt, während Bilbo ihn schweigend und raschen Schrittes zurück nach Beutelsend führte. Merry und Pippin trotteten mit betretenen Gesichtern hinter ihnen her, ohne sich von Sam und den anderen zu verabschieden.
Zu Hause angekommen berichtete Bilbo den besorgten Eltern, was vorgefallen war, während die jungen Hobbits ins Wohnzimmer geschickt wurden, wo sie mit langen Gesichtern auf dem Fußboden saßen und ihre Strafe erwarteten. Sie unterhielten sich flüsternd und lauschten den leisen Stimmen der Erwachsenen in der Küche, hoffend, sie würden nur milde bestraft werden. Frodo war schweigsamer als seine Vettern und als sein Vater schließlich zu ihnen kam, wagte er nicht, ihn anzusehen. Mit strengem Ausdruck ging Drogo vor den Kindern auf und ab und machte ihnen in einer langen Strafpredigt klar, wie unvernünftig und dumm sie gehandelt hatten. Seine Stimme war nicht von Erleichterung überschattet, sondern besaß sowohl die Schärfe als auch den bitteren Nachgeschmack, den Tadel mit sich brachte. Frodo biss sich auf die Lippen und stierte in die züngelnden Flammen im Kamin, während die Sonne langsam unterging und sein Vater sie zurechtwies, wobei er einen Großteil seiner Worte jedoch an ihn richtete. In Zukunft würde Frodo nur mehr an der Hand eines Erwachsenen auf den Markt gehen dürfen und für den heutigen Tag sollte jegliches Vergnügen ein Ende finden. Pippin, Frodo und Merry hatten an diesem Abend eine von Bilbos Geschichten hören wollen, für die der alte Hobbit im ganzen Auenland bekannt war, hatte er schließlich selbst das größte aller Abenteuer erlebt, und geholfen, einen Drachen zu besiegen, doch Drogo schickte sie, als Strafe für ihren kleinen Ausflug auf dem Marktplatz, früh zu Bett.
Frodo wirkte noch immer sehr traurig, als Primula ihn nach dem Abendessen in sein Zimmer begleitete. Die Erleichterung in Bilbos Stimme, als er ihn und seine Vettern gefunden hatte, und die Sorge, die ihr vorangegangen sein musste, wollten ihm keine Ruhe lassen. Primula küsste ihn zärtlich, lächelte ob der mitfühlenden Seele ihres Sohnes und war bereit, ihn an einem Teil der Sorge teilhaben zu lassen, die man als Elternteil empfand, wenn man sein Kind an einem so überfüllten Ort, wie einem Marktplatz verlor. Zu ihrem Bedauern wirkte Frodo hinterher noch betrübter als zuvor. Sie kannte ihren Sohn, wusste, dass er sich schreckliche Vorwürfe machte. Zärtlich und mit liebevollem Blick strich sie über seine Wange, schlug vor, Bilbo noch einmal zu ihm zu schicken, auf dass Frodo selbst mit dem alten Hobbit sprechen konnte. Nur Bilbo würde ihren Jungen noch davon überzeugen können, dass mit der Strafe ihrer Missetat genüge getan war und Frodo sich nicht länger Gewissensbisse zu machen brauchte.
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Frodos Magen aus, während er in die Glut im Kamin starrte und nervös auf seinen Onkel wartete. Er war sich nicht sicher, ob ihm die Idee seiner Mutter gefiel und hatte nur zögernd zugestimmt. Bilbo war bestimmt wütend auf ihn und Frodo konnte es ihm nicht einmal Übel nehmen. Seine Finger spielten unruhig mit der Bettdecke, als sich die Türe plötzlich knarrend öffnete und Bilbo mit einem Kerzenhalter in der Hand eintrat. „Was ist los, mein Junge?“ begehrte er zu wissen und im Licht der Kerze konnte Frodo die Sorge im Gesicht seines Onkels erkennen, als er sich auf die Bettkante setzte. Frodo kämpfte mit den Tränen. Bilbo war ihm nicht böse, sondern noch immer voller Kummer. Hatte denn eine einzige Übeltat solch langwierige Folgen? Voller Traurigkeit blickte er in die Augen seines Onkels, woraufhin Bilbo besorgt die Kerze auf den Nachttisch stellte, ihm zärtlich durch die Haare strich und in den tiefblauen Augen nach einer Antwort für Frodos Traurigkeit suchte. „Es tut mir Leid!“ brach es plötzlich aus dem jungen Hobbit hervor. Er schluchzte, konnte nur stotternd weiter sprechen. „Ich, … wir wussten nicht, dass wir dir dadurch so viele Sorgen bereiten. Ich wollte das wirklich nicht.“
Überrascht über den plötzlichen Gefühlsausbruch legte Bilbo einen Arm um den jungen Hobbit und drückte ihn fest an sich. Tiefes Mitgefühl erfüllte sein Herz und er bereute beinahe, dass er Drogo hatte so streng mit ihnen sein lassen. Frodo hatte seine Lektion gelernt und die Art, wie er in seinen jungen Jahren damit umging, ließ ihn zu etwas Besonderem werden, davon war Bilbo überzeugt, auch wenn er selbst nie Kinder gehabt hatte. Zu sehen, wie sehr Frodo sich quälte, rührte ihn beinahe selbst zu Tränen und er schloss seine Arme noch fester um den Jungen. „Mach dir keine Sorgen“, versuchte er das Kind dann mit einem Lächeln aufzumuntern. Sanft strich er eine Träne von den leicht geröteten Wangen. „Es ist alles gut gegangen und ihr wisst nun, dass ihr so etwas nicht tun solltet. Das nächste Mal werdet ihr gewiss auf mich hören.“ Frodo schluchzte und nickte heftig, lehnte sich dann aber noch einmal in die Arme seines Onkels. Nur in den zärtlichen Armen seines Onkels konnte er sich versichern, dass es keinen Grund gab, zu weinen. „Schlaf jetzt, mein Junge. Mach dir keine Vorwürfe mehr“, flüsterte Bilbo, als sich sein Neffe schließlich beruhigt hatte, und deckte ihn ordentlich zu. Als Frodo ihm eine gute Nacht wünschte, lächelte der Junge bereits wieder und Bilbo kam nicht umhin, zurückzulächeln. Leise schloss er dann die Tür hinter sich, auf dass nichts den Schlaf des jungen Hobbits stören konnte.
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Am nächsten Tag stellte Merry entsetzt fest, dass es regnete, doch dies sollte kein Grund sein, um trübselig zu werden. Da sie nicht nach draußen gehen konnten, machten die Kinder es sich im Wohnzimmer auf dem Fußboden vor dem Kamin gemütlich und spielten mit kleinen, geschnitzten Holzfiguren, die Pippin von den Großen Smials mitgebracht hatte. Jede Figur hatte von Pippin einen eigenen Namen und besondere Züge erhalten und Frodo und Merry hatten alle Mühe die Eigenart des jeweiligen Tieres zu Pippins Zufriedenheit zu mimen. Nach dem Mittagessen fragte Frodo nach, ob Sam sie besuchen dürfe und strahlte über das ganze Gesicht, als Bilbo und auch seine Eltern nichts dagegen einzuwenden hatten. Rasch hatte sich der junge Hobbit seinen Umhang um die Schultern geworfen und war in den Regen hinaus geeilt, versprechend, er würde bald zurück sein. Bis zur Höhle der Gamdschies im Beutelhaldenweg war es nur ein Spaziergang von wenigen Minuten. Frodo beeilte sich sehr, legte einen Großteil des Weges rennend zurück. Der Regen prasselte ihm ins Gesicht und er musste die Augen zu kleinen Schlitzen verengen und eine Hand davor halten, um sie vor den Tropfen zu schützen.
Als er schließlich durch die kleine Gartentür ging, durch die er zur Höhle gelangen sollte, warf er seine Kapuze zurück und schüttelte sich vergebens einige Wassertropfen aus den Haaren, ehe er an die gelb gestrichene, runde Türe klopfte. Bell Gamdschie empfing ihn mit einem verdutzten: „Hallo, Herr Frodo!“ Sie hatte ihren Besucher sofort wieder erkannt, doch die Verwunderung ihn vor ihrer Türe anzutreffen, stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. „Guten Tag, Frau Gamdschie“, grüßte Frodo und nickte höflich mit dem Kopf. Ein wenig aufgeregt verlagerte er das Gewicht von einem Bein auf das andere, als er auf der Schwelle stand und mit einem unsicheren Lächeln zu ihr aufblickte. „Ich wollte fragen, ob Sam uns oben in Beutelsend besuchen möchte“, fragte er schüchtern. Eben in jenem Augenblick stürmte Sam hinter seiner Mutter an der Tür vorüber und brüllte seiner Schwester zornig hinterher, doch das Mädchen lachte nur und maulte nicht weniger verärgert zurück. Frodo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als Frau Gamdschie einen Seufzer ausstieß und sich entnervt umdrehte. „Samweis Gamdschie! Du sollst dich nicht mit deiner Schwester streiten!“ machte sie ihrem Sohn verständlich. Frodo schielte an Bell vorbei in die spärlich beleuchtete Hobbithöhle und konnte erkennen, wie Sam aus einem Zimmer trat und sich offensichtlich verteidigen wollte, doch Frau Gamdschie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Außerdem hast du Besuch. Der junge Herr Frodo möchte dich einladen.“ Von einem Ohr zum anderen grinsend, winkte Frodo seinem Freund zu, als dieser ihn erkannte. Sams Mund klappte vor Überraschung auf und für einen langen Moment schien der junge Hobbit nicht in der Lage, ihn wieder zu schließen. Schüchtern trat er dann an die Seite seiner Mutter, doch sein Gesicht strahlte, als hätte Frodo ihm soeben das größte Geschenk gemacht, das er jemals erhalten hatte. „Willst du mitkommen nach Beutelsend?“, fragte Frodo mit einem Lächeln, völlig unbeeindruckt von Sams Verhalten. Seine eigene Unsicherheit hatte er bereits hinter sich gelassen, als er die Stimme seines Freundes vernommen hatte. „Wenn ich darf“, antwortete der junge Hobbit schüchtern und sah von Frodo zu seiner Mutter und wieder zu Frodo. Bell hatte nichts gegen einen Besuch einzuwenden, auch wenn es ihr seltsam erschien, dass ihr Sohn mit dem Neffen des Herrn von Beutelsend spielen sollte, doch schließlich waren sie jung und warum sollte sie dagegen sein, wenn es scheinbar beiden Hobbits Freude bereitete, miteinander Zeit zu verbringen. Sie reichte ihrem Sohn einen Umhang, wies ihn an, nicht zu spät nach Hause zu kommen und sich zu benehmen und schob ihm die Kapuze auf den Kopf, während er noch mit dem Knoten am Hals beschäftigt war. Frodo hatte Mühe sich das Lachen zu verkneifen und Sams gerötete Wangen zeigten ihm deutlich, dass auch der junge Hobbit mit der Behandlung seiner Mutter nicht einverstanden war.
Geschwind eilten sie dann den Bühl hinauf. Auch Frodo hatte seine Kapuze wieder hochgeschoben und warf sie erst zurück, als er durch das große Gartentor von Beutelsend ging. Zu seiner Überraschung blieb Sam zögernd davor stehen. Er wollte schon fragen, was nicht in Ordnung war, doch dann fand er die Antwort in Sams verlegenen Gesichtsausdruck. „Glaubst du wirklich, ich würde dich einladen, wenn du uns nicht besuchen dürftest?“, fragte er und war fast ein wenig beleidigt, dass Sam ihm nicht traute. „Meine Eltern waren einverstanden, und wie ich Bilbo kenne, bist du bestimmt nicht das erste Mal zu Besuch“, schmunzelte er. Sam sah beschämt zu Boden und seine Wangen wurden noch roter, als zuvor: „Nun ja, du könntest mir einen bösen Streich spielen und...“ Er stockte, verstummte dann ganz. Frodo legte den Kopf schief, sah ihn beinahe beschuldigend an, doch dann lachte er, legte einen Arm um die Schulter seines Freundes und zog ihn ganz einfach mit sich.
An der Tür wurden sie von Merry und Pippin erwartet, die sie aus lauter Übermut beinahe umrannten. Die beiden waren begeistert, einen vierten Spielkameraden gefunden zu haben und machten sich das zu Nutze. Pippin machte sich sofort daran Sam über die Namen und Eigenarten seiner Tiere aufzuklären, während sich Frodo und Merry nach anderen Spielmöglichkeiten umsahen. Es sollte sich allerdings herausstellen, dass Pippins Figuren alles waren, was ihnen zur Verfügung stand und so ließen sie ihre Phantasie wallten, bauten aus Kissen, Büchern und Decken Ställe und Weiden, gaben den Tieren ein Zuhause und ließen sie große Dinge erleben.
Viele Stunden verbrachten sie so in den Zimmern von Beutelsend, bis es schließlich Abend wurde. Sam wollte sofort nach Sonnenuntergang nach Hause gehen, doch Bilbo bat ihn, noch zum Abendessen zu bleiben. Außerdem versprach er, nach dem Essen eine Geschichte zu erzählen, da Frodo schon am Abend zuvor nach einer verlangt hatte. Dem konnte Sam nicht widerstehen, doch sagte ihm sein Pflichtgefühl, dass er erst zu Hause Bescheid geben musste. Als Drogo diese Worte vernahm, warf er seinem Sohn einen vielsagenden Blick zu, den Frodo sofort verstand. Der gestrige Tag war noch klar in seiner Erinnerung und er blickte beschämt zu Boden. Diese Lektion hatte er gelernt. Nie wieder würde er sich aufmachen, einen überfüllten und größtenteils unbekannten Ort alleine auszukundschaften, ohne einem Erwachsenen mitzuteilen, wo er zu finden war.
Sam war bald zurück und nach einem genüsslichen Abendessen versammelte sich die gemütliche Runde vor dem Kamin im Wohnzimmer. Knisternd schlossen sich die Flammen um die frisch eingelegten Holzscheite und der warme Schein des Feuers wärmte nicht nur die Rücken der Kinder, die ihm zugewandt waren, sondern auch die Gemüter der Erwachsenen, die in komfortablen Sesseln Platz genommen hatten. Drogo paffte an einer Pfeife während Bilbo die Hände vor dem Bauch verschränkt hatte und mit einem zufriedenen Lächeln auf die erwartungsvollen Gesichter der Kinder blickte, die vor ihm auf dem Boden saßen. Unheimliche Schatten tanzten an den Wänden und keiner der jungen Hobbits wagte, die aufgekommene Stille zu unterbrechen, bis sich der alte Hobbit schließlich räusperte und zu erzählen begann. Die Hobbits lauschten gebannt den Worten. In ihren Köpfen sahen sie Bilder von Zwergen, mit blauen, gelben und roten Mänteln, riesige Trolle, Drachen auf einem Berg voller Gold, Elben, Adler und allerlei seltsame Gestalten. Ihre Augen funkelten, während Bilbo voller Inbrunst sein eigenes Abenteuer zum Besten gab. Seine Augen strahlten nicht weniger, als die der Kinder, während er in Erinnerungen schwelgte und alte Freunde wieder zum Leben erweckte. Und jedes Mal, wenn Bilbo die Elben erwähnte, hörte er ein leises, sehnsüchtiges Seufzen von zwei seiner Zuhörer, denn Sams Gesichtsausdruck war dann nicht weniger verträumt als Frodos. Doch wie jede Geschichte hatte auch diese ihr Ende und so kam der Moment, an dem Sam Abschied nehmen musste und Pippin, Frodo und Merry in ihre Betten sollten. Die jungen Hobbits waren enttäuscht, doch protestierten sie nicht, als Primula sie schließlich in ihre Zimmer begleitete und Drogo Samweis verabschiedete. Er blieb so lange in der Türe stehen, sah in die dunkle Nacht hinaus, bis Sam aus seinem Blickfeld verschwunden war und er sicher gehen konnte, dass der junge Hobbit wohlbehalten zu Hause ankommen würde.
Zur großen Enttäuschung der jungen Hobbits waren auch die nächsten Tage verregnet und das, wo sie doch noch so vieles hatten von Hobbingen sehen, so vieles noch erleben wollten. Ihnen blieb jedoch nichts weiter übrig, als in Beutelsend zu bleiben, aber auch das hatte seine Vorteile, denn Sam erhielt Erlaubnis sie jeden Tag besuchen zu kommen. Gemeinsam fand der Ideenreichtum der jungen Hobbits kein Ende und sie entdeckten jeden Tag ein neues Spiel, eine neue Art, Leben in Bilbos sonst so triste Hobbithöhle zu bringen. Bilbo war froh, dass seine Höhle so groß war. Er hatte nicht erwartet, dass schon vier junge Hobbits ausreichten, um sein Zuhause und sein sonst so ruhiges und gemütliches Leben so sehr auf den Kopf zu stellen. Es gab nur zwei Dinge, die die Hobbits zur Ruhe brachten: die Mahlzeiten und Bilbos Erzählungen. Geschichten kannte Bilbo viele und er gab sie gerne zum Besten. Jeden Abend, und manchmal auch schon am Nachmittag, saßen die Hobbitkinder am Kamin und lauschten wie gebannt Bilbos Worten, die sie an fremde Orte und zu großen Abenteuern führten und ihre Herzen zu träumen anregte.
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Der Tag der Abreise war gekommen. Frodo erwachte beim ersten Licht der Sonne und blickte sich in dem spärlich beleuchteten Zimmer um. Im Kamin befand sich nur mehr rote Glut und der dicke Vorhang vor dem Fenster erlaubte nur wenigen Sonnenstrahlen in das Zimmer einzudringen. Es hatte aufgehört zu regnen, doch das kümmerte Frodo wenig. Eine Wolke von Traurigkeit umgab ihn, während er trübselig zur Decke blickte. Er wollte Bilbo nicht wieder verlassen, denn wer konnte schon sagen, wann er den alten Hobbit, den er so lieb gewonnen hatte, wieder sehen würde? Betrübt zog Frodo die Decke über den Kopf, hoffte so, seine Gedanken aussperren und den bevorstehenden Abschied vergessen zu können. Er bemerkte nicht, wie Merry und Pippin sich leise in das Zimmer schlichen, beide mit einem ihrer Kissen bewaffnet. Frodo hatte sich gerade wieder in seine Decke gekuschelt, als ihm diese plötzlich mit einem Ruck weggerissen wurde und ein Kissen ihn am Kopf traf. Erschrocken schrie er auf und Merry und Pippin brachen in lautes Gelächter aus. Frodo zögerte nicht lange, als er seine Vettern erkannte, bewaffnete sich sofort mit seinem eigenen Kissen und schlug es Pippin, dessen Kissen er kurz zuvor ins Gesicht bekommen hatte, um die Ohren. Eine wilde Kissenschlacht begann, begleitet von schrillen Rufen und lautem Gelächter. Als Primula wenig später in das Zimmer trat, fand sie drei Hobbits nach Luft ringend auf dem Fußboden vor. „Ihr habt eine stürmische Art, den Tag zu beginnen!“ lachte sie. „Beeilt euch und packt eure Sachen. Wir werden gleich nach dem Frühstück aufbrechen.“
Traurig lud Frodo seinen Rucksack auf den Wagen. Während er und seine Vettern gefrühstückt hatten, war sein Vater zu den Hüttingers gegangen, um die Kutsche abzuholen. So mussten sie ihr Gepäck nicht wieder den ganzen Weg zurück tragen und ihre Abreise würde sich nicht unnötig verzögern, mussten sie schließlich den Umweg über Tukland und Buckelstadt nehmen, um nach Bockland zu kommen, da sie Paladin versprochen hatten, Pippin nach Hause zu bringen. Das Herz war ihm schwer und wurde mit jedem Augenblick schwerer. Er wollte Bilbo nicht verlassen. Die wenigen Tage, die er bei seinem Onkel hatte verbringen dürfen, waren viel zu rasch vorüber gewesen und er hätte mit Freuden zugestimmt, hätten seine Eltern beschlossen, den Besuch zu verlängern.
Gerade als Frodo hinter dem Wagen hervor trat, sprang Sam die Bühlstraße herauf. Die Sonne brachte seine blonden Locken zum Schimmern. Er war gekommen, um den Beutlins Lebewohl zu sagen. Frodo umarmte den jungen Hobbit zum Abschied, wie das unter Freunden üblich war, ehe Sam auch nur ein Wort herausbrachte, weil er erst zu Atem kommen musste. Von der Überraschung, die bei dieser scheinbar harmlosen Geste für einen kurzen Augenblick in das Gesicht des jüngeren Hobbits geschrieben war, bemerkte Frodo nichts. „Warum kommst du mich nicht einmal in Bockland besuchen?“, schlug Frodo vor und seine Stimme klang leise und traurig, ganz gleich, was das Lächeln in seinem Gesicht glauben machen wollte. Sam sah einen langen Moment in Frodos Augen, wich seinem Blick dann aber aus und sah verlegen zu Boden. Zaghaft schüttelte er dann den Kopf. „Der Weg ist zu weit und mein Ohm muss den Garten hier versorgen. Aber du kommst sicher wieder, Frodo!“ Frodo nickte und sein Lächeln wurde breiter. „Das werde ich bestimmt.“
Die Eingangstür von Beutelsend wurde geöffnet und Merry und Pippin traten schwatzend in den sonnigen Morgen, Drogo mit einem Rücksack in jeder Hand, dicht hinter ihnen. Frodo wandte sich mit einem letzten betrübten Blick an Sam von seinem Freund ab und half seinem Vater mit dem Gepäck, während sich Primula bei Bilbo bedankte. Nachdem er geholfen hatte, alle Gepäckstücke zu verstauen, ging Frodo zu seinem Onkel. Er sah ihn jedoch nicht an, sondern blickte am alten Hobbit vorüber zu Pippin und Merry, die sich von Sam verabschiedeten. Dies war der Augenblick, den er gefürchtet hatte. Dies war der Moment, an dem er Lebewohl sagen musste. Frodo spürte einen Kloß in seinem Hals, als Bilbo in die Knie ging und sanft einen Finger unter sein Kinn legte, sodass Frodo gezwungen war, den Kopf zu heben. Erst jetzt erkannte er, dass auch in den Augen seines Onkels ungeweinte Tränen schimmerten, woraufhin Frodo die seinen nicht länger zurückhalten konnte und Bilbo in eine feste Umarmung schloss „Ich will nicht gehen!“ schluchzte er, klammerte sich verzweifelt an Bilbos Weste fest. „Ich weiß“, versuchte Bilbo ihn zu trösten, strich ihm beruhigend über den Rücken. „Aber du wirst bald wieder kommen. Wir könnten unseren Geburtstag gemeinsam hier feiern, was hältst du davon?“ Bilbo versuchte zu lächeln und fröhlich zu erscheinen, als er sich aus der Umarmung löste, um dem Jungen in die Augen zu sehen. Frodos Unterlippe zitterte, Tränen hatten eine Spur über seine linke Wange gezogen, doch er brachte ein schwaches Nicken zustande und schaffte es am Ende sogar zu lächeln.
Primula brach es das Herz, ihren Jungen so traurig zu sehen, wusste sie schließlich, dass sie seinen Abschiedsschmerz nicht lindern konnte. Doch sie wusste auch, dass das Wiedersehen im Herbst, das sie bereits mit Bilbo beschlossen hatten, umso erfüllter werden sollte. Das Pony schnaubte ungeduldig und, als wäre dies das Zeichen für ihren Aufbruch, legte sie ihrem Sohn eine Hand auf die Schulter: „Komm jetzt, mein Junge! Wir müssen gehen.“ Nur widerwillig ließ sich Frodo von seinem Onkel trennen und kletterte nach hinten in den Wagen, wo es sich Merry und Pippin bereits gemütlich gemacht hatten. Auch Drogo saß schon auf dem Kutschbock und hatte die Zügel in der Hand, während er sich noch einmal von Bilbo verabschiedete. Als schließlich auch Primula neben ihrem Gatten Platz genommen hatte, konnte die Reise beginnen und auf ein Schnalzen von Drogo setzte sich das stämmige Pony in Bewegung. Bilbo stand am Gartentor mit Sam an seiner Seite, wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln und winkte den jungen Hobbits zu, bis sie hinter einer Biegung verschwanden.
Die Fahrt zurück war, trotz des schönen Wetters, ungemein ruhig. Alle waren betrübt über den Abschied und obschon die Vetter noch einen ganzen Tag zusammen hatten, waren sie nicht mehr ganz so übermütig, was nicht zuletzt daran lagt, dass sie die meiste Zeit im ratternden Ponywagen saßen. Spät am Nachmittag entschied sich Drogo dazu in einem Gasthaus in Wegscheide einzukehren, wo sie die Nacht verbrachten. Kaum in ihrem Zimmer kehrte neuer Tatendrang in die Kinder, die lange nach Einbruch der Dunkelheit noch immer wach lagen und plapperten. Drogo und Primula ließen ihnen die Freude, brachen aber am nächsten Morgen später auf, als sie es beabsichtigt hatten. Sie erreichten den Tukhang erst am frühen Nachmittag. Paladin erwartete sie bereits nahe der Großen Smials und hieß sie voller Freude willkommen. Pippins Vater ließ ihnen ein anständiges Mittagessen mit Kartoffelbrei und eingelegten Pilzen auftischen. Die kleine Reisegruppe langte kräftig zu, doch obschon begeistert von dem Mahl, wurden die Kinder zunehmend stiller, wissend, dass sich der Abschied von Pippin nicht mehr lange hinauszögern ließ. Zu früh drängte Drogo zum Aufbruch. Im Laufe des Tages waren Wolken aufgezogen und er fürchtete erneuten Regen. Paladin und seine Gattin Heiderose begleiteten die Gruppe zurück zum Ponywagen. Mit Tränen in den Augen und langen, betrübten Gesichtern schlossen sich die drei Vettern schließlich im Vorgarten der Smials in die Arme, wollten einander gar nicht mehr gehen lassen, während die Eltern Worte des Dankes und des Abschieds tauschten. Als Frodo und Merry schließlich wieder im hinteren Teil der Kutsche saßen, blickten sie noch lange zurück zu der großen Höhle, vor dessen Eingang Pippin weinend mit seiner Mutter stand und Trost in ihren Armen suchte.
Wieder herrschte Schweigen bei den sonst so frohgemuten Hobbits, während der Nachmittag langsam dahin zog und die Wolken am Himmel immer größere, immer dunklere Schatten auf den Boden malten. Frodo und Merry sprachen wenig, ebenso wie Drogo und Primula. Erst als sie in die Straße nach Stock einbogen und somit das Waldstück, das sie seit ihrem Halt in Tukland durchquert hatten, hinter sich ließen, hob sich ihre Stimmung wieder. Drogo stimmte ein altes Wanderlied an und es dauerte nicht lange, bis alle mit einstimmten
He! He! He! An die Buddel geh, Heil dein Herz, ertränk dein Weh! Falle Regen oder Schnee, Meilen, Meilen, Meilen geh! Doch unterm Baume, da werd ich ruhn, Wolken zählen und nichts mehr tun.
Die Sonne war schon lange untergegangen, als die Reisenden die Brandyweinbrücke überquerten und das Bockland endlich erreichten. Bald lenkte Drogo den Wagen nach Süden und weniger als eine Stunde später tauchten die Lichter Bockenburgs am Horizont auf, ebenso wie der Bockberg, in dessen Bauch die vielen Höhlen und Gänge des Brandyschlosses eingegraben waren. Das Pony wusste, dass der heimische Stall nicht mehr fern war. Den Brandywein hinter sich lassend, machte sich die Müdigkeit der Kinder bemerkbar. Hatten sie bis nach Sonnenuntergang noch gesungen, hatten sie sich nun zwischen den Gepäcksstücken zusammengerollt und schlummerten tief und fest. Primula bat Drogo kurz anzuhalten, damit sie die die Vettern mit ihren Umhängen zudecken konnte und als sie sich wieder auf den Kutschbock setzte, musste auch sie zugeben, dass die lange Reise an ihren Kräften gezehrt hatte. Müde lehnte sie ihren Kopf an die Schulter ihres Gatten und hatte Mühe die Augen offen zu halten, während dieser das Pony durch die leeren Straßen Bockenburgs lenkte. Sie erreichten das Brandyschloss, wo sie bereits erwartet wurden, kurz vor Mitternacht. Merimac, Saradocs Bruder, hieß die Familie mit einer Lampe in der Hand willkommen und kümmerte sich anschließend mit der Hilfe eines Stalljungens um Pony und Karren. Saradoc, Merrys Vater, kam ebenfalls aus der Haupeingangstür des Brandyschlosses geeilt, als er erfahren hatte, dass die Familie zurückgekehrt war. Er begrüßte Drogo und Primula freudig, ehe er Merry vorsichtig aus dem Wagen hob, um ihn in sein Bett zu bringen. Primula nahm sich des Gepäckes an, während Drogo seinen Sohn zärtlich in die Arme schloss und ihn in sein Zimmer trug, immer darauf bedacht, seinen Schlaf nicht zu stören.
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Gedicht: Die Gefährten - Geradewegs zu den Pilzen
Kapitel 4: Kein Tag, wie jeder andere
Anfang Herbst 1380, AZ
Ein Schrei durchschnitt die Stille. Primula war mit einem Mal hellwach und stürmte in das Zimmer ihres Sohnes. Frodo saß auf seinem Bett und auch wenn sie in der Dunkelheit des kleinen Raumes kaum etwas erkennen konnte, wusste sie, dass er weinte. "Frodo, was ist geschehen?" Primula nahm ihren Sohn in die Arme. Er zitterte wie Espenlaub, war schweißgebadet und schmiegte sich in einer verzweifelten Umarmung an sie. "Da war Wasser. So viel Wasser. Ich glaubte, ich würde ertrinken!" schluchzte er und schnappte dabei nach Luft, als wäre er dem Ertrinkungstod nur knapp entronnen. Seine Hände krallten sich an ihrem Nachthemd fest, als hinge sein Leben davon ab. "Sh"; versuchte Primula ihn zu beruhigen, wobei sie zärtlich über seinen Rücken und durch die schweißfeuchten Locken an seinem Nacken streichelte und ihn sanft hin und her wiegte, wie sie es getan hatte, als er noch ein Kleinkind gewesen war und nicht einschlafen wollte. "Es war nur ein Traum", versicherte sie ihm, versuchte mit ihren Worten auch sich selbst zu beruhigen, denn der Schrecken über seine Verzweiflung hatte sie bis zu den Knochen erschüttert. Schluchzend vergrub das Kind das Gesicht im Nachthemd seiner Mutter, sog den beruhigenden Duft der Blumen in sich auf, die Primula so sehr liebte. Eine wohlige Wärme durchströmte ihn und auch, wenn es einige Zeit dauerte, bis seine Tränen versiegten, wusste Frodo, dass er sicher war. In den Armen seiner Mutter konnte ihm nichts geschehen. "Darf ich heute Nacht bei dir schlafen?", fragte er müde und blickte zögernd zu ihr auf. Primula lächelte und wischte ihm eine Träne aus den Augen. "Ausnahmsweise", flüsterte sie sanft, strich ihm durch das krause Haar und schlug die Decke zurück, woraufhin Frodo verschlafen aus dem Bett kroch und nach ihrer Hand tastete. Leise verließen sie das kleine Zimmer, gingen in den gegenüberliegenden Raum, wo sich Frodo kurz darauf zwischen seinen Eltern in deren Bett kuschelte. Ihre Nähe gab ihm die Sicherheit, die er brauchte und er fiel, den Albtraum vergessend, in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
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Am nächsten Tag wollte Frodo mit Merry durch Bockland streifen. Sie waren diesen Sommer täglich gemeinsam unterwegs gewesen. Oft fanden sie sich in Bauer Maggots Feldern wieder, um Pilze zu sammeln. Dieser war gar nicht begeistert davon, doch er erwischte sie nie. Auch Pippin war über die Sommermonate zu Besuch gewesen und hatte sie auf ihren Abenteuern, wie sie es nannten, begleitet. Die Kinder dachten sich eigene Geschichten aus, zu dem, was sie erlebten, die sie bei ihrem nächsten Besuch bei Bilbo erzählen wollten. Nun war es schon Anfang September und Pippin war lange wieder zu Hause in Tukland. Merry und Frodo hatten vor, den heutigen Tag alleine zu verbringen. Wie so oft wollten sie zum Bruch, auf der anderen Seite des Brandyweins gehen, und Merry meinte, es wäre höchste Zeit, Bauer Maggot wieder einen Besuch abzustatten, schließlich waren sie schon seit fast zwei Wochen nicht mehr bei ihm gewesen.
"Frodo!" Drogo rief seinen Sohn zurück, als dieser schon aus der Höhle rennen wollte. Der junge Hobbit blieb in der Tür zum Zimmer seiner Eltern stehen und sah seinen Vater fragend an. "Deine Mutter und ich werden heute Abend nicht zu Hause sein. Wir wollen noch ein letztes Mal in diesem Jahr mit dem Boot hinaus fahren. Komm nicht zu spät nach Hause, und stell nicht zu viele Dummheiten an, hörst du." Frodo nickte versichernd, eilte dann noch einmal zurück, um seinen Vater zum Abschied zu umarmen. Gerade als er sich ein zweites Mal zum Gehen umwandte, trat Primula in das Zimmer. "Warte noch einen Augenblick", wies sie ihren Sohn an und präsentierte ihm ein kleines, weißes Bündel. Frodo zog fragend eine Augenbraue hoch, ungeduldig, endlich nach draußen zu kommen, wo Merry ihn bestimmt bereits erwartete. "Ich habe dir etwas Proviant eingepackt." Frodo lächelte, nahm das Päckchen, vermutlich ein Stück Brot mit Käse, dankend an sich, steckte es rasch in seinen kleinen Rucksack und platzierte einen eiligen, feuchten Kuss auf Primulas Wange. "Sei vorsichtig!" rief diese ihm hinterher, während Frodo bereits durch den spärlich beleuchteten Ostgang rannte, um nur Augenblicke darauf durch die Haupteingangstür des Brandyschlosses nach draußen zu treten. "Wie immer zu spät!" kommentierte Merry, der tatsächlich schon vor den Blumenbeeten stand, das Haar zerzaust und die Ärmel seines Hemdes zurückgekrempelt. Frodo schüttelte den Kopf und streckte seinem Vetter die Zunge heraus, ehe sie lachend den schmalen Pfad entlang sprangen und den Weg zur Bockenburger Fähre einschlugen.
Die Sonne lachte vom Himmel und die Vögel zwitscherten fröhlich, als Frodo und Merry den Weg zum Flussufer zurücklegten und schließlich zum Steg hinuntergingen, wo sie das Fährenboot betraten, das sie schon seit frühester Kindheit zu bedienen wussten. Frodo hatte rasch die Taue gelöst, ging Merry anschließend zur Hand, als sie sich mit dem Bootshaken vom Ufer abstießen. Gemächlich trieb die Fähre über das Wasser, erreichte nach wenigen Minuten das westliche Ufer, wo die beiden jungen Hobbits sie pflichtbewusst und mit gekonnten Handgriffen vertäuten. Über den Fährweg, ein breiter, gerader Weg, gesäumt mit weißen Steinen, gelangten sie hinauf zur Landstraße. Sie hatten den Bruch erreicht, ein leicht sumpfiges, aber fruchtbares Gebiet westlich des Brandyweins. Dort hatten die jungen Hobbits einen Apfelbaum zu ihrem zweiten Zuhause auserkoren. Dieser war groß und breit, hatte dicke Äste, an denen die Kinder leicht hinaufklettern konnten.
Frodo und Merry verbrachten einige Stunden im Schatten des Baumes und in dessen Ästen, gingen schließlich auf eine Erkundungsreise und durchforsteten kleine Teile des Bruchs, vorgebend, sie wären einem großen Abenteuer auf der Spur. Als sie schließlich zu ihrem Apfelbaum zurückkehrten, machte sich Frodos Magen mit einem unzufriedenen Knurren bemerkbar. Der junge Hobbit wollte seine Jause aber noch etwas aufsparen und so kletterte er auf den Baum. Zwar lagen schon einige Äpfel auf dem Boden, doch die meisten davon waren angefault. Außerdem hatte Frodo seine Augen auf einen bestimmten Apfel geworfen. Dieser hing recht hoch oben und leuchtete in einem saftigen Rot, das seinen Magen nur noch lauter Knurren und ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. "Den werde ich mir holen!" verkündete er, als er den ersten Ast erklommen hatte und den Blick noch einmal auf sein erklärtes Mittagessen richtete. Die Blätter raschelten aufgebracht. Frodo blickte verwundert nach unten, als er eine Erschütterung im Baum spürte. Merry hatte sich ebenfalls in die Äste geschwungen und sah ihn herausfordernd an. "Wetten, dass ich schneller oben bin?" Offensichtlich war Merry genauso hungrig wie er selbst, und so setzte sich Frodo seinem Vetter gegenüber auf einen Ast, überlegte einen Augenblick und zog dann eine Augenbraue hoch. "Der Sieger bekommt den Apfel?", fragte er, auch wenn es mehr eine Feststellung war. Merry nickte, den Blick starr auf seinen Vetter gerichtet, als könne er so dessen nächsten Gedanken, die nächste Bewegung erraten. Frodo zögerte einen Augenblick, schien seine Entscheidung genau zu bedenken. Das nahe Gurgeln des Flusses klang in Merrys Ohren und das sanfte Rauschen eines leichten Windhauchs, ging durch das Blätterdach des Apfelbaumes. Schließlich streckte Frodo seinem Vetter die Hand hin, der ohne zu zögern einschlug. Die Wette war besiegelt.
Nur einen Augenblick später kletterten die Hobbits so schnell sie konnten nach oben. Merry erblickte den Apfel direkt über sich. Es war ohne Zweifel der beste Apfel, der am Baum hing. Rot und saftig leuchtete er ihm entgegen. Auch Frodo hatten den Blick auf den Apfel gerichtet, während er hurtig immer weiter nach oben kletterte, Merry nur einen halben Schritt voraus. Endlich hatte er sich soweit zwischen den Ästen hindurchgezwängt, dass der Apfel in Reichweite war. Er brauchte sich nur noch ein wenig nach vor zu lehnen und die Hand auszustrecken. In diesem Moment schoss Merrys Hand direkt neben ihm nach oben und sie berührten den Apfel zugleich. Frodo, der nicht mehr damit gerechnet hatte, von Merry eingeholt zu werden, verlor bei dessen plötzlichem Auftauchen jedoch das Gleichgewicht und kippte nach vor.
Entsetzte Schreie durchbrachen die Nachmittagsstille, verschreckten die Vögel, die im Sumpf nahe des Flussufers nach Nahrung gesucht hatten. Zweige knickten, Äste brachen und Blätter raschelten. Mit einem dumpfen Aufprall landete Merry auf dem Boden. Frodo, dessen Fall gleich neben seinem Vetter geendet hatte, blickte mit starrem Blick zum wolkenlosen Himmel. Der Aufprall hatte jegliche Luft aus seinen Lungen weichen lassen und für einen Augenblick schien er nicht in der Lage zu atmen. Seine Glieder schmerzten, machten es ihm unmöglich sie zu bewegen. Von plötzlicher Furcht ergriffen, schloss Frodo die Augen, wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Atmen zu und nach einem kurzen Moment, der ihm wie eine Ewigkeit vorkam, schnappte er keuchend nach Luft. Merry sah ihn besorgt an. Er war auf seinem Bauch gelandet und, obwohl auch ihm kurz die Luft weggeblieben war, hatte er sich rascher davon erholt als sein Vetter. Frodo rührte sich, zog ächzend die Luft ein und verzog das Gesicht. Von diesem Sturz hatte er ganz bestimmt einige blaue Flecken davon getragen. Neben ihm richtete sich Merry mit einem Stöhnen auf. Frodo versicherte sich mit einem kurzen Blick, dass auch mit ihm alles in Ordnung war, ehe er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Hintern rieb. "Kannst du nicht etwas vorsichtiger sein?", fuhr der Jüngere seinen Vetter an. Frodo beachtete ihn kaum. Sein Blick war weiterhin nach oben gerichtet, wo er den reifen, roten Apfel entdeckte, der noch immer an seinem Ast hing und auf sie herabzulachen schien. "Dieser dumme Apfel!" jammerte er, schloss gequält die Augen und wagte es schließlich, seine Arme zu bewegen und sich mühsam aufzurichten. In seinem Schädel pochte der Schmerz und ihm schwindelte, während er sich den Kopf rieb und seinen Körper nach Verletzungen durchsuchte. Jeder Muskel seines Körpers schien zu schmerzen, doch bis auf wenige Kratzer und Schrammen entdeckte er keine Wunden. "Ich würde sagen, unentschieden, denn noch einmal klettere ich bestimmt nicht da rauf", meinte Merry, der seinen Körper ebenfalls nach aufkommenden blauen Flecken untersuchte. Frodo nickte, lehnte sich an den Stamm und wartete darauf, dass die Welt aufhörte, sich zu drehen. Das Atmen bereitete ihm einige Schwierigkeiten und er fühlte sich noch etwas benommen, als er abwesend nach seinem Rucksack tastete. Blinzelnd, aber mit geschickten Handgriffen öffnete er den Knoten, der ihn verschlossen hielt und kramte das Bündel, das seine Mutter ihm gegeben hatte, hervor. "Dann muss mein Proviant wohl doch herhalten."
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Der Tag neigte sich bereits seinem Ende. Die Kinder hatten sich damit begnügt, den Rest des Nachmittages auf der Wiese unter dem Baum zu verbringen, anstatt in dessen Ästen zu sitzen. Merry lehnte gegen den Stamm und kaute an einem Grashalm, als er seinen Vorschlag vom Vormittag wiederholte: "Wollen wir nicht zu Maggot gehen? Ich hätte jetzt große Lust auf Pilze." Frodo lag dösend und zu voller Länge ausgestreckt im Gras. Die Schmerzen hatten aufgehört und auch das Schwindelgefühl hatte nachgelassen, doch hatte er einige blaue Flecken entdeckt, die ihm zuvor nicht aufgefallen waren. Er hatte die Hände hinter dem Nacken verschränkt, hielt die Augen geschlossen. "Jetzt noch?", fragte er blinzelnd. "Es wird bald dunkel. Meine Eltern sind heute Abend nicht da und ich habe versprochen, trotzdem nicht zu spät zurück zu sein." "Komm schon! Ein Grund mehr, wenn sie nicht zu Hause sind. Außerdem wird es nicht so spät werden. Wir werden uns beeilen", versuchte Merry Frodo seinen Plan schmackhaft zu machen und ließ sich ebenfalls bäuchlings ins Gras fallen. Mit einem vielsagenden Grinsen sah er auf seinen Vetter hinab. Zweifelnd blickte Frodo in die bittenden Augen des jüngern Hobbits: "Ich weiß nicht. Das letzte Mal wären wir beinahe erwischt worden. Ich habe seine Worte noch genau im Ohr ‚Ich habe euch gesehen, Frodo, Frodo Beutlin und Merry Brandybock! Das nächste Mal erwisch' ich euch und dann geht es euch an den Kragen!' hat er gerufen", erinnerte er ernst. "Er hätte uns beinahe erwischt." "Beinahe!" betonte Merry, "Heute werden wir es besser machen. Du wirst dich von Westen her anschleichen und ich mich von Osten. So verwirren wir die Hunde. Und wenn alles erledigt ist, treffen wir uns auf der Landstraße, so wie letztes Mal. Wir könnten aber auch beim Fährweg aufeinander warten." Frodos ernster Blick ruhte weiterhin auf seinem Vetter, als er sich seufzend alles genau durch den Kopf gehen ließ. "Komm schon!" drängte Merry noch einmal. "Also gut!" gab sich Frodo schließlich geschlagen, wandte den ersten Blick jedoch nicht von seinem Vetter ab. "Sollte es aber Konsequenzen geben, weil wir zu spät nach Hause kommen, werde ich dir die Schuld dafür zuschieben." "Das ist in Ordnung! Gar kein Problem!" jubelte Merry und sprang auf, als wäre es eine Kleinigkeit, dem Zorn ihrer Eltern entgegenzutreten. "Lass uns gehen!"
Resignierend richtete Frodo sich auf, schwang sich seinen Rucksack auf den Rücken und folgte Merry zurück zur Landstraße. Die Sonne hatte sich bereits tief über die westlichen Hügel gesenkt und niemand war auf der ohnehin selten befahrenen Landstraße unterwegs, während Frodo und Merry ihrem Verlauf nach Süden folgten. Kurz vor Maggots Hof verließen die Kinder die höher gelegte Straße und verschwanden ungesehen in den Feldern. Auf Merrys Zeichen trennten sie sich, um die Hunde des Bauern täuschen zu können. Maggot war der einzige Hobbit im Auenland, der sich Hunde hielt und vor allem bei frechen, an Pilzen interessierten Jungen, waren diese sehr gefürchtet.
Merry versteckte sich hinter einem großen Stein und sah sich um. Es waren keine Hunde zu sehen. Langsam kroch er nach vor und suchte den Boden ab, wobei er immer wieder versichernd nach beiden Seiten blickte und die Ohren gespitzt hielt. Im Licht der untergehenden Sonne hatte er schnell gefunden, wonach er sucht. Rasch pflückte er die Pilze ab und steckte sie in eine kleine Tasche, die er bei sich trug.
Frodo war weiter nach Westen gerannt, hinein in das Maisfeld des Bauern. Er lauschte auf jedes Geräusch. Keiner schien in der Nähe zu sein. Auch Merry konnte er durch den hohen Mais nicht mehr sehen, doch das störte ihn nicht weiter, würden sie schließlich hinterher wieder aufeinander treffen. Dieses Mal hatten sie den Fährweg zum Treffpunkt auserkoren. Leise schlich Frodo weiter nach vorne, versuchte, die Stängel so wenig wie möglich zu berühren, um sie nicht in Bewegung zu versetzen. Leise, wie es nur Hobbits sein konnten, schlich er sich bis zum südlichen Ende des Maisfeldes heran. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er, nur wenige Schritte von sich entfernt, die Pilze entdeckte, nach denen sein Herz gelüstete. Der ganze Boden war übersäht mit der Leckerei. Zögernd sah Frodo nach beiden Seiten. Er war gefährlich nah an den Hof gekommen, doch noch immer war keine Spur von den Hunden oder von Bauer Maggot selbst. Mit einem letzten, kurzen Blick zu allen Seiten, fasste Frodo sich ein Herz, sprang hurtig aus dem Maisfeld hervor, schnallte seinen Rucksack ab und füllte ihn eiligst.
Ein schriller Pfiff ertönte. Frodo war mit einem Satz zurück im Maisfeld, duckte sich, wartete angespannt. Am anderen Ende des Hofs horchte Merry ebenfalls auf und versteckte sich wieder hinter dem Felsen. Bellend versammelten sich die Hunde in der Mitte des Hofes, wo deren Herr unbemerkt erschienen war. "Wolf! Greif! Fang! Kommt her!" rief der Bauer. Maggot war ein breitschultriger, untersetzter Hobbit. Die Wangen seines pausbäckigen, runden Gesichts waren gerötet und sein Ausdruck wirkte grimmig. "Sie sind wieder da, die beiden Burschen. Ich habe sie gesehen", ließ er seine Hunde in verschwörerischem Tonfall wissen und sprach doch laut genug, dass beide Eindringlinge seine Stimme hören konnten. "Einer muss dort drüben sein", der Bauer deutete in Merrys Richtung, "und einer hat sich im Maisfeld versteckt. Sucht sie!"
Einer der Hunde sprang sofort auf Merry zu. Dieser überlegte nicht lange und nahm seine Beine in die Hand. So schnell er konnte, rannte er davon, möglichst weit weg von Maggots Hof. Der Hund jagte bellend hinter ihm her. Merry spürte den Schweiß auf seiner Stirn, fürchtete schon, das kläffende Tier würde ihn beißen, als plötzlich ein weiterer Pfiff durch die Abendluft schnitt und den Hund zurückrief. Als er sicher war, dass der Hund ihn nicht weiter verfolgen würde, hielt Merry an und sah sich um. Von Frodo war weit und breit nichts zu sehen. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn, doch Merry hielt sich nicht weiter damit auf, sondern eilte weiter zur Fähre. Er konnte nur hoffen, dass Maggot seinen Vetter nicht bereits erwischt hatte.
Frodo machte auf der Stelle kehrt, rannte tiefer ins Maisfeld, als der Bauer seine Hunde auf sie los ließ. Ohne Rücksicht lief er an den Maisstängeln vorüber, zwängte sich durch die schmalen Zwischenräume, als er plötzlich ein lautes Bellen, das immer näher kam, neben sich vernahm. Rasch änderte er seine Richtung, blickte immer wieder kurz zurück, um sicher zu gehen, dass er noch nicht verfolgt wurde. Einige Male wäre er beinahe gestürzt, schaffte es aber immer, sein Gleichgewicht rechtzeitig zurückzuerlangen. Stolpernd trat er plötzlich aus dem Maisfeld heraus, musste erschrocken feststellen, dass er nun nicht mehr nur in der Nähe des Hofes war, sondern direkt vor der Tenne stand und mit dem Hund an seinen Fersen, blieb ihm nichts anderes übrig, als dort nach einem Versteck zu suchen.
"Merry Brandybock und Frodo Beutlin! Ich weiß, dass ihr es seid! Kommt heraus, ihr Halunken!" Frodo keuchte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sah, wie der Bauer auf das Maisfeld und somit direkt auf ihn zulief. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn als er, den Klang des Hundegebells im Ohr, verzweifelt hinter einem der Fässer, die an einen Balken gelehnt hinter der Tenne aufgestellt waren, Schutz suchte. Für einen kurzen Augenblick verfluchte er den Moment, an dem er eingewilligt hatte, heute hierher zu kommen, doch lange hatte er dazu keine Zeit, denn der Bauer kam immer näher. Unwillkürlich wollte Frodo einen Schritt zurückweichen, sich ein besseres Versteck suchen, doch musste er entsetzt bemerken, dass er mit seinen Hosenträgern am Holzbalken hängen geblieben war. Seine Augen weiteten sich voller Furcht. Verzweifelt versuchte er, sich loszureißen, zupfte und zerrte am Stoff seines Trägers. Mit Müh und Not und zitternden Fingern schaffte er es schließlich, sich zu befreien, doch als er sich umwenden wollte, stand ein knurrender Hund vor ihm und bleckte die Zähne. Frodo stockte der Atem. Starr vor Angst und Schrecken, blickte er das Tier mit weit aufgerissenen Augen an. Den Rucksack, den er in der Hand gehalten hatte, seit er ihn mit Pilzen gefüllt hatte, ließ er fallen. Frodo war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, konnte nicht einmal mehr zittern. Der Schweiß lag ihm auf der Stirn und er wollte fliehen, doch seine Panik hielt ihn in einem klammernden Griff, raubte ihm jegliche Kontrolle über seinen Körper. "Gut gemacht, Wolf!" hörte Frodo den Bauer sagen, der plötzlich von hinten an ihn herantrat und den Hund tätschelte. Maggots Augen funkelten. Grob packte er den Dieb am Kragen, hob ihn hoch. Er stieß einen weiteren, schrillen Pfiff aus, mit dem er auch die anderen beiden Hunde zurückrief.
Zitternd blickte Frodo in die zornigen Augen des Bauern. "Schmecken dir meine Pilze?", fragte Maggot barsch. Frodo antwortete nicht, seine Angst vor dem alten Hobbit raubte ihm die Stimme. Dies schien Bauer Maggot wenig zu kümmern, er hatte ohnehin nicht mit einer Ausrede gerechnet, nicht, wenn seine Hunde an seiner Seite waren. "Ich werde dich lehren, mir meine Pilze zu stehlen!" sagte er schließlich, und stellte den Jungen wieder auf den Boden. "Zieh deine Hosen aus!" Mit festem Boden unter den Füßen fühlte sich Frodo gleich ein wenig besser, doch mit den Hunden so nahe bei sich, wagte er nicht, die Flucht zu ergreifen. Maggots Aufforderung allerdings, ließ Verwunderung sich mit seiner Angstvermischen und er konnte nicht anders als den Bauern verwirrt anzusehen. Frodo würde seine Hosen ganz bestimmt nicht vor einem fremden Hobbit ausziehen! Wozu überhaupt?
Als er keine Anstalten machte, den Worten Folge zu leisten, packte Maggot ihn an der Schulter. Frodo schrie überrascht auf, brachte dadurch die Hunde zum Bellen. Noch ehe der junge Hobbit wusste, wie ihm geschah, hatte ihm der Bauer mit einer raschen Handbewegung die Hosenträger von den Schultern geschoben und seine Hosen heruntergezogen. Frodo wollte sich wehren, doch gegen den starken Griff des Bauern kam er nicht an, als dieser ihn umdrehte, den linken Arm um seine Brust legte, um ihn festzuhalten, während die Rechte mit einem lauten Klatschen auf die nackte Haut seines ohnehin schon mitgenommenen Hinterteils niedersauste. Er wollte nicht klagen, doch traten Tränen in seine Augen, als der Schmerz ihn durchfuhr. Frodo biss fest auf seine Lippen, um die lauten Schreie, die sich in seiner Kehle formten zu unterdrücken, während der Bauer zu immer neuen Schlägen ausholte. Noch nie war er von einem Erwachsenen verprügelt worden. Sein Vater schimpfte nur, oder sperrte ihn für einige Zeit in sein Zimmer, wo er über seine Taten nachdenken sollte, wenn er unartig gewesen war, doch geschlagen hatte er ihn nie. Ausgerechnet von Bauer Maggot geprügelt zu werden, hatte ihn so überrascht, dass er nicht einmal mitzählen konnte, wie oft die kraftvollen Schläge des Bauern seine schmerzenden Backen traf. Die Scham mit entblößtem Hinterteil in Maggots Hof zu stehen und mit der Hand gezüchtigt zu werden, ließ ihm, gemischt mit seiner Angst und dem Schmerz, unzählige Tränen über die Wangen laufen. Frodo hatte aufgehört, sich zu wehren, als der erste Schlag auf ihn niedergegangen war, wartete seither darauf, dass all dies ein Ende hatte, er seine Hose wieder anziehen, gehen und die schier endlosen Augenblicke, die er nun durchlebte, vergessen konnte.
Endlich lockerte sich der Griff des Bauern um seine Brust und er ließ von ihm ab. Frodo trat sofort einen Schritt zur Seite, tastete nach dem Bund seiner Hosen und zog sie hoch. Eine schreckliche Hilflosigkeit ergriff ihn und er glaubte, nicht länger ohne lautes Schluchzen auszukommen, denn zu allen Seiten war er nun eingekreist. Bauer Maggot stand vor ihm, schien ihm offensichtlich Zeit zu geben, sich wieder anständig anzuziehen. Hinter ihm, ebenso wie zu beiden Seiten, hatten sich die Hunde platziert, die ihm knurrend klar machten, dass er nicht einmal daran denken sollte, wegzulaufen. Frodos panische Angst vor den Tieren und dem Bauern schnürte ihm beinahe die Luft ab und er drohte zu verzweifeln. Er wünschte sich nichts mehr, als nach Hause zu seiner Mutter zu laufen und zu weinen, bis seine Tränen all die Furcht aus ihm heraus geschwemmt hatten. Während er das Hemd in seine Hose steckte, spürte er den strengen Blick Bauer Maggots auf sich ruhen. "Lass in Zukunft die Finger von meinen Pilzen! Und sag deinem Freund, dass ich ihn hier auch nicht mehr erwischen möchte." Der Junge nickte heftig, die Augen noch immer groß und verschreckt.
Doch der Bauer schien noch nicht überzeugt, dass er seine Lektion gelernt hatte, packte ihn plötzlich erneut am Kragen, hob ihn hoch, woraufhin die Hunde zähnefletschend bellten. Panik ergriff Besitz von Frodo. Er versuchte verzweifelt, sich aus dem Griff zu winden und, seine Stimme endlich wieder findend, bat er Maggot hilflos ihn wieder gehen zu lassen. Der Bauer schien davon jedoch keine Notiz zu nehmen, sprach stattdessen zu seinen Hunden. "Seht ihn euch an, ihr Burschen! Das nächste Mal, wenn dieser kleine Racker den Fuß auf meinen Grund und Boden setzt, könnt ihr ihn fressen! Jetzt schafft ihn fort!" Mit diesen Worten setzte er Frodo wieder auf den Boden und sah lachend zu, wie seine drei Hunde dem Hobbitjungen hinterherhetzten, als dieser fluchtartig das Weite suchte.
Frodo rannte so schnell er konnte über die Felder nach Osten, seinen langen, dunklen Schatten vor sich her schiebend. Die Sonne war inzwischen beinahe untergegangen und der Himmel erstrahlte in leuchtendem Rot und Gelb. Die Hunde jagten dem Jungen kläffend hinterher, schnappten immer wieder nach seinen Beinen. Tränen rannen über seine Wagen, doch er unterdrückte sie. Er brauchte seine Luft zum Laufen, nicht zum Weinen. Während er rannte, fiel ihm plötzlich ein, dass er seinen Rucksack hatte liegen lassen. Den würde er bestimmt nie wieder sehen. Endlich erreichte er die Landstraße. Frodo keuchte als er nach Norden weiter eilte, die Hunde unermüdlich hinter sich. Er spürte, wie seine Knie vor Angst und Erschöpfung weich wurden. Er drohte umzufallen, doch zwang er sich dazu, weiter zu laufen. Die Luft ging ihm langsam aus und er glaubte, er würde die Fähre nie erreichen, doch die kläffenden und knurrenden Bieste hinter ihm, erinnerten ihn daran, dass er weiter laufen musste, ganz gleich, wie erschöpft er war. Der Schweiß lief ihm von der Stirn und rann seinen Rücken hinab, während er keuchend und weinend dahin stolperte. Inzwischen konnte er sich nicht einmal mehr umsehen, hatte jedoch im Stillen beschlossen, zu laufen, bis er die Hunde nicht mehr hörte, von ihnen zerfleischt wurde oder besinnungslos zu Boden sank.
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Merry ging an der Abzweigung zum Fährweg ungeduldig auf und ab. Er machte sich Sorgen um seinen Vetter. Wo blieb er nur so lange? Was, wenn der Bauer ihn erwischt hatte? Ungeduldig sah er erneut den Landweg hinunter, als er seinen Vetter plötzlich sah. Von weit her kam er angerannt, verfolgt von den drei kläffenden Hunden Bauer Maggots. Rasch eilte Merry den Fährweg hinunter, rannte auf die Fähre und löste die Taue. Er war gerade bereit für die Überfahrt, als Frodo völlig erschöpft in den Fährweg einbog und kurz darauf stolpernd auf das Fährenboot sprang, wo er keuchend zusammenbrach, gerade in dem Augenblick, da Merry das Boot vom Ufer abstieß. Frodo warf noch einen letzten, kurzen Blick zum Steg, wo die Hunde bellten und knurrten, dann schloss er die Augen. Sein Atem klang so flach und schnell, dass Merry befürchten musste, er würde ersticken. "Ist alles in Ordnung?", fragte der Jüngere besorgt. Der Schweiß rann Frodo über das Gesicht, tropfte in sein Haar. Einige der dunklen Locken klebten bereits an Stirn und Schläfen. Sein Brustkorb hob und senkte sich in raschen, keuchenden Atemzügen. "Er… er hat mich erwischt", schnaufte Frodo mühsam und seine Erschöpfung verbot es ihm, gleich weiter zu sprechen. Nach einer langen Pause öffnete er schließlich die Augen und erst jetzt fiel Merry auf, dass sein Vetter geweint hatte. "Er hat mich erwischt und mich verprügelt", brachte Frodo schließlich hervor. "Ich glaube, ich werde die nächsten drei Wochen nicht vernünftig sitzen können." Merry verkniff sich ein Lachen, doch ein Blick von Frodo ließ ihn wissen, dass eigentlich er die Verantwortung für den heutigen Besuch bei Maggot trug und das Lachen erlosch. "Dann hat er mich den Hunden vorgeführt", erzählte Frodo weiter, "Und sie haben mich gejagt. Gejagt, bis hier her. Ich dachte, ich würde gleich mitten auf der Straße zusammenbrechen." "Du bist den ganzen Weg gerannt?!" rief Merry erstaunt, "Das sind mindestens fünf Meilen!" "Ich weiß", keuchte Frodo und schloss erneut die Augen. "Ich werde nie wieder Maggots Pilze stehlen, Merry. Wenn ich das nächste Mal unbefugt seine Felder betrete, dürfen die Hunde mich fressen und ich zweifle nicht daran, dass sie mich zerfleischen würden. Sie führen die Aufträge ihres Herrn sehr gewissenhaft durch. Sie hätten mich beißen können, aber sie haben es nicht getan. Sie hatten nur den Auftrag mich fort zu schaffen und das haben sie getan - mich gehetzt, bis hierher." Merry sah mitleidig auf seinen Vetter, der zitternd am Boden lag. Hätte er ihn doch nur nicht dazu überredet, noch zu Maggot zu gehen. Jetzt wurde er verprügelt und in Angst und Schrecken versetzt und noch dazu würden sie mehr als nur zu spät zu Hause ankommen, denn die Sonne war inzwischen hinter den westlichen Hügeln untergegangen. Immerhin konnte er dafür die Schuld auf sich nehmen. Frodo sollte heute nicht noch mehr ertragen müssen. Das war nicht sein Tag gewesen.
Frodo blieb stumm liegen, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Sein Herz raste. Er glaubte, es würde nie wieder in seiner normalen Geschwindigkeit klopfen. Er erinnerte sich an den Rucksack. Wie sollte er das seinen Eltern erklären? Erzählte er ihnen, dass er beim Pilze stehlen erwischt worden war, würde ihm nur gesagt werden, dass es ihm Recht geschah, wo sie auch nicht Unrecht hatten. Sein Vater würde vermutlich sehr wütend werden und ihm versichern, dass diese Tracht Prügel mehr als nötig gewesen war. Wer wusste, vielleicht hielt er sogar eine weitere für angebracht. Frodo erschauderte bei dem Gedanken. Nein, sein Vater würde ihn niemals prügeln. Er würde ihm diese Art von Scham und Schmerz ersparen. Eine einzelne Träne stahl sich aus seinen Augenwinkeln, als er versuchte, diese Gefühle zu vergessen und darauf wartete, dass sich sein erhitzter Körper wieder abkühlte.
Als die beiden das andere Ufer des Brandyweins erreichten, war es dunkel und die ersten Sterne leuchteten am Himmel. Schweigend gingen sie den Weg zurück zum Brandyschloss, als sie plötzlich eine Ansammlung von Hobbits am Flussufer ausmachen konnten, die sich flüsternd unterhielten. Sie hatten Laternen bei sich, deren Licht sich glitzernd auf dem dunklen Wasser des Flusses spiegelte. Die jungen Hobbits tauschten einen fragenden Blick, entschlossen, dass es keinen Unterschied machte, ob sie sich nun um ein paar Augenblicke mehr verspäteten und folgten dem Pfad ihrer Neugier.
Als sie näher kamen, erkannten sie Saradoc, der sich zufällig zu ihnen umgedreht hatte. Er war ein groß gewachsener, schlanker Hobbit mit Locken im selben hellen Braun wie Merrys und grünen Augen. "Merry! Frodo!" rief er aufgebracht. "Was macht ihr hier? Geht nach Hause!" Ohne weiter auf die jungen Hobbits zu achten, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Geschehnissen am Flussufer zu. Die Kinder zögerten einen Augenblick, blieben verdutzt stehen. Merry wollte umdrehen, doch Frodo ging plötzlich weiter. Irgendetwas schien ihn zum Ufer zu ziehen, schien zu wollen, dass er herausfand, was dort vor sich ging, weshalb sich alle so geschäftig dort umsahen. Eine plötzliche Angst umklammerte sein Herz, schnürte ihm beinahe die Luft ab. Hatten seine Eltern nicht die Absicht gehabt, heute Abend mit einem Boot hinauszufahren? Frodo konnte nicht sagen, weshalb er ausgerechnet an die Pläne seiner Eltern denken musste, doch etwas sagte ihm, dass dies mit ein Grund für die Versammlung am Flussufer war. Seine Angst verstärkte sich noch und ein heimliches Flattern, beinahe wie ein Zittern, breitete sich in seinem Körper aus. Als er näher kam, wandte sich Saradoc noch einmal zu ihm um, offensichtlich, um sich zu vergewissern, dass beide Kinder den Heimweg angetreten hatten. Als Merrys Vater ihn erkannte, veränderte sich dessen Gesichtsausdruck und Frodo glaube für einen Augenblick, Entsetzen, beinahe Panik darin aufflammen zu sehen. "Frodo! Bleib zurück! Geh mit Merry nach Hause!" sagte er bestimmt und kam ihm entgegen. "Aber..." "Nein, Frodo!" Saradoc ließ ihn nicht einmal zu Wort kommen, sondern baute sich förmlich vor ihm auf und versperrte ihm den Weg. "Ich werde dir zu Hause alles erzählen. Geh jetzt!" Frodo schielte nach links und nach rechts, versuchte, sich an Saradoc vorbei zu drängen, als sein Blick plötzlich auf ein dünnes, blaues Tuch fiel. Ein Tuch, wie jenes, das seine Mutter gerne trug. Mit einem Mal erinnerte er sich wieder an seinen Traum und an das Wasser und seine Augen weiteten sich voller Angst. "Mama!" Sein herzzerreißender Schrei, voll Furcht, Entsetzen und Schmerz, durchschnitt die Stille der Nacht, übertönte die Stimmen der Hobbits und das Plätschern des Flusses.
Kapitel 5: Schreckliche Neuigkeiten
Frodo versuchte verzweifelt, sich an Saradoc vorüber zu drängen, doch der Herr von Bockland hielt ihn auf. Tränen brannten in seinen Augen, konnte er doch nicht verstehen, weshalb Saradoc ihn nicht zu seiner Mutter ließ. Einige Gesichter wandten sich ihm zu, als sie seine Stimme erkannten, waren gezeichnet von Schmerz, Trauer, Verzweiflung und tiefem Mitgefühl. Saradoc packte ihn fester, als Frodo versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, immer wieder verzweifelt nach seiner Mutter und seinem Vater rufend. Weshalb kamen sie nicht zu ihm? Weshalb sorgten sie nicht dafür, dass Saradoc ihn zu ihnen ließ? Verärgert schlug Frodo Saradocs Hände von sich, drängte sich an ihm vorbei, doch wieder hielt ihn der Herr von Bockland fest, hob ihn schließlich hoch. "Bring den Jungen hier weg, Saradoc!" hörte Frodo die Stimme von Marmadas, einem guten Freund seines Vaters. Sie zitterte, war von Verzweiflung und Entsetzen überschattet. Verwirrt und verzagt zugleich, hörte er für einen Augenblick auf, sich gegen Merrys Vater zu wehren und hob den Kopf. Marmadas stand zwischen Saradoc und den versammelten Hobbits und das schwache Licht seiner Laterne in seiner zitternden Hand erleuchtete sein blasses Gesicht sowie einige der braunen Locken, die ihm wirr in die Stirn hingen. Saradoc hätte die Aufforderung des anderen Hobbits nicht mehr benötigt, denn er hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Frodo blickte einen Augenblick verwirrt zwischen ihm und Marmadas hin und her, rief dann wieder nach seiner Mutter und versuchte, sich aus dem Griff des Herrn zu winden. Er zappelte wild, schlug auf Saradoc ein, unwillig, sich grundlos von ihm wegtragen zu lassen. "Komm, Merry, wir gehen nach Hause", sagte Saradoc mit sanfter, beinahe zitternder Stimme, als sie den jüngern Hobbit erreichten, der noch immer wie angewurzelt etwas weiter hinten stand und das Geschehen verwirrt beobachtete. Merry ging folgsam neben seinem Vater her, dem Frodos Zappeln bald zuviel wurde. Rasch bekam der Herr die Handgelenke des Jungen zu fassen, hielt sie fest umklammert, während die andere Hand, deren Arm Frodos Körper stützte, nach dessen Beinen tastete und versuchte, sie ruhig zu stellen.
Frodo gab schließlich auf, blickte mit Tränen in den Augen über die Schulter des Herrn zurück zum Flussufer, wo sich Marmadas wieder unter die anderen Hobbits gemischt hatte. Was war geschehen? Weshalb ließ man ihn nicht zu seiner Mutter? Der Knoten der Angst in seiner Brust schnürte sich immer enger. Er verstand nicht, konnte nicht verstehen, weshalb Saradoc ihn nicht zum Flussufer ließ und auch jetzt wollte ihm der Herr darauf keine Antwort geben. Saradoc blickte zu Boden und im Licht der Sterne glaubte Frodo zu erkennen, dass seine Augen leer waren, beinahe so, als wäre jegliche Emotion daraus gestohlen worden. Frodo löste seine Hände aus Saradocs Griff, lehnte den Kopf an dessen Schulter und blickte stumm zurück zu den Lichtern am Flussufer, die langsam in der Dunkelheit verblassten. Er schluckte schwer, als er bemerkte, wie trocken sein Mund war. War es das Tuch seiner Mutter gewesen, das er am Ufer hatte liegen sehen? Wenn dem so war, was tat es dort, wo alle versammelt standen und wo war seine Mutter? Weder sie, noch sein Vater hatten auf sein Rufen reagiert. Die Erinnerung an seinen Traum nagte an seinen Gedanken, verstärkte seine Furcht noch. Frodo wusste nicht, was ihm solche Angst machte und das beunruhigte ihn noch mehr. Diese Furcht war anders, als jene, die er erst vor kurzer Zeit bei Bauer Maggot empfunden hatte, doch war sie mindestens genauso stark, wenn nicht noch stärker. Frodo brauchte Antworten, konnte jedoch in Saradocs leerem Blick erkennen, dass er diese von ihm jetzt nicht erhalten würde. Doch wann würde er sie bekommen? Was würden das für Antworten sein? Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, ließ ihn erzittern. Frodo schloss verwirrt und hilflos die Augen, fühlte sich plötzlich zu müde, um weiterhin nachzudenken oder Saradoc klar zu machen, dass er nicht wie ein kleines Kind getragen werden musste, sondern erlaubte dem Herrn von Bockland ausnahmsweise, den Arm um seinen Oberkörper zu legen.
~*~*~
Die Lichter des Brandyschlosses hießen sie schon von weitem willkommen und als sie den schmalen Pfad zur Haupteingangstür hinauf gingen, kam ihnen Esmeralda überglücklich entgegen gerannt. Sie hatte sich Sorgen gemacht, da Frodo und Merry zum Abendessen noch immer nicht zurück gewesen waren und ihren Mann beauftragt, nach ihnen zu suchen. Als er nun jedoch auf sie zukam, erkannte sie sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Frodo, der sich selbst von Drogo nur ungern tragen ließ, lehnte mit dem Kopf an Saradocs Schulter und Merry blickte immer wieder besorgt zu ihm auf, bis er schließlich in ihre Arme rannte. Esmeralda küsste ihren Sohn. Sie hatte befürchtet, dass Frodo etwas geschehen war, doch wenn dem so wäre, hätte Saradoc gerufen, und so schenkte sie ihrem Sohn ihre ganze Aufmerksamkeit. Erst als Saradoc in das schwache Licht trat, das von der Tür in die Nacht hinaus schien, fiel ihr sein Gesichtsausdruck auf und das ungute Gefühl, das sie schon den ganzen Abend gehabt hatte, kehrte zu ihr zurück. Besorgt blickte sie auf Frodo, doch dem Jungen schien es gut zu gehen, obwohl auch er einen verwirrten Eindruck machte. "Was ist geschehen?", fragte sie beunruhigt, als sie in die Augen ihres Gatten blickte. Er schien den Tränen nahe, sein Blick abwesend, ohne die übliche Wärme, die sie sonst in seinen Augen fand. "Das erzähle ich dir später. Lass uns zuerst die Kinder zu Bett bringen", antwortete Saradoc knapp, ging an Esmeralda vorüber, ohne ihr mehr als einen kurzen Blick zu schenken. Merry zuckte nur mit den Schultern, als Esmeralda ihn fragend ansah und so nahm sie ihren Sohn bei der Hand und ging Saradoc verwirrt hinterher.
Esmeralda führte sie in eine der kleineren Küchen, wo sie etwas Abendbrot auftischte. Zwar war sie wütend auf die Kinder, dass sie erst jetzt nach Hause gekommen waren, doch die Frage, wo sie sich so lange herumgetrieben hatten, schien ihr im Augenblick unwichtig. Dass Saradoc so mitgenommen war, beschäftigte sie viel mehr. Sie konnte es kaum abwarten, die Kinder endlich zu Bett zu bringen und zu erfahren, was geschehen war. Etwas Schreckliches musste passiert sein, dessen war sie sich klar, denn Saradoc war nicht leicht aus der Fassung zu bringen und so erschüttert wie zuvor, hatte sie ihn selten erlebt. Am liebsten wäre sie sofort zu ihm gegangen, doch er hatte Recht, die Kinder mussten zuerst versorgt werden. Merry langte kräftig zu, doch Frodo stocherte nur in seinem Teller, verzog bei der kleinsten Bewegung das Gesicht, als würde ihm das Sitzen Schmerzen bereiten, erklärte dann, dass er keinen Hunger habe und verließ die Küche ohne ein weiteres Wort.
Abwesend ging Frodo in sein Zimmer, wo er sich auszog und noch einmal die Kratzer, Schrammen und blauen Flecke begutachtete, die er sich am vergangen Tag geholt hatte. An Essen hatte er nicht einmal denken wollen. Zu tief saß noch der Schreck vor Maggot und seinen Hunden, und zu sehr quälten ihn die Fragen, auf die er keine Antworten erhielt. Für heute wollte er diese Dinge jedoch auf sich beruhen lassen, denn er war müde, erschöpft von seiner panischen Flucht zur Bockenburger Fähre. Er wollte sich sofort schlafen legen, auch wenn sein Hintern schmerzte und er befürchtete, er würde nur auf dem Bauch liegen können. Gerade, als er in sein Nachthemd geschlüpft war, öffnete sich die Zimmertür und Esmeralda trat herein. Frodo runzelte die Stirn, denn Merrys Mutter kam sonst nie zu ihm, auch nicht, wenn seine Eltern für den Abend weggegangen waren.
"Fühlst du dich nicht wohl, Frodo?", fragte Esmeralda als sie an ihn herantrat und besorgt seine Stirn fühlte. Die Temperatur schien normal. Frodo schüttelte den Kopf, wandte sich von ihr ab und kletterte in sein Bett, wo er bis zur Wand rutschte und herzhaft gähnte, beinahe so, als wolle er sie darauf hinweisen, dass er allein gelassen werden wollte. Esmeralda kam dennoch nicht umher, den Jungen noch einige kurze Augenblicke zu beobachten, als dieser die Augen schloss, ehe sie ihm leise eine gute Nacht wünschte und das Zimmer verließ.
Frodos Verhalten ließ sie nicht weniger ratlos werden, als sie es ohnehin schon war. Erst kehrte Saradoc mit einem Gesichtsausdruck zurück, als wäre er von einem Grabunhold aus den Hügelgräberhöhlen östlich des Alten Waldes angegriffen worden, dann ging Primulas Sohn ohne einen Bissen seines Abendessens schlafen. Esmeralda verstand sich sehr gut mit Primula, tauschte oft Ratschläge über die Erziehung ihrer Söhne mit ihr aus. So beschloss sie auch jetzt, ihre Freundin am nächsten Morgen über Frodos seltsames Essverhalten auszufragen. Saradocs hilflosen Gesichtsausdruck würde wohl nur er ihr erklären können und sie hoffte inständig, er würde das auch tun, nachdem sie auch Merry eine gute Nacht gewünscht hatte. Esmeralda seufzte, als sie vor der Zimmertür ihres Sohnes stand, trat schließlich in das wesentlich größere Zimmer Merrys. Noch brannte kein Feuer im Kamin, doch es würde nicht mehr lange dauern, bis die Tage kälter wurden und ein Feuer von Nöten war um die angenehme Wärme im Zimmer zu halten. Ein Kerzenhalter stand auf dem Nachttisch, dessen flackerndes Licht das Gesicht ihres Sohnes erhellte, der bereits im Bett lag und sie zu erwarten schien. Esmeralda lächelte, setzte sich neben ihn auf die Bettkante, als sie endlich die Frage stellte, die sie schon seit der Ankunft der Kinder hatte stellen wollen. "Was ist heute geschehen, Merry? Wo wart ihr so lange?" Merry zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf: "Was jetzt gerade eben geschehen ist, weiß ich nicht", er zuckte noch einmal mit seinen Schultern und sah sie lange an, als hoffe er, sie könne ihm ihre eigene Frage beantworten. Als Esmeralda jedoch nichts sagte, fuhr er fort: "Es tut mir Leid, dass wir erst so spät nach Hause kamen. Das ist alles meine Schuld. Ich…", er stockte, "wir wurden aufgehalten." "Aufgehalten?", fragte sie skeptisch, "Wo hat euch dein Vater gefunden?" "Gefunden, Mama?" Merry sah sie verwirrt an und schüttelte den Kopf. " Er hat uns nicht gefunden. Wir waren auf dem Heimweg, als wir ihn gefunden haben - unten am Brandywein." Esmeralda runzelte die Stirn. Merrys Antworten halfen ihr nicht, ihre Gedanken zu entwirren. Sie hatte gehofft, ihr Sohn könne sie über das informieren, was ihren Mann so sehr mitgenommen hatte, doch offensichtlich würde sie warten müssen, bis Saradoc ihr selbst alles berichtete. Einen Kuss auf seine Stirn hauchend, wisperte sie sanft, er solle jetzt schlafen.
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So sehr er es sich auch wünschte, Frodo fand keinen Schlaf. Mit wachen Augen rutschte er in seinem Bett hin und her, suchte nach einer bequemen Lage, doch ganz gleich, wie er sich hinlegte, er fand keine Ruhe. Die Fragen, die er eigentlich nicht hatte weiterverfolgen wollen, quälten ihn und das blaue Tuch seiner Mutter ging ihm nicht aus dem Sinn. Er sah es vor seinem geistigen Auge, wie es, um den Hals seiner Mutter gebunden, im Wind flatterte und dann erblickte er es am Flussufer. Das schwache Licht der Lampen schien durch den dünnen Stoff, als es, verborgen hinter den Beinen vieler, im Gras lag, verlassen, ungestört von sanften Windhauchen, die an diesem Abend ausgeblieben waren. Manchmal, wenn er die Augen schloss, sah er das Wasser, das ihn in der vergangenen Nacht im Traum verschlungen hatte und schreckte schnaufend aus seinem halbschlafartigen Zustand. Schließlich setzte er sich auf. Ein Zittern durchlief ihn, als er für einen kurzen Augenblick durch das kleine Fenster in die sternenklare Nacht hinaus blickte. Primula hatte ihn gelehrt, die Sterne ebenso zu lieben, wie sie es tat. Dies war auch der Grund, weshalb sie und ihr Vater meist erst spät abends mit dem Boot hinausfuhren. In einer sternenklaren Nacht, so wie dieser, liebte sie den Fluss und Bockland mehr, als an allen anderen Tagen und Frodo hatte gelernt, ihre Liebe zu den funkelnden Spiegelbildern der Sterne im Wasser zu teilen. Es gab nichts Schöneres, als den Himmel nicht nur über sich, sondern auch unter sich zu haben. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen und doch wusste Frodo, dass er in dieser Nacht auch unter dem Licht der Sterne keinen Schlaf finden würde. Etwas beunruhigte ihn zu sehr. Eine unbestimmte Angst, die sich immer deutlicher in ihm regte und seit den Augenblicken am Flussufer kaum verklungen war.
Schließlich warf er die Decke zurück und kroch aus seinem Bett. Mit leisen, tapsenden Schritten trat er in den Gang hinaus, öffnete leise, beinahe zaghaft die gegenüberliegende Tür, die in das Zimmer seiner Eltern führte. Dunkelheit hieß ihn willkommen. Das Bett war unbenützt, leer. Was hatte er erwartet? Seine Eltern hatten ihm schließlich gesagt, dass sie heute Abend nicht hier sein würden und er wusste von anderen Tagen, dass sie von Bootsfahrten oft erst sehr spät nach Hause kamen. Und doch wollte seine Angst nicht von ihm lassen. Ein verirrter Windhauch, vermutlich aus den vorderen Gängen des Brandyschlosses kommend, verfing sich in seinem Haar und für einen kurzen Augenblick, sah Frodo wieder das dünne, blaue Tuch vor seinen Augen. War es wirklich das Tuch seiner Mutter gewesen, das er am Flussufer gesehen hatte? Weshalb hatten ihn Marmadas und die anderen, die er in der Dunkelheit nicht hatte erkennen können, so mitleidig, so traurig angesehen, als er nach seiner Mutter gerufen hatte? Ein Schauer lief ihm über den Rücken und Frodo schüttelte den Kopf, als könne er sich so seiner Fragen entledigen.
Leise schloss er die Tür hinter sich, tapste durch den östlichen Gang zurück zu den Hauptgängen. Er wollte die vielen Wohn- und Gesellschaftszimmer des Brandyschlosses nach Esmeralda durchsuchen und sie fragen, ob er nicht noch aufbleiben könne, bis seine Eltern zurückkehrten. Leise ging er an einer der kleineren Küchen vorüber, schielte in eines der Wohnzimmer, die in diesem Gang lagen und ging dann weiter zum nächsten, als er sah, wie am untersten Ende des Ganges, dort wo Merrys Zimmer lag, jemand in den Gang trat und hinter der nächsten Biegung verschwand. Vermutend, dass es Esmeralda gewesen war, rannte Frodo ihr unbemerkt hinterher.
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Esmeralda fand Saradoc auf dem Bett sitzend vor, als sie die Türe in ihr Schlafzimmer öffnete. Er hatte keine Kerzen entzündet, saß in völliger Dunkelheit, doch im schwachen Licht, das vom Gang hereindrang, konnte sie erkennen, dass sich sein Gesichtsausdruck nicht geändert hatte. Er wirkte erschrocken, verletzt, traurig und wütend und schien plötzlich um viele Jahre gealtert zu sein. Esmeralda klopfte das Herz bis zum Hals. Tiefes Mitgefühl erfüllte ihr Sein und sie konnte ihre Sorge um ihren geliebten Mann nicht länger verbergen. "Sag mir, was ist geschehen?", fragte sie mit zitternder Stimme. Saradoc hob den Kopf. Seine nächsten Worte kosteten ihn mehr Kraft, als er im Augenblick zu haben schien. "Schließ erst die Tür!" Seine gebrochene Stimme ließ sie erzittern, doch Esmeralda tat, wie ihr geheißen, auch wenn sich ihre Hände nur zaghaft bewegten und ihre Finger zitterten, als sie den Knauf umklammerte und die Tür verschloss. Völlige Dunkelheit umschloss sie, doch Esmeralda kannte jeden Schritt in ihrem Zimmer, machte sich daran, eine Kerze zu entzünden, als plötzlich ein Schluchzen an ihr Ohr drang und sie entsetzt feststellen musste, dass Saradoc weinte. Nur beim Tod seines Vaters und bei dem seiner Mutter hatte sie ihn weinen sehen und die plötzliche Hilflosigkeit, die sie umfing, trieb ihr selbst die Tränen in die Augen. Sie vergaß um die Kerze, trat stattdessen an seine Seite, umarmte ihn und drückte ihn an ihre Brust, wie sie es sonst nur Merry tat. Er ließ sie schluchzend gewähren, klammerte sich in völliger Hoffnungslosigkeit an ihren Arm, als fürchte er, sie könne ihm verloren gehen. Esmeralda war verzweifelt ihn zu beruhigen, ihn zu trösten, doch fand sie keine Worte, konnte nur hilflos mit ansehen, wie er vor ihr zusammenbrach. "Wie soll ich das Frodo nur beibringen?", brachte er unter keuchenden Atemzügen hervor. Esmeralda zog verwirrt die Stirn in Falten, unfähig seinen Worten Sinn zu entnehmen. Ihre Lippen formten eine stumme Frage, als er sich plötzlich aus ihrer Umarmung löste und sich von ihr abwandte. "Drogo und Primula wollten mit dem Boot hinausfahren, einen der letzten warmen Abende genießen", fuhr er wispernd fort und Esmeralda nickte zögernd, schließlich hatte ihr Primula schon vor mehreren Tagen von ihren Plänen erzählt und doch beschlich sie nun ein seltsames Gefühl. Eine heimliche Angst stahl sich durch ihren angespannten Körper, als Saradoc mit zitternder Stimme weiter sprach. "Keiner weiß genau, wie es geschehen ist, doch das Boot", er stockte und schnappte nach Luft, "es ging unter." Esmeraldas Augen wurden groß, ihre Furcht raubte ihr den Atem. Ohne, dass sie sich ihrer Tat klar wurde, legte sie einen Arm um seine Brust und Saradoc hielt ihre Hand fest umklammert, schluchzte. "Maramdas hat sie gefunden", erklärte er dann in gebrochenem Tonfall und eine Träne tropfte auf Esmeraldas zitternde Hand. "Drogo und Primula", er stotterte, brachte seine letzten Worte kaum hervor, "sie waren tot."
Frodo hatte gerade noch gehört, wie Saradoc Esmeralda anwies, die Türe zu schließen und blieb vor ihrem Zimmer stehen, nicht sicher, ob er nun anklopfen oder abwarten sollte. Ungeduldig wartete er einige Augenblicke, wollte sich zum Gehen wenden, als er seinen Namen vernahm und mit gerunzelter Stirn stehen blieb. Weshalb sprach Saradoc von ihm? Er konnte unmöglich etwas von Maggot erfahren haben, dazu war zu wenig Zeit vergangen. Neugierig presste Frodo sein Ohr gegen die Tür und lauschte mit bangem Herzen, völlig vergessend, dass er in diesem Bereich des Brandyschloss leicht hätte erwischt werden können, da ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Als Saradoc von seinen Eltern sprach spürte Frodo den Knoten der Angst in seiner Brust immer deutlicher. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals und die Hand, die an der Tür neben seinem Gesicht lag, ballte sich zur Faust. Furcht spannte jede Faser seines Körpers und er war besorgt, keines von Saradocs Worten zu verpassen.
Die letzten Worte der leisen Unterhaltung, ließen Frodo fassungslos zurückweichen. Voller Furcht und blankem Entsetzen presste er seinen Körper gegen die Wand, seine Augen weit aufgerissen und ins Leere blickend. Für kurze Zeit vergaß er zu atmen, schien wie versteinert. Er war zu keinem Gedanken mehr fähig, spürte nicht einmal wie sein ganzer Körper heftig zu zittern begann und seine Knie weich wurden und unter ihm wegzuknicken drohten. Seine Brust schien zugeschnürt und Frodo japste einige Mal erfolglos nach Luft, bis ihm Tränen in die Augen traten. Er musste sich verhört haben. Saradoc musste sich geirrt haben. Doch was war mit dem Tuch? Was war mit dem Wasser in seinem Traum? Frodo wurde schwarz vor Augen und gerade als er glaubte, er würde umfallen und ersticken, gelang es ihm, geräuschvoll nach Luft zu schnappen. Er war schon auf halbem Weg an der Wand zu Boden gerutscht, als er sich keuchend und zitternd aufrappelte und den Kopf schüttelte, als könne er Saradocs Worte dadurch ungeschehen machen. Saradoc musste sich geirrt haben. Seinen Eltern ging es gut! Vor seinen Augen sah er das blaue Tuch im Gras liegen, hörte das Rauschen des Wassers, das ihn in der vergangen Nacht bedroht hatte. Verzweifelt kniff der junge Hobbit die Augen zusammen, legte sich die Hände auf die Ohren, um alle Geräusche auszusperren. Seine Brust schmerzte, so fest hatte sich der Knoten der Furcht inzwischen zugezogen, als er erneut geräuschvoll nach Luft schnappte und einen verzweifelten, herzzerreißenden Schmerzensschrei ausstieß. Seine Kräfte zusammensammelnd, setzte sich Frodo stolpernd in Bewegung, eilte den Gang entlang zur Eingangstür, die er keuchend öffnete um voller Panik nach draußen zu stürmen. Tränen der Furcht liefen über seine Wangen, als er nach Westen lief. Er musste zurück zum Fluss, musste zu seinen Eltern. Saradoc hatte sich geirrt! Das konnte nicht wahr sein, durfte einfach nicht wahr sein!
Saradoc und Esmeralda hoben erschrocken die Köpfe, als sie den Schrei vernahmen, wussten sofort, dass es sich dabei um Frodo handelte. Saradoc fluchte, riss die Tür auf und eilte den Gang entlang. Einige Hobbits waren verwundert aus den Wohnzimmern getreten, blickten sich verwirrt und besorgt um, doch der Herr von Bockland kümmerte sich nicht um sie, beantwortete keine ihrer Fragen, sondern rannte den Gang entlang, rief Frodos Namen, als er sah, wie dieser durch die Tür nach draußen verschwand. Wie hatte ihm ein solcher Fehler unterlaufen können? Frodo hätte es nicht erfahren dürfen, nicht auf diese Weise.
Immer wieder rief Saradoc Frodos Namen, als er über die nächtlichen Wiesen rannte und die Gestalt des jungen Hobbits vor sich sah. Er brauchte Frodos Absicht nicht zu kennen, um zu wissen, wo der Junge hinlief. Er wollte zum Brandywein, doch genau dort durfte Frodo jetzt nicht hin. Saradoc wollte sich gar nicht vorstellen, was in Frodos verzweifeltem Zustand alles mit ihm passieren konnte. Seine eigene Dummheit sollte nicht Grund dafür sein, dass der Junge seinen Eltern auf solch tragische Weise in den Tod folgte. Saradoc beschleunigte seinen Gang noch, doch der Abstand zu dem Jungen wurde kaum weniger. Wäre das Kind nicht plötzlich gestolpert und zweifelsohne schmerzhaft ins feuchte Gras gefallen, hätte Saradoc ihn nicht eingeholt.
Frodo rappelte sich mit Tränen überströmten Gesicht vom Boden auf. Er fühlte den Schmerz in seinen Knien nicht, nahm keine Notiz von Saradocs Stimme, war nur von einem Wunsch getrieben. Er musste zu seinen Eltern. Er musste Saradoc und sich selbst beweisen, dass es ihnen gut ging. Mühevoll kam er auf die Beine, als er plötzlich von hinten gepackt und erneut zu Boden geworfen wurde. Frodo schrie auf, strampelte und schlug wie wild um sich. Als er seinen Angreifer erkannte, ließ ihn das noch wilder um sich schlagen. Saradoc versuchte, ihn festzuhalten, ihn ruhig zu stellen, wie er es heute schon einmal getan hatte, doch dieses Mal würde Frodo sich nicht geschlagen geben. Er war wütend auf Saradoc. Wie konnte der Herr von Bockland nur solche Lügen erzählen? "Das ist nicht wahr!" schrie er immer wieder und Tränen rannen über seine Wangen. "Du lügst! Du hast dich geirrt!" Frodo trat verzweifelt um sich, versuchte, sich aus dem klammernden Griff des Herrn zu befreien und beschimpfte Saradoc beinahe hysterisch, während er immer wieder nach seinen Eltern rief.
Saradoc blieb keine andere Wahl, als sich auf Frodo zu stürzen, wenn er nicht wollte, dass ihm der Junge erneut entkam. Mit einer solch heftigen Reaktion hatte er jedoch nicht gerechnet und es schmerzte ihn, Frodos Worte zu hören und zu wissen, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen. Verzweifelt versuchte er, den Jungen festzuhalten, ihn zu beruhigen, wurde dabei nicht selten von schmerzhaften Schlägen und Tritten getroffen, doch das kümmerte ihn nicht weiter. Er verstand Frodos Schmerz und den daraus resultierenden Zorn, hätte er doch selbst gerne jemanden gehabt, dem er die Schuld für den Tod zweier solch warmherziger Hobbits hätte geben können. Doch so zornig ihn Frodos Tat und seine Verzweiflung darüber, dass das Kind flinker war als er selbst, und er seine Hände lange nicht zu fassen bekam, auch machte, so groß war seine Trauer und sein Mitgefühl für den Jungen, der soeben auf solch grausame Weise erfahren musste, dass er zum Waisen geworden war.
Endlich bekam Saradoc eines der Handgelenke zu fassen, musste es fester umklammern, als ihm lieb war, denn Frodo wehrte sich noch immer. Erst als Saradoc auch den zweiten Arm zu fassen bekam, den Jungen mit dem Rücken gegen seinen knienden Körper presste und ihm die Arme vor der Brust überkreuzte, hörte Frodo auf zu schlagen, sackte in sich zusammen und lehnte seinen Körper wie leblos gegen Saradocs Brust. Die Reglosigkeit des Jungen, ließ plötzliche Panik im Herrn von Bockland aufsteigen. Kalte Angst raubte ihm den Atem, als Saradoc furchtsam von den Handgelenken des Kindes abließ und den scheinbar leblosen Körper umdrehte, sodass Frodos Kopf bequem auf seinen Schoß gebettet war.
Frodo fühlte sich mit einem Mal sehr schwach. Jegliche Kraft schien aus seinen Gliedern zu entweichen und er konnte nichts weiter tun, als sich hilflos gegen Saradocs Brust fallen zu lassen. Seine verzweifelten Rufe hatten ihn heiser werden lassen und das feuchte, kühle Gras machte ihn schlottern. Heiße Tränen rannen über seine Wangen und liefen seinen Hals hinab.
Saradoc war erleichtert, als Frodo ihn ansah, doch die Verzweiflung in seinem Blick trieb ihm die Tränen in die Augen. Der Anfall war vorüber, der Junge hatte seine Kräfte aufgebraucht. Saradoc wollte ihn hochheben, aber Frodo hielt ihn auf, blickte mit großen, bittenden, blauen Augen direkt in die seinen und Saradocs Herz brach, als der Junge kaum hörbar flüsterte: "Bitte, bitte sag, dass es nicht wahr ist."
Saradoc schloss verzweifelt die Augen und drückte den Jungen fest an sich, während auch ihm die Tränen über die Wangen liefen. "Es tut mir Leid, Frodo. Es tut mir so schrecklich Leid." Einen schier endlosen Augenblick sah Frodo mit leeren Augen zu dem Herrn auf, als würde er dessen Worte überdenken. Nur langsam wurde ihm deren Endgültigkeit klar und schließlich begann er hilflos zu schluchzen, klammerte sich mit einer Hand am weißen Leinenhemd des Herrn fest und schloss die Augen. Er fühlte sich plötzlich sehr verletzlich und schutzlos und als Saradoc ihn hochhob, protestierte Frodo nicht, nahm es kaum wahr. Alles um ihn herum schien in Dunkelheit zu versinken. Er schluchzte herzzerreißend und immer wieder kamen klagende Jammerlaute über seine leicht geöffneten Lippen. Wie konnte das geschehen sein? Weshalb musste es geschehen? Was würde er nur ohne seine Eltern machen?
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Merry war aus seinem Zimmer geeilt, als er Frodo schreien gehört hatte. Seine Mutter rannte an ihm vorüber, ohne ihn zu bemerken und blieb in der Empfangshalle stehen. Auf Zehenspitzen ging Merry ihr hinterher, war überrascht, dass auch von den anderen Bewohnern des Brandyschlosses, die aus den Wohnzimmern getreten waren, niemand Notiz von ihm zu nehmen schien. Was war geschehen? Er hatte Frodo noch nie so verzweifelt schreien gehört, und doch war er sich sicher, dass es Frodos Stimme gewesen war. Er fragte sich, ob seine Eltern erfahren hatten, dass sie bei Maggot gewesen und beim Pilze stehlen erwischt worden waren. Seine eigenen Pilze hatte er sehr zum Verdruss in einer der Speisekammern verschwinden lassen, noch ehe seine Mutter sie hatte entdecken können. Neben einem großen Schrank blieb Merry stehen, beobachtete seine Mutter, die mit verzweifeltem Ausdruck in der Tür stand und in die Nacht hinaus blickte. Plötzlich rannte Esmeralda nach draußen und bald darauf drang Frodos Weinen an Merrys Ohr und der junge Hobbit horchte auf. War Frodo so hart für das Stehlen der Pilze bestraft worden? Saradoc kam in die Höhle und Merry trat erschrocken einen Schritt zurück. Frodo war nicht bestraft worden, denn auch sein Vater hatte Tränen in den Augen. Warum weinte sein Vater? Er hatte ihn noch nie weinen gesehen, wusste nicht einmal, dass er dazu in der Lage war. Fragend blickte Merry zu seinen Eltern auf, als sie an ihm vorüber in die östlichen Gänge des Brandyschlosses gingen, doch nahmen sie keine Notiz von ihm und so ging er ihnen zögernden Schrittes hinterher.
Saradoc legte Frodo in sein Bett, wo er sich einer Schildkröte gleich zusammenrollte, während Esmeralda eine Kerze entzündete. Zärtlich strich er dem Jungen über die Wange, setzte sich auf die Bettkante und wünschte sich nichts mehr, als ihm helfen, ihm beistehen zu können. Esmeralda blickte betrübt auf die beiden hinab und auch in ihren Augen schimmerten Tränen, als Merry neben das Bett trat. Sie wusste nicht, wo er so plötzlich hergekommen war, doch im Augenblick war ihr das gleich. Ihr Sohn trat mit verwirrtem Gesichtsausdruck neben seinen Vater, blickte besorgt zu Frodo und sah dann fragend zu Saradoc. "Was hat Frodo, Papa? Ist er krank?" Saradoc nahm seinen Sohn auf den Schoß, hielt ihn zärtlich umklammert und sagte leise: "Nein, Merry, doch Frodo musste etwas sehr Schreckliches erfahren." Frodo schnappte nach Luft und ein lautes Schluchzen entrann seiner Kehle, ehe er sich noch kleiner zusammenrollte. Saradoc verstummte, legte traurig die Stirn in Falten, als er auf den Jungen hinabblickte. Er wollte ihn nicht noch mehr belasten.
Merry spürte, dass er die Antwort noch früh genug erfahren würde und fragte nicht weiter. Stattdessen kroch er, auf Frodos Schluchzen hin, selbst in das Bett und nahm seinen Vetter in den Arm, strich ihm tröstend über den Rücken. Tränen stiegen in ihm auf. Frodo sollte nicht leiden. Sein Vetter war der Ältere, der Stärkere und es brach Merry das Herz ihn nun hilflos schluchzend in seinem Bett liegen zu sehen und nicht in der Lage zu sein, ihn zu trösten, denn auch wenn Frodo seine Augen fest verschlossen hielt, strömten immer neue Tränen seine Wagen hinab und sein Schluchzen wollte nicht verklingen. "Komm, Meriadoc!" sagte sein Vater schließlich und erhob sich, "Lass ihn jetzt alleine!" Merry war unwillig, Frodo zu verlassen, blickte bittend zu seinem Vater auf, doch dieser streckte bereits fordernd eine Hand nach ihm aus und so leistete er der Anweisung schließlich widerwillig folge, kroch aus dem Bett und verließ gemeinsam mit seinen Eltern Frodos Zimmer.
"Was musste Frodo erfahren?", fragte Merry, als er wieder in seinem Bett war und im schwachen Licht einer Kerze fragend in die Augen seines Vaters sah, der auf der Bettkante saß. Saradoc schluckte schwer, wich für einen Moment seinem Blick aus, holte dann aber tief Luft und begann zögernd zu sprechen. "Mit seinen Eltern ist etwas Schreckliches geschehen, Merry. Sie hatten einen Unfall. Marmadas hat sie heute Abend gefunden, doch er konnte ihnen nicht mehr helfen." Merry sah einen Augenblick verwirrt zu seinem Vater auf und nickte zögernd. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck plötzlich, als ihm langsam klar wurde, was diese Worte zu bedeuten hatten. Tränen sammelten sich in seinen Augen und er blickte verzweifelt zu seinem Vater, als wolle er fragen, ob seine Worte wirklich die schlimme Nachricht bargen, die er aus ihnen gelesen hatte. Saradoc nickte schwach, als auch in seine Augen erneute Tränen traten und schloss seinen Sohn zärtlich in die Arme. Merry klammerte sich an seinem Vater fest, doch waren seine Gedanken bei Frodo. Er wollte ihn ebenso tröstend festhalten, wollte ihm alles Leid, das ihm heute widerfahren war, abnehmen und alles Neue vertreiben, doch sein Vater meinte, es besser wäre, wenn Frodo eine Weile alleine war.
Kapitel 6: Trauer
So blieb Frodo alleine in seinem Zimmer. Zitternd vor Trauer und Kälte lag er seinem Bett, fand nicht einmal die Kraft, nach seiner Bettdecke zu tasten und sich zuzudecken. Sein Nachthemd war voller Grasflecken, seine Knie schmutzig. Esmeralda hatte die Kerze ausgepustet, als sie gegangen war und so blieb ihm nur das Licht der Sterne. Doch Frodo brauchte kein Licht, hielt die Augen fest verschlossen. Er weinte, bis er glaubte keine Tränen mehr übrig zu haben und doch fanden immer wieder neue ihren Weg über seine Wangen. Sie schienen unerschöpflich. Immer wieder stellte er sich dieselben Fragen, fragte immer wieder nach dem Warum. Weshalb seine Eltern? Warum waren sie gerade heute mit dem Boot hinausgefahren? Weshalb musste er alleine und verlassen zurück bleiben? Warum konnten sie nicht plötzlich in sein Zimmer treten und ihn trösten? Weshalb? Frodo schluchzte, nahm immer wieder flache, ruckartige Atemzüge, bis seine Lungen schmerzten, doch seine Tränen wollten nicht versiegen. Saradocs Worte hatten eine unbestreitbare Endgültigkeit an sich und auch wenn Frodo sie nicht glauben wollte, wusste er, dass sie der Wahrheit entsprachen. Auch der Herr von Bockland hatte geweint und selbst wenn alles andere eine Lüge gewesen wäre, diese Tränen hatten genügt, um Frodo von der Wahrheit zu überzeugen. Seine Eltern waren tot, würden nicht zu ihm zurückkehren. Verzweifelt vergrub Frodo seinen Kopf tiefer in seinem Kissen, klammerte sich mit den Händen an der Matratze fest und schluchzte hilflos.
Stunden weinte er noch, wünschte vergebens seinen Kummer im Schlaf vergessen zu können. Es schien, als hätten Saradocs Worte etwas in ihm geöffnet, dass Frodo alleine nicht mehr verschließen konnte, denn so sehr er sich auch beruhigen wollte, in der Hoffnung, am nächsten Morgen aufzuwachen und zu erkennen, dass alles nur ein schlimmer Traum gewesen war, seine Tränen nahmen kein Ende. Inzwischen hatte er sich seine Decke bis unter das Kinn gezogen, zitterte jedoch noch immer, wenn auch nicht mehr vor Kälte, sondern vor Erschöpfung. Er wünschte sich, Saradoc hätte Merry nicht weggeschickt, wünschte sich, jemand würde ihm den nötigen Trost, die nötige Ruhe spenden, nach der er sich sehnte. In seiner Verzweiflung versuchte er sich vorzustellen, wie es sich angefühlt hatte, als er in der vergangenen Nacht zu seinen Eltern gekuschelt war, während sich ein herzhaftes Gähnen seiner bemächtigte und er den salzigen Geschmack seiner eigenen Tränen auf seinen trockenen Lippen schmeckte. Eine Vorstellung war nicht, was er sich erhofft hatte, doch in seiner Erschöpfung genügte sie ihm. Eine letzte Träne stahl sich aus seinen Augenwinkeln, während seine ruckartigen, mit der Zeit schmerzhaften Atemzüge, langsam gleichmäßiger und tiefer wurden. Ein leises Wimmer entwich seinen Lippen, seine sich krampfhaft an der Decke festklammernde Hand entspannte sich, als ihn ein leichter Schlummer mit sanfter Gewalt in seine Arme schloss. Doch der Schlaf sollte keine Erholung bringen, sondern seine Qualen noch verstärken.
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Frodo fand sich in einem Meer von Schwärze. Zu allen Seiten hörte er Wasser plätschern, konnte jedoch nichts erkennen. Von einer panischen Angst ergriffen, drehte er sich ihm Kreis, in der Hoffnung, wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt in der dichten, beklemmenden Dunkelheit zu finden. Verzweifelt rief er nach seiner Mutter, rief nach seinem Vater, bekam jedoch keine Antwort. Zögernden Schrittes und mit ausgestreckten Händen, mit denen er nach Hindernissen tastete, setzte sich Frodo schließlich in Bewegung. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und seine Furcht ließ ihn immer wieder verzweifelt nach seinen Eltern rufen. Als wäre die beklemmende Dunkelheit nicht genug, kroch dichter, feuchter, weißer Nebel plötzlich seine Beine empor, schloss ihn schließlich vollends ein. Frodo fröstelte, blieb stehen und schlang die Arme um die Schultern, während kleine Tautröpfchen sich in seinen Haaren verfingen. Verzweifelt blickte er um sich, rief noch einmal nach seiner Mutter, als auf einmal ein Boot aus den Nebeln auftauchte. Frodo kniff die Augen zusammen, um feststellen zu können, wer in dem Boot saß, erkannte seine Eltern und rannte freudig rufend zu ihnen. Er vergaß um seine Furcht, gegen etwas zu stolpern oder in Löcher zu fallen, die er im Nebel nicht erkennen konnte. Für ihn war nur mehr von Bedeutung, zu seinen Eltern zu gelangen. Würde er sie erst erreichen, wäre alle Angst vergessen. Auf einmal begann der Boden sich zu rühren. Frodo hielt erschrocken inne, blickte sich beunruhigt um. Es schien plötzlich, als hätte jemand einen Stein in einen ruhigen See geworfen. Der Nebel kräuselte sich, ebenso wie der Grund zu seinen Füßen. Zitternd sah Frodo, wie sich Wellen bildeten, die immer höher stiegen. Sie schienen von allen Seiten zu kommen und doch konnte Frodo ihren Ursprung nicht erkennen. Er schrie verzweifelt nach seinen Eltern, doch sie hörten ihn nicht. Hinter dem Boot bildete sich eine dunkle, bedrohliche Welle, die immer höher empor stieg. Frodo schrie, doch ihm war, als saugten der Nebel und das fortwährende Geräusch von plätscherndem Wasser seine Stimme auf. Hilflos und mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen musste er mit ansehen, wie die Welle mit einem donnerähnlichen Rauschen auf das Boot niedersauste und es verschlang.
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"Nein!" Frodo schreckte aus dem Schlaf hoch. Schweißgebadet saß er in seinem Bett. Sein Herz raste und er spürte Tränen in seinen Augen, die er mit zitternden Fingern wegwischte. Seine Brust schmerzte und sein Mund war trocken. Frodo blickte aus dem Fenster, während er sich die Lippen leckte. Die Sterne leuchteten am Himmel, kein Streifen östlichen Sonnenlichts störte ihre Schönheit. Es musste noch spät in der Nacht so und Frodo entschloss, zu seinen Eltern zu gehen, auch wenn die Erinnerung an seinen Traum bereits verblasste. Er war der Ansicht, dass es besser war, vorzubeugen, als noch einmal von schlimmen Träumen geweckt zu werden und er wusste, im Bett seiner Eltern würden ihn keine Albträume plagen. Langsam glitt er aus dem Bett, schlich auf Zehenspitzen in den Gang hinaus. Alles war dunkel, alle Kerzen gelöscht, nicht ein Geräusch war zu hören. Frodo fröstelte. Rasch trat er an die gegenüberliegende Türe, lauschte einen kurzen Augenblick und trat dann ohne anzuklopfen ein. Das Bett war leer. Überrascht blieb Frodo in der Tür stehen, runzelte die Stirn. Waren seine Eltern noch immer nicht zurückgekehrt? Eine Stimme in seinem Innern flüsterte, dass sie nie zurückkehren würden, doch Frodos ganzes Sein lehnte sich dagegen auf. Leise schloss er die Tür, kroch vorsichtig in das Bett seiner Eltern und kuschelte sich unter die Decke seiner Mutter. Er nahm den Geruch ihres Kissens tief in sich auf. Wie sehr er diesen Geruch von Blumen und Stoffen und der besonderen Note seiner Mutter doch liebte. ‚Und doch wirst du ihn nie wieder riechen können!' hörte er eine grausame Stimme wispern. Frodo runzelte die Stirn, schüttelte heftig den Kopf und rollte sich zusammen. Doch noch während er seine Augen schloss, spürte er eine seltsame Angst in seinem Herzen und Tränen drohten in ihm aufzusteigen. So sehr er sich auch dagegen wehrte, ein Teil seines Herzens glaubte der Stimme. Beunruhigt kniff Frodo die Augen zusammen, versuchte, sich mit dem Duft seiner Eltern abzulenken und wünschte, dass er bald einschlafen möge.
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Früh morgens tapste Merry durch die Gänge des Brandyschlosses, wollte zu Frodo und nachsehen, ob es ihm besser ging. Er hoffte sehr, dass dem so war, denn es schmerzte ihn, Frodo leiden zu sehen und wollte nicht, dass sein Vetter traurig war. Auf Zehenspitzen trat er in das kleine Zimmer am Ende des östlichsten Ganges, um Frodo nicht aufzuwecken, sollte er noch schlafen. Merry war sich sicher, dass Frodo noch nicht aufgewacht war, denn sein Vetter war ein leidenschaftlicher Langschläfer und nach einem solch schrecklichen Tag wie dem gestrigen, würde er bestimmt noch länger schlafen, als gewöhnlich. Doch Merry musste überrascht feststellen, dass Frodos Bett leer war. Mit gerunzelter Stirn ging er darauf zu, legte eine Hand auf die Matratze. Sie war kalt. Frodo hatte sein Bett schon lange verlassen. Furcht ergriff Besitz von Merry und er blickte sich verwirrt im Zimmer um, als vermute er, Frodo habe sich vor ihm versteckt, denn er wusste, dass sein Vetter nicht im Badezimmer war. An jenem, das Frodos Zimmer am nächsten lag, war er vorübergegangen, hatte hineingesehen, doch Frodo war nicht unter den sich waschenden Hobbits gewesen. Mit einem entsetzen Schrei stürmte Merry aus dem Zimmer, Angst in seinem Herzen. Voller Sorge um seinen geliebten Vetter, rannte er in eine der Küchen, wo er seine Mutter wusste. "Frodo ist weg!" rief er verzweifelt.
Esmeralda blickte erschrocken von ihrem Tee auf, als sie Merrys verschreckte Stimme hörte. Die Angst in seinen Augen, ließ sie bange werden. Sie tauschte einen kurzen Blick mit Saradoc, der gerade dabei war, sich eine Tasse Tee einzuschenken und eilte dann ihrem Sohn hinterher, zurück zu Frodos Zimmer. Mirabella, Frodos Großmutter, die mit Esmeralda am Tisch gesessen war, wollte ihnen folgen, doch Saradoc hielt sie zurück, meinte, es wäre besser, nicht das ganze Brandyschloss deshalb in Aufruhr zu versetzen, und dass sie hier warten solle, für den Fall, dass Frodo überraschend zum Frühstück kommen sollte. Er selbst rannte ebenfalls in den östlichen Gang, der bis zum gestrigen Tage nur von den Beutlins bewohnt worden war. Mit klopfendem Herzen starrte Esmeralda auf das leere Bett, sah dann noch einmal in den Gang hinaus, als erwarte sie, Frodo würde plötzlich hinter ihr stehen. Saradoc erreichte sie keuchend, legte ihr eine Hand auf die Schulter und ließ seine Augen ebenfalls durch das Zimmer wandern. Esmeralda, von plötzlicher Hilflosigkeit ergriffen, wurde plötzlich klar, dass sie einen großen Fehler begangen hatte. Nie hätte sie Frodo alleine lassen dürfen. Sie hätte bei ihm bleiben oder ihn mit sich nehmen müssen, nur für diese eine Nacht. Was hatte sie sich dabei gedacht, ihn alleine zu lassen? Sie konnte kaum glauben, dass ihr eigener Schmerz, ihre eigene Trauer sie so blind gemacht hatten. Schuldgefühle wuschen über ihr ohnehin schon geplagtes Herz und sie musste sich auf die Lippen beißen, um ihre Tränen zu verbergen. Trost suchend tastete sie nach der Hand ihres Gatten, die beruhigend auf ihrer Schulter ruhte, wandte den Blick jedoch nicht von Frodos Bett, die Augen groß und sorgenvoll.
Merry blickte verwirrt zu ihnen auf und Saradoc erkannte Tränen in den sonst so fröhlichen Augen glitzern. Seine Familie weinen zu sehen, war mehr, als Saradoc im Augenblick ertragen konnte, auch wenn er sonst als eine starke Persönlichkeit galt. Doch der Tod seiner geliebten Tante und seines Onkels hatte ihn mehr mitgenommen, als er sich selbst eingestand. Dass er Frodo die Nachricht von ihrem Tod nicht hatte unter anderen Umständen mitteilen können, sondern es so geschehen musste, wie es geschehen war, hatte ihm am Ende auch die letzten seiner Kräfte geraubt und ihn nachts um seinen Schlaf gebracht. Mehrere Male hatte er daran gedacht, zu Frodo zu gehen, war dann aber zu erschöpft gewesen, seine Pläne umzusetzen. Jetzt bereute er, dass er nicht aufgestanden war und nach dem Rechten gesehen hatte und war fest entschlossen, seinen Fehler wieder gut zu machen.
Er wandte sich von Esmeralda und Merry ab, lief raschen Schrittes zur Haupteingangstüre. Vermutlich ohne sich ihrer Tat bewusst zu werden, lief Esmeralda ihm hinter her, als er sich seinen Mantel von einem Kleiderhaken nahm und nach draußen ging. Er wollte zum Fluss, dorthin, wo Frodo schon am vergangenen Abend hatte hin wollen. Vielleicht würde er den jungen Hobbit dort finden können. Saradoc hoffte es, bat inständig, dass Frodo wohlauf war. Esmeralda wies er an, zu Hause zu bleiben, sollte Frodo zurückkehren. "Möglicherweise ist er auch noch immer in der Höhle", sagte er, "hat sich nur in einem anderen Zimmer verkrochen." Er küsste sie zum Abschied, eilte dann in den erwachenden Tag hinaus.
Esmeralda blickte ihm hilflos hinterher, blieb lange Zeit in der Tür stehen. Schon bei ihrer Heirat mit Saradoc hatte sie gewusst, eines Tages zur Herrin von Bockland zu werden, doch hatte sie sich nie erträumen lassen, dass sie dieser Aufgabe nicht gewachsen sein würde. Sie war eine nahe Verwandte von Ferumbras Tuk und da dieser unverheiratet geblieben war und somit keine Söhne hatte, stand schon früh fest, dass ihr Bruder Paladin eines Tages in dessen Fußstapfen treten würde, wie es dann auch gekommen war. Aus diesem Grund hatte vor allem Paladin schon in seiner frühen Jugend viel über die Verwaltung einzelner Bereiche des Auenlandes gelernt und Esmeralda, immer erpicht, ihrem älteren Bruder nachzueifern, hatte ihm dabei oft über die Schultern gesehen. Sie hatte früh gewusst, dass sie Saradoc bei der Verwaltung Bocklands und dem Haushalt des Brandyschlosses würde beistehen müssen, wusste um ihre Aufgaben und hatte diese auch gemeistert. Trotz ihrer Stellung hatte sie auch immer genug Kraft und Zeit für ihren Sohn gefunden, hatte ihm alles gegeben, das sie ihm hatte geben können und war auch gerne bereit gewesen, auch auf andere Kinder Acht zu geben. Doch jetzt, zum ersten Mal in ihrem Leben, fühlte sie sich hilflos und zu schwach für die Aufgaben, die ihr zugeteilt waren. Mit Primula hatte sie sich von allen Bewohnern des Brandyschlosses am besten verstanden, was auch damit zusammenhing, dass Saradoc seine Tante sehr liebte. Außerdem war Frodo nur wenige Jahre älter, als ihr eigener Sohn und Esmeralda konnte sich an keine Zeit erinnern, zu der Merry seinem älteren Vetter nicht nachgeeifert hatte. Frodo schien für ihn, wie der ältere Bruder, den er niemals würde haben können. Er sah zu ihm auf, bewunderte ihn und war ständig an seiner Seite. Frodo erfreute sich daran, Merry an seiner Seite zu haben, schien stolz darauf, sein Wissen an einen jüngeren weitergeben zu können. Frodo und Merry waren Vettern und doch glaubte Esmeralda oft, dass sie mehr waren, als nur Freunde und Verwandte. Vor allem Frodo schien durch Merrys Freundschaft aufzublühen, denn, so hatte ihr Primula einmal gesagt, er tat sich nicht leicht, mit anderen Freundschaft zu schließen, da er, und das war für einen Hobbit sehr ungewöhnlich, des Öfteren nach Ruhe suchte und lieber alleine war, als mit anderen herumzutoben. Nur die wenigsten hatten Verständnis dafür und Esmeralda schien es oft, als wäre Primula die einzige, die ihren Sohn wirklich verstand. Esmeralda selbst, war nie schlau aus ihm geworden, auch wenn sie Frodo lieb gewonnen hatte. Als sie jedoch seine Verzweiflung am vergangenen Abend nicht nur gesehen, sondern auch selbst gespürt hatte, war ihr das Herz gebrochen. Sie hatte nicht gewusst, wie sie ihm hätte helfen sollen und ihn nun nicht mehr wieder finden zu können, ließ sie schier verzweifeln. Sie machte sich schreckliche Vorwürfe, sich nicht anders verhalten zu haben. Sie wusste, wie sehr Frodo an seinen Eltern, vor allem an Primula, gehangen war und hatte ihn dennoch mit seinem Kummer alleine gelassen.
Plötzlich schnappte sie nach Luft, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Ruckartig schloss sie die Eingangstür, eilte zurück in den östlichen Gang. Merry, der bis zu diesem Zeitpunkt mit Tränen der Verwirrung und der Sorge in den Augen neben ihr gestanden war, eilte ihr mit fragendem Blick hinterher. Vorsichtig öffnete sie die Tür zu Drogos und Primulas Zimmer und ein Stein fiel ihr vom Herzen, als sie Frodo zusammengekauert im Bett liegen sah. Mit einem leisen Seufzer der Erleichterung trat sie an das große Bett, entzündete den Kerzenständer, der auf dem Nachttisch stand. Frodo hatte ihr den Rücken zugewandt und sein dunkles Haar schimmerte bernsteinfarben im Licht der Kerze. Die linke Hand, die neben seinem Gesicht ruhte, umklammerte einen Zipfel der Bettdecke seiner Mutter. Esmeralda blutete das Herz, als sie sich etwas weiter nach vor beugte, um sein Gesicht erkennen zu können. Seine Wangen waren von Tränenspuren gezeichnet und dunkle Ringe malten sich unter seinen geschwollenen Augen ab. Hatte er in dieser Nacht denn keine Ruhe finden können? Mit weinendem Herzen setzte Esmeralda sich auf die Bettkante, strich sanft über Frodos Wange. Seine Augenbrauen zuckten und er rührte sich, schien sich jedoch hartnäckig gegen das Aufwachen zu wehren. "Mama?", flüsterte er schlaftrunken und seine Lider flatterten. "Nein", wisperte Esmeralda und schüttelte leicht den Kopf. "Ich bin es nur."
Frodo blinzelte sich den Schlaf aus den Augen, wandte sich schwerfällig der Stimme zu, wobei er für einen Augenblick das Gesicht verzog, als sein Hintern schmerzhaften Kontakt mit der Matratze machte. Esmeraldas Gesicht war über ihn gebeugt, ein schwaches, gequältes Lächeln auf ihren Lippen. Tränen füllten ihre blauen Augen, nahmen dem Lächeln die aufmunternde Wirkung, die es zweifelsohne hätte haben sollen. Das Haar trug sie ausnahmsweise offen und die hellen Locken, heller noch, als die von Merry, hingen ihr verspielt ins Gesicht. Frodo runzelte die Stirn. Was machte sie hier? Er hatte mit den freudigen Gesichtern seiner Eltern gerechnet und von Merrys Mutter geweckt zu werden, verwirrte ihn. Verwundert stellte er fest, dass ihm bei dem Gedanken an seine Eltern das Herz schwer wurde und legte zögernd den Kopf in ihren Schoß, genoss die sanfte Berührung, als sie ihm zärtlich einige Haarsträhnen aus der Stirn strich. "Wann kommen sie zurück?", wisperte er plötzlich so leise, als wolle er nicht, dass jemand seine Worte vernahm. Er hatte nicht einmal gewusst, dass er etwas sagen wollte, bis die Frage über seine Lippen gekommen war und nur langsam wurde ihm klar, worauf er damit hinauswollte. Seine Eltern waren mit dem Boot hinaus gefahren, deshalb hatte er sie am vergangenen Abend nicht mehr gesehen und doch war da noch etwas anders. Ein bedrohlicher Schatten, ein dunkler Schleier, der seinen Blick trübte, ihn ängstigte.
Esmeralda spürte, wie sie sich bei seinen Worten verkrampfte. Ihre Hand erstarrte in der Bewegung. Er war ihr seltsam gefasst erschienen, fernab jener Verzweiflung, die ihn am vergangenen Abend so fest umklammert hielt, dass selbst Saradoc Mühe gehabt hatte, ihn ruhig zu stellen. Nun wusste sie weshalb, und der Schrecken darüber, ließ ihren Herzschlag für einen kurzen Augenblick aussetzen. Er hatte einen Weg gefunden, den Tod seiner Eltern zu vergessen, ließ ihn nicht mehr bis zu sich durchdringen und hoffte nun noch immer auf ihre Rückkehr. Sollte es am Ende wirklich sein, dass ihr die schmerzvolle Aufgabe zuteil wurde, Frodo diese schreckliche Nachricht noch einmal mitzuteilen? Esmeralda spürte den Kloß in ihrem Hals, spürte den Schweiß, der ihre Hände feucht werden ließ, als sie sanft und mit zitternden Fingern nach Frodos Schultern griff und den Jungen aufsetzte. Sie musste seinen Blick nicht erst suchen, denn Frodo hatte seine fragenden, verwirrten Augen bereits auf sie gerichtet und den Kopf ein wenig schief gelegt, was ihn noch hilfloser wirken ließ, als Esmeralda sich fühlte. Forschend blickte sie in seine Augen, als könne sie darin die Antwort darauf finden, wie sie Frodo die Nachricht über den Tod seiner Eltern überbringen sollte. Doch dann bemerkte sie etwas, dass sie zugleich erschreckte, wie auch beruhigte. Für gewöhnlich trugen Frodos Augen einen unverkennbaren Glanz in sich, als hielten sie einen Stern verborgen, doch dieser Glanz war erloschen und das sonst so strahlende Blau seiner Augen wirkte matt und hoffnungslos. Mit plötzlicher Klarheit wusste sie, dass sich nur mehr ein kleiner Teil seines Seins gegen das Wissen sträubte, das ihn seit dieser Nacht quälte. Esmeralda öffnete den Mund, nur um ihn gleich darauf wieder zu schließen. Sie spürte das Brennen von Tränen in ihren Augen. "Sie werden nicht zurückkommen, Frodo", flüsterte sie dann zaghaft und ihre Worte erschienen ihr kalt und herzlos, doch wusste sie nicht, sie sie sich sonst hätte ausdrücken können. Sie spürte, wie sich jeder Muskel unter ihren Fingern anspannte, konnte förmlich sehen, wie Frodo sich verkrampfte. Sein Blick ruhte noch immer auf ihr, doch schien er nun ausdruckslos und verloren. Seine Lider schlossen sich, sein Ausdruck wurde zu einem Spiegelbild des Schmerzes und des Kummers, als er den Kopf wie kraftlos auf ihre Brust sinken ließ. Esmeralda schloss die Arme um ihn und eine Träne stahl sich aus ihren Augenwinkeln. Nie war ihr etwas schwerer gefallen, als dieses Gespräch mit Frodo. Nie hatte sie etwas mehr verletzt, als den Schmerz in seinen Augen zu sehen, Augen, die solch schreckliche Zeiten nicht durchleben sollten. Ein Zittern durchlief sie, als sie spürte, wie ihre Kraft sie verließ und sie fürchtete sich vor dem Wissen, dass dies erst der Anfang von Frodos Schmerz sein sollte.
"Ich weiß", murmelte Frodo und es erschreckte ihn, dass dem tatsächlich so war. Der Schleier hatte sich gelüftet und er erinnerte sich an Saradocs Worte, erinnerte sich an das blaue Tuch und fühlte den Schmerz und den Kummer des vergangenen Abends. Das war der Grund, weshalb ihm das Herz schwer war. Seine Eltern waren fort, würden nicht wieder zurückkommen. Drogo und Primula Beutlin waren tot. Frodo verspürte einen schmerzhaften Stich in der Brust bei diesem Gedanken und neben seiner Trauer, seinem Schmerz, die er nun sehr deutlich spürte, erwachte plötzlich ein anderes Gefühl. Unverständnis pochte in seinem Innern, wurde zu einem Korn der Wut und wieder stellte er sich dieselben Fragen, die er sich auch schon am Abend zuvor gestellt hatte. Warum waren sie mit dem Boot hinaus gefahren? Weshalb wurden ihm seine Eltern genommen? Tränen stiegen in ihm empor und er klammerte sich verzweifelt an den Ärmel von Esmeraldas Kleid, als er mit erstickter Stimme flüsterte: "Ich kann es nicht verstehen." Es war die Wahrheit. Er verstand es nicht, fand keine Antworten, keinen Grund. Alles, was er wusste, war, dass sie nicht zurückkehren würden, dass er alleine war und das machte ihm Angst. Sie umklammerte sein Herz, presste es mit groben Fingern zusammen, machte es schmerzen. Frodo fand sich verzweifelt nach Luft schnappen, als eine Träne sich aus seinen Augen löste. Ihr folgte eine weitere und wie schon am Abend zuvor, schienen sie, kaum dass der erste Widerstand durchbrochen war, kein Ende mehr nehmen zu wollen. Seine Finger vergruben sich noch fester im weichen Stoff ihres Kleides, als Esmeralda ihn wiegte, wie ein Kleinkind, doch noch schien er nicht gewillt, ihren Trost annehmen zu wollen, denn jenes tröstende, beruhigende Gefühl, das er von seiner Mutter kannte, wollte nicht einsetzen. Stattdessen brachte der Gedanke an Primula neue Tränen hervor und seine Hilflosigkeit wuchs noch, als Esmeralda mit zitternder, leiser Stimme sprach: "Das versteht niemand, mein Junge. Niemand."
Merry war in der Tür stehen geblieben, erleichtert, Frodo gefunden zu haben. Eine Hand hatte er an den Rahmen gelegt, hatte stumm mitverfolgt, wie seine Mutter seinen verloren gegangen Freund weckte. Seine Tränen waren bei dem Anblick Frodos versiegt, doch was sich dann vor seinen Augen abspielte, berührte ihn tief und das Mitgefühl, das er für seinen Vetter barg, erwachte zu neuem Leben. Zögernden Schrittes ging Merry auf das große Bett zu, die Augen auf Frodo gerichtet, der hilflos schluchzend und zusammengekauert in den Armen seiner Mutter lag. Das Licht der Kerze flackerte, verlieh Frodos Tränen geröteten Wangen einen blassen Glanz. Merry unterdrückte ein Schluchzen, als er vorsichtig die Hand ausstreckte, um seinen Freund und Vetter tröstend an der Schulter berührte. Frodo zuckte unter der überraschenden Berührung zusammen und Merry zog einen Augenblick erschrocken die Hand zurück, blickte fragend zu seiner Mutter auf. Esmeraldas Gesicht war Tränen überströmt und wenn Merry der hilflose Anblick seines Vetters noch nicht genügt hatte, so konnte er nun nicht länger gegen seine eigenen Tränen ankämpfen. Trost suchend kletterte er auf das Bett, kuschelte sich unter den anderen Arm seiner Mutter, die ihn fest umklammert hielt, und legte den Kopf an ihre Brust, während er zärtlich Frodos zitternde Hand streichelte. Er wollte ihm helfen, wollte, dass er aufhörte zu weinen und wieder glücklich war, doch zum ersten Mal in seinem Leben, fand er, dass er das nicht konnte. Frodo wandte sich ihm zu und die von Tränen klar gewaschenen Augen blickten tief in die seinen.
Die zaghafte Berührung spendete ihm Trost, auch wenn er zuerst ob der kalten Hand deines Vetters erschrocken war. Frodo war dankbar dafür, hätte Merry am liebsten umarmt, doch er konnte es nicht. Sein Körper schien selbst zu schwach, Merrys liebevolle Geste zu erwidern. So versuchte er, seine Dankbarkeit in seinem Blick zu zeigen, hoffte, Merry würde ihn verstehen. Er wurde mit einem aufmunternden Lächeln belohnt und konnte beruhigt die Augen schließen.
Lange Zeit blieben sie so liegen und auch wenn Esmeralda und Merry sich bald wieder erholt hatten, wollten Frodos Tränen nicht versiegen und weder Angst, noch Wut, noch Schmerz wollten von seinem Herzen lassen. Esmeralda versuchte ihn zu einem Frühstück zu überreden, doch Frodo schüttelte den Kopf, kroch schließlich von ihr und Merry weg, wandte ihnen den Rücken zu. Er wollte sie nicht ebenso traurig machen, wie er war. Dass sie aber gehen und ihn alleine zurücklassen würden, hatte er nicht erwartet. Schluchzend hob er den Kopf, blickte auf den hellen Spalt zwischen Tür und Wand, wartete einen langen Augenblick vergebens auf Esmeraldas Rückkehr. Seine Unterlippe begann zu zittern, als er erkannte, dass er allein bleiben sollte und mit frischen Tränen in den Augen griff er nach der Decke seiner Mutter, kuschelte sich in deren warme Geborgenheit.
Kaum hatte Esmeralda das Zimmer verlassen, hatte sie sich gegen die Wand gelehnt und tief durchgeatmet. Merry war an ihrer Seite, sah verwirrt zu ihr auf, doch sie ertrug seinen Blick nicht und wandte den Kopf von ihm ab. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und sie keuchte. Sie konnte das nicht. Sie hatte nicht die Kraft, Frodo zu trösten. Seine Augen trugen einen Schmerz in sich, der ihren eigenen immer neu aufflammen ließ, wenn sie geglaubte hatte, ihm für einen Augenblick entkommen zu sein. Seine Verzweiflung traf sie tief in ihrem Herzen. Sie war zu schwach, für ihn da zu sein, sich um ihre Familie und ihre Pflichten als Herrin von Bockland zu kümmern und mit ihrer eigenen Trauer fertig zu werden. In seiner Nähe würde ihr letzteres nicht gelingen und weshalb sollte sie bei ihm bleiben, wenn er sich von ihr abwandte, sie scheinbar nicht bei sich haben wollte? Weshalb sollte sie ihm dann noch Trost spenden, wo sie in seinem Kummer doch selbst nur zusätzliches Leid fand? "Mama?" Merrys Blick ruhte noch immer verwirrt und sorgenvoll auf ihr und so atmete sie erneut tief durch und sammelte ihre Kräfte. Frodo mochte sie im Augenblick nicht brauchen, was sie beinahe als eine Erleichterung empfand, doch Merry benötigte sie dafür umso mehr.
Frodos Weinen ebbte ab, wurde zu leisem Schluchzen. Warum war Esmeralda gegangen? Er hatte sie doch nur nicht zum Weinen bringen wollen, dabei aber nicht die Absicht gehabt, sie aus dem Zimmer zu vertreiben. Auch wenn ihre Umarmung nicht den erhofften Trost gebracht hatte, war sie ihm doch willkommen gewesen. Sein Magen knurrte. Er mochte hungrig sein, doch Frodo war sich sicher, dass er keinen Bissen hinuntergebracht hätte. Er fühlte sich nicht dazu in der Lage zu essen und allein der Gedanke daran, ließ ihm übel werden. Seine Augen wanderten durch das Zimmer. Das Kerzenlicht war gerade hell genug, um die Umrisse jeden Gegenstandes aufzuzeigen. Das Tischchen in der Ecke schien im flackernden Licht zu flimmern, das hohe Regal, das an der Wand stand, voll mit Büchern, Bildern und kleinen Mathoms, hatte in der Dunkelheit eine besondere Anziehungskraft. Der Kamin neben der Tür war kalt und leer, denn in den Sommermonaten zogen Drogo und Primula die Kühle eines komfortablen Zimmers einem angenehm warmen Feuer im Kamin vor. Die beiden Sessel vor dem Kamin schienen jedoch schon ungeduldig auf die kühlere Jahreszeit zu warten. Über die Lehne des einen war sogar schon eine angefangene Strickarbeit gelegt worden, doch waren noch nicht viel mehr, als ein paar Maschen verarbeitet worden. Frodo erinnerte sich an die vielen Abende, an denen er auf dieser Lehne gesessen hatte, die Arme seiner Mutter schützend um seinen Oberkörper gelegt, und ihrer Stimme lauschte. Oft saß er auch zu den Füßen seines Vaters, oder auf dessen Schoß und lauschte gespannt, wenn er eine Geschichte erzählt bekam, oder über einige Eigenheiten in der Hobbitkunde belehrt wurde. Ein Schluchzen entrann seiner Kehle, als er sich daran erinnerte, wie er das letzte Mal auf diese Sessel gesehen hatte. Es war vor zwei Nächten gewesen, als er an der Hand seiner Mutter in das Zimmer gekommen war. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er an den schrecklichen Traum dachte, der Grund für seinen Gang in das Zimmer seiner Eltern gewesen war. Er hatte geträumt zu ertrinken, doch nicht er war es gewesen, der ertrinken hatte sollen. Heiß stiegen die Tränen in ihm empor, ließen seine Augen brennen, ehe sie, einem verirrten Regentropfen gleich, über seine Wangen rannen. Leise wimmernd zog er die Knie hoch und schlang seine Arme darum.
Verloren lag er im Bett seiner Eltern, ließ seine Augen immer wieder durch das Zimmer wandern, als könne er nicht genug von dessen Anblick bekommen. Sein Blick fiel auf die Bilder, die an den Wänden hingen. Eines zeigte seinen Vater, ein anderes seine Mutter und wieder ein anderes zeigte seine Großeltern, die Frodo niemals kennen gelernt hatte. Doch war an dieser Stelle nicht noch ein viertes Bild gehangen? Frodo runzelte die Stirn, sah sich nach dem Bild um, entdeckte schließlich ein etwas dickeres Stück Papier in einem der Regale. Die Nase hochziehend, kroch er aus dem Bett, ging auf das Regal zu, um das Papier genauer zu betrachten. War es das Bild, oder hatte sein Vater ein neues Gedicht entdeckt und herausgeschrieben, um es Bilbo zu zeigen? Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um es zu erreichen und als er es in seinen Händen hielt und betrachtete, füllten sich seine Augen mit Tränen. Es war das Bild, das er vermisst hatte. Es zeigte ihn, als er acht Jahr alt gewesen war, in den Armen seiner Eltern. Dünne, teilweise verschmierte Kohlstriche hatten den Gesichtern, die ihm nun lächelnd entgegen blickten, Leben eingehaucht. Tränen strömten unaufhörlich über Frodos Wangen, je länger er das Bild betrachtete. Es würde nie wieder so sein können, wie auf dem Bild. Nie wieder sollte er das so bekannte Lächeln in den geliebten Gesichtern sehen. War er sich dessen wirklich bewusst? Wollte er sich dessen überhaupt bewusst werden? Ein Teil seines Herzens glaubte noch immer daran, dass sie plötzlich durch die Tür treten und ihn in die Arme schließen würden und Frodo klammerte sich an diesen Glauben, auch wenn er bereits wusste, dass er sich nicht erfüllen würde. Mit zitternden Fingern fuhr Frodo die Konturen des Bildes nach, ohne seinen Blick von ihm zu nehmen. Einen Augenblick wie diesen würde es niemals wieder geben und er hütete die Erinnerung daran liebevoll, ebenso, wie er das Bild hüten wollte. Sollte er seine Eltern tatsächlich nicht mehr wieder sehen, so wollte er, dass wenigstens ihr Lächeln weiterlebte. Vorsichtig legte er die Zeichnung an sein Herz, schloss zärtlich seine Hände darüber, als eine Träne aus seinen geschlossenen Augen tropfte und über seine Finger lief.
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Am späten Vormittag kam Merry, um nach Frodo zu sehen. Leise öffnete er die Tür, erlaubte dem blassen Licht des Ganges in die dahinter liegende Dunkelheit vorzudringen. Ein Lächeln lag auf den Lippen des jungen Brandybocks, doch verblasste es, als er seinen Vetter erblickte. Frodo lehnte mit dem Rücken am Kopfende des großen Bettes, hatte die Beine angezogen und sich bis zum Bauch mit der Decke seiner Mutter eingewickelt. Seine Hände ruhten auf seinen Knien, hielten etwas fest, das Frodo wie verzaubert ansah. Merry schien er nicht zu bemerken und so zögerte der junge Hobbit, ehe er an das Bett herantrat. "Frodo?", fragte er zaghaft und war erleichtert, als sein Vetter für einen Augenblick den Kopf hob und ihn ansah. "Komm, mit! Lass uns nach draußen gehen!"
Frodo war überrascht gewesen, als er Merrys Stimme vernommen hatte, doch seine Aufforderung ließ ihn beinahe schmerzhaft zusammenzucken. Mit Grauen dachte er daran, das Zimmer zu verlassen. Hier konnte er seinen Eltern nahe sein, konnte vergebens darauf hoffen, vielleicht doch noch aus diesem nicht enden wollenden Albtraum aus Schmerz und Kummer zu erwachen. Seine Gedanken kreisten nur um seine Mutter und seinen Vater, daran, was er ihnen noch hatte sagen wollen und daran, was er ihnen über diesen Tag zu berichten gedachte, bis ihm plötzlich schmerzhaft klar wurde, dass er ihnen nichts mehr würde mitteilen können. "Lass mich hier bleiben, Merry, bitte", seine Stimme klang heiser, erstickt von Tränen, die für den Augenblick versiegt waren. Frodo hob den Kopf nicht, sah weiterhin auf das Bild seiner Eltern, als sich Merry neben ihn auf das Bett setzte und seinem Blick folgte. Merry nahm seine Hand in die seine und sah ihn bittend an. Frodo dachte erst, er wolle ihn dadurch überreden, mit ihm nach draußen zu gehen, doch etwas in Merrys Augen ließ Frodo stutzig werden. Er sagte jedoch nichts, sondern hielt seinen Blick weiterhin auf das Bild gerichtet.
Lange Zeit blieb Merry so neben ihm sitzen und hielt seine Hand, aber Frodo achtete kaum auf ihn. Seine Gedanken waren gefangen in Erinnerungen und doch beruhigte ihn das Gefühl, zu wissen, dass jemand bei ihm war, sehr und er war betrübt, als Merry schließlich vom Bett rutschte und das Zimmer wieder verließ. Zurückrufen konnte und wollte er ihn nicht. Er war heute keine gute Gesellschaft für seinen Vetter. Zu sehr war er mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. "Stell nicht zu viele Dummheiten an, hörst du." Die letzten Worte seines Vaters hallten in seinem Kopf wieder. Mit Tränen in den Augen dachte er an den vergangenen Tag. Wie viele Dummheiten er doch begangen hatte! Erst war er auf einen hohen Baum geklettert, was ihn beinahe das Leben gekostet hätte und dann hatte er auch noch Maggots Pilze gestohlen. Es war ihm Recht geschehen, dass der Bauer ihn geprügelt hatte. Für all die Dummheiten, die er begangen hatte, schien ihm das beinahe noch zu milde und Frodo begrüßte seinen schmerzenden Hintern förmlich, hoffte, er würde ihm noch lange wehtun. Warum hatte er nicht auf seinen Vater gehört? Es war seine letzte Anweisung gewesen und er hatte sie nicht befolgt.
"Frodo?" Er zuckte zusammen, als er die Stimme vernahm und Esmeralda an ihn heran trat. "Komm, du musst etwas essen oder wenigstens etwas trinken, wenn du schon nicht essen willst." Frodo schüttelte den Kopf, wandte sich von ihr ab, als sie sanft nach seiner Schulter griff. Er wollte das Zimmer nicht verlassen, nicht jetzt, nicht heute. Doch Esmeralda blieb hartnäckig, redete lange auf ihn ein und schließlich folgte er ihr widerwillig in eine der Küchen. Er trug noch immer sein Nachtgewand und hielt die Kohlezeichnung fest an seine Brust gedrückt. Er würde sie nicht mehr aus der Hand legen.
Ein Feuer knisterte, über dessen züngelnden Flammen eine Teekanne hing. Seine Großmutter, Mirabella, saß auf einem Stuhl etwas abseits des Tisches, bestickte ein weißes Tuch, als Frodo eintrat. "Wie geht es dir, Frodo?", fragte sie besorgt. Auch ihr Gesicht war von den Spuren unzähliger Tränen gezeichnet und ihre Augen waren rot und geschwollen, doch Frodo nahm dies kaum wahr. Er antwortete ihr nicht, setzte sich stumm auf einen Stuhl, das Bild beschützend an sich drückend. Esmeralda reichte ihm eine Tasse Milch, bereitete außerdem zwei Brote mit Butter und Marmelade vor. Erst nippte Frodo nur an seinem Getränk, benetzte seine Lippen mit der warmen Flüssigkeit und leckte sie dann davon ab, doch dann gewann sein Durst, der ihm bisher nicht aufgefallen war, überhand und er hatte die Tasse in wenigen Zügen leer getrunken. Die erleichterten Blicke und das wissende Nicken, das Esmeralda und Mirabella dabei austauschten, bemerkte er nicht. Erst als Saradoc eintrat, hob er den Kopf. Der Herr von Bockland nickte ihm zu, lächelte gequält, doch Frodo erwiderte weder das Lächeln noch den stummen Gruß. Er wollte die Brote essen, doch jeder Bissen ließ sich schwerer schlucken, als der vorangegangene und nach nicht viel mehr als drei kleinen Schlucken, legte er das Brot wieder hin, griff stattdessen zu seiner Tasse, die Esmeralda noch einmal gefüllt hatte. Die leise Unterhaltung zwischen Saradoc und den Frauen zog seine Aufmerksamkeit auf sich, auch wenn die ausgetauschten Worte gewiss nicht für seine Ohren bestimmt waren. "Der Bote aus Tukland ist zurück", hörte er Saradoc kundtun. "Er traf deinen Bruder ein Stück östlich von Buckelstadt. Paladin lässt ausrichten, dass er rechtzeitig anreisen wird, allerdings alleine. Heiderose ist mit den Kindern vor wenigen Tagen zu den Nordtuks nach Langcleeve gereist und wird frühestens in der nächsten Woche zurückkehren." Frodo stellte seine Tasse geräuschvoll auf den Tisch. Ihm war nicht nach Unterhaltungen dieser Art zumute. Er hatte genug gehört. Es wurde höchste Zeit, dass er in das Zimmer seiner Eltern zurückging. Mit zärtlichen Fingern hob er das Bild auf, das er für die kurze Dauer seiner Mahlzeit auf den Tisch gelegt hatte und schlurfte aus der Küche.
Mirabella sah ihrem Enkel wehmütig hinterher. Die Hände, die mit der Bestickung des Leichentuches beschäftigt waren, zitterten. Esmeralda legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter, doch Mirabella stieß sie weg und ihr Blick ließ die jüngere Frau deutlich wissen, dass nicht sie es war, die Trost brauchte, auch wenn der Tod ihrer jüngsten Tochter an ihr nagte. "Das arme Kind", murmelte sie und Tränen glitzerten in ihren Augen. "Dass er Mutter und Vater auf einmal verlieren musste." Saradocs Augen waren Frodo ebenfalls gefolgt und er nickte traurig. "Der morgige Tag wird noch schwerer für ihn werden. Ein Kind, so jung wie er, sollte seine Eltern nicht zu Grabe tragen müssen."
Frodo spürte, wie sich sein ganzer Körper zusammenzog, als er das Gespräch belauschte. Er glaubte, sich übergeben zu müssen und stützte sich an der Wand ab. Er würgte trocken, schnappte dann einige Male nach Luft. Lautlose Tränen flossen über seine Wangen. Weshalb war er nicht schneller gegangen? Weshalb hatte er dieses Gespräch mit anhören müssen? Warum hatten seine Eltern sterben müssen? Sein Körper zitterte wie Espenlaub und es dauerte einen Moment, bis er die nötige Kraft gefunden hatte, um so schnell er konnte, in das Zimmer seiner Eltern zurück zu eilen. Dort warf er sich schluchzend auf das Bett, kuschelte sich in die warmen Decken seiner Eltern, wo er viele Stunden weinend liegen blieb.
Kapitel 7: Alleine
An der Hand von Esmeralda ging Frodo zum Begräbnis seiner Eltern. Der Friedhof Bocklands und des Bruchs lag ein ganzes Stück nördlich des Brandyschlosses. Dort, unter dem Schatten einiger Pappeln, lagen die Gräber der Brandybocks, wo auch seine Eltern ruhen sollten. Er versuchte tapfer zu sein, hielt seine Tränen mit aller Gewalt zurück, als sein Blick kurz über die angereisten Verwandten wanderte. Seine Tante Dora war vermutlich mit seinem Onkel Dudo angereist, da sie selbst keine Familie hatte. Dudo Beutlin hatte seine Familie jedoch mitgebracht und neben seiner Tochter Margerite, deren Ehemann sie begleitete, war auch Maybell, seine Gattin an seiner Seite. Sie waren Frodos nächsten Verwandten auf der Seite seines Vaters und offensichtlich die einzigen Beutlins, die es geschafft hatten, rechzeitig anzureisen, denn von Bilbo fehlte jede Spur. Auch Tuks waren nur wenige angereist und Frodo erkannte unter den Verwandten aus Buckelstadt und den Smials nur Paladin, der ihn wehmütig betrachtete. Frodo wandte den Blick ab, wehrte sich gegen die Tränen, die seine Augen zu füllen drohten. Er drückte Merrys Hand etwas fester und der jüngere Hobbit zog ihn versichernd näher zu sich.
Merry hielt Frodos andere Hand und sein Gesichtsausdruck war entschlossen. Jeglichen Kummer wollte er von seinem Vetter fernhalten, doch das fiel ihm schwer. Viele waren gekommen, auch wenn die meisten Bewohner Bocklands und des Brandyschlosses waren und alle warfen Frodo traurige, mitleidige Blicke zu. Merry wünschte von Herzen, sie würden aufhören, ihn anzusehen. Für ihn machte das alles noch schlimmer. Er drückte Frodos Hand noch fester, als er sah, wie eine Träne über dessen Wange lief.
Frodos Wille tapfer zu sein, war schwach, und alle Stärke schien vergessen, als er die aufgebarten Särge sah. Sie bestanden aus Eichenholz, waren nicht verziert. Kränze aus Blumen waren darauf gelegt worden, die im Sonnenlicht in allen Farben schimmerten. Der Anblick schmerzte Frodo sehr und er drängte sich an Esmeralda, als wolle er sich hinter ihr verstecken, versuchte, nicht hinzusehen. Der Gedanke daran, dass seine Eltern in jenen Eichensärgen ruhten, erfüllte ihn mit Grauen und er war nicht gewillt, auch nur einen Schritt näher darauf zuzugehen, doch wanderte sein Blick immer wieder in diese Richtung. Weshalb musste all das geschehen? Plötzlich fielen seine Augen auf Bauer Maggot. Sein Herz setzte einen Schlag aus und er wandte erschrocken den Blick ab.
Bauer Maggot sah betrübt zu dem Jungen hinüber. Vor zwei Tagen hatte er die Tracht Prügel noch für angebracht gehalten, doch jetzt, da er ihn sah, hatte er Mitleid mit dem Kind. Die Augen des Jungen waren geschwollen und er war blass, wirkte hilflos und verloren an der Hand seiner Tante. Was hatte er alles durchmachen müssen? Der Bauer blickte auf den Rucksack auf seinem Schoß. Er würde ihn Saradoc geben und nichts von den Pilzen erzählen. Der Junge war hinreichend dafür bestraft worden und er wollte ihm weiteren Kummer ersparen.
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Schweigend schlurfte Frodo hinter Esmeralda und Saradoc her, als sie ihren Heimweg antraten. Merry hielt noch immer seine Hand, doch Frodo achtete kaum auf seinen Vetter, hielt den Blick starr auf den erdigen Weg gerichtet. Auch die vielen Stimmen hinter sich, nahm der junge Hobbit kaum wahr. Die meisten der Trauergäste waren zu einem großen Abschiedessen eingeladen worden, wie das bei Begräbnissen üblich war und sie alle pilgerten nun zum Brandyschloss, wo die Mahlzeit aufgetischt werden sollte. Frodo war nicht nach Essen zumute, ebenso wenig wie nach Gesprächen mit der versammelten Verwandtschaft. Ihm war übel und er fühlte sich schrecklich. Er konnte es nicht ertragen. Sein Herz würde zerspringen vor Verzweiflung, noch ehe dieser Tag vorüber war. Der Anblick der Eichensärge hatte ihn mit Grauen erfüllt, doch zu sehen, wie sie in die frisch ausgehobenen Gräber hinab gelassen wurden, ehe jeder der Anwesenden eine Schaufel Erde darauf geschüttet hatte, hatte ihn hoffnungslos weinen lassen. Zu sehen, wie Erde jene umschloss, die er liebte, sie einsperrte und ihnen jegliches Sonnenlicht, jegliche Hoffnung verwehrte, hatte ihm die Endgültigkeit des Todes bewusst gemacht. Zwar hatte er gewusst, dass seine Eltern nicht mehr zu ihm zurückkehren würden, doch war ihm zuvor nicht klar gewesen, was die Ereignisse der vergangenen Tage mit sich bringen würden. Er war alleine. Nichts konnte seine Eltern jemals wieder zu ihm zurückbringen. Merry hielt noch immer seine Hand, doch Frodo beachtete ihn wenig. Auch der strahlende, blaue Himmel interessierte ihn nicht. Sein Blick war starr auf den Boden gerichtet. Jetzt, da er die Särge gesehen hatte, war ihm die Endgültigkeit von dem, was geschehen war, bewusst geworden. Nichts konnte sie jemals wieder zurück bringen. Er hatte den Begriff zwar erst vor kurzem gelernt, als er ihn aus dem Mund seines Großvaters vernommen hatte, doch Frodo wusste, er war zum Waisen geworden und würde den Rest seines Lebens verlassen und alleine sein. Ein leises Wimmern kam über seine Lippen und Frodo konnte sein Herz in seinen Ohren pochen hören, als er verzweifelt gegen die neuerlichen Tränen ankämpfte.
Frodo zuckte erschrocken zusammen, als er Maggots Stimme vernahm und sah, wie der Bauer an Saradoc herantrat. Seine Augen weiteten sich in blankem Entsetzen und er konnte hören, wie Merry neben ihm hörbar die Luft einzog. Für den Bruchteil einer Sekunde blieben sie stehen, doch dann liefen die jungen Hobbits weiter, gingen Esmeralda hinterher, die zu ihrem Glück nicht stehen geblieben war. Frodo vermied es, den Bauern anzusehen. Sein Herz raste und er folgte seinem Vetter gerne, als dieser, von derselben Angst getrieben, rasch voraneilte und ihn hinter sich herzog. Maggot würde alles verraten und diesen Tag zu einem noch schlimmeren machen, als er es ohnehin schon war.
Zu Hause ging Frodo, sehr zum Verdruss von Esmeralda und Saradoc, die ihn zurückhalten wollten, sofort zurück in das Zimmer seiner Eltern. Die Gesellschaft von Abschiednehmenden ließ ihn zurückschrecken, denn er war mit seiner Trauer lieber für sich. Vorsichtig entzündete er eine Kerze, setzte sich dann in den Sessel seines Vaters, der für ihn alleine viel zu groß schien. Die Zeichnung seiner Eltern hielt er dabei in den Händen. Er hatte sie schon den ganzen Tag bei sich gehabt, sicher verborgen in der Westentasche seiner dunkelgrünen Weste, die er inzwischen wieder ausgezogen hatte. Zärtlich strichen seine Finger über die gemalten Gesichter seiner Eltern und das Herz wurde ihm schwer. Er würde sie nicht wieder sehen. Der Gedanke verfing sich in seinem Kopf und je länger Frodo daran festhielt, umso erschrockener wurde er. Er hatte lange Zeit benötigt, um zu verstehen, doch jetzt wusste er, mit einer Gewissheit, die ihn so sehr erschreckte, dass er unkontrolliert zu zittern begann, dass er alleine war. Alleine. Nie wieder würde er ihre Nähe spüren, ihre Stimmen hören. Ihre Unterstützung, auf die er so sehr angewiesen war, würde ihm in Zukunft nicht mehr zuteil werden. Er war auf sich allein gestellt, ohne Hilfe, ohne Schutz, ohne die Liebe seiner Eltern. Von plötzlicher, hilfloser Furcht ergriffen, zog Frodo die Knie an die Brust und schlang Schutz suchend die Arme darum, wobei er ständig das Bild betrachtete. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, ließ ihn noch heftiger erzittern, als zuvor. "Mama", flüsterte er kaum hörbar und Tränen füllten seine müden Augen.
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Es war Nachmittag, als Saradoc mit einem Korb voller Holzscheite in das Zimmer trat. Es war noch nicht an der Zeit, ein Feuer zu entzünden, doch Saradoc glaubte, dass der Herbst nicht mehr lange auf sich warten ließ und er wollte vorbereitet sein. Außerdem gefiel es ihm nicht, dass Frodo den ganzen Tag im dunklen Zimmer saß und er hoffte, mit dem Licht des Feuers auch ein wenig Licht in Frodos Leben zu bringen. Betrübt sah er auf den Jungen, der ohne ihn zu beachten im Sessel saß und den Blick leer und traurig auf ein Bild gerichtet hatte, während er mit geübten Handgriffen die Holzscheite im Kamin platzierte und sie zum Brennen brachte. Ein goldenroter Feuerschein wärmte sein Gesicht und er lächelte zufrieden, als er das leise Knistern und Prasseln vernahm und der eine oder andere Funke von den Scheiten sprang. Mühsam erhob er sich dann, blickte erneut zu Frodo, trat an seine Seite. "Du musst jetzt sehr stark sein, Frodo", ließ er den Jungen mitfühlend wissen, wobei er ihm tröstend eine Hand auf die Schulter legte. "Ich weiß, dass es wehtut, doch das wird vergehen. Dein Leben geht weiter."
Frodo sah mit einem Ausdruck zwischen Erstaunen und Entsetzen zu ihm auf. Wie konnte er es wagen, so etwas zu sagen? Am liebsten hätte er ihn angeschrieen, all seinen Zorn, seine Verzweiflung, seine Trauer herausgebrüllt, doch kein Wort verließ seine Lippen. Was wusste Saradoc schon davon? Seine Eltern waren gestorben, da hatte er längst eine eigene Familie gegründet, hatte einen Ort gehabt, an den er hingehörte. Frodo hatte das nicht. Verletzt presste das Kind die Lippen zusammen, stieß Saradocs Hand von seiner Schulter, vergrub dann das Gesicht in seinen Armen.
Seufzend sah Saradoc noch einen Moment länger auf den jungen Hobbit. Frodo wollte seine Hilfe nicht. Schließlich wandte er sich ab, ging noch einmal zu dem Korb mit dem er die Holzscheite gebracht hatte und holte einen Rucksack hervor. Er hatte ihn von Maggot erhalten. Scheinbar hatte Frodo ihn vor zwei Tagen im Bruch liegen gelassen und, da der Bauer die Kinder dort gesehen hatte, hatte er vermutete, dass der Rucksack einem von ihnen gehörte und ihn zurück gebracht. Mit einem letzten Blick auf Frodo legte Saradoc den kleinen, ledernen Ranzen neben den Kamin und verließ das Zimmer.
Kaum war Saradoc gegangen, hob Frodo den Kopf. Sein Blick fiel auf den Rucksack. Er blinzelte verwirrt. Konnte es wirklich sein, dass Maggot ihn zurückgegeben hatte? Geschwind ließ er sich vom Sessel gleiten, legte das Bild zur Seite und kniete sich neben dem Rucksack nieder, strich zärtlich über das weiche Leder. Der Ranzen war tatsächlich sein eigener. Frodo konnte es kaum glauben, dass er ihn wieder hatte, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass der Bauer ihn zurückbringen würde. Außerdem hatte er vermutet, dass, sollte Maggot wirklich nach Bockland kommen, eine saftige Strafe die Folge sein würde. Doch noch war nichts dergleichen geschehen und Saradoc hatte auch keinen zornigen Eindruck gemacht. Der Bauer hatte ihn nicht verraten, dessen war Frodo sich sicher und so sehr er ihn auch fürchtete, erfüllte tiefe Dankbarkeit sein Herz. Tränen traten in seine Augen, als er die Finger im Leder vergrub und den Rucksack fest an sich drückte; eben jenen Rucksack, in den er das Bündel gepackt hatte, welches seine Mutter ihm zur kleinen Stärkung vorbereitet hatte. Viel zu hastig hatte er sie danach verlassen. Er hatte nicht mehr als einen raschen Kuss für sie und eine kurze Umarmung für seinen Vater übrig gehabt, hatte ihnen nicht einmal gesagt, wie sehr er sie liebte. Wussten sie überhaupt, wie groß seine Liebe zu ihnen war? Frodo klammerte sich an seinen Rucksack, wimmerte verzweifelt. Er hätte gar nicht erst gehen dürfen, hätte zu Hause bleiben sollen, bei ihr und seinem Vater. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen.
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Merry war überrascht Frodo auf dem Boden sitzend anzutreffen, als er abends in das Zimmer trat. Er hatte den Nachmittag mit den angereisten Verwandten verbracht, war nun von seiner Mutter beauftragt worden, Frodo zum Essen zu holen. Schon den ganzen Nachmittag hatte Merry an seinen Vetter denken müssen und er war froh gewesen, als seine Mutter ihn mit dieser Aufgabe betraut hatte. Esmeralda selbst hatte es aufgegeben, dem Jungen zu erklären, dass er etwas essen musste und hoffte, ihr Sohn habe mehr Glück. Merry legte den Kopf schief, holte tief Luft. Seine Augen brannten, doch er verbiss seine Tränen. Wie sollte er seinem Vetter helfen, wenn dieser nur im Zimmer saß, nicht einmal andeutete, dass er seine Ankunft bemerkt hatte? Er machte sich Sorgen, hatte Angst. Er liebte Frodo von ganzem Herzen und, auch wenn Merry nichts über solche Dinge wusste, verstand er doch, dass es für seinen Vetter nicht gut sein konnte, sich alleine hier zu verkriechen. Einmal tief Luft holend, trat er dann an Frodo heran, legte ihm erst zögernd, doch dann mit fester Entschlossenheit, einen Hand auf die Schulter. "Es gibt Abendessen", flüsterte er kaum hörbar und zuckt zusammen, als das Feuer im Kamin ein leises Knistern von sich gab, als würde es auf seine Aussage antworten. Doch auch Frodos Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Durch das Feuer lag ein seltsamer Schatten auf seinem Gesicht und Merry hoffte, Frodo würde ihn ansehen, sodass das beunruhigende Dunkel verschwand. Unruhig verlagerte er das Gewicht von einem Bein auf das andere, als Frodo ihm erklärte, dass er keinen Hunger habe. "Aber du hast schon seit zwei Tagen nichts mehr gegessen!" rief Merry aus. "Du musst hungrig sein!" "Ich habe keinen Hunger!" wiederholte Frodo noch einmal bestimmt, machte sich noch immer nicht die Mühe, ihn anzusehen. "Lass mich alleine." Merry war überrascht, ob dem kalten Tonfall in der Stimme seines Vetters, doch so leicht wollte er nicht aufgeben. "Aber…", er stockte. Ihm fiel plötzlich auf, dass es ihm nicht darum ging, Frodo zum Essen zu bewegen. Ihm ging es um viel mehr. "Du machst mir Angst, Frodo", gestand er wispernd und seine Stimme zitterte vor Sorge. "Du isst nichts, du trinkst nichts. Du verlässt noch nicht einmal dieses Zimmer." "Ich will es so", war die knappe, kalte Antwort, mit der Merry nicht gerechnet hatte. Das Feuer knisterte, brachte den dunklen Schatten auf Frodos Gesicht zum Flackern. Der jüngere Hobbit zögerte, fand nicht sofort eine Antwort und spielte bereits mit dem Gedanken, seinem Vetter den Rucksack wegzunehmen, den dieser umklammert hielt, um ihn auf sich aufmerksam zu machen, entschied sich dann aber dagegen, als seine Sorge und seine Anteilnahme wieder überhand über den aufkommenden Zorn gewannen. "Das glaube ich dir nicht!" Seine Stimme war noch immer von tiefem Mitgefühl gezeichnet, gewann dann aber an Bestimmtheit. "Du willst hier nicht alleine sein. Eigentlich würdest du viel lieber bei uns draußen sitzen und…" "Was weißt du schon davon?!" unterbrach ihn Frodo zornig. Er wandte sich zu ihm um und seine Augen blitzten auf, ließen Merry beinahe zurückweichen. "Lass mich in Ruhe! Du hast in diesem Zimmer nichts verloren!" Mit diesen Worten sprang Frodo auf die Beine, ließ von dem Rucksack ab und packte Merry am Arm. Noch ehe der jüngere Hobbit wusste, wie ihm geschah, hatte sein Vetter ihn zur Tür gezerrt, ihn in den Gang hinaus gestoßen und ihm die Tür vor der Nase zu geworfen.
Zutiefst erschrocken über diese Tat, ließ sich Merry der Wand entlang zu Boden gleiten. Lautlose Tränen rannen über seine Wangen, während er fassungslos auf die Tür starrte, die Frodo soeben vor ihm verschlossen hatte. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals und er zitterte. Für einen kurzen Augenblick, hatte er seinen Vetter gefürchtet. Er hatte Frodo noch nie so erlebt. Sein Vetter hatte immer versucht, Verständnis für ihn aufzubringen, selbst wenn Merry etwas Falsches gesagt oder getan hatte und auch im Streit wäre Frodo nie auf ihn losgegangen, wie er es eben getan hatte. Als wolle er sich beweisen, dass er sich das nicht nur eingebildet hatte, langte Merry nach seinem rechten Oberarm, den Frodo grob und schmerzhaft umklammert hatte, und rieb abwesend daran. Was war nur mit seinem Vetter los? Weshalb war es ihm nicht möglich, ihm zu helfen, ihn aufzumuntern, wie er das sonst immer konnte?
Als er sich ein wenig beruhigt hatte, wischte Merry sich mit dem Ärmel seines Hemdes über die Augen und stapfte, mit einem letzten verletzten Blick auf die verschlossene Tür, ins Esszimmer. Aufgrund der vielen angereisten Gäste wurde im größten aller Esszimmer diniert, wo bereits alle versammelt waren. Die Lampen an den Wänden waren entzündet worden und Kerzen standen auf den Tischen, ebenso wie die Salatschüsseln aus denen bereits die ersten schöpften, während andere noch in Unterhaltungen vertieft waren. Ängstlich, wütend und traurig zugleich setzte er sich neben seiner Mutter auf einen Stuhl, stützte sich mit den Ellbogen am Tisch ab und legte das Kinn in seine Hände. Er konnte seinen Vetter nicht verstehen und das bereitete ihm Kopfzerbrechen, auch wenn er sonst nur sehr selten grüblerisch war, ganz im Gegensatz zu Frodo, der oft lange über die einfachsten, harmlosesten Dinge nachdenken konnte. Auf einen fragenden Blick seiner Mutter, schüttelte er nur den Kopf. Gorbadoc, Frodos Großvater, sah diese Geste mit Bedenken und lehnte sich zu Esmeralda. "Wir können ihn doch nicht einfach alleine in diesem Zimmer lassen." "Er will es nicht anders", sagte Merry in trotzigem Tonfall. "Er will es nicht anders?", fragten Gorbadoc und Esmeralda einstimmig und sahen ihn überrascht an. "Was soll das heißen?" Verzweifelt sah Merry zu seiner Mutter auf, spürte Tränen in seinen Augen. "Er hat gesagt, ich soll ihn alleine lassen. Er hat mich sogar aus dem Zimmer geworfen!" rief er aufgebracht, Unverständnis in der Stimme. "Er kann mich doch nicht einfach aus dem Zimmer werfen, oder Mama?" Esmeralda blickte verzweifelt zu Gorbadoc, als sie Merry in eine tröstende Umarmung zog und ihm zärtlich durch die Haare strich. Sie wusste sich keinen Rat, fühlte sich beinahe ebenso verzweifelt, wie Merry. "Lass ihm ein wenig Zeit, Merry. Es war ein schwerer Schlag für ihn. Es braucht seine Zeit, bis er das überwunden hat", sagte sie und hauchte ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn. "Sei ihm nicht böse, weil er dich hinausgeworfen hat. Ich bin sicher, er hat es nicht so gemeint."
Als Merrys Tränen getrocknet waren, erhob sich Esmeralda und ging in die Hauptküche, um nachzusehen, ob alles soweit bereit stand, oder ihre Hilfe noch von Nöten war. Gorbadoc folgte ihr. "Ich weiß nicht, Esmeralda. Ich mache mir Sorgen um den Jungen", ließ er sie wissen. "Er verkriecht sich jetzt schon seit zwei Tagen in diesem Zimmer. Wir müssen an seine Gesundheit denken. Wenn er sich weiterhin weigert zu essen und zu trinken, müssen wir zu drastischeren Mitteln greifen." "Ich weiß", antwortete Esmeralda leise, hielt plötzlich inne und lehnte sich schwer gegen die Wand, als würde jegliche Kraft sie verlassen. Ihr Gesichtsausdruck war betrübt und Gorbadoc konnte die Hilflosigkeit, die sie fühlte, förmlich spüren. "Doch wie willst du das machen? Zwingen können wir ihn nicht." "Das weiß ich nicht", gestand er und schüttelte ahnungslos den Kopf, den Blick ebenso betrübt, wie der ihrige. "Aber ich mache mir ernsthafte Sorgen um ihn. Er muss Tag und Nacht weinen, so geschwollen sind seine Augen. Außerdem ist er blass. Ich befürchte, er könnte krank werden. Wir müssen auf ihn Acht geben."
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Frodo lehnte sich an die geschlossene Tür, ließ sich schließlich langsam und von plötzlicher Schwäche übermannt zu Boden sinken. Tränen brannten in seinen Augen, ließen ihn hilflos schluchzen. Was hatte er getan? War er nun vollkommen verrückt geworden? Er wollte Merry zurück rufen, sich bei ihm entschuldigen. Er hatte nicht vorgehabt, grob zu werden. Was war überhaupt in ihn gefahren? Merry war sein Vetter und bester Freund, hatte es doch nur gut gemeint. Wie hatte er ihn so grob und unbedacht hinauswerfen können? Merry konnte schließlich nichts dafür, dass es ihm schlecht ging. Er musste sich sofort bei ihm entschuldigen. Mühevoll kam Frodo wieder auf die Beine, öffnete langsam die Tür und spähte beinahe zögernd hinaus, doch Merry war verschwunden. Von Schuldgefühlen überwältig, ließ Frodo sich erneut zu Boden sinken, lehnte an der halb geöffneten Tür und wimmerte eine leise Entschuldigung, die ungehört verhallte. Er fühlte sich schrecklich. Einen Freund wie Merry hatte er nicht verdient, nicht, wenn er ihn so behandelte. Wie hatte er das nur tun können? Er musste auf der Stelle zu ihm und ihm sagen, wie Leid es ihm tat, doch stand er nicht auf. Er fürchtete die Reaktionen der angereisten Verwandten, wenn er plötzlich im Esszimmer auftauchte. Er konnte ihre mitleidigen Blicke nicht ertragen, ebenso wenig, wie ihre scheinbar tröstenden Worte. Er brauchte nichts von alledem. Alles, was er benötigte, waren seine Eltern und die würde er nicht zurückbekommen können. Frodo rang lange mit sich, ehe er sich schließlich doch dazu entschloss, um Merrys Willen, zum Esszimmer zu gehen. Vorsichtig öffnet er die Tür, kam wieder auf die Beine und schlich sich durch die ungewöhnlich hell erleuchteten Gänge des Brandyschlosses, bis er vor dem größten aller Speisezimmer stand. Dort blieb er stehen, denn ein ungutes Gefühl regte sich in ihm. Zweifel nagten an ihm, wollten ihn umkehren lassen, doch Frodo schob sie beiseite, entschied aber dennoch, erst einen kurzen Blick in das Geschehen zu werfen. Zögernd und mit klopfendem Herzen öffnete er die Tür zum festlich beleuchteten Esszimmer einen Spalt weit und lugte hinein. Der Duft des Essens kam ihm verlockend entgegen, brachte seinen Magen zum Knurren und doch wurde Frodo dabei übel. Das Licht, das den Saal erfüllte, schien ihm zu hell für den Anlass und er kniff geblendet die Augen zusammen. Er sah Kinder aus dem Brandyschloss in seinem Alter, wie Minto, Madoc und Nelke, ebenso wie seinen Vetter Marmadoc und die gesamte Brandybock-Verwandtschaft. Sein Vetter Milo führte eine angeregte Unterhaltung mit seiner Cousine Margerite Beutlin, während sich deren Ehemann Griffo zu einer weiteren Portion Kartoffelbrei verhalf. Merry saß am entfernten Ende des Tisches bei seinen Eltern und den engsten Anverwandten Primulas und Drogos, dort, wo an diesen Abend auch seine Tanten Dora und Maybell, ebenso wie sein Onkel Dudo Platz genommen hatten. Die Stimmung war bedrückter, als gewöhnlich, doch die Hobbits schienen trotz allem fröhlich zu sein. Es war nicht die Art von Hobbits, ihrem Kummer nachzuhängen, doch im Augenblick verstand Frodo seine Verwandten nicht. Keiner schien ihn zu vermissen. Niemand schien auch nur an seine Eltern zu denken. Frodo spürte einen Stich im Herzen, wich von der Tür zurück. Der Anblick war zuviel für ihn. Er wollte nicht sehen, konnte nicht verstehen, wie alle anderen glücklich waren, wenn sein Herz vor Verzweiflung zu bersten drohte. Merry würde auf seine Entschuldigung warten müssen und Frodo hoffte inständig, sein Vetter würde das verstehen. Bittere Tränen rannen über seine Wangen. Tränen, von denen er schon lange geglaubt hatte, sie wären nun versiegt, doch wann immer er glaubte, keine mehr übrig und das ständige Weinen, das ihn meist unversehens traf, hinter sich zu haben, fand er neue, ebenso qualvolle Tränen, deren salziger Geschmack seine Wangen, ebenso wie seine Lippen bedeckten. So schnell es sein geschwächter Körper zuließ, rannte Frodo zurück in das Zimmer seiner Eltern, wo er das Bild vom Sessel aufhob und sich dann auf das Bett fallen ließ. Dort fühlte er sich noch immer am sichersten und auch wenn er dort die meisten Tränen vergossen hatte, fühlte er im Bett seiner Eltern noch eine Geborgenheit, die er nirgendwo sonst fand. Verzweifelt sah er auf das Bild, sah in die lachenden Gesichter und die fröhlichen Augen und weinte nur noch mehr. "Warum?", rief er verzweifelt, "Warum habt ihr mich alleine hier zurückgelassen? Hier will mich niemand. Ich bin allen gleichgültig. Nicht einmal Bilbo ist hier. Keiner mag mich mehr. Bitte, kommt zu mir zurück! Warum könnt ihr nicht zu mir zurückkommen?" Doch seine Frage blieb unbeantwortet, seine Bitte ungehört und so senkte sich langsam eine neue Nacht über das Brandyschloss und schloss den verzweifelten Jungen in ihre Arme.
Kapitel 8: Kummer
Als Esmeralda am nächsten Morgen nach Frodo sehen wollte, fand sie ihn schweißgebadet im Bett seiner Eltern. Er war blass, hatte die Stirn in Falten gelegt. Schweißperlen bedeckten Stirn, Lippen und Wangen des Jungen, hatten über Nacht seine Haare feucht werden lassen. Besorgt fühlte Esmeralda seine Stirn. Das Kind glühte förmlich. Ohne eine Sekunde zu zögern, eilte sie aus dem Zimmer und rief nach Saradoc. Ihr Mann sollte so schnell es ging nach dem Heiler verlangen. Sie selbst eilte in eines der Badezimmer, aus dem sie eine Schüssel mit kaltem Wasser und einige Tücher mit sich nahm.
Das Feuer im Kamin war ausgegangen, nur noch das schwache Glimmen der Glut war zu sehen, spendete kein Licht. Auch die Kerze war heruntergebrannt. Esmeralda kümmerte sich jedoch nicht um Licht oder Feuer. Erst galt es, Frodo zu versorgen. Sie stellte die Schüssel auf den Nachttisch, setzte sich auf die Bettkante und tauchte vorsichtig ein Tuch in das kalte Wasser. Ihr Herz klopfte, während sie dem leisen Tropfen der Flüssigkeit lauschte, als sie das Tuch auswrang und dann sanft Frodos Stirn und seine Wangen betupfte. Der Junge zuckte unter der Berührung zusammen, wimmerte leise. Esmeralda brach das Herz und sie biss sich schmerzhaft auf die Lippen. Warum hatte sie nicht schon früher nach dem Jungen gesehen? Sie hatte befürchtet, dass so etwas passieren konnte und doch hatte sie nichts unternommen, es zu verhindern. Sie hatte den Jungen vernachlässigt und nun war er es, der den Preis dafür bezahlen musste. Ein scharfes Luftholen ließ sie aus ihren Gedanken schrecken. Merry war mit einem Satz von der Tür zum Bett gerannt, blickte besorgt und entsetzte in das vom Fieber gezeichnete Gesicht seines Vetters. Tränen füllten seine Augen, als eine plötzliche Furcht ihn ergriff und ihn verzweifelt nach dem Rock seiner Mutter tasten ließ. Esmeralda spürte die zitternden Finger ihres Sohnes auf ihrem Schoß ruhen, konnte seine Hand jedoch nicht ergreifen, ganz gleich, wie gerne sie das getan hätte. Doch sie wusste, dass sie Merrys Kummer lindern konnte, indem sie Frodo half. Merry vergrub seine Finger im weichen Stoff des Kleides, wollte von seiner Mutter in den Arm genommen werden, doch war ihm klar, dass sie sich um Frodo kümmern musste. Nur sie konnte ihm jetzt helfen. "Wird er wieder gesund?", fragte er mit ängstlicher Stimme und ließ seinen Blick für einen Augenblick zu ihrem Gesicht wandern, in der Hoffnung, die Antwort in ihren Augen zu finden. Esmeralda tauchte das Tuch noch einmal in das Wasser und wrang es aus. "Ich weiß es nicht, Merry." Ihre zögernde Antwort beruhigte Merry nicht und er spürte einen Knoten in seinem Bauch. Er hatte doch nur gewollt, dass es Frodo wieder besser ging. Hatte sich nur gewünscht, seinen Vetter wieder zu haben. Er vermisste es, mit ihm durch die Felder zu streifen, zu lachen und herumzualbern, vermisste den Freund, der ihn besser kannte, als er sich selbst. Frodo konnte er alles erzählen und sein Vetter wusste mehr über ihn, als selbst seine Mutter. Ebenso erzählte Frodo ihm alles, was ihm auf dem Herzen lag und keiner musste jemals fürchten, dass ihre Geheimnisse beim anderen nicht sicher waren. Merry verbannte den Gedanken daran, was er tun würde, sollte Frodo nicht wieder gesund werden, griff stattdessen nach der kalten, zitternden Hand seines Vetters, die auf der Bettdecke lag und hielt sie zärtlich umklammert.
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Frodo war umgeben von dichtem, feuchtem Nebel. Er zitterte vor Kälte, rieb sich fröstelnd die Hände und doch schien es ihm, als würde um ihn herum alles in Flammen stehen und nur er konnte die Wärme nicht fühlen. Er blickte sich um, war jedoch nicht in der Lage, etwas zu erkennen. Dichte Nebelschwaden zogen vor seinen Augen dahin. Wo war er? ‚Was machst du hier, Frodo?' Frodo wandte sich um, als er die Stimme vernahm. "Mama?", rief er verwirrt, "Wo bist du, Mama? Ich kann dich nicht sehen?" Frodo rannte in die Richtung, in der er seine Mutter vermutete. Die Hände behielt er ausgestreckt, versuchte seine Augen gegen die feuchte, kalte Luft abzuschirmen, als er plötzlich stolperte und hart auf dem Boden aufschlug. "Mama?", fragte er noch einmal mit verwirrter Stimme, rappelte sich in eine sitzende Position. Er rieb sich die Knie, blickte ängstlich in den Nebel, doch erhielt er keine Antwort. Furcht ergriff ihn, ließ sein Herz heftig in seiner Brust klopfen, als Tränen in seine Augen traten. "Papa?", flüsterte er zögernd, hoffend, bei seinem Vater mehr Glück zu haben. "Wo seid ihr? Warum lässt ihr mich hier alleine? Kommt zurück! Ich bitte euch, kommt doch zurück!" Ein verzweifeltes Schluchzen entrang sich seiner Kehle, doch niemand hörte es, niemand kam, um ihm zu helfen, ihn zu trösten. Er war alleine, verloren. Und der Nebel wurde immer dichter.
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Frodo stöhnte, als Esmeralda erneut mit dem Tuch über die erhitzten Wangen strich, wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Seine Finger klammerten sich verzweifelt an der Bettdecke fest. "Sh", machte Esmeralda leise, legte das Tuch in die Schüssel und ergriff seine linke Hand, in der Hoffnung, ihn zu beruhigen. Sie war erleichtert, als sich die Finger unter den ihren nicht mehr ganz so krampfhaft festhielten und Frodos Lippen ein leises Seufzen entwich. "Ist er noch immer nicht aufgewacht?", fragte Mirabella, die mit einem Tablett, auf dem eine Teekanne und eine Tasse standen, in das Zimmer trat. Die Sorge um ihren Enkel war ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie ihre Last auf den Nachttisch stellte und Tee in die Tasse goss. Sie war eine kräuterkundige Frau und hatte sofort einen Tee aus Sonnenblumenblüten zubereitet, als sie hörte, dass Frodo an Fieber litt. Trotzdem hoffte sie, dass der Heiler bald kommen würde. Sie verstand sich darauf, Kinder zur Welt zu bringen, doch vermochte sie nicht, Krankheiten zu heilen. Und Frodo musste wieder gesund werden, ganz gleich, woran er litt. Sie könnte es nicht ertragen, ihn auch noch zu verlieren. Mirabella hatte eine neue Kerze mitgebracht, die sie in den Halter steckte und sie entzündete. Das Streichholz zischte, ließ ihren Enkel beunruhigt die Stirn runzeln. Mirabella war erleichtert über diese Reaktion. Frodo war dem Fieber nicht verfallen, stand vermutlich bereits an der Grenze zum Erwachen. Ein zögerndes Lächeln bemächtigte sich ihrer Lippen. Einige Augenblick blieb Mirabella hinter Esmeralda stehen, als diese nach dem Tuch langte, um es auf Frodos Stirn zu legen, blickte gedankenverloren in das Gesicht ihres Enkels, als würde der Anblick ihr helfen, ihren Kummer über den Verlust ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes zu lindern. Schwermütig seufzend wandte sie sich dann ab, machte sich daran, das Feuer im Kamin neu zu entfachen.
Frodo wimmerte, seine Finger schlossen sich fester um Esmeraldas. Merrys Mutter versuchte, ihn mit leisen Worten zu beruhigen, als der Junge plötzlich erschrocken die Augen aufschlug und verwirrt um sich blickte. Es dauerte einen Augenblick, bis Frodo sich zurechtfand, doch dann erkannte er Esmeraldas Gesicht und entspannte sich ein wenig. Fragend sah er zu ihr auf. Er fühlte sich schwach und schwindelig und seine Glieder schmerzten, als wäre er gestürzt. Noch war er sich nicht ganz klar, wo er sich befand und die Augen drohten ihm wieder zuzufallen, doch Frodo zwang sich, sie offen zu halten. Esmeralda lächelte, nahm ein Tuch von seiner Stirn, das er bisher noch nicht bemerkt hatte. "Wie fühlst du dich, Frodo?" Frodo runzelte die Stirn, schloss die Augen dann doch. Seine Kraft schien noch nicht auszureichen, um zu antworten und es dauerte einige Zeit, bis er erneut blinzelte. Seine Großmutter stand nun hinter Esmeralda und auch wenn Frodo sie nicht kommen hörte, wollte er sie mit einem Lächeln begrüßen, was ihm nicht gelang. "Ich weiß es nicht", gestand er dann mit zittriger Stimme, während er langsam verstand, wo er war und was geschehen war. "Es ist so heiß und doch ist mir kalt." Esmeralda strich ihm sanft eine Locke aus der Stirn und Frodo war versucht, die Augen wieder zu schließen, ob der Kühle, die ihre Berührung brachte. "Das ist das Fieber."
Frodo blickte auf, als er Stimmen vernahm. Saradoc trat in das Zimmer, dicht gefolgt von Fastred Bolger, einem der besten Heiler im ganzen Auenland. Dennoch gab es viele Gerüchte um ihn. Wann immer er irgendwo auftauchte, steckten die Hobbits die Köpfe zusammen und flüsterten. Man sagte, er könne in die Herzen anderer blicken, sehe Dinge, die niemand sonst erkennen konnte. Zwar wurden solche Aussagen von vielen als Geschwätz abgetan, doch schienen seine Heilmethoden des Öfteren fragwürdig. Nichtsdestotrotz war Fastred ein guter Heiler und immer für seine Patienten da.
Mirabella begrüßte den Hobbit, der für einen so erfahrenen Heiler noch recht jung war, höflich, verließ dann aber das Zimmer. Fastred hatte oft im Brandyschloss zu tun und Mirabella wusste, dass er gerne allein mit seinen Patienten arbeitete. Anfangs hatte sie das verwundert, doch inzwischen vertraute sie dem Heiler und tat alles, um ihn zu unterstützen. Saradoc nahm Merry bei der Hand. Sein Sohn hatte ihn mit Fastred gesehen, war ihnen besorgt in das Zimmer gefolgt und schien nun nicht gewillt, es so schnell wieder zu verlasen, doch tat er, wie ihm geheißen. Nur mehr Esmeralda blieb zurück.
Fastred ließ sich von Esmeralda einen Stuhl bringen, während er seinen Mantel auszog, den er dann über die Rückenlehne legte, ehe er Platz nahm. Er beugte sich über Frodo und lächelte ihn aufmunternd an. "Hallo Frodo! Wie geht es dir?" Frodos Antwort wartete er gar nicht erst ab, sondern legte sogleich prüfend eine Hand auf dessen Stirn, wartete einige Zeit und nickte dann besorgt. "Wie lange hält das Fieber schon an?" Betrübt senkte Esmeralda den Kopf, antwortete nur mit leiser Stimme. "Ich bin erst heute Früh in sein Zimmer gekommen. Ich weiß nicht, wie lange er schon daran leidet." Fastred nickte erneut, als würde er auch daraus seine Schlüsse ziehen, nahm dann Frodos Hand in die seine und fühlte den Puls. Er untersuchte seinen Patienten gründlich, bemerkte dabei auch einige der Kratzer, die Frodo sich bei seinem Sturz vom Baum zugezogen hatte und runzelte verwundert die Stirn darüber. "Du trinkt viel zu wenig", sagte er schließlich an Frodo gerichtet. "Außerdem scheint mir, dass du schon lange nichts mehr gegessen hast." Frodo hatte den Heiler aufmerksam beobachtet, während er von ihm untersucht worden war, wandte jetzt jedoch den Blick ab. Er wusste, dass der Heiler Recht hatte, doch das hieß nicht, dass er daran etwas ändern würde. Weshalb sollte er etwas essen, wenn ihm schon beim Gedanken daran übel wurde? Fastred ahnte, dass der Junge wusste, dass er zu wenig aß, aber zu stolz war, dies ihm gegenüber zuzugeben und doch spürte er noch etwas anderes. Sanft strich er dem jungen Hobbit über die Wange, als sein Blick auf ein mit Kohle gemaltes Bild fiel, das auf dem Nachtkästchen lag, gerade so weit von der Kerze entfernt, das es nicht von herabtropfendem Wachs beschmutzt werden konnte. Er betrachtete es lange und eingehend, bevor er es aufhob.
Frodo hatte die Bewegung aus den Augenwinkeln wahrgenommen, wandte sich erschrocken um und beobachtete mit weit aufgerissenen Augen, wie ihm ein Fremder sein Bild wegnahm. Fastred durfte es nicht haben. Niemand durfte das. Es war sein Bild und niemand hatte das Recht, es anzufassen, ohne ihn um Erlaubnis zu bitten. Flehend sah er zu Fastred auf, wollte ihn bitten, das Bild wieder zurückzulegen, doch alles, was er hervor brachte, war ein leises Wimmern.
Fastred wandte sich um. Mitfühlend und mit einem Lächeln sah er in das verzweifelte Gesicht des Kindes. "Keine Angst, ich nehme es dir nicht weg." Er legte das Bild in Frodos Hand, deren Finger es vorsichtig umklammert hielten. Eine Zärtlichkeit lag in der Berührung, die jeden anderen überrascht hätte, doch Fastred hatte dies bereits vermutet. Dennoch war er von Traurigkeit erfüllt, als Frodos Augen sich mit Tränen füllten, während er das Bild liebevoll und voller Sehnsucht betrachtete.
Es dauerte lange, bis Frodo sich schließlich dazu zwang, das Bildnis zur Seite zu legen. Seine Augen waren feucht, doch keine Träne war ihm entkommen, auch wenn er schwer mit sich zu kämpfen hatte. Seine Finger vergruben sich in der weichen Decke, während er versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass er seine Eltern nie wieder so würde lachen sehen, wie auf dem Bild. Fastred beobachtete ihn eingehend, blickte tief in die blauen Augen, die ausdruckslos und doch voller Verzweiflung auf die Bettdecke starrten. Schließlich ergriff er Frodos Hand, hielt deren Finger in einer zärtlichen Berührung und wartete darauf, dass Frodo ihn ansah. Als der Junge den Kopf hob, beugte er sich beinahe verschwörerisch zu ihm hinab und flüsterte leise: "Was fühlst du, Frodo?" Frodo runzelte verwundert die Stirn. Die Frage überraschte ihn, doch noch überraschter war er von seiner Antwort, die kaum mehr, als ein Wispern war. "Schmerz. Alles schmerzt. Und die Angst, sie ist unerträglich." Die Worte hatten seine Lippen verlassen, noch ehe er über eine Antwort hatte nachdenken können und ließen ihn nur noch verwunderter in die liebevollen, besorgten Augen des Heilers blicken. In seine Augen legte er die Frage, was er soeben gesagt hatte, denn er verstand es nicht genau. Doch Fastred antwortete nicht darauf, drückte nur sanft seine Hand, um auszudrücken, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte und lächelte aufmunternd.
Esmeralda stand ein wenig abseits des Bettes, hatte das Schauspiel gespannt beobachtet, jedoch nicht ausmachen können, was gesagt worden war, ganz gleich, wie sehr sie sich darauf konzentriert hatte. Fastred rührte sich plötzlich und strich Frodo ein letztes Mal über die Wange, ehe er sich von ihm verabschiedete. Er nahm seinen Mantel von der Stuhllehne und führte Esmeralda nach draußen.
"Was ist mit ihm?"; fragte sie besorgt, als sie die Tür hinter sich schloss. "Körperlich geht es ihm gut, wenn man vom Flüssigkeitsmangel und der Tatsache absieht, dass er schon lange nichts mehr gegessen hat. Vor allem Flüssigkeit ist jetzt wichtig für ihn, da er unter hohem Fieber leidet." Der Heiler blickte sie ernst an, während er in seinen Mantel schlüpfte. Esmeralda nickte traurig. "Er hat seit fast drei Tagen nichts mehr gegessen. Wann immer wir ihn zum Essen riefen, wollte er nicht kommen und zwingen wollte ich ihn nicht." Fastred nickte, schien kurze Zeit seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, denn er blickte zu Boden, rieb sich abwesend mit der Hand das Kinn. Esmeralda wurde ungeduldig, doch wagte sie nicht, die Gedanken des Heilers zu unterbrechen. "Wie ich hörte, sind seine Eltern kürzlich verschieden", sagte er schließlich, ließ sie mit seinen Worten beinahe zusammenzucken. "Es war ein Bootsunfall, vor drei Tagen. Seither hat er sich in diesem Zimmer verkrochen", bemühte sie sich zu erklären, sah dabei betrübt zur verschlossenen Tür. Fastred folgte ihrem Blick. "Es ist nicht leicht für ein Kind, den Tod eines Elternteiles zu verkraften. Noch schlimmer wird es natürlich, wenn Vater und Mutter am selben Tag zu Tode kommen. Sie verlieren mit einem Schlag alles, was ihnen Halt gab. Frodo ist gesund. Es ist seine Seele, die leidet. Er weiß nicht mehr, wo er hingehört. Er hat die verloren, die er am meisten geliebt hat. Noch will er es vielleicht nicht wahrhaben und doch weiß er, dass sie nicht mehr zurückkommen werden. Er weiß, dass er jetzt auf sich alleine gestellt sein wird und das macht ihm Angst. Sein hohes Fieber ist eine Flucht vor dem, was nun auf ihn zukommt. Ein Hilfeschrei, weil er nicht glaubt, alleine zurechtzukommen. Vermutlich auch ein Schutz vor der Wirklichkeit. Man muss ihm zeigen, dass er nicht alleine ist. Er muss spüren, dass es noch jemanden gibt, der für ihn da ist." Esmeralda war erstaunt über das, was Fastred, mehr zu sich selbst, als zu ihr, sagte. Sie hatte zwar ebenfalls vermutet, dass Frodo aus Kummer um seine Eltern krank geworden war, doch was sie von Fastred erfuhr, überraschte sie dennoch. Es stimmte wirklich, was man über ihn sagte. Er konnte in den Herzen anderer lesen. Nie hätte sie geahnt, wie sehr Frodo wirklich darunter litt und das ließ ihr das Herz schwer werden. Betroffen senkte sie den Kopf, ihre Worte kaum mehr, als ein Flüstern. "Was können wir für ihn tun?" "Nichts", antwortete Fastred ernst und suchte ihren Blick, "außer für ihn da zu sein." Esmeralda starrte den Heiler entgeistert an. Glaubte er etwa, sie sorge sich nicht um das Wohl des Jungen? Und doch schien es ihr zu wenig, sich nur um Frodo zu kümmern. Es musste etwas geben, mit dem sie ihn würde gesund pflegen können. "Was kann ich gegen das Fieber machen?", fragte sie, ging langsam den östlichen Gang entlang, um den Heiler nach draußen zu geleiten. Nur spärliches Licht war ihnen von den Kerzenhalterungen an den Wänden vergönnt, doch das störte keinen der beiden. "Ich möchte ihm nichts verabreichen. Wenn ich mit meinen Vermutungen richtig liege, dürfte es bald sinken. Sollte es dennoch schlimmer werden, ruft wieder nach mir." Esmeralda nickte und bedankte sich, auch wenn seine Worte sie nicht ruhiger werden ließen.
Nachdem sie Fastred verabschiedet hatte, ging Esmeralda in die östliche Kleinküche, um Saradoc die Diagnose mitzuteilen. Meriadoc saß auf dem Schoß seines Vaters, kuschelte sich an ihn und weinte bitterlich. Warum musste Frodo krank werden? Am liebsten hätte er die Zeit zurück gedreht, zu jenem Morgen drei Tage zuvor. Er wäre mit Frodo zu Hause geblieben und hätte so vielleicht verhindern können, was mit seinen Eltern geschehen war. All das Leid wäre Frodo erspart geblieben. Vielleicht wäre er nicht einmal krank geworden. Überrascht hob er den Kopf als seine Mutter eintrat. "Wie geht es ihm?", drängte er und rannte Esmeralda entgegen. Sie nahm ihn auf den Arm und küsste eine Träne von seiner Wange. "Es geht ihm gut. Er hat hohes Fieber, das aber vergehen wird", ließ sie ihren Sohn wissen und küsste ihn noch einmal. "Frodo wird bald wieder gesund sein, mach dir keine Sorgen, Meriadoc." Saradoc atmete erleichtert auf, als er die Worte vernahm und Merry brach in lautes Jubelgeschrei aus.
Als sie etwas später alleine in der Küche waren, ließ sich Esmeralda erschöpft auf einen Stuhl fallen. Saradoc trat um den Tisch herum, begann, ihre Schultern zärtlich zu massieren. "Wie geht es ihm wirklich?", fragte er. Esmeralda seufzte, gebot ihm mit einer Handbewegung aufzuhören, ganz gleich, wie sehr sie seine Behandlung genoss und bedeutete ihm, neben ihr Platz zu nehmen. Saradoc tat, was sie verlangte, blickte besorgt in ihre Augen. Er konnte sehen, wie erschöpft sie war und so sehr er sich auch um Frodo sorgte, galt seine größte Sorge im Augenblick seiner Frau. Die Mühen der vergangenen Tage hatten sie sehr mitgenommen und ständig lag ein Schatten über ihren sonst so fröhlichen Augen. Esmeralda war an ihre Grenzen gestoßen, das spürte Saradoc deutlich und er wollte versuchen, ihr zu der nötigen Ruhe und Erholung zu verhelfen, die sie nun brauchte. Und doch galt es, erst Frodo zu helfen, denn erst dann würden auch er und seine Frau wieder zur Ruhe kommen. "Fastred meinte, es wäre der Kummer, der ihn krank macht. Der Verlust seiner Eltern war zuviel für ihn. Er meinte, es müsse Frodo bald besser gehen, wenn er sich nicht seinem Schmerz hingibt." Esmeralda hob den Kopf, blickte bekümmert in sein Gesicht. "Ich fühle mich verpflichtet, für den Jungen da zu sein, und doch weiß ich nicht, wie ich das machen soll. Du weißt, wie sehr er an seinen Eltern hing, vor allem an Primula. Für mich selbst ist die Trauer noch so nah, dass ich fürchte, ihn mit meiner Traurigkeit nur noch unglücklicher zu stimmen." Ihre Stimme war leise gewesen, von Tränen überschattet, die erst in ihren Augen glitzerten und schließlich den Weg über ihre Wangen fanden. Saradoc legte einen Arm um sie, zog sie in eine schützende Umarmung, doch auch ihm fiel es immer schwerer, stark zu bleiben. Esmeralda lehnte den Kopf an seine Schulter. Sie war froh um seine Nähe, spürte sofort, wie seine Berührung ihr Kraft spendete und war bereit, dies anzunehmen. "Wir werden das schaffen", sagte er sanft aber bestimmt und küsste sie zärtlich. "Und wenn du glaubst, nicht stark genug zu sein, gibt es noch genügend andere Hobbits hier im Brandyschloss, die sich für diese Zeit seiner annehmen können. Außerdem habe ich Bilbo bereits einen Brief geschrieben. Ich bin mir sicher, er wird so bald er kann nach Bockland reisen, wenn er erfährt, wie es dem Jungen geht. Das wird Frodo gut tun. Er wird bestimmt wieder auf die Beine kommen."
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Frodo beobachtete wie Fastred und Esmeralda das Zimmer verließen. Stand es so schlimm um ihn, dass sie das außerhalb des Raumes besprechen mussten? Einen Moment lang, überlegte er, ob er zur Tür schleichen sollte, um zu lauschen, ließ es dann aber bleiben. Nicht nur, weil sein Gewissen ihm sagte, dass das unhöflich wäre, sondern auch, weil sein Körper mit schmerzhaften Stichen gegen jede größere Bewegung protestierte. Sein Kopf war schwer und heiß, und seine Schläfen pochten. Stöhnend drehte Frodo sich zur Seite, bettete sein Gesicht auf eine verhältnismäßig kühle Stelle des Kissens und schloss die Augen. Seine Gedanken wanderten zurück zu jenem Moment, als Fastred herein gekommen war. Frodo kannte den Heiler gut. Schon sein ganzes Leben, war er nur von ihm untersucht worden, wenn er einmal krank geworden war. Er mochte Fastred und die liebevolle Art, wie er ihn behandelte. Doch weshalb hatte er das gesagt? Weshalb hatte er ihm jene Gedanken anvertraut? Diese Gedanken gingen niemanden etwas an, außer ihm selbst. Er musste alleine damit fertig werden. Selbst ein Heiler wie Fastred würde ihm dabei nicht helfen können. Dennoch hatte er es ihm gesagt. Er hatte zwar nicht erwähnt von welcher Art seine Ängste und Schmerzen waren, doch war er sich sicher, Fastred wusste genau, woher sie stammten. Sein älterer Vetter Milo hatte ihm einmal gesagt, dass Fastred sehr sonderbar wäre. Er hatte ihm erzählt, der Heiler sehe mehr als manch ein anderer. Frodo hatte damals nicht verstanden, was Milo damit ausdrücken wollte, doch nun hegte er keinen Zweifel, dass sein Vetter Recht hatte. Fastred hatte Dinge gesehen, die vielleicht sogar ihm selbst verborgen geblieben waren.
Je länger Frodo darüber nachdachte, desto bewusster wurde er sich seiner Angst. Er wusste, dass er Angst davor hatte, alleine zu sein. Doch nun wurde ihm klar, dass er nicht nur die Einsamkeit fürchtete, sondern auch, dass er von niemandem mehr so geliebt wurde, wie das bei seinen Eltern der Fall gewesen war. Ihm wurde klar, dass ihre Liebe etwas Einzigartiges gewesen war. Sie hatten ihn bedingungslos geliebt und ganz gleich was kam, sie waren immer hinter ihm gestanden. Seine Gedanken wanderten zurück zum vergangenen Abend, als er die anderen im Esszimmer beobachtet hatte. Keiner schien sich darüber bewusst gewesen, dass er nicht bei ihnen gewesen war. Warum sollten sie auch? Er war nicht mehr, als ein junger, verängstigter Hobbit, der nachts wegen Albträumen bei seinen Eltern schlafen wollte. Wie sehr er sie vermisste. Seine Mutter wäre jetzt bestimmt bei ihm und würde ihn trösten. Er konnte beinahe spüren, wie ihre Hände ihn zärtlich umschlossen, roch ihren einzigartigen Duft. Seine Ängste würden bald vergessen sein.
Doch sie war nicht mehr da, würde ihn nie wieder in ihren Armen halten. Niemand würde ihn jemals wieder so trösten, wie seine Mutter es getan hatte. Von nun an war er alleine, musste selbst für sich sorgen. Eine Träne lief lautlos über sein Gesicht und tropfte von seiner Nasenspitze. "Tante Esmeralda könnte für mich sorgen", flüsterte er plötzlich kaum hörbar. Ein schwacher Hoffnungsschimmer leuchtete in seinen glasigen Augen, als ein fiebriges Zittern ihn durchlief. Doch konnte sie das wirklich? Sie mochte vielleicht auf ihn aufpassen, doch niemals würde sie so für ihn da sein können, wie Primula es gewesen war. Schließlich war sie noch nicht einmal jetzt hier, wo er krank war. Nein, sie würde nicht für ihn sorgen können. Er musste alleine zurechtkommen. "Ich kann das nicht! Ich brauche Mama und Papa", flüsterte er in die Einsamkeit und nur das leise Knistern des Feuers antwortete ihm. Traurig bemerkte er, wie sich immer mehr Tränen den Weg über seine Wangen suchten, doch fand er nicht die Kraft, dies zu verhindern. Nie würde es ihm gelingen, alleine für sich sorgen zu können. In Wahrheit wollte er es nicht einmal. Sein Leben hatte seinen Sinn verloren, jetzt da er sie verloren hatte.
Das Pochen in seinen Schläfen wurde immer stärker. Fröstelnd und mit zitternden Fingern zog er sich die Decke über den Kopf. Viele Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet, liefen über sein Gesicht und vermischten sich mit seinen Tränen. Warum kam niemand um ihm zu helfen? War er ihnen denn wirklich schon so gleichgültig, dass sie sich nicht einmal um ihn kümmern wollten, wenn er krank war? Frodo hatte nicht die Kraft dazu, seinen Fragen noch länger nachzuhängen. Seine Lider verloren den Kampf gegen das Fieber und die Erschöpfung und so schloss er betrübt die Augen. Hoffnungslosigkeit und Angst erfüllten sein Herz, als ein unruhiger Schlaf ihn übermannte.
Kapitel 9: Neuer Mut
Esmeralda brach es das Herz Frodo im Fieberwahn immer wieder nach seiner Mutter rufen zu hören. Drogos und Pirmulas Tod hatte tiefe Wunden in Frodo aufgerissen, die niemals ganz verheilen würden und Esmeralda konnte nur hoffen, dass sie die Kraft aufbrachte, seinen Schmerz zumindest ein wenig zu lindern. Wieder wrang sie ein Tuch aus und tupfte Frodo den Schweiß von der Stirn. Das Fieber war nicht gesunken, wie Fastred vermutet hatte, sondern noch gestiegen. Frodo war nur einmal im Laufe des Nachmittages aufgewacht und hatte eine Tasse Tee getrunken. Inzwischen war es später Abend. Der Junge lag wimmernd im Bett, die Stirn verstört in Falten gelegt und flüsterte. Er sprach viel, doch Esmeralda verstand nur, dass er immer wieder nach seinen Eltern rief. Ab und an wälzte er sich von einer Seite zur anderen und Esmeralda vermochte kaum, ihn zu beruhigen.
Ein warmer Feuerschein und das Licht einiger Kerzen erhellten das Zimmer, als Merry in die Tür trat und sich mit einer Hand am Türrahmen festhielt. Sein Blick war besorgt und ungeweinte Tränen glitzerten in seinen blauen Augen. Das Haar seiner Mutter schimmerte golden im Kerzenlicht, doch Merry hatte nur Augen für seinen Vetter. Dessen Wangen waren gerötet und einige der dunklen Locken klebten an Stirn und Schläfen. Ein leises Schluchzen entrann seiner Kehle und ließ seine Mutter auf ihn aufmerksam werden. "Mach dir keine Sorgen, Merry", versicherte sie flüsternd, "er wird wieder gesund, ganz bestimmt. Er braucht nur ein wenig Ruhe. Geh jetzt. Dein Vater wird dich heute zu Bett bringen. Ich werde bei Frodo bleiben." Merry wollte zu ihr gehen und sie umarmen, entschied sich dann aber dagegen. Frodo dort liegen zu sehen, schwach und vom Fieber geschüttelt, schmerzte ihn und er fürchtete sich davor, ihn aus der Nähe zu betrachten und noch mehr Dinge zu erkennen, die ihm anzeigten, wie krank sein Vetter war. Das hatte Frodo nicht verdient. Traurig wandte er sich ab, stapfte mit gesenktem Kopf in sein Zimmer und legte sich in sein Bett, wobei er sich die Decke bis unter das Kinn zog. Als sein Vater zu ihm kam, strich dieser ihm durch die Haare, streichelte dann beruhigend über seinen Rücken, während Merry sich wortlos an ihn kuschelte.
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Frodo blinzelte. Sein Blick war verschwommen, ließ ihn nur Schatten erkennen. Mühevoll versuchte er, seine Augen offen zu halten, doch seine Lider flatterten nur schwach, ehe er den Kampf aufgab und sie wieder schloss. Die Stimme seiner Tante drang an sein Ohr, als würde sie aus weiter Ferne zu ihm sprechen. Ein seltsames Rauschen klang in seinen Ohren, verwirrte ihn. Mühsam drehte er den Kopf in die Richtung, aus der die schwache Stimme zu kommen schien und blinzelte noch einmal. Der Schatten ihrer Gestalt war in einen schwachen Lichtschein gehüllt, ließ sie noch ferner wirken, als ihre Stimme ihm Glauben machte. Etwas kühles berührte seine Wange und Frodo schloss erleichtert die Augen. Er hatte das Gefühl in seinem Innern lodere ein Feuer, das ihn langsam verbrannte und war dankbar für die kalte Flüssigkeit, die von seiner Wange über seine Lippen lief, fand jedoch nicht die Kraft, seine Verbundenheit zu äußern.
"Frodo?", flüsterte Esmeralda, als der Junge den Kopf drehte und sie für einen kurzen Moment die blauen Augen unter den flatternden Lidern erkennen konnte. "Bist du wach?" Prüfend legte eine Hand auf seine Stirn. Das Fieber war noch immer nicht gesunken. Vorsichtig strich sie mit dem feuchten Tuch über seine Wangen, benetzte die erhitzte Haut mit ein wenig Wasser. Ein zufriedener Ausdruck huschte über Frodos Gesicht, ließ Esmeraldas Herz ruhiger schlagen. Sie war erleichtert zu sehen, dass er sie wieder wahrzunehmen schien und fand, dass es an der Zeit war, ihn dazu zu bringen, eine weitere Tasse des Tees zu trinken. Das Tuch beiseite legend, warf sie seine Decke zurück, legte sanft die Hände unter seine Achseln und setzte ihn auf. Frodo stöhnte und blinzelte erneut, als Esmeralda ihn stützte und sich hinter ihm auf die Bettkante setzte, sodass sein Kopf an ihrer Brust lehnen konnte. Vorsichtig legte sie dann eine Tasse warmen Tees an seine Lippen, forderte ihn auf zu trinken. Durch die Bewegung wachgerüttelt, öffnete Frodo seine Augen. Er verstand nicht sofort, was mit ihm geschah und zuckte erschrocken zusammen, als er den Tassenrand an seinen Lippen spürte und Esmeraldas Stimme vernahm. Nur langsam lichtete sich der Nebel in seinen Gedanken und er trank widerwillig einen kleinen Schluck des seltsam riechenden Tees. Lieber hätte er die Tasse selbst festgehalten, doch seine Hände schienen ihm nicht gehorchen zu wollen und auch wenn er seine rechte Hand hob, um die Tasse zu stützen, zitterte sie viel zu sehr, als dass er in der Lage gewesen wäre, selbst zu trinken. Dennoch trank er gierig, nachdem der erste kleine Schluck seine trockene Zunge auf den Geschmack gebracht hatte und musste von Esmeralda gebremst werden, um sich nicht zu verschlucken. Müde ließ sich Frodo wieder zurück ins Bett gleiten, während Esmeralda ihn zudeckte, die Tasse wegstellte und neben ihm auf einem Stuhl Platz nahm. "Wie geht es dir?", wisperte sie und strich ihm über die Stirn. Frodo antwortete nicht sofort, sondern überdachte ihre Frage. Er fühlte sich erschöpft, hatte jedoch die Kraft gefunden, seine Augen offen zu halten. Sein Kopf schmerzte noch immer, ebenso wie beinahe alle anderen seiner Körperteile. Hitze und Kälte schienen sich in ihm abzuwechseln und während er in einem Moment glaubte, Decke und Nachtgewand von sich werfen zu müssen, war er im nächsten der Ansicht mindestens noch eine zweite Decke zu benötigen. "Es geht", antwortete er schließlich mit schwacher, leiser Stimme. Der Tee hatte ihm gut getan und er fühlte sich bereits ein wenig kräftiger. Doch der Schein trog, denn als er sich aufsetzen wollte, schwindelte ihm und seine zitternden Hände brachen unter dem Gewicht seines Körpers weg. "Du solltest vorsichtig sein", mahnte Esmeralda, legte sanft ihre Hände auf seine Schultern und hinderte ihn so an einem weiteren Aufstehversuch. "Du bist nicht bei Kräften, aber dem kann ich mit einem heißen Teller Brühe Abhilfe schaffen." Frodo nickte zögernd und Esmeralda versprach, ihm später einen Teller Suppe zu bringen. Es war seltsam, sie an seiner Seite zu haben und nicht seine Eltern. Doch was konnte Esmeralda für ihn tun? Sie mochte eine Mutter sein, doch seine Mutter war sie nicht. Ihre Art war eine andere. Sie war anders. Esmeralda mochte ihn pflegen, in der Hoffnung, dass er wieder gesund wurde, doch ihre Pflege war nicht die, die eine Mutter ihrem Sohn zukommen lassen würde. Seine Mutter hätte ihn nicht sofort wieder ins Bett gelegt, nachdem er den Tee getrunken hatte, sondern hätte ihn in ihren Armen gehalten, vielleicht sogar ein Lied gesummt, und über seine Wange gestreichelt. Er hätte ihren Herzschlag im Ohr gehabt, während er ihrer Stimme gelauscht und ihre Nähe gespürt hätte. Esmeralda lächelte zaghaft, als sie bemerkte, dass seine großen, blauen Augen fragend auf sie gerichtet waren. Sie fühlte sich beinahe unwohl unter dem forschenden, eingehenden Blick, doch wollte sie ihn das nicht spüren lassen. "Stimmt etwas nicht?" Frodo schüttelte den Kopf, bereute diese Tat jedoch, denn der ganze Raum schien plötzlich in Bewegung zu geraten. Überrascht darüber schloss er die Augen und wartete ab, bis auch die Übelkeit abklang, die das ungeahnte Drehen mit sich gebracht hatte. Mit einem erleichterten Seufzen ließ er sich dann tiefer in das Kissen sinken und öffnete erneut die Augen. Den Blick richtete er auf die Decke, wo seltsame Schatten tanzten. Er wagte nicht, seine Tante anzusehen. "Was hat Fastred gesagt?", fragte er schließlich zögernd und Esmeralda konnte hören, wie seine Stimme zitterte. "Werde ich wieder gesund?" "Natürlich, wirst du das!" versicherte sie rasch, von seiner zweiten Frage völlig aus der Fassung gebracht. "Du hast Fieber, aber das wird bald vergehen. Du wirst sehen, in ein paar Tagen wirst du wieder mit Merry durch die Felder streifen können."
Frodo runzelte die Stirn. Er glaubte nicht daran, bald wieder mit Merry unterwegs zu sein. Dazu fühlte er sich im Augenblick viel zu schwach und zumindest um die Felder des Bruchs würde er in Zukunft ohnehin einen Bogen machen. Mit Grauen erinnerte er sich an Maggots kläffenden Hunde, die ihm knurrend und bellen und schnappend hinterher gejagt waren. Ein kalter Schauer der Angst lief ihm über den Rücken, als er an die zornigen Augen des Bauers dachte, und an die Angst, die er empfunden hatte, als er von ihm geprügelt worden war, während die Hunde um ihn herum gestanden waren, als würden sie nur darauf warten, ihn zerfleischen zu können. "Ist alles in Ordnung?", fragte Esmeralda besorgt, als sie bemerkte, dass Frodo zitterte. Frodo nickte rasch. Sie sollte nichts von den Geschehnissen jenes Tages erfahren. Niemand sollte das. Es würde für immer sein und Merrys Geheimnis bleiben.
Esmeralda nahm ein frisches Tuch zur Hand, tauchte es in das Wasser und legte es Frodo auf die Stirn, während sie ihn eingehend beobachtete. Der Junge hatte die Augen wieder geschlossen und ein Ausdruck lag auf seinem Gesicht, den Esmeralda nicht zu deuten wusste. Fastred hatte Recht gehabt. Kummer zehrte an den Kräften des Kindes. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen und auch wenn seine Wangen durch das Fieber gerötet waren, wirkte er krank und hilflos. Esmeralda fragte sich, was jetzt wohl in ihm vorgehen mochte. Er hing so sehr an seinen Eltern und musste doch alleine zurückbleiben. Er litt darunter, das war ihm deutlich anzusehen, doch was dachte er, was fühlte er? Sie wollte seinen Kummer lindern, wollte für ihn da, ihm eine Mutter sein, so gut sie es eben konnte. Doch noch wusste sie nicht, wie ihr das jemals gelingen sollte. Frodo war schon immer verschlossen gewesen, doch jetzt schien er ihr noch in sich gekehrter als zuvor. Esmeralda fand das keineswegs verwunderlich, vermutete, dass selbst Merry sich in solch einer Situation verschließen würde, obschon es bei Frodo dennoch anders zu sein schien. Primula hatte ihr einst gesagt, Frodo wäre etwas Besonderes. Damals hatte sie nicht sonderlich darauf geachtet, schließlich war jede Mutter davon überzeugt, dass ihr Kind einzigartig und besonders war. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie davon, dass Primulas Sohn wirklich etwas Besonderes war. Jetzt, da sie Frodo hier liegen sah, obschon geschwächt von Kummer und Fieber, schien es ihr, als würde ein sonderbares Licht in ihm schimmern. Es war nur schwach, doch Esmeralda glaubte, sich daran zu erinnern, es schon öfter bemerkt zu haben, auch wenn sie es nie wirklich wahrgenommen hatte. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie ihm sanft eine seiner dunklen Locken aus der Stirn strich. Sie schüttelte den Kopf, als würde sie ihren Gedanken damit abrütteln können. "Ein Schimmern?", murmelte sie abwesend und legte die Hand auf seine Wange. "Vielleicht hatte Primula doch Recht."
~*~*~
Die Tage vergingen und Frodos Zustand besserte sich nicht. Zwar sank das Fieber ein wenig, doch blieb er schwach und kränklich und so schickte Esmeralda erneut nach Fastred. Der Heiler war gerne bereit, noch einmal nach Frodo zu sehen, doch untersuchte er ihn nur kurz, ehe er darum bat, mit dem Jungen alleine sein zu dürfen. Esmeralda war verwundert, ließ ihn jedoch gewähren.
Es war warm im Zimmer und ein Feuer flackerte im Kamin. Züngelnd langten die Flammen nach frisch eingelegten Holzscheiten und ließen ein leises Knistern vernehmen. Fastred saß auf einem Stuhl neben dem Bett und blickte Frodo lange an. Der junge Hobbit saß im Bett, hatte den Kopf an die Wand gelehnt und die Augen auf das Fußende des Bettes gerichtet. Er fühlte sich unwohl unter dem eingehenden Blick des Heilers und seine Finger spielten unruhig mit der Bettdecke. "Willst du mir nicht sagen, was dich quält, Frodo?", fragte Fastred schließlich besorgt. Seine Muskeln spannten sich an. Seine Finger beendeten ihr nervöses Spiel. Eine unangenehme Stille erfüllte den Raum, die nur vom Knistern des Feuers unterbrochen wurde. Frodo zögerte lange, ehe er aufsah und seine traurigen Augen auf Fastred richtete. "Du weißt es bereits", flüsterte er, "Ich sehe es in deinen Augen. Du hast es schon gewusst, als du mich das letzte Mal gefragt hast und dennoch vermagst du nicht, mir zu helfen." Fastred schüttelte den Kopf, hielt aber den Blick des Jungen, als er ihn ernst ansah. "Das letzte Mal habe ich nach deinen Gefühlen gefragt, dieses Mal frage ich direkt." "Das macht keinen Unterschied", antwortete Frodo missmutig, wollte dem Blick ausweichen, fand jedoch, dass er das nicht konnte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Er erinnerte sich daran, wie rasch er dem Heiler das letzte Mal geantwortet hatte, wie die Worte seine Lippen verlassen hatten, noch ehe er gewusst hatte, was er sagen wollte. Fastred sah mehr, als manch ein anderer und es machte Frodo Angst, nun so von ihm angesehen zu werden. Er fühlte sich bloßgestellt, schutzlos, nackt, so als könne er kein Geheimnis, kein Gefühl, keinen Gedanken vor jenen eindringlichen Augen verbergen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals und er schluckte schwer. Fastred schien seine Unruhe zu spüren, denn auch wenn er seinen Blick nicht losließ, schien doch dessen Intensität nachzulassen, was Frodo zumindest ein wenig ruhiger werden ließ. "Ich denke schon", sagte der Heiler ruhig und mitfühlend, "denn damals war ich mir nicht ganz sicher, was du fühlst und jetzt bin ich es. Nun möchte ich wissen, was genau es ist, das dich schmerzt. Willst du es mir nicht sagen?" Frodo runzelte die Stirn und die Flammen des Feuers spiegelten sich in seinen Augen. Seine Stimme klang leise, beinahe zweifelnd, als er fragte: "Was würde das ändern?" "Ich weiß es nicht", gestand Fastred und Frodo war über die Ehrlichkeit in seiner Stimme überrascht. "Vielleicht würde es dir besser gehen, wenn du wüsstest, dass jemand über das Bescheid weiß, was in dir vorgeht." "Das geht niemanden etwas an!" rief Frodo, schärfer als beabsichtigt. Ein Funkeln trat in seine Augen und schließlich fand er die Kraft, den Blick abzuwenden. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die zitternd auf der Bettdecke ruhten. "Wenn du meinst. Das ist deine Entscheidung", sagte Fastred, unbeeindruckt von seinem Tonfall. Er legte sanft eine Hand auf Frodos zitternde Faust. "Doch lass mich dir sagen, dass es besser ist, wenn du dich jemandem anvertraust, Frodo. Angst ist etwas Gefährliches und wenn sie weiß, dass du alleine bist, kann sie noch viel grausamer sein. Lass es nicht soweit kommen, dass nur mehr die Angst von dir zehrt, Frodo. Es ist schwer, doch das Leben muss weiter gehen. So vieles liegt noch vor dir. Lass die Angst hinter dir und blicke nach vor." Frodo spürte Tränen in sich aufsteigen. Fastred hatte einiges gesehen, als er ihn zuvor betrachtet hatte. Dinge, die selbst vor ihm verborgen geblieben waren. Woher wusste dieser Hobbit so vieles über ihn? Woher nahm er das Recht, seine Ängste und Sorgen laut auszusprechen? Dennoch wusste Fastred nicht alles, und Frodo würde sich hüten, ihm noch mehr zu sagen. Der Heiler konnte ihm nicht helfen. Er konnte ihm die Angst nicht nehmen, nur verdrängen, und das würde nicht lange anhalten. "Ich blicke nach vor und sehe nichts. Es wird sich nichts ändern. Sie werden niemals zu mir zurückkehren können", wisperte er, verzweifelt seine Tränen zurückhaltend. Den Blick hielt er auf seine Hände gerichtet, die sich nun beinahe krampfhaft an der Decke festklammerten. Fastred schüttelte mitfühlend den Kopf und drückte seine Hand ein wenig fester. "Nein, das werden sie nicht. Doch du wirst dein Leben dennoch meistern, Frodo." Frodo sah verwundert auf, blickte Fastred lange an. Etwas lag in den braunen, liebevollen Augen des Heilers, das den jungen Hobbit tief berührte, sodass er seine Tränen kaum mehr zurückhalten konnte. Eine einzelne Träne löste sich aus seinen Augen und lief ihm über die Wange. Es war ein Gefühl, eine Sehnsucht, die ihn förmlich dazu zu drängen schien, Fastred von all seinen Sorgen und Ängsten zu erzählen und, ganz gleich, was er zuvor darüber gedacht hatte, sich dem Heiler noch weiter zu öffnen, zog er es nun dennoch in Betracht. Seine Lippen bewegten sich, während er nicht einmal den Blick von den dunklen Augen nahm, doch kein Wort formte sich in seiner Kehle. Frodo senkte den Kopf und eine weitere Träne stahl sich aus seinen Augen. So sehr er es sich für einen Augenblick auch gewünscht hatte, zu sprechen, schien ihm Fastred doch nicht der Richtige. Der Heiler mochte mehr wissen, als er zu wissen vorgab, doch jene Worte, die alles offen legten, was er im Augenblick empfand, waren nicht für seine Ohren gedacht.
Fastred lächelte ihm aufmunternd zu, als er erkannte, dass Frodo nicht gewillt war, mit ihm zu sprechen. "Ich bin vermutlich nicht der, dem du solche Gedanken preisgeben willst", begann er, "Dennoch hoffe ich, dass du jemanden findest, mit dem du deine Sorgen teilen wirst. Es kann dir nur Vorteile bringen." Frodo sah ihn verwundert an. Konnte dieser Hobbit Gedanken lesen? Die Nase hochziehend, wischte er sich die Tränen aus den Augen und ließ sich die Worte des Heilers noch einmal durch den Kopf gehen. Womöglich hatte Fastred Recht und es war wirklich besser für ihn, wenn er seine Gedanken jemandem anvertraute und vielleicht würde er das eines Tages auch tun, schließlich hatte er nichts mehr zu verlieren. Doch nicht heute, nicht Fastred. Er musste erst entscheiden, wer ihm soviel bedeutete, als dass er ihn an seinen Gedanken teilhaben lassen würden. Außerdem musste er selbst dazu bereit sein, sich zu öffnen und das war er jetzt noch nicht. Er würde schweigen, bis der richtige Zeitpunkt und die richtige Person gekommen waren.
Fastred lächelte, als er bemerkte, wie Frodo nachdachte. Er hatte erreicht, was er wollte. Nie hatte er gedacht, dass Frodo seine Gedanken mit ihm teilen würde, doch immerhin machte er sich nun Gedanken darüber, dass er sich jemandem anvertrauen sollte. Vielleicht hatte er auch schon jemanden gefunden, der dieser Geheimnisse würdig war. Er drückte noch einmal Frodos Hand, die sich inzwischen wieder entspannt hatte und erhob sich dann. "Ich werde deiner Tante einen Tee geben, der das Fieber senken sollte. Ich denke, es müsste dir dann bald besser gehen", meinte er noch immer lächelnd. "Auf Wiedersehen, Frodo!" Frodo nickte und ein zaghaftes Lächeln umspielte seine Lippen. Er wollte sich bei dem Hobbit bedanken, fand jedoch, dass Worte nicht ausdrücken konnten, was er fühlte und so nickte er dem Heiler nur höflich zu. "Auf Wiedersehen!"
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Schweigend saß Frodo im Bett seiner Eltern und hing seinen Gedanken nach. Fastreds Worte ließen ihn nicht los. Hatte der Heiler Recht und er sollte seine Gefühle mit jemandem teilen? Frodo wusste es nicht und wollte im Augenblick auch nicht über das sprechen, was in den vergangenen Tagen geschehen war. Der Tod seiner Eltern war ihm noch zu nah und selbst wenn er genau wusste, dass sie nicht wieder zu ihm zurückkehren würden, ertappte er sich immer wieder dabei, wie er daran dachte, ihnen etwas erzählen zu wollen. Ihr Tod war eine Gewissheit, doch Frodo konnte sich ein Leben ohne seine Eltern nicht vorstellen. Es schmerzte ihn tief in seinem Herzen und Frodo konnte nicht über jenen Schmerz sprechen, der stärker war, als jeder andere, den er jemals empfunden hatte. Er fürchtete sich davor, sich selbst noch mehr zu verletzen, wenn er über seine Gefühle sprach. Er war jetzt schon krank. Würde er noch mehr Schmerz ertragen können? Noch dazu wusste er nicht, wem er soviel Vertrauen hätte entgegen bringen können. Seine Eltern waren die einzigen gewesen, die immer für ihn da gewesen waren und ihm zugehört hatten, selbst wenn Kummer ihn plagte. Sie hätten auch gewusst, sie sie ihm helfen konnten, doch wer wusste das nun noch? Wer würde den Mut haben, ihm zuzuhören, sollte er jemals den Mut finden, zu sprechen? Frodo wusste es nicht. Im Augenblick war ihm das auch gleich, denn er dachte nicht daran, sich jemandem zu öffnen, nicht einmal Merry. Es war seine Sache. Er musste erst lernen, alleine damit fertig zu werden und dann, dann würde er vielleicht in der Lage sein, sich jemandem anzuvertrauen, auch wenn er jetzt noch nicht wusste, wem.
Überrascht hob er den Kopf, als Esmeralda in das Zimmer trat. "Du hast Besuch", verkündete sie mit einem Lächeln. "Ich?", fragte Frodo verwundert und schielte neugierig zur Tür. "Frodo, mein Junge!" Frodo hörte seinen Onkel, noch ehe er ihn durch die Tür eilen sah. Der alte Hobbit war Esmeralda auf den Fuß gefolgt, hatte seinen Neffen überraschen wollen, dann aber doch nicht die Geduld dazu aufgebracht, als er dessen traurige Stimme vernommen hatte. Frodo starrte ihn mit offenem Mund an, unfähig, sich zu rühren, als der Alte an sein Bett trat, ihn erst zaghaft, dann jedoch fest an sich drückte. Zögernd legte Frodo seine zitternden Hände auf dessen Schultern und erwiderte die Umarmung. Er konnte es kaum fassen. War Bilbo am Ende doch noch gekommen? In den letzten Tagen hatte er immer wieder an den alten Hobbit denken müssen, war traurig und enttäuscht gewesen, dass er nach dem Tod seiner Eltern nicht gekommen war. Von allen Verwandten, die angereist waren, hatte Frodo sich nur seinen Besuch gewünscht und ausgerechnet er war nicht gekommen. "Wie geht es dir?", fragte der Hobbit besorgt. Ungläubig sah Frodo in das Gesicht seines Onkels. Tränen glitzerten in den alten, besorgten Augen und Frodo konnte spüren, dass auch ihm zum Weinen zumute war. Er hatte lange auf sich warten lassen, doch nun war Bilbo hier. Er war hier. Frodo antwortete nicht auf Bilbos Frage, sondern zog den Hobbit in eine weitere Umarmung, fester und entschlossener als die vorangegangene und atmete den Duft von Tinte und Pfeifenkraut und einiger anderer Dinge ein, die Bilbo ausmachten. Es war tatsächlich sein Onkel, der vor ihm stand.
Bilbo drückte den Jungen an sich, strich sanft durch dessen Haare und über seinen Rücken. Seit ihrer letzten Begegnung hatte sich so vieles verändert. "Es tut mir Leid", sagte er leise, "Ich hätte schon viel früher kommen sollen, doch ich war nicht zu Hause, als mich die Nachricht hätte erreichen sollen." Frodo schüttelte den Kopf und Bilbo konnte die Tränen des Jungen an seinem Hals spüren. "Das macht nichts", murmelte Frodo mit zitternder Stimme. "Jetzt bist du schließlich hier." Das Herz brach Bilbo bei diesen Worten und er küsste zärtlich erst die Wange dann die Stirn des Kindes. "Ja, das bin ich, und ich werde noch lange bleiben." Nur widerwillig schien Frodo sich aus der Umarmung zu lösen und der Unglauben wich nicht aus seinem Gesicht, als Bilbo ihn lange und eingehend betrachtete. Die Finger seiner rechten Hand hörten dabei nicht auf, zärtlich über die feuchten Wangen des Jungen zu streichen. Er hatte ihn noch nie so gesehen. Dunkle Ringe lagen unter Augen, die von Kummer und Schmerz erzählten und von Leiden, die ein solch junges Herz nicht hätte ertragen dürfen. Das Leuchten, das einst so klar in ihm geschienen hatte, war schwächer geworden und Bilbo fühlte einen schmerzhaften Stich in seinem Herzen, als er das bemerkte. Dies war nicht mehr der fröhliche Junge, der ihn vor weniger als sechs Monaten besucht hatte. Der Junge, der nun vor ihm saß, hatte eine schmerzvolle Erfahrung gemacht, die ihn um einiges älter erscheinen ließ und das fröhliche Kind von damals langsam verzehrte. Soweit sollte es jedoch nicht kommen.
Frodo verdrängte die Müdigkeit für einige Zeit. Zu groß war seine Freude über den Besuch seines Onkels. Ihre letzte Begegnung lag schon so lange zurück. Damals war er noch mit seinen Eltern nach Beutelsend gefahren, begleitet von Merry und Pippin. Was für eine glückliche Zeit das gewesen war. Keiner hätte sich träumen lassen, dass ihr nächstes Zusammentreffen unter einem solch unglücklichen Stern stehen würde. Frodo schüttelte diesen Gedanken ab und mit ihm die Tränen, die sich seiner Augen bemächtigt hatten. Er wollte aufhören, daran zu denken. Bilbo war hier und das war alles was wichtig war. Der alte Hobbit setzte sich auf die Bettkante und im warmen Schein des Feuers unterhielt er sich so unbeschwert und froh mit Frodo, als hätte der Junge nicht erst vor kurzem seine Eltern verloren. Auch Frodo schien Esmeralda wie ausgewechselt und sie war erleichtert, ihn wieder lachen zu hören, auch wenn es nicht ganz so fröhlich klang, wie sie es noch in Erinnerung hatte.
Esmeralda verließ sie nach einiger Zeit, doch Frodo und Bilbo nahmen dies kaum wahr. Sie waren sehr vertieft in ihr Gespräch, tauschten sich über die Geschehnisse in Hobbingen und dem Bockland aus und Frodo ließ sich genauestens berichten, was er seit seinem letzten Besuch alles verpasst hatte. Lange konnte er seine Müdigkeit jedoch nicht verbergen und immer wieder unterdrückte er ein Gähnen, bis Bilbo es schließlich bemerkte. "Wo habe ich nur meine Gedanken?", rief er aus und schlug sich mit der Hand auf die Stirn. "Da komme ich zu dir und weiß genau, dass du krank bist und Ruhe brauchst und trotzdem halte ich dich mit langweiligen Geschichten wach!" Frodo lächelte. "Du hast mich nicht wach gehalten. Ich bin froh, dass du gekommen bist." "Das freut mich, mein Junge", erwiderte Bilbo und ein Lächeln umspielte seine Lippen, während er sich erhob und beobachtete, wie Frodo sich unter seine Decke gleiten ließ und müde die Augen schloss, als sein Kopf schließlich auf dem Kissen ruhte. Er deckte den Jungen ordentlich zu, strich ihm dann eine Strähne des dunklen Haares aus der Stirn und bemerkte, dass diese noch immer recht heiß war. Besorgt runzelte er die Stirn. "Soll ich dir kühle Tücher bringen?" Frodo schüttelte den Kopf. "Davon hatte ich in den letzten Tagen mehr als genug." Er blickte lange in das Gesicht seines Onkels, bis ihm vor Erschöpfung die Augen zu fielen. Das leise Knistern des Feuers drang an sein Ohr und Frodo seufze erleichtert. Er konnte noch immer kaum glauben, dass Bilbo tatsächlich bei hm war, doch er genoss seine Nähe und war froh, sich mit ihm unterhalten zu können. Es schien ihm beinahe, als hätte Bilbos Anwesenheit ausgereicht, um ihm einen Teil seiner Sorgen zu erleichtern. Doch jetzt da Bilbo nicht mehr auf seiner Bettkante saß, beschlich ihn ein ungewisses Gefühl, das Furcht gleichkam. Mühevoll zwang sich Frodo dazu, seine Augen noch einmal zu öffnen und erkannte, dass Bilbo noch immer neben seinem Bett stand. "Wirst du bleiben?", fragte er seinen Onkel flüsternd. Frodo glaubte, ein Lächeln über das Gesicht des älteren Hobbits huschen zu sehen, als sich dieser wieder auf die Bettkante setzte und ihm zärtlich über die Wange strich, sodass er nicht länger gegen seine schweren Lider ankämpfen konnte. "Natürlich", hörte er ihn flüstern und fühlte sich dadurch ungemein erleichtert, beinahe so, als hätte er sich davor gefürchtet, alleine zu sein. Frodo verfolgte den Gedanken nicht weiter, sondern rutschte im Bett etwas weiter hinab, sodass er seinen Kopf auf Bilbos Schoß legen konnte und wisperte ein leises Dankeschön, ehe der Schlaf ihn übermannte.
Bilbo betrachtete den schlafenden Hobbit auf seinem Schoß. Tränen rannen über seine Wangen, als er über die letzten Tage des Jungen nachdachte. Was musste er alles durchgemacht haben? Er selbst hatte sich sehr gut mit Drogo und Primula verstanden und ihr Verlust schmerzte ihn sehr. Wenn er daran dachte, wie sehr Frodo an seinen Eltern gehangen hatte, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Was mochte in einem so jungen Hobbit wie Frodo nur vorgehen, nach solch einem Schicksalsschlag? Dass er ihren Tod nicht gut verkraftet hatte, war ihm deutlich anzusehen, doch das Gespräch mit dem Jungen hatte Bilbo auch gezeigt, dass noch nichts verloren war und es ihm gelingen konnte, das Leuchten und die Fröhlichkeit des Jungen wieder zurückzubringen und das würde er, ganz gleich, was er dafür tun musste.
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Frodo lag gefangen in einem Traum, den er in den letzten Tagen sehr oft geträumt hatte. Er war auf einer großen Wiese und suchte nach jemandem. Obschon ihm im Traum nicht klar war, nach wem er suchte, wusste er doch, dass er seine Eltern zu finden hoffte. Viele der Bewohner des Brandyschlosses hatten sich auf der Wiese eingefunden. Einige standen und saßen zu kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich lachend. Er sah viele Kinder in seinem Alter, wie Merry, die Brüder Madoc und Minto, Viola und ihre Schwester Rubinie, die sich kichernd mit Nelke unterhielt. Sogar Pippin und Bilbo waren hier. Sein Onkel schien dem jüngeren Hobbit eine spannende Geschichte zu erzählen, denn Pippins Augen waren groß vor Staunen und Verwunderung. Frodo eilte zu ihnen, wollte erfahren, was Bilbo seinem Vetter erzählte, doch weder Pippin, noch sein Onkel schienen ihn zu bemerken. Verzürnt wollte Frodo zu Merry gehen, doch auch dieser nahm ihn nicht wahr. So erging es ihm bei jedem anwesenden Hobbit. Ganz gleich, zu wem er ging, er wurde nicht beachtet. Manche wandten sich sogar von ihm ab, während andere ihn anrempelten, als wäre er überhaupt nicht da. Frodo flehte seine Verwandten, seine Freunde und all die Bekannten an, mit ihm zu sprechen, ihn wahrzunehmen, doch niemand rührte sich. Selbst wenn er nach ihren Händen griff oder an Ärmeln zog und sie aus lauter Verzweiflung anschrie mit ihm zu sprechen und ihm bei seiner Suche zu helfen, würdigte ihn niemand auch nur eines Blickes. Verzweifelt darüber, dass er nicht finden konnte, wen er suchte und verängstigt, weil niemand ihn wahrnahm, setzte sich Frodo schließlich unter einen Baum. Erst im Nachhinein hatte er erkannt, dass es sich dabei um die große Eiche hinter dem Brandyschloss handelte. In seinem Traum hörte sich Frodo verzweifelt nach seinen Eltern rufen, wissend, dass sie ihn nicht alleine lassen würden, doch nie erhielt er eine Antwort.
Dieses Mal aber, war es anders. Ein helles Licht leuchtete auf und er musste die Augen abschirmen, um nicht geblendet zu werden. Er blinzelte, doch es dauerte einige Zeit, bis er wieder klar sehen konnte und was er dann sah, raubte ihm den Atem. Seine Eltern standen vor ihm, genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. Sein Vater trug eine grüne Weste zu seinen braunen Hosen und dem weißen Hemd und seine Mutter war in ein blaues Kleid mit einer blassgelben Schürze gekleidet. Ein schwaches Licht schien sie zu umgeben, doch Frodo nahm dieses kaum wahr. Mit Tränen der Erleichterung in den Augen fiel er ihnen in die Arme und schluchzte jämmerlich. "Sh, Frodo. Was ist denn geschehen?", beruhigte Primula und ihre Stimme schien ihm das schönste Geräusch, das er je vernommen hatte. Zärtlich strichen die Finger ihrer rechten Hand über seinen Rücken, während ihre linke auf seinem Nacken ruhte. "Ihr habt mich verlassen", weinte er, die Stimme hilflos und verloren, "und dann war ich keinem mehr wichtig. Sie wollen mich nicht mehr bei sich haben. Ihr dürft nicht wieder gehen. Bitte, bleibt bei mir! Verlasst mich nicht wieder. Ich brauche euch." Flehend sah er zu seinen Eltern auf, als diese sich ins Gras setzten und er sich mit ihnen zu Boden sinken ließ, ohne seine Umarmung zu lockern. Schließlich wandte er sich seinem Vater zu und immer mehr Tränen sammelten sich in seinen Augen. "Es tut mir Leid, dass ich nicht auf dich gehört habe. Ich habe Dummheiten angestellt. Ich bin auf einen viel zu hohen Baum geklettert und herunter gefallen und...", er stockte, "und dann gingen Merry und ich zu Bauer Maggot. Wir haben Pilze gestohlen. Der Bauer hat mich erwischt und mich geprügelt und die Hunde auf mich gehetzt und dann…", wieder wurde er von Schluchzern unterbrochen. "Ich wollte es nicht und ich verspreche, ich werde es nie wieder tun, aber bitte, bitte kommt zu mir zurück. Lasst mich nicht allein!" Verzweifelt vergrub Frodo das Gesicht im Schoß seiner Mutter, klammerte sich an ihrer Schürze fest, als könne er dadurch verhindern, dass sie ihn wieder alleine ließe. Primula war inzwischen dazu übergegangen mit den Fingern durch seine Haare zu kämmen, wie sie es so oft getan hatte und Frodo spürte stattdessen die starken Hände seines Vaters über seinen Rücken streichen. "Es tut mir Leid, Frodo, doch wir können nicht zurück kommen", sagte er sanft. Frodo blickte verzweifelt zu ihm auf und das Mitgefühl in den Augen seines Vaters ließ ihn beinahe erschrecken. Er schüttelte heftig den Kopf. "Dann bleibe ich hier, hier bei euch." "Nein", begann Primula und obschon ihre Stimme sanft klang, lag doch ein ernster Tonfall darin verborgen. Sie legte eine Hand unter sein Kinn, sodass er dazu gezwungen war, sie anzusehen. Der Junge wich nicht aus, als ihre liebevollen Augen tief in die seinen blickten. "Nein, Frodo. Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Du musst zurück. Du bist nicht alleine. Es gibt viele, die dich lieben. Tante Esmeralda, Onkel Saradoc, Merry, Bilbo, Pippin, dein Vetter Milo und noch viele andere im Brandyschloss." "Nein, das tun sie nicht", schluchzte Frodo immer verzweifelter und vergrub das Gesicht erneut in ihrem Schoß, tränkte ihre Schürze mit frischen Tränen. "Natürlich lieben sie dich, Frodo", wiederholte Primula, "Du bist nicht alleine. Dein Vater und ich werden ständig bei dir sein, selbst wenn du uns nicht sehen kannst. Wir werden immer auf dich Acht geben." Aus Tränen überströmten Augen blickte Frodo zu ihr auf. "Warum kann ich euch nicht sehen? Ich will euch sehen. Geht nicht wieder weg!" Frodo sog ihren unvergleichlichen Duft in sich auf, während Primula ihn sanft in ihren Armen wiegte. Seine linke Hand tastete nach der seines Vaters, die er fest umklammert hielt. Er hatte die Augen geschlossen und mit seinen Eltern bei sich unter dem Schatten der großen Eiche, dauerte es nicht lange, bis er sich wieder beruhigt hatte. Er genoss diesen Augenblick, hatte gehofft, er müsse nie vorübergehen, doch kaum waren seine Tränen getrocknet, begann seine Mutter erneut zu sprechen. "Finde neuen Mut, Frodo. Trauere nicht länger, denn du wirst auch ohne uns zurechtkommen. Und wenn du traurig bist, dann sieh zum Himmel und betrachte die Sterne. Vergiss nicht, wir werden immer bei dir sein." Frodo hob den Kopf und sah ihr in die Augen. Sie lächelte. Wie sehr hatte Frodo dieses Lächeln vermisst. Primula strich ihm sanft über die Wangen und Frodo schloss seine Augen. Er spürte die Wärme seiner Mutter, als sie sich nach vor beugte und seine Stirn küsste.
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Der alte Hobbit hatte seine Tränen getrocknet. Frodo war lange Zeit unruhig gewesen und Bilbo hatte begonnen, seinen Rücken zu streicheln, was den Jungen sogleich beruhigt hatte. Anfangs war er erleichtert darüber gewesen, bis er erschrocken erkennen hatte müssen, dass sein Neffe Tränen in den Augen hatte. Konnte er denn nicht einmal in seinen Träumen Ruhe finden? Bilbo versuchte, ihn weiterhin zu beruhigen, als Frodos Hand plötzlich nach seinem Hemd griff. Vorsichtig legte er seine Hand über die kleinen Finger seines Neffen. "Geh nicht wieder weg!" "Das werde ich nicht, Frodo. Das verspreche ich dir", flüsterte Bilbo, der neue Tränen in sich aufsteigen spürte. Bilbo wusste, dass Frodo nur im Traum gesprochen hatte und wartete eine Antwort gar nicht erst ab. Umso überraschter war er, als sich Frodo plötzlich enger an ihn kuschelte und leise nach seiner Mutter flüsterte. Traurig schüttelte Bilbo den Kopf. Wie lange würde es wohl dauern, bis Frodo nicht mehr ständig an sie denken musste?
Bilbo lauschte dem leisen Knistern des Feuers, als sich Frodo wieder beruhigt hatte und in tiefem Schlummer zu liegen schien. Beinahe wäre er selbst müde geworden, hatte er schließlich eine lange Reise hinter sich. Vor etwas mehr als einem Tag war er zu Fuß von Beutelsend aufgebrochen, bekam dann aber immer wieder Gelegenheit mit Handelsreisenden in ihren Wagen mitzufahren. Auch wenn er sonst lieber zu Fuß unterwegs war, hatte er dieses Mal eine Ausnahme gemacht. Sein Besuch in Bockland war verzögert worden, da er sich in Michelbinge befunden hatte, um wichtige Angelegenheiten mit dem Bürgermeister abzusprechen.
Bilbo erschrak sich fürchterlich, als Frodo plötzlich hoch schreckte. "Mama?", rief der Junge verzweifelt und sah sich verstört im Zimmer um. Die Augen hatte er weit aufgerissen und er ließ sich nicht sofort von Bilbo beruhigen, der noch immer beide Arme um ihn gelegt hatte. "Sie ist nicht hier, Frodo, mein Junge", sagte der alte Hobbit sanft, wobei er eine Hand auf die erhitzte Wange seines Neffen legte.
Frodo sah seinen Onkel verwundert an und es dauerte einen Augenblick, bis er verstand, wo er war. Dann war alles nur ein Traum gewesen. Hilflos ließ Frodo seinen Kopf wieder auf Bilbos Schoß sinken. Ein Traum, und selbst dort wären seine Eltern nicht zu ihm zurückgekehrt. Tränen stiegen in ihm auf, die nicht versiegen wollten, als Bilbo ihn sanft hin und her wiegte, um ihn zu beruhigen. Niemals würden sie zu ihm zurückkommen, nicht einmal im Traum. Doch etwas sagte ihm, dass dies kein gewöhnlicher Traum gewesen war. Alles hatte sich viel zu wirklich angefühlt, als dass es nur einem Traum hätte entspringen können. Verzweifelt klammerte sich Frodo an Bilbos Hemd, schluchzte einige Male ehe seine Tränen versiegten. "Vergiss nicht, dein Vater und ich werden ständig bei dir sein, selbst wenn du uns nicht sehen kannst." Die Stimme seiner Mutter klang fern und doch klar in seinen Ohren und Frodo konnte nicht anders, als ihr zu antworten. "Das werde ich nicht", murmelte er und kuschelte sich enger an seinen Onkel. "Das werde ich bestimmt nicht!" "Was wirst du nicht, mein Junge?", fragte Bilbo, den Jungen noch immer beruhigend im Arm haltend. Frodo schüttelte den Kopf. "Gar nichts", antwortete er leise und schloss die Augen. Seine Eltern würde er nicht wieder sehen, doch sie würden bei ihm sein, für immer. Er spürte eine Wärme in sich, anders, als die Hitze, die in den letzten Tagen in ihm gebrannt hatte. Diese Wärme war wohltuend und er fühlte sich seit langem wieder geborgen. Dennoch war es ein anderes Gefühl der Geborgenheit, wie er es bei seiner Mutter erlebt hatte, doch er war froh, dass Bilbo hier war und hoffte, er würde ihn nie wieder verlassen. Frodo seufzte erleichtert, bevor er in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.
Kapitel 10: Pläne
Das Licht des Feuers erhellte den geräumigen Raum, als Frodo früh am nächsten Morgen erwachte. Er blinzelte verschlafen blickte sich im Zimmer um. Ein leises Prasseln drang an sein Ohr und der beruhigende Duft von Holz lag in seiner Nase. Frodo verspürte ein leichtes Pochen in den Schläfen, als er seinen Blick über die vom Feuer beschienen Möbelstücke wandern ließ. Etwas war anders, als noch zu dem Zeitpunkt, als er eingeschlafen war, doch er wurde sich nicht sofort klar, was es war. "Bilbo", murmelte er plötzlich in die Stille, sich seines Onkels erinnernd, doch keiner antwortet ihm. Frodo stützte sich auf seine Ellbogen, ließ seinen Blick ein weiteres Mal durch das Zimmer gleiten, als hoffe er, Bilbo doch noch irgendwo zu entdecken, doch der alte Hobbit war nicht hier. Mit einem verzweifelten Seufzen, das einem leisen Wimmern gleich kam, ließ er seinen Kopf zurück in die Kissen sinken. Hatte er etwa nur geträumt, dass Bilbo bei ihm gewesen war? War er noch immer alleine? Traurig rollte er sich auf die Seite und gedachte seines Onkels. Wie lange er ihn nun schon kannte und doch hatte er ihn nur selten gesehen. Nur zwei oder drei Mal im Jahr war er mit seinen Eltern zu ihm gegangen, immer für etwa ein oder zwei Wochen. Genau so oft war Bilbo nach Bockland gekommen, um sie zu besuchen. Frodo hatte viel von ihm gelernt. Bilbo war es gewesen, der als erster Frodos Interesse an Büchern entdeckt hatte und ihm bei seinen ersten kläglichen Schreibversuchen zur Seite gestanden war, auch wenn Frodo diese Kunst später mit seinem Vater perfektionierte. Frodo dachte an die vielen Stunden, die er gemeinsam mit seinem Vater in einem der Studierzimmer des Brandyschlosses verbracht hatte, nur weil er Bilbo unbedingt einen Brief hatte schreiben wollen und so lange geübt hatte, bis er in den Unterrichtsstunden, die an kalten Wintermorgen abgehalten wurden, nicht mehr aufzupassen brauchte. Jetzt waren beide nicht mehr hier. Nun würde er weder mit seinem Vater üben, noch einen Brief an Bilbo schreiben können. Natürlich konnte er Bilbo noch immer schreiben, doch was sollte er sagen? Er konnte ihn nicht nach Bockland bestellen, nur weil er ihn bei sich wollte. Das wäre selbstsüchtig. Außerdem hatte Bilbo in zwei Tagen Geburtstag und bestimmt andere Pläne, als an seinem Krankenbett zu sitzen. Frodo schüttelte den Kopf. Er würde ihm nicht schreiben. Müde beobachtete er, wie die Finger seiner linken Hand kleine Kreise auf das Kissen malten, als Erinnerungen an einem Traum in ihm wach wurden, die so klar waren, dass Frodo erst glaubte, sich eines vergessenen Sommerabends zu erinnern. "Du wirst auch ohne uns zurechtkommen." Jene Worte berührten Frodo tief und er wusste, dass seine Mutter sie nicht bereits im Sommer gesprochen haben konnte. Es war also doch nur ein Traum, woran er sich erinnerte, doch die Erinnerung beruhigte ihn und Frodo versprach sich, jene Worte und jene Geborgenheit, die er in ihren Armen gefühlt hatte, nie zu vergessen. "Das hoffe ich", wisperte er und tastete nach dem Bild seiner Eltern, das auf dem Nachttisch lag. Zärtlich hielten seine Finger die Zeichnung umklammert, während er lange in ihre lächelnden Gesichter blickte. "Macht euch keine Sorgen. Ich werde es versuchen. Ich werde von nun an alleine zurechtkommen."
Gerade in diesem Moment öffnete sich die Tür und im sanften Lichtschein, der vom Gang herein strömte, betrat Bilbo das Zimmer. In den Händen hielt er ein großes Tablett, beladen mit frischem Brot, Butter, Marmelade, einer großen Kanne dampfenden Tees und zwei Tassen. "Guten Morgen, mein Junge!" rief er erfreut. "Wie ich sehe bist du schon wach!" Frodo starrte ihn entgeistert an. "Bilbo? Dann habe ich also nicht geträumt?" "Natürlich nicht!" antwortete Bilbo kopfschüttelnd und stellte das Tablett auf den Nachttisch. Er setzte sich auf die Bettkante, wie er es schon am Abend zuvor getan hatte und fühlte Frodos Stirn. "Du hast noch immer Fieber, aber es scheint besser zu sein, als gestern Abend", sagte er lächelnd. "Wie geht es dir heute?" Ein Lächeln huschte über Frodos Lippen. "Es geht. Ich habe nur ein wenig Kopfschmerzen." "Das freut mich", meinte Bilbo und strich ihm einige Haarsträhnen aus der Stirn, ehe er mit einem Kopfnicken auf das voll beladene Tablett deutete. "Ich habe mir sagen lassen, du hättest schon längere Zeit sehr wenig gegessen." Er bedachte ihn mit einem schiefen, beinahe strafenden Blick. "Damit muss jetzt Schluss sein. Jetzt wird erst einmal ordentlich gefrühstückt und danach sehen wir weiter."
Frodo senkte beschämt den Kopf, lächelte aber und richtete sich in seinem Bett auf, während Bilbo ihm eine Tasse Tee einschenkte. Dankend nahm Frodo die Tasse an, nippte gedankenverloren daran. Er war nicht besonders hungrig, doch Bilbo zuliebe wollte er eines der Brote essen, die dieser ihm mit großer Sorgfalt zubereitete. Nur ein kleiner Bissen fand den Weg in seinen Mund und Frodo ließ ihn langsam auf seiner Zunge zergehen. Der Geschmack von Erdbeermarmelade und frisch gebackenem Brot ließ seinen Magen fordernd knurren. Frodo kam dem gerne nach, nahm einen zweiten, größeren Bissen, den er wesentlich schneller schluckte, als noch den vorherigen. Es schmeckte köstlich und Frodo musste rasch einsehen, dass er sehr viel hungriger war, als er geglaubt hatte. Erst jetzt bemerkte er das Loch, das sich in seinem Magen gebildet hatte und war gerne bereit, dieses zu stopfen, indem er Bilbo ein Brot nach dem anderen schmieren ließ.
Bilbo war froh, zu sehen, wie der Appetit seines Neffen zurückkehrte. Den Tag mit einem vernünftigen Frühstück zu beginnen, war der beste Weg, wieder zu Kräften zu kommen. Zu sehen, wie Frodo nun beinahe gierig aß, ließ ihn dennoch nachdenklich werden und er fragte sich, weshalb er das nicht schon zuvor getan hatte, schließlich hatten sowohl Esmeralda als auch Mirabella erzählt, sie hätten den Jungen nicht zum Essen gebracht. Im Augenblick machte Frodo jedoch nicht den Eindruck, als wolle er sich aushungern, ganz im Gegenteil. Das schmieren der Brote ließ ihn selbst hungrig werden und so machte er es sich schließlich am Fußende des Bettes bequem und verhalf sich zu einer Scheibe Brot.
Frodo lachte, als er daran dachte, wie es wohl aussah, sollte jemand sehen, wie er und sein Onkel zufrieden frühstückend und mit angezogenen Knien im Bett saßen: Frodo in demselben dünnen Nachtgewand, das er schon seit Tagen trug und Bilbo, der sich ständig darum kümmerte, dass ihnen die geschmierten Brote nicht ausgingen, in seinen üblichen Kleidern, die, obschon sie Alltagskleider waren, ebenso edel schienen, wie jene, die der Herr von Bockland zu festlichen Anlässen trug. Das Tablett hatten sie zwischen sich auf die Bettdecke gelegt. Frodo war glücklich. All seine Sorgen schienen vergessen während er mit Bilbo speiste und er fand, dass dieses Frühstück eines der Besten war, das er jemals gehabt hatte.
Als er glaubte, keinen Bissen mehr essen zu können, schob er das Tablett schließlich weiter zu Bilbo und rutschte unter die Bettdecke. Er hielt sich den Bauch und tat mit einem zufriedenen Seufzen kund, dass er zuviel gegessen habe. Bilbo lachte: "Ach was, spätestens heute Mittag wirst du bestimmt wieder hungrig sein, wenn nicht schon früher. Ich denke, selbst hier in Bockland sind das zweite Frühstück und der Elf-Uhr-Imbiss bekannt?" Frodo nickt grinsend und Bilbo erhob sich lachend von seinem Platz am Fußende des Bettes. "Sehr gut! Wenn du fleißig isst, wird es dir im Nu besser gehen, du wirst sehen." "Das hoffe ich", sagte Frodo und gähnte herzhaft.
Bilbo nahm das Tablett vom Bett und stellte es zurück auf den Nachttisch, ehe er auf der Bettkante Platz nahm und Frodo lächelnd eine Locke aus der Stirn strich. Er betrachtete den Jungen eingehend und war erleichtert, zu sehen, dass das Kind einen sehr viel besseren Eindruck machte, als noch am Abend zuvor. Selbst das Leuchten in Frodos Augen, das Bilbo bei seiner Ankunft so sehr vermisst hatte, war zurückgekehrt. Frodo bemerkte den Blick seines Onkels und runzelte verunsichert die Stirn, sah Bilbo fragend an. "Stimmt etwas nicht?", begehrte er zu wissen, doch Bilbo schüttelte lächelnd den Kopf. "Ganz und gar nicht, mein Junge. Es ist alles in bester Ordnung." Frodo nickte, behielt seinen Onkel jedoch einen Moment lang misstrauisch im Auge. Etwas an seinem Blick, beunruhigte ihn. Plötzlich verschwand der Ausdruck jedoch und Frodo schüttelte sein Misstrauen ab und ließ seinen Kopf tiefer in die Kissen sinken. Es dauerte nicht lange, bis er in einen sanften Schlummer fiel.
Bilbo wollte gerade das Tablett wegräumen, als sein Blick auf ein Bild fiel, das auf dem Nachttisch lag, er aber bisher noch nicht bemerkt hatte. Es war eine Zeichnung, mit Kohle gemalt, die Frodo gemeinsam mit seinen Eltern zeigte. Bilbo betrachtete es lange. Es musste vor wenigen Jahren gemacht worden sein, denn Frodo schien auf dem Bild nicht älter als acht Jahre. Sein Blick wanderte zu seinem Neffen, der sich im Schlaf rührte, aber sehr zufrieden aussah. Zärtlich strich er ihm über die Wange. Es klopfte an der Tür und Esmeralda trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. "Wie geht es ihm heute?" Bilbo sah überrascht auf, legte einen Finger an die Lippen, um ihr anzudeuten, leise zu sein. "Es geht ihm um einiges besser", flüsterte er und wies mit einem Nicken auf das Tablett. Ein Ausdruck des Erstaunens lag auf ihrem Gesicht. "Du musst großes Glück haben, Bilbo Beutlin", meinte sie mit einem erfreuten Lächeln, "denn ich hatte bereits befürchtet, ich würde ihn nicht wieder zum Essen überreden können." Bilbo grinste von einem Ohr zum anderen, während er erklärte, dass Frodo keinerlei Überredung nötig hatte, woraufhin ihr Lächeln noch ein wenig breiter wurde. Doch der fröhliche Ausdruck in Esmeraldas Gesicht schwand ebenso schnell, wie er gekommen war, denn ihr Blick fiel auf das Bild, das Bilbo noch immer in der Hand hielt. "Er muss es am Morgen nach ihrem Tod gefunden haben. Seither hat er es ständig bei sich." Bilbo betrachtete das Bild noch einmal, steckte es dann ein und verließ mit Esmeralda das Zimmer.
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Frodo genoss die wohlige Wärme seines Bettes und hielt die Augen geschlossen, selbst nachdem er aufgewacht war. Verschlafen rollte er sich auf die linke Körperseite und blinzelte kurz, ehe er geräuschvoll gähnte. "Du bist wach! Das wurde auch langsam Zeit!" Erschrocken die gespielt ernste Stimme seines Vetters zu vernehmen, öffnete Frodo die Augen, war überrascht, als Merrys heller Lockenkopf hinter dem Fußende des Bettes auftauchte. Der junge Hobbit eilte lächelnd an seine Seite. "Mir wurde gesagt, dir würde es besser gehen und deshalb bekam ich auch endlich Erlaubnis, in deinem Zimmer zu spielen, allerdings musste ich leise sein", erklärte der jünger Hobbit, sah dann einen Augenblick besorgt in seine Augen. "Habe ich dich etwa geweckt?" Frodo lächelte kopfschüttelnd. "Das hast du nicht und von nun an darfst du soviel Lärm machen, wie du willst."
Merry lächelte erfreut und kletterte auf das Bett. Er war in den letzten Tagen nur sehr selten bei Frodo gewesen, da seine Mutter meinte, sein Vetter brauche sehr viel Ruhe. Wenn er dann doch einmal hier gewesen war, hatte Frodo meist geschlafen, oder war schweigend im Bett gelegen, ohne viel auf ihn zu achten. Merry hatte das zwar gestört, aber nicht so sehr, als dass er Frodo einen Vorwurf gemacht hätte. Bilbo hatte heute Früh ein gutes Wort für ihn eingelegt, nachdem sich Merry einige Male nach Frodo erkundigt und nachgefragt hatte, wann er ihn denn wieder sehen dürfe. Er vermisste seinen Vetter und selbst wenn dieser den ganzen Morgen verschlafen hatte, freute er sich, zumindest in seiner Nähe spielen zu dürfen.
Frodo wollte sich aufsetzen, um sich besser mit seinem Vetter unterhalten zu können, doch Merry legte ihm sanft aber bestimmt die Hände auf die Schultern und drückte ihn zurück in die Kissen. "Bleibt liegen, Herr Frodo", verlangte er mit ernstem Blick, "Ihr seid schwer krank!" Frodo sah ihn verwundert an, doch dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Gewillt bei Merrys Spiel mitzumachen, ließ er sich zurück in die Kissen sinken. "Was fehlt mir, Herr Brandybock?", fragte er mit kratziger Stimme und versuchte dabei so krank wie möglich auszusehen. . "Nun, es sieht nicht gut aus", erklärte Merry kopfschüttelnd. Der junge Hobbit legte ihm prüfend eine Hand auf die Stirn und machte einen sehr nachdenklichen Gesichtsausdruck, ehe er schließlich nickte. "Ihr habt Fieber und Euch fehlt eindeutig die Gesellschaft Eurer Vettern!" behauptete er streng und bedachte ihn mit einem ernsten Blick. "Außerdem müsst Ihr viel mehr essen! Ein gewisser Herr Bilbo meinte heute allerdings, dass dieses Problem bereits gelöst sei." Fragend sah Merry ihn an.
Frodo nickte grinsend, doch war das Lächeln rasch wieder erloschen und Frodo wandte betrübt den Blick ab. Seine Gedanken wanderten zu dem Abend, ehe er krank geworden war. Er erinnerte sich, wie Merry ihn gebeten hatte, zum Essen zu kommen, ihm sogar gestanden hatte, dass er sich um ihn sorgte. Frodo wusste nicht, was damals über ihn gekommen war, dass er seinen Vetter dennoch mit Gewalt aus dem Zimmer vertrieben hatte. Schon damals hatte er sich bei ihm entschuldigen wollen, doch dann war alles anders gekommen. Auch Merry schwieg und blickte traurig zu Boden. Seine Gedanken wanderten zu demselben Abend. Das erste Mal in seinem Leben hatte er Angst vor Frodo gehabt, auch wenn er das niemals zugeben würde und er verstand nicht, weshalb sein Vetter, der ihn sonst immer so freundlich und liebevoll behandelt hatte, plötzlich so grob hatte werden können. Schließlich hatte er keine bösen Absichten gehabt. "Merry?", hörte er seinen Vetter fragen, doch sah er nicht auf. Frodo richtete sich auf, legte den Kopf schief und sah den jüngeren Hobbit lange an, in der Hoffnung, er würde sich ihm zuwenden. Als dieser jedoch keine Anstalten machte, sich zu rühren, holte er tief Luft und begann stotternd zu sprechen. "Es... es tut mir Leid. Was ich an jenem Abend getan habe, wollte ich nicht. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Du hast es nur gut gemeint, aber ich war so...", Frodo stockte, suchte nach den richtigen Worten. "…mit mir selbst beschäftigt, dass ich keine Rücksicht auf dich genommen habe. Es…", er stockte erneut, wandte für einen kurzen Moment den Blick ab, "…es tut mir Leid." Frodo seufzte kaum hörbar, als Merry noch immer nicht aufblicken wollte. Was hatte er auch erwatet? Er war wütend gewesen und auch wenn Merry ihn schon oft verzürnt erlebt hatte, so war er doch niemals so zornig gewesen. Er selbst hatte sich noch nie so erlebt und konnte es nicht verstehen. Wie konnte er das dann von seinem Vetter erwarten?
"Ich weiß", flüsterte Merry schließlich und schluchze leise. "Du kannst nichts dafür." Er hatte nicht vorgehabt, Frodo von seinen Ängsten zu erzählen, tat es dann aber doch, schließlich hatte er mit Frodo immer über alles sprechen können, ohne fürchten zu müssen, ausgelacht zu werden. "Ich war nur so erschrocken und ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Nicht nur an diesem Abend, auch an vielen Abenden danach. Du hast sonst immer mit mir geredet und ich konnte dich aufheitern und dort konnte ich es nicht. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte. Dann wurdest du auch noch krank und ich konnte gar nichts mehr für dich tun. Ich hatte solche Angst." Frodo war tief berührt von seinen Worten, legte ihm sanft einen Arm um die Schulter und zog ihn schließlich in eine liebevolle Umarmung, drückte ihn fest an sich und flüsterte: "Ich wollte das nicht."
Bilbo betrat das Zimmer, ohne von den beiden bemerkt zu werden, blieb jedoch überrascht in der Tür stehen. Merrys leises Schluchzen drang an sein Ohr und er wollte besorgt zum Bett eilen und nachfragen, was geschehen war, entschied sich dann aber dagegen. An Frodos Gesichtsausdruck konnte er erkennen, dass, was immer zwischen den beiden vorgefallen war, sich bereits selbst wieder in Ordnung gebracht hatte. Lautlos wandte er sich um, entschloss sich dazu, noch einen Augenblick zu warten.
"Ihr habt Recht, Herr Merry", sagte Frodo schließlich, als Merry aufgehört hatte zu weinen. Er griff nach Merrys Schultern, half dem jüngeren Hobbit so, sich wieder aufzusetzen und zwang ihn gleichzeitig dazu, ihn anzusehen. "Ich vermisse meine Vettern. Vor allem einen, mit dem ich meine Zeit am liebsten verbringe. Er ist der beste Freund, den sich ein Hobbit wünschen kann." Merry lächelte: "Nun, Herr Frodo, wenn das so ist, denke ich, dass sich das einrichten lässt." Das Lächeln auf Merrys Gesicht wurde noch breiter und Frodo konnte nicht anders, als es zu erwidern. "Ich glaube nicht, dass sie dich mit nach draußen lassen, aber wir können auch hier drinnen spielen", meinte Merry, sprang vom Bett und deutete auf einige Spielfiguren für Brettspiele, die im Zimmer verstreut lagen. Frodo zog eine Augenbraue hoch, sah seinen Vetter zweifelnd an, lächelte aber. Er wollte gerade aufstehen, als die Tür geöffnet wurde und Bilbo erneut das Zimmer betrat. "Du erwachst genau zum richtigen Zeitpunkt", meinte dieser, als Frodo überrascht den Kopf hob. "Das Mittagessen wird gleich aufgetischt. Ich hoffe, du hast Hunger." Bilbo zwinkerte seinem Neffen zu, als er auch Merry begrüßte und sich dann auf die Bettkante setzte, wo er prüfend eine Hand auf Frodos Stirn legte. Ein erfreutes Lächeln glitt über sein Gesicht und er nickte zufrieden. "Das Fieber ist nicht wieder gestiegen", erklärte er. "Wie geht es deinem Kopf?" "Dem geht es sehr gut", antwortete Frodo und grinste stolz von einem Ohr zum anderen. "Nichts tut mehr weh." Bilbo war sehr zufrieden. Der Junge befand sich zweifelsohne auf dem Weg der Besserung und nichts hätte ihn im Augenblick glücklicher gestimmt. Noch einmal fragte er, ob Frodo hungrig wäre. Dieser nickte ein wenig zögernd, lächelte dabei Merry zu. "Der Heiler hat gemeint, es würde mir gut tun", erklärte er, was Bilbo erst verwundert eine Augenbraue hochziehen ließ, ihn dann aber zum Lachen brachte. Frodo erhob sich, ließ sich von Bilbo in frische Kleidungsstücke und machte sich dann, begleitet von Merry und seinem Onkel, auf den Weg zum Essenzimmer
Es war in einem der gewöhnlichen Esszimmer gedeckt worden, denn die Gäste für die Trauerfeierlichkeiten waren bereits abgereist und nur mehr die Bewohner des Brandyschlosses und einige wenige andere Besucher waren zurück geblieben. Ohne nachzudenken setzte Frodo sich an seinen Platz, während es sich Bilbo neben ihm bequem machte. Er ließ seinen Blick über die bereits versammelten Hobbits wandern, bis seine Augen auf dem Stuhl rechts neben Bilbo haften blieben. Der Stuhl war leer. Es war der Platz seines Vaters. Frodo schluckte schwer, als ein plötzlicher Schauer ihm über den Rücken lief und sich ein Knoten in seinem Bauch bildete. Instinktiv griff er nach der Hand rechts neben der seinen, dort, wo für gewöhnlich seine Mutter saß, doch ertastete er nicht ihre zarten Finger, sondern jene von Bilbo. Der alte Hobbit sah ihn besorgt an. "Ist alles in Ordnung, mein Junge?" Frodo blinzelte, als würde Bilbos Fragen ihn aus seinen Gedanken schrecken. Verwirrt blickte er zu seinem Onkel auf, nickte dann zaghaft. "Ja, es geht mir gut."
Begleitet von Merry ging Frodo nach dem Essen zurück in das Zimmer seiner Eltern. "Erstaunlich, wie anstrengend ein Mittagessen sein kann", sagte er und ließ sich erschöpft auf das Bett fallen. "Wenn du dich ausruhen willst, sag Bescheid. Ich kann gehen", bot Merry an, doch Frodo schüttelte entschlossen den Kopf. "Nein, Merry, bleib hier. Ich werde mich nur ganz kurz ausruhen. Ich bin froh, dass ich endlich wieder aus dem Bett kann. Das muss ich ausnutzen." Kurze Zeit später war Frodo wieder in sein Nachtgewand geschlüpft und hatte sich unter die Decke gekuschelt. Merry blieb bei ihm und Frodo war froh darüber, denn er genoss die Gesellschaft seines Vetters. Sie ließ ihn gleich viel fröhlicher werden und im Augenblick schien ihm selbst der Kummer der letzten Tage wie ein ferner Traum, der ihn nur ab und an für einen kurzen Moment einzuholen schien. Sehr zur Freude von Merry, brauchte Frodo nicht lange, um sich von seiner Mahlzeit zu erholen. Bilbo hatte frische Holzscheite ins Feuer gelegt, die nun gierig von den Flammen verspeist wurden und die jungen Hobbits machten es sich auf dem Boden vor dem Kamin gemütlich, wo Merry seinen Vetter sogleich zu einem Brettspiel herausfordert.
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Die Sonne war noch nicht untergegangen, als Frodo erneut in sein Bett kletterte und sich unter der Decke zusammenrollte. "Sei mir nicht böse, Merry, aber ich kann nicht mehr. Das war mehr als genug für heute." "Das glaube ich auch", meinte Bilbo, der gerade in das Zimmer trat und Frodos letzten Worte mitangehört hatte. Der alte Hobbit hatte eine Tasse Tee in der Hand, die er an Frodo weiterzureichen gedachte, doch der Junge schien unwillig, sich noch einmal aufzurichten, tat es dann aber doch. Merry beobachtete ihn noch einen Augenblick, unentschlossen, ob er nun bleiben oder gehen sollte. Letzten Endes entschied er sich für letzteres, versprach aber, gleich nach dem Frühstück am nächsten Morgen sofort zu ihm zu kommen. Er winkte seinem Vetter zum Abschied, ehe er das Zimmer verließ.
Frodo reichte die halbleere Tasse an Bilbo zurück und legte sich wieder hin. Die Müdigkeit kam schneller, als er gedacht hatte und er war froh, dass er sich bereits nach dem Mittagessen umgezogen hatte und diese Aufgage nicht noch vor ihm lag. Er verfolgte schläfrig jede von Bilbos Bewegungen, als dieser die Tasse auf den Nachttisch stellte und eine Kerze entzündete. Entsetzt fuhr er plötzlich hoch. "Wo ist es? Wo ist das Bild?", rief er und Panik lag nicht nur in seiner Stimme sondern auch in seinem Ausdruck. Frodo wollte bereits aufspringen, um den Nachttisch nach dem Bild seiner Eltern zu durchsuchen, doch Bilbo hielt ihn zurück. "Keine Angst, mein Junge", sagte er beruhigend, sofort wissend, wonach der Junge fragte, als er die Furcht in den jungen Augen sah. "Ich habe es mir ausgeliehen. Du kriegst es bald zurück." "Ausgeliehen? Aber weshalb?" Frodo schob Bilbos Hand, die dieser auf seine Schulter gelegt hatte, von sich weg und blickte voller Verzweiflung zu ihm auf. Bilbo durfte ihm das Bild nicht nehmen. Es war alles, was ihm von seinen Eltern noch geblieben war und es gehörte nun ihm. Fastred hatte es nicht nehmen dürfen und auch Bilbo durfte das nicht. Zweifel lagen in seinen Augen, als er den Blick noch einmal über das Nachtkästchen wandern ließ und schließlich mutlos zu seinem Onkel aufsah. "Weshalb?", fragte er noch einmal und seine Stimme zitterte aus Furcht um das Bild. Bilbo lächelte ihm aufmunternd zu und sagte geheimnisvoll: "Das wirst du bald sehen." Frodo beruhigte das nicht und er ließ sich nur widerwillig von Bilbo zurück in das Bett leiten. Er wollte es sehen, musste wissen, dass mit dem Bild alles in Ordnung war oder er würde keinen Schlaf finden. Bilbo bemerkte seine Unruhe und legte ihm eine Hand auf die Wange. "Dem Bild wird nichts geschehen. Du hast übermorgen Geburtstag und bis dahin wirst du hoffentlich ohne es auskommen."
Verwundert blickte Frodo zu ihm auf. An seinen Geburtstag hatte er gar nicht mehr gedacht, doch schien ihm das im Augenblick auch nicht wichtig. Seine Gedanken wanderten zurück zu jenen Frühlingstagen vor einem halben Jahr, als er morgens in Beutelsend hatte aufwachen dürfen. "Erinnerst du dich an meinen letzten Besuch bei dir?", fragte er gedankenverloren und wandte den Blick ab. "Du hast gesagt, wir könnten unseren Geburtstag gemeinsam bei dir feiern, in Beutelsend. Ich glaube kaum, dass daraus noch etwas werden wird. Du kannst nicht einmal eine Feier planen, weil du hier bei mir sitzen musst und das, wo du doch neunzig wirst", Frodo schluchzte. "Ich habe bestimmt all deine Pläne ruiniert." Bilbo setzte sich auf die Bettkante, sah ihn mitfühlend an. "Aber nein, mein Junge. Du hast gar nichts ruiniert. Ich bin gerne bei dir. Es wird zwar kein Fest geben, aber das stört mich nicht. Außerdem können wir zusammen feiern, wenn auch nicht in Beutelsend. Wir werden ganz einfach hier feiern. Nur wir beide. Was hältst du davon?" Frodo schluchzte nur noch mehr, kuschelte sich an seinen Onkel und vergrub das Gesicht in dessen Schoß. Er war froh, dass Bilbo bei ihm bleiben würde, doch quälten ihn Schuldgefühle. Bilbo hatte bestimmt andere Pläne, die er nun nicht umsetzen konnte, weil er bei ihm sitzen musste. Frodo konnte das nicht zulassen, wollte nicht, dass er den Geburtstag seines Onkels verdarb. Traurig hob er den Kopf, um den alten Hobbit anzusehen. "Du musst nicht hier bleiben, wenn du andere Pläne hast." Bilbo war überrascht, das zu hören und es schmerzte ihn beinahe, dass Frodo so beharrlich darauf bestand, dass er seine Pläne weiterverfolgte. Glaubte Frodo denn wirklich, er könne nun nach Hause gehen und zufrieden seinen Geburtstag feiern, wohl wissend, dass sein geliebter Neffe krank war vor Kummer? Entschlossen nahm er Frodos Gesicht in seine Hände, sodass er dem Jungen tief in die Augen sehen konnte. "Nichts ist mir wichtiger, als bei dir zu sein, Frodo." Frodos Unterlippe zitterte und immer mehr Tränen traten in seine Augen, während er in Bilbos blickte. Die Ehrlichkeit und das Mitgefühl das er darin sah, ließen ihn eine tiefe Dankbarkeit empfinden, doch Frodo sagte nichts davon, als Bilbo ihn zärtlich in seine Arme schloss.
"Ich habe nachgedacht, Frodo", sagte der alte Hobbit leise nach einem langen Augenblick des Schweigens. "Ich habe mir überlegt, ich könnte dich für eine Weile mit mir nach Beutelsend nehmen, wenn du wieder gesund bist. Vielleicht ein etwas längerer Besuch, als gewöhnlich, solltest du das wollen." Frodo sah überrascht auf, Unglauben in seinen Augen. "Ich dürfte dich wieder besuchen kommen?" "Natürlich", antwortete Bilbo, wobei er ihm lächelnd durch die Haare strich, "wenn Esmeralda nichts dagegen hat." Verträumt dachte Frodo an die große Hobbithöhle, die er so sehr liebte und seine Augen leuchteten vor Freude, als er den Kopf wieder auf Bilbos Schoß sinken ließ und zufrieden seufzte. "Das wäre wunderschön!"
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Am nächsten Morgen regnete es und Merry verbrachte den ganzen Tag bei Frodo. Wie schon am vergangenen Tag spielten sie einige Brettspiele, ließen sich aber auch andere Dinge einfallen. Selbst als Frodo müde wurde, blieb Merry bei ihm. Meist kam dann Bilbo zu ihnen und erzählte eine seiner vielen Geschichten. Die beiden Hobbits waren wie immer fasziniert, was Bilbo zu erzählen hatte und konnten gar nicht genug bekommen. Am Nachmittag unterbrach Bilbo seine Erzählungen jedoch und begann stattdessen mit Frodo zu planen, was sie unternehmen konnten, wenn Frodo erst zu Besuch in Beutelsend war. Viele Vorschläge wurden gemacht, nicht wenige davon von Merry, der so eifrig nach spannenden Beschäftigungen suchte, als würde er selbst zu Bilbo reisen. Unter anderem wurde ein weiterer Besuch auf dem Markt geplant, dieses Mal jedoch ohne Unternehmungen auf eigene Faust. So verging auch dieser Tag recht schnell. Frodos Zustand besserte sich zusehends und bis zum Abend war sein Fieber schon beinahe gänzlich verschwunden. Selbst an sein Bild hatte Frodo den ganzen Tag nicht gedacht, nur vor dem einschlafen fragte er noch einmal danach, doch Bilbo wollte es ihm noch nicht wieder geben.
Kapitel 11: Geburtstag
So kam der 22. Halimath. Frodos und Bilbos Geburtstag. Frodo erwachte früh und wollte sofort zu Bilbo gehen, um ihm zu gratulieren, doch konnte er sich nicht dazu bewegen, aus seinem warmen Bett zu kriechen. Stattdessen kuschelte er sich müde in seine Decke und drehte sich zur Seite. Der 22. Halimath, sein Geburtstag; und er hatte nicht einmal daran gedacht, Geschenke zu machen. Seine Mutter war ihm in den vergangenen Jahren bei der Auswahl behilflich gewesen, doch in diesem Jahr hatte er völlig darüber vergessen. Zumindest Merry und Bilbo wollte er etwas schenken, doch so sehr er auch darüber nachdachte, er fand nichts, das er ihnen hätte geben können. Bestimmt würde sich in seinem Zimmer ein Mathom für Merry finden, wenn er nur lange genug suchte, doch für Bilbo wollte Frodo nichts einfallen und noch während er darüber nachgrübelte, fielen ihm die Augen wieder zu.
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Primula stellte die Kerze auf das Nachtkästchen und setzte sich auf die Bettkante ihres Sohnes. Lächelnd strich sie ihm über die Haare und küsste seine Stirn. Frodo blinzelte. "Guten Morgen, mein Kleiner!" sagte sie sanft. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!" Frodo strahlte über das ganze Gesicht und die Flamme der Kerze spiegelte sich in seinen Augen. Verschlafen legte er den Kopf auf ihren Schoß, umarmte ihre Taille und begrüßte sie murmelnd, während sie ihm zärtlich durch die Haare strich, wie sie es morgens häufig tat. Als Frodo nach einer Weile den Kopf drehte, sodass er sie ansehen konnte, lag ein verschmitztes Grinsen auf seinem Gesicht. Er hatte nicht vor, ihre Nähe lange zu genießen, denn er musste sofort an den Frühstückstisch, wo ganz bestimmt eine große Geburtstagstorte auf ihn wartete. Kichernd sprang er schließlich auf, wand sich aus den Armen seiner Mutter und zog sich eiligst an, ehe er rasch aus dem Zimmer stürmte. Seinen Vater, der gerade herein kommen wollte, bemerkte er erst, als es zu spät war, doch Drogo reagierte schnell, fing seinen Sohn auf, ehe dieser stolpernd mit ihm zusammengestoßen wäre und hob ihn hoch. "Hat man es mit elf nicht mehr nötig die Augen offen zu halten?", fragte er lachend und wuschelte ihm durch die Haare. "So lange man aufgefangen wird, nicht", entgegnete Frodo mit einem breiten Grinsen und legte die Arme um seinen Hals. "Gute Morgen!" "Guten Morgen!" rief Merry gutgelaunt, als er den Gang herab gesprungen kam. Drogo stellt seinen Sohn lächelnd zurück auf den Boden, sodass dieser seinen Vetter begrüßen konnte, doch ehe der junge Hobbit dazu kam, brach Merry in einen reichlich schiefen Geburtstagsgesang aus. "Erbarmen!" rief Frodo lachend und hielt sich die Ohren zu. "Verschone mich." Ohne das Ende des Liedes abzuwarten, ergriff Frodo Merrys Arm und zog ihn den spärlich beleuchteten Gang entlang, fest entschlossen, noch vor der Geburtstagstorte im Esszimmer anzukommen. Merry ließ sich lachend von ihm mitziehen, setzte jedoch immer wieder zu neuen, selbst erfundenen Strophen an. Drogo sah den beiden kopfschüttelnd, aber mit einem Lächeln im Gesicht hinterher. Primula trat an seine Seite und er legte einen Arm um sie. "Ein Jahr macht keinen großen Unterschied."
Frodos Vermutung hatte sich bestätig, denn der Kuchen stand bereits auf dem Tisch, als er ins Esszimmer trat und jeder, der das Glück hatte, zur selben Zeit zu frühstücken, wie er, bekam ein Stück davon. Nach dem Essen wandte Frodo sich an seine Mutter, um mit ihr die Geschenke zu verteilen, die sie gemeinsam ausgesucht hatten. Für jeden von Frodos engsten Verwandten und Freunde hatten sie eine Kleinigkeit gefunden und nur ein Geschenk hatte der Junge bisher selbst vor Primula geheim gehalten. Viele lange Nachmittage war er an jenem Geschenk gesessen und war nicht selten kurz davor gewesen, aufzugeben. Er hatte versucht von der großen Eiche aus ein Bild des Brandyschlosses in ein Holzbrett zu ritzen, was ihm nicht immer leicht gefallen war. Am Ende war er jedoch zufrieden damit, auch wenn er einige Mal abgerutscht war, doch diese kleinen Fehler fielen nicht auf. Unter die Zeichnung hatte er mit großen Lettern "Ich hab euch lieb!" geschrieben und heute sollte der Tag sein, an dem er das Geschenk für seine Eltern, das er mit soviel Mühe und Liebe geschaffen hatte, endlich überreichen durfte. Mit einem Lächeln im Gesicht ließ sich Frodo von Merry die Schnitzerei reichen. Er hatte seinen Vetter damit beauftragt, sie bis zu seinem Geburtstag zu verwahren, denn er hatte gefürchtet, dass seine Mutter sie finden könnte, würde er sie in seinem Zimmer aufbewahren. Frodos Augen leuchteten vor Aufregung, als er das Geschenk schließlich an seine Eltern überreichte, die es voller Freude entgegennahmen. Er konnte es kaum erwarten, bis seine Mutter endlich die rote Schleife gelöst hatte, die er darum gebunden hatte. Drogo blickte über Primulas Schulter hinweg auf das Geschenk seines Sohnes und es erfüllte ihn mit Stolz und Staunen, die Mühe zu sehen, die hinter dieser Arbeit steckte. "Das ist wunderschön", ließ er seinen Sohn anerkennend wissen und beugte sich zu ihm hinab, um ihn zu umarmen, doch Primula kam ihm zuvor. Mit Tränen der Rührung in den Augen fiel sie Frodo um den Hals, küsste erst seine Stirn, dann seine Wange und ließ ihn voller Freude wissen, welch großen Gefallen sie an dem Geschenk fand. Frodo blickte mit einem seligen Lächeln über die Schulter seiner Mutter hinweg zu seinem Vater, der ihm lächelnd den krausen Lockenkopf zerzauste, und war glücklich, seinen Eltern mit seinem Geschenk so große Freude bereitet zu haben, bis sich Merry plötzlich zu Wort meldete. "Das war auch eine Menge Arbeit!" erklärte der jüngere Hobbit mit einem Tonfall, als hätte er die Schnitzerei gemacht. "Tagelang konnte ich ihn zu nichts anderem überreden. Ganz gleich, was ich ihm vorgeschlagen habe, er hat immer nur daran weitergearbeitet." Frodo warf ihm einen vielsagenden Blick zu, woraufhin Merry sofort verstummte und den Blick von ihm abwandte, während allgemeines Gelächter den Raum erfüllte.
Später an diesem Tag, rief Drogo seinen Sohn zu sich in eines der Studierzimmer. Als Frodo in den von Kerzen hell erleuchteten Raum trat, blickte Drogo vom Schreibtisch auf und schenkte seinem Sohn ein Lächeln. "Du hast mich vor einigen Wochen um eine Bootsfahrt gebeten. Damals habe ich es nicht erlaubt, aber ich denke, dass wir es heute wagen können. Das Wetter ist gut und das Wasser ruhig." Frodo strahlte über das ganze Gesicht und fiel seinem Vater jubelnd um den Hals und nur wenige Minuten später begab sich die Familie Beutlin mit einem Picknickkorb auf den Weg zum Ufer des Brandyweins.
Plötzlich stand Frodo auf einem Hügel nahe dem Ufer, konnte beobachten, wie er selbst in eines der Boote stieg. Primula setzte sich hinter ihn, hielt ihn fest, während Drogo die Taue löste und das Boot langsam ins Wasser stieß. Seine Nackenhaare sträubten sich und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er sah, wie das Boot langsam stromabwärts trieb. Er erinnerte sich an seinen letzten Geburtstag, wusste, dass nichts geschehen war und doch war er nun von einer unbestimmten Furcht ergriffen und je länger er sich selbst mit seinen Eltern im Boot sitzen sah, umso ängstlicher wurde er. Die Angst wuchs in seinem Magen heran, breitete sich von dort aus über seinen ganzen Körper aus, bis er plötzlich den Hügel hinuntereilte und immer wieder nach den Hobbits im Boot rief, doch keiner nahm Notiz von ihm. Während er rannte schlug plötzlich das Wetter um und wo zuvor noch die Sonne vom Himmel gelacht hatte, erschienen dichte, dunkle Wolken. Donner grollte und kalter Regen prasselte auf ihn nieder. Seine Mutter hatte Mühe, das Boot im schneller werdenden Strom des Flusses ruhig zu halten und Frodo rief noch einmal nach ihr, doch niemand schien ihn zu hören. Er beobachtete, wie seine Mutter die Ruder einholte, den Kampf gegen die Strömung aufgab und stattdessen verzweifelt ihren Sohn in die Arme schloss. Frodo hörte seinen Vater rufen, Primula solle sich festhalten, doch ganz gleich, was sie taten, es brachte nichts. Die Strömung wurde schneller und der sonst so ruhige Fluss brachte plötzlich Wellen hervor. Das Boot kenterte und die darin sitzenden Hobbits wurden vom Wasser verschlungen. Außer Atem von seinem Lauf und vor Angst keuchend, erreichte Frodo schließlich das Ufer, suchte verzweifelt die Wasseroberfläche ab. Er konnte sich selbst im Wasser treiben sehen, entdeckte auch das blaue Tuch seiner Mutter, doch von seinen Eltern fehlte jede Spur. Tränen der Verzweiflung traten in seine Augen, als er flussabwärts rannte, in der Hoffnung, vielleicht weiter unten etwas zu entdecken. Doch auch als er erneut stehen blieb, um noch einmal alles abzusuchen, entdeckte er niemanden. Selbst den jungen Hobbit, der mit seinen Eltern im Boot gesessen war, sah er nicht mehr. Erschrocken schrie Frodo auf, als kalte Finger seinen Knöchel umklammerten und ihn zu Boden stürzen ließen. "Du bist an allem schuld!" klagte eine verzweifelte Stimme und Frodo erkannte sein anderes Ich, das sich über ihn gebeugt hatte und seine Handgelenke fest umklammert hielt. Frodo zitterte vor Angst, wollte weglaufen, doch der andere Hobbit hielt ihn erbarmungslos fest. Tränen waren in den kalten, blauen Augen des anderen, als dieser schmerzvoll das Gesicht verzog und ihn mit einer Stimme voller Zorn, Trauer und Verzweiflung anschrie. "Du hast es gesehen und sie nicht gewarnt! Du bist schuld! Du hast sie in den Tod getrieben!" Frodos Augen weiteten sich vor Entsetzen und er versuchte verzweifelt, sich aus dem klammernden Griff zu befreien. "Nein!" rief er ängstlich. "Ich kann nichts dafür! Ich wusste es nicht!" Ein Blitz erhellte den Himmel und der Regen wurde stärker. Frodo konnte spüren, wie die kalten Tropfen auf sein Gesicht prasselten, während er weiterhin versuchte, sich aus dem Griff zu lösen. "Du bist schuld!" sagte der andere Hobbit, der aussah, wie er, noch einmal mit donnernder Stimme. Frodo schüttelte den Kopf, hielt die Augen fest verschlossen. Er hatte es nicht wissen können, er trug keine Schuld. Eine grobe Hand packte ihn plötzlich an der Schulter, zog ihn hoch und Frodo schlug erschrocken die Augen auf, während er versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Doch noch ehe ihm das gelang, spürte er kalte Finger an seinem Rücken und wurde mit einem heftigen Hieb in den Fluss gestoßen.
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Frodo keuchte, schnappte nach Luft, als er erschrocken aus dem Bett hochfuhr. Panisch blickte er sich um, doch vollkommene Dunkelheit hieß ihn willkommen. Das Herz schlug ihm wild in der Brust, seine Hände zitterten und kleine Schweißperlen bedeckten seinen Körper. Tränen rannen über seine Wangen, während sich seine Finger in die Bettdecke krallten. Das Feuer im Kamin war ausgegangen und der Duft des Holzes, der das Zimmer am Abend noch durchflutet hatte, war nur mehr eine schwache Erinnerung. Seine Atmung zitterte, als er die Augen schloss und sich kraftlos zurück in das Bett fallen ließ. "Ich kann nichts dafür", flüsterte er mit rauer Stimme und schüttelte den Kopf, um seinen Worten Ausdruck zu verleihen. Er hatte nichts dagegen tun können. Was geschehen war, war geschehen und er hätte nichts daran ändern können, so sehr er sich das auch wünschte. Blind starrten seine Augen zur Decke, während er darauf wartete, dass er aufhörte zu zittern und sich wieder beruhigte. Es dauerte einige Zeit, bis er schließlich die Decke zurückwarf und sich aufsetzte. Die Füße von der Bettkante baumelnd, wischte er sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen, blieb dann einen Augenblick ruhig sitzen, unfähig, den Traum zu vergessen. "Ich kann nichts dafür", wiederholte er dann noch einmal, als wolle er sich damit bestätigen, holte tief Luft und ließ sich schließlich entschlossen aus dem Bett gleiten, um sich anzuziehen.
Langsam trat er aus dem Zimmer und trottete in Richtung Esszimmer. An der Tür blieb er stehen und warf einen zögernden Blick hinein. Ein Großteil der Brandybocks und viele andere Bewohner des Brandyschlosses hatten sich am Tisch eingefunden. Offensichtlich war er zur Hauptfrühstückszeit eingetroffen. Merry blickte von seinem Teller auf, entdeckte ihn und sprang ihm fröhlich entgegen. "Guten Morgen, Frodo! Wie geht es dir? Herzlichen Glückwunsch! Wie fühlt man sich mit zwölf?" Frodo gelang es zu lächeln, als der jüngere Hobbit seine Hand ergriff und ihn zum Tisch führte. "Es geht mir sehr gut und bis jetzt fühle ich mich mit zwölf noch kein wenig anders." "Das wird sich bestimmt noch ändern", meinte Bilbo lächelnd und erhob sich um seinen Neffen zu umarmen. "Ich gratuliere dir." Frodo erwiderte die Umarmung, blickte dann aber beschämt zu Boden. "Ich habe kein Geschenk für dich", gestand er, wobei er den Blick betrübt in die Runde schweifen ließ, "oder für irgendjemand anderen. Ich habe das völlig vergessen." Eine Hand auf seiner Schulter spürend, blickte Frodo auf. Bilbo sah ihn lächelnd an, zwinkerte ihm zu und flüsterte, so, dass nur er es hören konnte: "Keine Sorge, ich habe genug Geschenke für uns beide." Frodos Gesicht hellte sich auf. "Auch eines für Merry?", fragte er leise. "Auch eines für Merry", versicherte Bilbo lächelnd und wies ihn an, nach dem Essen mit ihm zu kommen, während er mit einem Kopfnicken andeutete, dass er Platz nehmen solle.
Gleich nach einem ausgiebigen Frühstück, ließ sich Frodo von Bilbo in die hintersten Zimmer des Brandyschlosses führen. Das Gästezimmer, das der alte Hobbit bewohnte, hatte etwa dieselbe Größe, wie Frodos Zimmer und war nur mit einem Bett und einem Schrank ausgestattet. Bilbo bat ihn, sich auf das Bett zu setzen und holte einen Rucksack aus dem Schrank. "Ich habe alle meine Geschenke verteilt, bis auf zwei", erklärte er, während er die lederne Tasche durchstöberte. "Ich dachte, das hier wäre vielleicht das Richtige für Merry." Er zog ein großes, in Leder gebundenes Buch aus der Tasche, das er an Frodo weiterreichte. Zaghaft nahm Frodo das Buch an. Im Licht einer Kerze konnte Bilbo die Verwunderung in den blauen Augen sehen und begann lächelnd zu erklären: "Ich habe drei seiner Lieblingsgeschichten genommen und sie aufgeschrieben." Frodos Augen leuchteten. "Du bist wunderbar, Bilbo!" rief er erfreut. "Das ist genau das Richtige!" Zufrieden lächelnd, zog Bilbo ein weiteres Päckchen aus der Tasche. Es war mit Stoff eingewickelt und mit einer Schnur zusammengebunden worden. "Ich habe zuvor wohl etwas übertrieben, denn mehr habe ich nicht mitgebracht, dass du verteilen könntest." Frodo lächelte, während er das Buch bewundernd in seinen Händen drehte, glücklich, ein solch großes und wertvolles Geschenk für Merry zu haben. "Das macht nichts." "Ich habe nur noch dieses hier und das möchte ich dir geben." Frodo hielt in seiner Bewegung inne, sah ihn verwundert an. Da er vergessen hatte, selbst Geschenke zu machen, hatte er auch nicht damit gerechnet, eines von Bilbo zu erhalten. Zögernd legte er das Buch zur Seite und nahm das Päckchen entgegen, packte es aber nicht sofort auf, sondern ließ seinen Blick fragend auf Bilbo ruhen. Erst als dieser ihm ermutigend zunickte, ließ er seine Finger über die Schnur gleiten, löste vorsichtig den Knoten. Behutsam schob er den Stoff zur Seite und ein Bild in einem wunderschönen, hölzernen Rahmen kam zum Vorschein. Es war ein schlichter Bilderrahmen, hatte kaum eine Verzierung, doch Frodo schien er der Schönste, den er jemals gesehen hatte. Seine Augen füllten sich mit Tränen. "Mein Bild", flüsterte er, "du hast es eingerahmt." Bilbo nickte, beobachtete ihn lächelnd, auch wenn es ihn mit Traurigkeit erfüllte, zu sehen, wie liebevoll Frodo das Bild betrachtete, es schließlich zärtlich an sich drückte. "Ich danke dir", wisperte das Kind und hob den Kopf. Seine Augen glänzten mit ungeweinten Tränen, als er Bilbo in die Arme fiel und das Gesicht in dessen Weste vergrub. "Das ist das schönste Geschenk, das du mir hättest machen können." ‚Das schönste Geschenk, abgesehen von der Rückkehr meiner Eltern', dachte er betrübt, während sich Bilbos Arme um ihn schlossen, ‚doch das kann niemand mir erfüllen.'
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Frodo war es noch nicht erlaubt, nach draußen zu gehen und so kam es ihm nur recht, dass es regnete. Auch Merry war froh um das schlechte Wetter, so hatte er genug Zeit sein neues Buch zu bestaunen. Er hatte noch nie ein eigenes Buch erhalten und auch wenn er noch nicht sonderlich gut lesen konnte, wusste er dank Frodos Hilfe sofort um welche Geschichten es sich handelte. So machte er nachmittags kurzerhand aus seinen Eltern, Frodo und Bilbo sein erstes Publikum, vor dem er, der große Abenteurer, der schon fast ganz Mittelerde bereist hatte, von seinen Geschichten erzählte. Zwar tat er dabei so, als würde er vorlesen, doch kannte er die Geschichten auswendig und machte sich deshalb gar nicht erst die Mühe, sich mit Buchstaben zu quälen.
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Am Abend saß Frodo in seinem Bett und blickte aus dem Fenster. Eine Kerze brannte, tauchte den Raum in ein blasses, flackerndes Licht. Er hatte sich dazu entschieden wieder in sein Zimmer zu gehen, nicht nur, weil die Laken im Zimmer seiner Eltern gewechselt werden mussten, sondern auch, weil er glaubte, dass es vielleicht doch besser wäre, wieder im eigenen Zimmer zu sein. Schweigend kniete er auf seinem Bett und beobachtete die Regentropfen, die an sein Fenster prasselten und sich in verspielten, kleinen Rinnsalen ihren Weg nach unten suchten. Es war schon spät und er hätte eigentlich bereits schlafen sollen, doch Frodo war nicht müde, auch wenn ihn der Regen schläfrig werden ließ. Er ließ ihn sich an seinen Traum erinnern und Frodo erschauderte bei dem Gedanken daran.
Du bist schuld! Du hast sie in den Tod getrieben! ‚Ich konnte es nicht wissen.' Du hast sie nicht gewarnt! ‚Wann hätte ich das tun können?' Frodo nahm das Bild seiner Eltern in die Hände. Auf seinem Nachtkästchen hatte er Platz dafür geschaffen und von dort sollte niemand es je wegschaffen. "Wann?", flüsterte er traurig und blickte in die lächelnden Gesichter der glücklichen Familie. Finde neuen Mut, Frodo. Trauere nicht länger! Er seufzte, als er an die Worte seiner Mutter dachte und strich mit vorsichtigen Fingern über den Rahmen. "Ich versuche es, aber es ist so schwer."
Bilbo hatte die letzten Worte mitangehört, als er leise in das Zimmer getreten war, annehmend, Frodo würde bereits schlafen. Es brach ihm das Herz, seinen Neffen so verzweifelt zu hören. Zweifelsohne hatte der Junge an seine Eltern gedacht und daran, wie es weiter gehen sollte. Er holte tief Luft und legte dem Kind die Hand auf die Schulter. Frodo zuckte zusammen, sah überrascht auf, blickte in die mitfühlenden Augen seines Onkels, die ihn eingehend musterten. "Es ist schwer und ich weiß, dass ich dir dabei nicht viel helfen kann", sagte der alte Hobbit und setzte sich auf die Bettkante, "doch ich hoffe, du weißt, dass ich immer für dich da sein werde." Frodo antwortete nicht darauf, sah ihn aber lange an, ehe er den Kopf zurücklehnte, sodass er an Bilbos Schulter ruhte und wieder aus dem Fenster blickte. Eine ganze Weile saßen sie so in der Stille und beobachteten den Regen, bis Frodo das Schweigen schließlich mit leiser, fast zögernder Stimme brach. "Wann werden wir nach Beutelsend aufbrechen?" Bilbo sah ihn einen Augenblick verwundert an, ließ seinen Blick dann aber wieder aus dem Fenster wandern. "Ich würde sagen, wir warten noch etwa eine Woche, bis du wieder ganz gesund und bei Kräften bist." "Wie lange werde ich bei dir bleiben können?", begehrte Frodo zu wissen und dieses Mal war er es, der den Blick vom Fenster abwandte und stattdessen den alten Hobbit fragend musterte. "Ich weiß es nicht", gestand Bilbo und legte einen Arm um Frodo, sodass sich der Junge gemütlich an ihn kuscheln konnte. "Es wird bestimmt Winterfilth bis wir in Hobbingen sind. Vielleicht bis Vorjul oder, wenn es dir bis dahin bei mir nicht langweilig wird, bis zum neuen Jahr." "Dann bis zum neuen Jahr", flüsterte das Kind und schloss beruhigt die Augen, "denn ich glaube nicht, dass es mir langweilig werden wird."
Kapitel 12: Alleine auf Reisen
Eine Woche später war alles für die Abreise der beiden bereit. Bilbo schlug vor, so früh wie möglich aufbrechen. Er wollte zu Fuß nach Hause gehen und Frodo war, genau wie sein Onkel, der Ansicht, dass der Weg durch den Wald viel aufregender wäre, als der Großen Oststraße zu folgen. Am Abend zuvor hatte Bilbo mit Frodo ihre Strecke festgelegt. Sie wollten die Fähre nehmen und dann hinauf nach Stock gehen. Anschließend planten sie nach Westen abzuzweigen, bis sie die Stockstraße erreichten, der sie etwa zur Hälfte folgen wollten. Danach wollten sie sich nach Norden durchschlagen. Dort war zwar keine festgelegte Straße, doch es gab kleine Wege, die wie gemacht waren für Wanderungen. Bilbo kannte jene Gegend gut, denn er durchwanderte sie oft und er glaubte, Frodo diese Strecke zumuten zu können.
Bilbo stand in der Küche des Brandyschlosses und ließ sich von Mirabella Proviant einpacken. Sie sparte nicht mit Essen, denn sie wollte, dass es ihrem Enkel gut erging und packte viele Extraportionen und kleinere Leckereien in Bilbos Rucksack, bis dieser randvoll gefüllt war. Bilbo war froh, dass er seine Kleider bereits darin eingepackt hatte, denn er war sicher, dass Mirabella auch den ganzen Rucksack zu füllen gewusst hätte. "Dass du mir gut auf den Jungen aufpasst, Bilbo!" ließ sie ihn mit strengem Blick wissen, wobei sie sich die Hände an der Schürze trocknete. Das grau-weiße Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr locker über die Brust fiel. "Das werde ich", beruhigte er sie lächelnd, doch sein Ausdruck war ernst. "Du weißt, dass mir der Junge sehr am Herzen liegt und ich es mir nicht verzeihen könnte, sollte ihm etwas geschehen." "Ja, das weiß ich", antwortete sie nickend. "Dennoch musst du gut auf ihn Acht geben. Du hast ihn selbst erlebt, in den letzten Wochen und ich muss gestehen, ich lasse ihn nicht gerne gehen. Vielleicht ist es besser für ihn, viele Leute um sich zu haben, vor allem gleichaltrige Kinder, wie Merry." Bilbo nickte. "Das könnte der Fall sein. Was er aber bestimmt braucht, ist etwas Abstand von den Geschehnissen der letzten Wochen, und den bekommt er, wenn er für einige Zeit mit mir kommt. Ich werde gut auf ihn Acht geben. Außerdem ist er nicht ganz alleine. Er kann seine Zeit mit Sam verbringen, oder mit anderen Kindern. Es gibt genügend davon in Hobbingen", meinte er mit einem verschmitzten Lächeln und zwinkerte Mirabella zu. "Da hast du wohl Recht", meinte sie, wobei sie ihm ein Lächeln zuwarf, das jedoch schnell wieder aus ihrem Gesicht verschwand. Ihre Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an. "Es ist nur so, dass Frodo mein jüngster Enkelsohn ist und das Einzige, was mir noch von Primula geblieben ist." Ihre Stimme war immer leiser geworden und bei ihren letzten Worten beinahe gebrochen. Mirabella senkte den Blick, die Hände auf dem Bauch übereinander gelegt. Einige Sekunden herrschte Stille, die keiner zu brechen wagte, dann holte sie tief Luft und reichte Bilbo den fertig gepackten Rucksack. "Das müsste für euren Weg genügen. Seid vorsichtig!" Dankend nahm Bilbo den Rucksack an, umarmte sie zum Abschied und flüsterte ihr tröstende und beruhigende Worte zu. Sie lächelte, als er die Küche schließlich verließ und in sein Zimmer ging, wo er sich für die Abreise bereit machen wollte.
Frodo packte gerade sein Bild in den Rucksack, als Esmeralda in sein Zimmer kam. "Ist alles bereit?", fragte sie lächelnd. Frodo nickte und zog die Schnüren des Rucksackes zusammen, während er noch einmal kontrollierte, dass seinem Bild wirklich nichts geschehen konnte. Es mochte nicht für Reisen gedacht sein, doch Frodo musste es bei sich haben. "Ich habe alles gepackt. Von mir aus kann es sofort losgehen." Esmeralda holte Frodos Jacke aus dem Schrank und half ihm, sie anzuziehen. Dann nahm sie den Umhang, den sie schon am Abend zuvor über dem Stuhl bereit gelegt hatte und band ihn Frodo um. Der Junge betrachtete sie eingehend, als sie vor ihm kniete und die beiden Enden des Umhangs an seinem Hals zusammenknüpfte, doch Esmeralda wusste nicht in seinen Augen zu lesen. Als sie fertig war, klopfte sie ihm auf die Schulter und musterte ihn lächelnd. "Jetzt fehlt nur noch ein Wanderstock." Frodo schulterte seinen Rucksack und zog eine Augenbraue hoch. "Ich glaube nicht, dass ich einen Stock brauche." Das Licht der Kerze auf dem Nachttisch flackerte, als Esmeralda sich lachend erhob. "Das glaube ich auch nicht. Komm, Bilbo wartet bestimmt schon." Frodo pustete die Kerze aus, ließ sich von ihr in den spärlich beleuchteten Gang führen. Der östlichste Gang war schon immer der dunkelste gewesen, doch so früh am Morgen waren nur sehr wenige der Wandleuchten entzündet. Merry kam ihnen an der Hand von Saradoc entgegen. "Es ist schade, dass du gehst", sagte er traurig, ohne Saradocs Hand loszulassen. Mitfühlend sah Frodo ihm in die Augen. "Ich werde bald wieder kommen." Merry nickte, senkte aber den Kopf und schluchzte leise, unwillig, seinen Vetter weggehen zu lassen. "Es wird langweilig sein." "Sei nicht traurig, Merry. Die Zeit wird bestimmt schnell vergehen", versuchte Frodo ihn zu trösten und nahm ihn mitfühlend in die Arme. Er war selbst ein wenig traurig, seinen Vetter zurücklassen zu müssen, doch er freute sich viel zu sehr auf den Besuch bei Bilbo, um sich darüber große Gedanken zu machen.
Als Frodo und Bilbo schließlich vor dem Eingang zum Brandyschloss standen, krähte der Hahn und begrüßte den neuen Morgen. Frodo umarmte jeden noch einmal zum Abschied, dann gingen die beiden los. Der erste blassrote Streifen des neuen Morgens erschien am östlichen Horizont, als Bilbo und Frodo gemütlich zum Fluss liefen. Frodo sprang fröhlich neben seinem Onkel her, redete jedoch wenig und als sie schließlich den schmalen Weg zur Fähre hinunter gingen, verstummte er ganz. Bilbo schenkte dem keine weitere Beachtung, denn er glaubte, der Junge müsse aufpassen, wo er hintrat.
In Frodos Kopf spielten sich jedoch andere Dinge ab. Auf den Weg achten musste er nicht, denn er kannte jeden Stein auswendig. Mit einem Satz sprang er auf das Fährenboot, wo ein plötzlicher Schauer ihn durchlief und ihn zum Zittern brachte. Bilbo bemerkte das stirnrunzelnd. "Ist alles in Ordnung, mein Junge?", fragte er beunruhigt. Frodo nickte, achtete jedoch nicht weiter auf seinen Onkel, der ihn fragend beobachtete. Sein Blick war in die Ferne gerichtet.
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"Ist alles in Ordnung?", fragte Merry besorgt. "Er hat mich erwischt und mich verprügelt." Frodo blieb stumm liegen, während er versucht wieder zu Atem zu kommen. Sein Herz raste. Als sie das andere Ufer des Brandyweins erreichten, war es bereits dunkel und die ersten Sterne leuchteten am Himmel. "Nein, Frodo! Bleib zurück! Geh mit Merry nach Hause!" Frodo schielte nach links und nach rechts, versuchte, sich an Saradoc vorbei zu drängen, als sein Blick plötzlich auf ein dünnes, blaues Tuch fiel. Ein Tuch, wie jenes, das seine Mutter gerne trug. "Mama!" Sein herzzerreißender Schrei durchschnitt die Stille der Nacht, übertönte die Stimmen der Hobbits und das Plätschern des Flusses.
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"Frodo?" Bilbo legte die Hand auf die Schulter seines Neffen. Der Junge schreckte aus seinen Gedanken und sah mit großen Augen und offenem Mund zu ihm auf, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen. "Was ist los?", fragte er besorgt, kniete sich vor dem Kind nieder und strich ihm durch die Haare. "Warum weinst du? Freust du dich denn nicht, dass du mit nach Hobbingen kannst? Willst du lieber hier bleiben?" Frodo schüttelte den Kopf, wischte sich rasch mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er zu weinen begonnen hatte. "Ich freue mich, dass ich mit dir gehen kann", bemühte er sich zu erklären. "Es ist nur...", er zögerte einen Moment lang, wobei er seinem Onkel betrübt in die Augen blickte. "Ich habe die Fähre das letzte Mal an jenem Tag benutzt, als..." Frodo sprach nicht weiter, wandte traurig den Blick ab und schnappte leise schluchzend nach Luft. Voller Mitgefühl legte Bilbo seine Arme um den Jungen, drückte ihn fest an sich. Er wollte etwas sagen, um ihn zu trösten, zu beruhigen, fand jedoch nicht die richtigen Worte.
Als sie das andere Ufer erreichten, hatte Frodo aufgehört zu weinen. Die Sonne war inzwischen aufgegangen und ihr Licht ließ das Wasser im Fluss in allen Farben glitzern. Ein sanfter Wind wehte entlang der höher gelegenen Landstraße, als Bilbo Frodo schließlich bei der Hand nahm und mit ihm nach Norden weiterging. Immer wieder wanderte Frodos Blick jedoch nach Süden, als befürchte er, verfolgt zu werden. Bilbo beunruhigte das, doch als er den Jungen nach dem Grund fragte, schüttelte dieser nur den Kopf. Ein leises Seufzen entwich Bilbos Lippen. Zu gerne hätte er gewusst, was in dem Jungen vorging, um ihm so dabei helfen zu können, seine Sorgen zu bewältigen. Doch wenn Frodo weiterhin nur schwieg, konnte er nichts weiter tun, als zuzusehen. Zuzusehen, wie er sich quälte und hoffen, dass er auch alleine zurechtkam. Er konnte ihn nicht dazu zwingen, mit ihm über die Geschehnisse der letzten Tage zu sprechen, das würde alles nur noch schlimmer machen. Er befürchtete Frodo könne dann sein Vertrauen in ihn verlieren und dieses Risiko wollte Bilbo keineswegs eingehen, dazu war ihm der Junge zu sehr ans Herz gewachsen.
In Stock machten sie eine Pause und nahmen im Goldenen Barsch eine Mahlzeit zu sich. Bilbo behagte es wenig, dass sie auch während dem Essen kaum miteinander sprachen, doch als sie ihre Reise fortsetzten schien Frodo wieder bester Laune und sprang fröhlich neben ihm her, sodass Bilbo seine Sorgen schnell vergaß. Hier und da rannte Frodo an den Rand des Weges, verschwand hinter Büschen oder beobachtete eine Schnecke oder anderes Getier. Die Sonne lachte vom Himmel und die Schatten der Bäume fluteten die Straße, während der Nachmittag langsam dahin zog. Bilbo war froh, Frodo wieder leichteren Herzens zu sehen, lächelte zufrieden in sich hinein und begann schließlich, leise zu summen. Frodo hörte ihn und kam neugierig an seine Seite gerannt. "Was summst du?", begehrte er zu wissen. Bilbo lächelte. "Nur ein altes Wanderlied", entgegnete er in Gedanken, ehe er leise zu singen begann.
Die Straße gleitet fort und fort, Weg von der Tür, wo sie begann, Weit überland, von Ort zu Ort, Ich folge ihr, so gut ich kann. Ihr lauf ich raschen Fußes nach, Bis sie sich groß und breit verflicht Mit Weg und Wagnis tausendfach. Und wohin dann? Ich weiß es nicht.
Frodo hatte schon immer Gefallen an Liedern gefunden. Er lauschte aufmerksam, versuchte, sich die Melodie einzuprägen und bat seinen Onkel schließlich, noch einmal von vorne zu beginnen. Bilbo lächelte, erfreut, dass der Junge solchen Gefallen an seinem Wanderlied fand und stimmte es gerne ein zweites und ein drittes Mal an, bis Frodo schließlich zaghaft mit einstimmte und erst leise, bald aber genauso laut wie Bilbo sang.
Als es langsam dunkel wurde, hatten die beiden schon ein großes Stück ihrer Reise zurückgelegt. Sie waren nun schon einige Stunden auf der Stockstraße entlang gegangen und der Wald um sie herum wurde immer dichter. Frodo hielt Bilbos Hand, schlurfte müde neben seinem Onkel her. "Ich denke, wir sollten die Straße verlassen und etwas weiter dort hinten ein Plätzchen für die Nacht suchen", schlug Bilbo vor, wobei er auf ein ebenes Waldstückchen, südlich der Straße deutete. Frodo nickte. Ihm war alles recht, so lange er sich hinsetzen und seine Füße ausruhen konnte, ein Wunsch, der ihm nur kurze Zeit später gewährt wurde. Bilbo hatte einen geeigneten Schlafplatz gefunden und breitete zwei Decken unter einer mächtigen Ahorn aus, während sich Frodo erschöpft auf eine herausragende Wurzel setzte, zu den Sternen blickte und seinem Onkel dabei zusah, wie er das Abendessen auspackte, das zu einem großen Teil aus Broten bestand, die Mirabella ihnen eingepackt hatte. Trotz seiner Müdigkeit langte Frodo kräftig zu, legte sich aber noch während er am letzten Bissen seines Brotes knabberte hin und wickelte sich in seine Decke ein. Bilbo beobachtete ihn einige Zeit, ehe er das übrig gebliebene Essen wegräumte und sich schließlich neben seinem Neffen zur Ruhe legte. Es war eine angenehme Nacht. Kein Lüftchen wehte und die Sterne leuchteten hell am Firmament. Einige dünne Wolkenfetzen zogen am Nachthimmel dahin und Bilbo vermutete, dass dies die ersten Vorboten des Herbstes waren, der nicht mehr lange auf sich warten lassen würde, schließlich hatten sich die ersten Blätter bereits verfärbt und bald würde der Waldboden auf dem sie nun ruhten von einem dichten Blätterdach verdeckt werden. Bilbo genoss die angenehme Stille, die sich um ihn und seinen Neffen gelegt hatte, bis dieser plötzlich leise zu sprechen begann. "Bist du hier schon einmal Elben begegnet?" Bilbo nickte. "Sie leben in den Emyn Beraid, den Turmbergen, und wandern oft durch diese Wälder, meist im Frühling oder Herbst", antwortete er leise. "Glaubst du, wir werden heute Nacht welche sehen?", begehrte Frodo zu wissen und im blassen Licht der Sterne konnte Bilbo sehen, wie seine Augen ihn eingehend musterten. "Ich weiß es nicht." "Ich hoffe schon", seufzte Frodo und rutschte auf seiner Decke hin und her, bis er eine bequeme Stelle gefunden hatte. "Ich würde so gerne Elben sehen." "Das wirst du bestimmt, mein Junge", versicherte Bilbo mit einem Lächeln. "Das wirst du bestimmt."
Frodo antwortete ihm mit einem Gähnen und rollte sich noch kleiner zusammen, als er es ohnehin schon getan hatte. Es dauerte nicht lange, da war er eingeschlafen und Bilbo konnte seine ruhigen, gleichmäßigen Atemgeräusche hören. Der alte Hobbit ließ sich von dem Geräusch beruhigen, doch so erschöpft er von seiner Reise auch war, fand er keinen Schlaf. Die Frage, ob es richtig gewesen war, Frodo mit sich zu nehmen, ließ ihm keine Ruhe. Der Vorfall bei der Fähre hatte ihn erschreckt. Wie gerne wollte er Frodo helfen, und dennoch konnte er es nicht. Er fühlte sich hilflos, denn in Frodos Gegenwart musste er stark sein und ihm versichern, dass alles gut werden würde, und doch hatte er jedes Mal selbst mit den Tränen zu kämpfen, wenn er Frodo weinen sah. Die Angst und die Verzweiflung, die er in den Augen seines Neffen sah, ließen ihn manchmal selbst erschaudern. Er fragte sich, ob er genügend Stärke in sich trug, um Frodo dabei zu helfen, seine Angst zu besiegen. Was konnte er überhaupt tun, um dem Jungen zu helfen? Frodo schwieg über das, was in ihm vor ging und Bilbo war sich sicher, dass sich das auch nicht allzu schnell ändern würde. Bis es soweit war, konnte er nichts weiter tun, als für den Jungen da zu sein und ihm zeigen, dass er zuhören würde, sollte er den Wunsch verspüren, seinen Schmerz zu teilen. Frodo rührte sich im Schlaf und seufzte leise. Bilbo betrachtete den Jungen. Seine Züge waren feiner, als die der meisten anderen Hobbits. Hatte nicht Primula schon kurz nach seiner Geburt gesagt, er wäre den Elben aus seinen Geschichten ähnlich? Damals hatte er nur gelacht und dennoch schien es Bilbo jetzt, als wäre wirklich etwas Besonderes an ihm. Nicht wirklich etwas elbisches, aber etwas war da, auch wenn er es nicht zu beschreiben wusste. Er seufzte. Seine Stärke musste ausreichen, um für den Jungen da zu sein, ganz gleich ob Frodo sich ihm anvertraute oder nicht. Zufrieden mit seinem Entschluss entspannte sich Bilbo schließlich, fand so die nötige Ruhe, um einzuschlafen.
Lange währte sein Schlaf jedoch nicht, denn feiner Gesang ließ ihn aus seinen Träumen erwachen. Bilbo setzte sich auf. Sein erster Blick galt Frodo, der noch immer friedlich schlummerte, die Decke bis über die Ohren gewickelt und die linke Hand entspannt neben dem Gesicht ruhend. Bilbo lauschte den leisen Stimmen, einem Gesang, so schön, wie er nur von den Erstgeborenen vorgetragen werden konnte. Überrascht sprang er auf und sah zur nur wenige Schritte entfernten Straße. Eine kleine Gruppe von Hochelben folgte ihrem Lauf und ihre feinen Stimmen waren es, die Elbereth im Gesang preisten. Sie trugen keine Lichter bei sich und doch war es, als würden die Sterne selbst ihren Weg beleuchten. Einer der Elben entdeckte Bilbo. "Heil, Bilbo aus dem Auenland!" rief er aus und kam ihm entgegen. "Lange ist es her, dass wir uns begegneten." "Elen síla lúmenn' omentielvo!" rief Bilbo gerade so laut, um Frodo nicht aufzuwecken, "Ein Stern leuchtet über der Stunde unserer Begegnung, Gildor." Die Gruppe machte Halt und beobachtete die beiden. Ihr Gesang verstummte. "Was führt dazu, dass du zu solch später Stunde so fern von zu Hause bist?", fragte Gildor, wobei sein Blick auf Frodo fiel. "Und noch dazu, nicht allein. Wer ist dieser Junge?" Bilbo lächelte und ließ sich neben dem Jungen auf seiner Decke nieder. "Nun, er ist der Grund, dass ich so spät noch unterwegs bin. Das ist Frodo, mein Vetter, auch wenn er für mich mehr wie mein Neffe ist, und er wird einige Zeit bei mir in Beutelsend leben." Gildor ließ sich neben Bilbo ins Gras sinken. Seine blasse Haut schien im Licht der Sterne noch heller zu sein. Die anderen Elben bemerkten, dass ihre Reise wohl nicht allzu bald würde weiter gehen und verschwanden zwischen den Bäumen. Vorsichtig strich Gildor Frodo über die Wange, seine Berührung so sanft wie die einer Feder. Frodo rührte sich nicht, doch ein leises Seufzen entwich seinen Lippen. "Ein dunkler Schatten liegt über seinem Herzen. Ein Schatten, der ein solch junges Herz noch nicht belasten sollte." Bilbo nickte betrübt. "Deine Worte sind wahr, mein Freund. Ein trauriges Schicksal hat ihn vor kurzem ereilt." Betroffen senkte er den Kopf, seufzte leise, ehe er Gildor von den Geschehnissen der letzten Wochen, angefangen mit dem Tod von Frodos Eltern, bis zu dem Gespräch mit Frodo am vergangenen Abend, erzählte. "Ich sollte ihn jetzt aufwecken", sagte er mit einem Lächeln, als er auf Frodo hinabblickte. "Er hat sich so sehr gewünscht, Elben zu sehen." Gildor lächelte. "Lass ihn schlafen. Er sieht zufrieden aus und wenn ihr den ganzen Weg vom Baranduin hierher gelaufen seid, dann muss er sehr erschöpft sein." Bilbo nickte. "Wahrscheinlich hast du Recht." "Doch was ist mit dir?", fragte Gildor schließlich, "Ich sehe, dass auch auf deinem Herzen ein Schatten lastet." "Dir entgeht nichts, Gildor, mein Freund", entgegnete Bilbo lächelnd. "Es ist Frodo, um den ich mich sorge, wie du dir wohl denken kannst. Ich möchte ihm helfen und doch weiß ich nicht wie." Gildor nickte. "Du weißt, dass ich nicht gerne Ratschläge gebe. Man weiß nie zu was sie führen können. Dennoch will ich dir sagen, dass es das Beste ist, wenn du abwartest, ganz gleich, was du zu tun gedenkst." Bilbos Blick ruhte auf Frodo. Der Junge fröstelte. Schnell nahm er seine Decke und wickelte sie um seinen Neffen. "Seine erste Begegnung mit Elben und er verschläft sie", sagte er mit einem gequälten Lächeln. "Ich denke, wenn er einige Zeit mit dir verbringt, wird er bestimmt noch mehreren meines Volkes begegnen. Ich glaube nicht, dass dies meine letzte Begegnung mit ihm sein wird." Gildor strich Frodo noch einmal über die Wangen und der fröhliche Ausdruck auf dem Gesicht des Elben veränderte sich, doch Bilbo war sich nicht sicher, was er darauf zu erkennen glaubte. Die dunklen, alterslosen Augen gaben keinen Gedanken preis. Einen Moment später war es, als hätte sich der Ausdruck nie geändert und Bilbo vermutete, dass ihm seine Müdigkeit einen Streich gespielt hatte. Gildor erhob sich schließlich. "Mein Volk und ich müssen weiter ziehen", sprach er und blickte zu den Sternen, ehe er sich wieder Bilbo zuwandte. "Es war schön, dich wieder zu sehen, Bilbo." Der alte Hobbit stand ebenfalls auf. "Die Freude war ganz auf meiner Seite. Ich danke dir, dass du dir die Zeit genommen hast, mir zuzuhören." "Pass gut auf dich und Frodo auf." Gildor reichte dem Hobbit lächelnd die Hand. "Möge Elbereth euch schützen!" "Leb wohl, Gildor, mein Freund!" sagte Bilbo leise und verbeugte sich vor dem Elben. Gildor eilte zur Straße zurück und auf seinen Ruf fanden sich auch die anderen Elben dort ein. Wieder schien sie ein sanfter Schimmer zu umgeben, als sie singend in die Dunkelheit davon gingen. Bilbo beobachtete sie lange und die Nacht war schon weit fortgeschritten, als er sich schließlich wieder neben Frodo zur Ruhe bettete.
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Am nächsten Morgen wurde Bilbo von Frodo geweckt. "Du schläfst lange", meinte der Junge mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. Seine Haare waren zerzaust und ein heruntergefallenes Blatt hatte sich unbemerkt darin verfangen. Bilbo streckte sich und gähnte herzhaft. "Ich war auch um einiges länger auf als du." "Ja?", Frodo sah ihn neugierig an, während er sich eine Tasse mit Wasser füllte. "Ja", antwortete Bilbo, zupfte ihm das Blatt aus den Haaren und packte eines der Brötchen aus. "Ich hatte eine lange Unterhaltung mit..." Er verstummte, als er sich plötzlich darüber bewusst wurde, was er gerade sagte. "Mit wem?", fragte Frodo, seine neugierigen Augen nicht einmal von Bilbo abwendend. "Ach, das ist nicht so wichtig", sagte der alte Hobbit schnell und wandte sich seinem Essen zu. Frodo unterbrach sein Frühstück, ein weiteres belegtes Brot, das er sich aus Bilbos Rucksack genommen hatte, und beobachtete seinen Onkel eingehend. Der alte Hobbit verheimlichte ihm etwas und Frodo wollte unbedingt erfahren, was es war. Zwar wich Bilbo seinem Blick aus, doch schien es ihn zu beunruhigen, dass Frodo ihn so genau beobachtete und schließlich konnte er dem fordernden Lodern in den blauen Augen nicht länger standhalten. "Na gut, na gut! Ich habe mit Elben gesprochen", platzte es schließlich aus ihm heraus. Frodo konnte seinen Mund nicht länger geschlossen halten und starrte ihn entgeistert an. "Du hast was?!" rief er entsetzt, "Und du hast mich nicht geweckt?!" "Nein", entgegnete Bilbo etwas zögernd, "Du warst sehr müde und auch Gildor war der Ansicht, dass es besser wäre, dich schlafen zu lassen." Frodo wandte sich beleidigt ab, biss missmutig ein Stück seines Brotes ab. "Du weißt, dass sich sie unbedingt sehen wollte", sagte er schließlich mit anklagendem Ton. "Es ist gemein von dir, dass du mich nicht aufgeweckt hast." Bilbo seufzte. Er musste eiligst etwas finden, das Frodo davon überzeugte, dass es notwendig gewesen war, ihn schlafen zu lassen, ohne, dass der Junge weiterhin beleidigt war. "Wenn du meinst. Dann sag mir bitte, wie wir heute weiter kommen würden, hättest du in der letzten Nacht nicht genug Schlaf bekommen, der dich einen weiteren Tagesmarsch auf den Beinen hält. Hätte ich dich tragen sollen? Es hätte nicht lange gedauert bis du mir zu schwer geworden wärest. Außerdem, was hätten wir dann mit den Rucksäcken gemacht?" Frodo sah ihn wütend und mit funkelnden Augen an, entgegnete jedoch nichts, wandte ihm aber weiterhin trotzig den Rücken zu. Bilbo verkniff sich ein siegreiches Lächeln und widmete sich schließlich seinem eigenen Frühstück.
Der Tag verlief ohne weitere Auseinandersetzungen. Frodo hatte bald vergessen, dass er wütend auf Bilbo war und sprang lachend und singend durch den Wald. Es war bereits dunkel, als sie in Wasserau ankamen. Bilbo entschied, diese Nacht im Grünen Drachen zu verbringen, auch wenn es bis nach Beutelsend nur mehr ein kleines Stück gewesen wäre. Frodo war zu müde um weiterzugehen, konnte kaum die Augen offen halten und stolperte nur noch neben Bilbo her. Nicht selten wäre er hingefallen, hätte Bilbo ihn nicht an der Hand gehalten und dadurch immer rechtzeitig aufgefangen. Selbst für ein Abendessen war Frodo zu müde und so legte er sich sofort in sein Bett, nachdem Bilbo ihm den Schmutz von Gesicht, Händen und Füßen gewaschen hatte. "Du hattest Recht", gestand Frodo schließlich zaghaft, als Bilbo ihn zudeckte und wagte dabei kaum, seinen Onkel anzusehen. Dieser blickte erstaunt zu ihm herab. "Womit?" "Ich glaube, wir wären nicht weit gekommen, wenn ich nicht geschlafen hätte", wisperte der junge Hobbit und sah schuldbewusst zu Bilbo auf, auch wenn er große Mühe hatte, die Augen offen zu halten. Er rechnete bereits mit einer Rüge, doch Bilbo lächelte nur und strich ihm durch die Haare. "Lass dir eines gesagt sein, mein Junge. Selbst wenn du vielleicht nicht verstehst, oder nicht verstehen willst, wie ich handle, so habe ich doch immer meine Gründe." Er zwinkerte dem Jungen aufmunternd zu. "Schlaf jetzt!" Frodo kam dieser Aufforderung gerne nach und war eingeschlafen, kaum dass Bilbo sich von seiner Bettkante erhoben hatte. Er träumte nicht in dieser Nacht, hatte aber dennoch ständig das Gefühl, verfolgt zu werden.
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Das Zimmer war nur spärlich ausgerüstet. Neben einem kleinen Bett beinhaltete es nur einen Schrank, einen Sessel und ein kleines Tischchen, das in einer Ecke stand. Bilbo saß im Sessel, eine Pfeife rauchend, als Frodo am nächsten Morgen erwachte. Auf dem Tisch in der Ecke stand ein Kerzenhalter und nur der schwache Lichtschein der von den Kerzen ausging, erfüllte das Zimmer. "Wie spät ist es?" Bilbo schreckte aus seinen Gedanken, als er Frodos Stimme vernahm. "Es dürfte jetzt bald Mittag sein", meinte er. Frodo richtete sich auf, starrte ihn ungläubig und entgeistert an. Bilbo konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. "Mein Junge, du musst ganz schön erschöpft gewesen sein." Frodo errötete, senkte beschämt den Kopf. Er war selten so erschöpft gewesen, wie am vergangenen Abend und der Gedanke daran, wie müde er erst gewesen wäre, hätte Bilbo ihn in der Nacht zuvor aufgeweckt, ließ seine Wangen nur noch roter werden. Zugeben, dass Bilbo Recht gehabt hatte, wollte er jedoch nicht und so suchte er schnell nach etwas, um seinen Onkel vom Thema abzulenken. "Müssten wir denn nicht schon lange wieder unterwegs sein?" Bilbo schüttelte den Kopf. "Mach dir keine Sorgen, unser Weg ist nicht mehr weit", entgegnete er und steckte seine Pfeife weg. "Du musst Hunger haben. Lass uns in die Gaststube gehen."
Kurze Zeit später saßen die beiden Hobbits an einem der Tische in der gemütlichen Stube. Die Sonne schien durch einige Fenster und der warme Schein einiger Lampen und Laternen tauchten den Raum in ein angenehmes Licht. Neben Frodo und Bilbo, die sich eine ordentliche Mahlzeit auftischen ließen, die mehr an ein Mittagessen, als an ein Frühstück erinnerte, waren auch einige andere Bauern und Handwerker anwesend. Pfeife rauchend saßen sie an ihren Tischen unterhielten sich leise und warfen den Reisenden immer wieder neugierige Blicke zu. Anfangs kümmerte sich Frodo nicht darum, sondern war ganz mit seiner Mahlzeit beschäftigt, hatte er doch schon seit dem vergangenen Nachmittag nichts mehr gegessen. Als er dann jedoch den schlimmsten Hunger gestillt hatte, wurde er neugierig, denn immer häufiger fiel ihm auf, dass die anwesenden Hobbits die Köpfe zusammenstecken und tuschelten. Teile eines Gespräches zweier Hobbits, die zwei Tische von ihnen entfernt saßen, drangen an Frodos Ohr.
"Ertrunken sagst du?" "Ja ja, ich habe es immer gewusst. Diese Bockländer sind komisches Volk. Hobbits sollten sich nicht für Boote interessieren. Der Herr Drogo hätte niemals eine von da drüben heiraten dürfen. Das führt zu einem schlimmen Ende, das habe ich immer gewusst."
Frodo verschluckte sich an dem Stück Brot, das er gerade kaute und schnappte verzweifelt nach Luft. Die Gespräche am Nebentisch verstummten unverzüglich. Tränen stiegen ihm in die Augen, als er endlich wieder zu Atem kam und verzweifelt zu Bilbo blickte. Warum mussten sie das tun? Wenn sie schon schlecht über seine Eltern sprechen mussten, konnte sie es dann nicht wenigstens leise machen? Warum war er hier her gekommen? Er wünschte sich plötzlich wieder zurück in sein Zimmer im Brandyschloss. Nein, in das Zimmer seiner Eltern. Er wünschte, er könnte sich wieder unter der Decke seiner Mutter verkriechen und müsste all das nicht hören. Bilbo hatte das Gespräch zornig mitangehört, kaum verwundert, wie wenig Rücksicht auf die Ohren genommen wurde, die der Worte lauschten. In Gasthöfen wie dem Grünen Drachen wurde mit Leidenschaft über alles mögliche und unmögliche getratscht und er schalt sich selbst, dass er nicht schon zuvor daran gedacht hatte, auf dass Frodo diese Worte erspart geblieben wären. Er legte einen Arm um den Jungen und Frodo klammerte sich verzweifelt an ihm fest, beinahe so, als wolle er sich in seiner Umarmung verstecken. Ein wütender Blick von Bilbo führte dazu, dass die beiden Hobbits endgültig den Blick abwandten und schließlich das Gasthaus verließen. "Hör nicht auf das Gerede dieser Dummköpfe", versuchte Bilbo ihn zu beruhigen, strich ihm zärtlich durch die dunklen Locken. Schluchzend sah Frodo zu ihm auf und murmelte: "Können wir bitte gehen?" Der alte Hobbit nickte und so griff Frodo mit zitternden Fingern nach Bilbos Hand. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, gingen sie auf ihr Zimmer und packten ihre Sachen zusammen. Als sie wieder in die Gaststube traten, entschuldigte sich die Wirtin für das Benehmen der beiden Hobbits, doch Bilbo nickte ihr nur schweigend zu. Sie konnte nichts dafür und jegliche Worte wären umsonst gewesen.
Die Sonne schien warm und keine Wolken trübten den tiefblauen Himmel. Frodo ließ nicht einmal Bilbos Hand los, als sie den restlichen Weg zum Bühl zurücklegten. Er starrte die meiste Zeit auf den Boden und ließ nur gelegentlich seinen Blick unsicher von einer Seite zur anderen wandern. Es wurde wenig gesprochen und selbst jene Hobbits, die ihnen entgegen kamen, wechselten kaum ein Wort mit ihnen, auch wenn Frodo ihre Blicke auf sich spüren konnte. Verzweifelt klammerte er sich an Bilbos Hand fest, wollte nicht, dass sie ihn ansahen und über ihn tuschelten. In den vergangenen Wochen waren ihm genügend mitleidige Blicke geschenkt worden, doch er brauchte sie nicht. Blicke konnten ihm seinen Wunsch nicht gewähren, nichts konnte das.
Erst als sie die Bühlstraße erreichten, hellte sich Frodos Miene auf. Bilbo seufzte erleichtert. "Wir haben es fast geschafft!" Frodo sah lächelnd zu ihm auf, doch Bilbo erkannte, dass er noch immer schwer mit den Worten zu kämpfen hatte, die im Gasthaus gefallen waren. Dennoch lächelte er aufmunternd zurück und legte den Arm um seine Schultern. "Guten Tag, Herr Bilbo!" Bell Gamdschie kam mit einem Korb in der Hand den Beutelhaldenweg entlang und winkte ihnen zu. "Guten Tag, Frau Gamdschie!" rief Bilbo freundlich und blieb stehen. "Wir hatten dich bereits gestern zurückerwartet", sagte Bell, wobei sie Frodo anlächelte, der sie freundlich begrüßte, "Hamfast hat deinen Brief bereits vor wenigen Tagen erhalten und gestern Abend alles für deine Rückkehr vorbereitet." "Frodo war zu erschöpft den ganzen Weg in nur zwei Tagen zurückzulegen", erklärte Bilbo während Frodo ungeduldig an seinem Ärmel zog und fragend zu ihm aufblickte. "Kann ich schon vorausgehen?" Auf ein Nicken von Bilbo eilte er zur nicht weit entfernten Gartentür von Beutelsend und war kurz darauf in der Höhle verschwunden. Bell sah ihm betrübt hinter her. "Ein guter Junge, aber er sieht mitgenommen aus. Ich glaube, es war eine gute Entscheidung, ihn einige Zeit zu dir zu nehmen." Bilbo nickte. "Es wird ihm gut tun, etwas Abstand zu haben, zumindest hoffe ich das."
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Gedicht: Die Straße gleitet fort und fort - Der Herr der Ringe - Die Gefährten / Ein langerwartetes Fest
Kapitel 13: Dunkle Nächte
Seufzend trat Bilbo in seine Höhle und ließ seinen Rucksack in die Ecke fallen. Eine angenehme Wärme durchströmte sein Zuhause und er dankte Ham Gamdschie im Stillen für seine Zuverlässigkeit. Müde hängte er seinen Umhang an einen der Kleiderhaken und griff nach seinem Rucksack mit der Absicht, ihn in der Küche auszupacken. Doch Bilbo stutzte und runzelte die Stirn, als ihm plötzlich auffiel, dass Frodo nirgendwo zu sehen war. "Frodo?", rief er besorgt in den spärlich beleuchteten Hauptgang von Beutelsend, doch keiner antwortete ihm.
Frodo war sofort in das hinterste Zimmer der Höhle gerannt, das er immer bewohnte, wenn er hier war. Wie bei seinem letzten Besuch blieb er erst in der Tür stehen und sah hinein, ließ sich vom sonderbaren Gefühl der Vertrautheit gefangen nehmen, das ihn bei seinem ersten Blick in das Zimmer immer umgab. Dieses Mal war kein Feuer geschürt und das Bett nicht für ihn vorbereitet, doch fühlte er sich sofort wie zu Hause. Langsam ging er hinein, zog seinen Umhang aus und setzte sich auf das Bett, wobei er sich schweigend im Zimmer umsah. Sonnenstrahlen strömten durch das südliche Fenster, ließen kleine Staubkörnchen in der Luft sichtbar werden, die verspielt im Licht tanzten. "Seltsam", sagte Frodo schließlich zu sich selbst, überrascht über das Gefühl der Geborgenheit, das ihn auf einmal umgab. Es war angenehm, wohltuend und Frodo ließ es schweigend auf sich wirken, ehe er nach seinem Rucksack griff und sein Bild hervorholte, das er behutsam auf den kleinen Nachttisch stellte, um es zufrieden zu betrachten.
"Hier bist du." Ein Lächeln erschien auf Frodos Gesicht, als er Bilbos Stimme vernahm. Der alte Hobbit stand in der Tür, sah ihn verwundert an und Frodo, von plötzlicher Freude beschwingt, sprang auf ihn zu und umarmte seinen Onkel, der ihn mit einem überraschten Ausruf auffing. "Ich bin froh, wieder hier zu sein!" rief er glücklich, wobei er die Arme um den Hals seines Onkels schlang und das Gesicht in dessen Nacken vergrub. Bilbo war verblüfft über Frodos überschwängliches Verhalten, schien er doch noch vor wenigen Augenblicken völlig am Boden zerstört, was bei dem Gespräch der beiden Hobbits im Grünen Drachen auch nicht verwunderlich war. Nichtsdestotrotz war er erleichtert und hauchte einen Kuss in das dichte, dunkle Haar seines Neffen. "Ich freue mich auch, dich wieder hier zu haben!"
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Das Zimmer wurde nur vom Schein einer Kerze erhellt, als Frodo spät abends im Bett lag. Er betrachtete die tanzende Flamme und hing seinen Gedanken nach. Morgen war der 1. Winterfilth und er durfte bis zum nächsten Jahr bei Bilbo bleiben. Das waren drei Monate. So lange war er noch nie von zu Hause weg gewesen, erst recht nicht alleine. Er seufzte und ließ den Blick zu seinem Bild wandern. "Allein." Seine Stimme war nur ein Wispern. Eine einzelne Träne stahl sich aus seinen Augen. Von nun an würde er immer alleine sein. Frodo konnte Schritte hören. Bilbo tapste durch den Gang, war vermutlich ebenfalls auf dem Weg in sein Zimmer, das gleich neben seinem lag. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen, als er an den alten Hobbit dachte. Er war nicht ganz alleine. Bilbo würde bei ihm sein.
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Frodo ging den Stockweg entlang und sah staunend nach oben. Die bunten Blätter raschelten im Wind und die Kronen der Bäume schienen golden zu glitzern, als das Licht der Sonne sie berührte. Übermütig drehte er sich einmal um sich selbst und ließ sich dann in einen Laubhaufen fallen. Ein Rascheln hinter ihm ließ ihn aufblicken. Ein Eichhörnchen hatte die Nase in die Luft gestreckt und schnupperte, als es scheu auf Frodo zusprang. Erfreut kroch auch der junge Hobbit etwas näher, doch das erschreckte das Tier und es war blitzschnell auf einem der Bäume verschwunden. "Warte doch!" rief Frodo ihm hinterher und rannte zu dem Baum, auf den es geklettert war. Das Eichhörnchen saß auf einem der Äste und blickte neugierig herunter, hüpfte schließlich auf den nahe gelegenen Ast eines anderen Baumes. Frodo rannte ihm übermütig hinterher. "Lauf nicht zu weit weg, Frodo!" hörte er Bilbo rufen, doch der Junge hatte keine Zeit, um zu antworten. Stattdessen rannte er weiterhin dem Eichhörnchen hinterher, bis er es schließlich nicht mehr finden konnte.
Erfreut wandte er sich um, als er erneut ein Geräusch hinter sich vernahm und ging näher auf die raschelnden Büsche zu, in Erwartung auf ein weiteres Eichhörnchen. "Du bist schuld!" zischte jemand hinter den knorrigen Ästen des Strauches, was Frodo erschrocken zurückweichen ließ. Er kannte diese Stimme, voller Hass, Zorn und Verzweiflung, und er fürchtete sie. Er war zurück. Sein Ebenbild aus seinem Traum, das um ein Haar mit seinen Eltern ertrunken wäre, war wieder da. Die Kleider des Hobbits waren nass, seine Haare tropften und seine Lippen waren blau. Eisige Kälte starrte ihm aus seinen Augen entgegen. Frodo wollte schreien, als der andere plötzlich aufsprang und ihn am Kragen packte, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. "Du hast sie auf dem Gewissen, und dafür wirst du bezahlen müssen." Das Rascheln der Blätter verstummte. Frodo spürte, wie er gegen den Stamm eines Baumes gedrückt wurde, versuchte sich zu befreien. Er schrie auf, doch seine Stimme ging im Grollen der Donner unter. Regen peitschte auf ihn nieder, als er sich plötzlich an den Ufern des Brandyweins wieder fand, auf dem Hügel auf dem er schon einmal gestanden war und den schrecklichen Unfall mit angesehen hatte.
"Da war Wasser. So viel Wasser. Ich glaubte, ich würde ertrinken!" schluchzte er und schnappte dabei nach Luft, als wenn er dem Ertrinkungstod nur knapp entronnen wäre. Seine Hände krallten sich an ihrem Nachthemd fest, als hinge sein Leben davon ab. "Sh"; versuchte Primula ihn zu beruhigen, streichelte zärtlich über seinen Rücken und durch die schweißfeuchten Locken an seinem Nacken, wobei sie ihn sanft hin und her wiegte, wie sie es getan hatte, als er noch ein Kleinkind gewesen war und nicht einschlafen wollte. "Es war nur ein Traum."
"Ein Traum?!" Die abweisende Stimme des anderen Hobbits drang an sein Ohr, als Frodo sich seines Albtraums erinnerte. "Du hast es gewusst und du hast sie nicht gewarnt!" "Nein!" Frodo stieß sein Ebenbild von sich weg und vergrub das Gesicht in seinen Händen, doch der andere griff nach seinen Armen. Kalte Finger schlossen sich um seine Handgelenke. "Du hättest sie warnen können! Du bist an allem schuld!" Der Junge sah ihn mit einer Mischung aus Verzweiflung und Wut an. Sein kalter, stinkender Atem wehte Frodo ins Gesicht. Panik machte sich in ihm breit und er wollte fliehen, doch seine Knie gaben nach und er sank weinend zu Boden. "Nein, das ist nicht wahr!" schluchzte er immer wieder. "Das ist nicht wahr!"
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Frodo schreckte aus seinem Traum hoch, sah sich ängstlich um. Sein Herz raste, seine Hände zitterten und ein dünner Schweißfilm bedeckte seinen Körper. Er war dabei gewesen! Sein Ebenbild war dabei gewesen, als er mit Bilbo nach Beutelsend gegangen war. Er hatte ihn beobachtet, als er dem Eichhörnchen gefolgt war, er war dort gewesen! Ein kalter Schauer der Furcht lief ihm über den Rücken. Schnell griff er nach dem Bild seiner Eltern und drückte es an sich. "Er hat nicht Recht!" sagte er sich mit festem Tonfall. Seine Stimme zitterte, während er gegen die Tränen ankämpfte, die in ihm aufzusteigen drohten. "Er hat doch Unrecht?" Fragend blickte er auf das Bild, als hoffe er, von ihm eine Antwort zu erhalten.
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Frodo erzählte Bilbo nichts von seinem Traum, als sie am nächsten Morgen gemeinsam auf den Markt gingen. Auch widerstand er der Versuchung, den Markt auf eigene Faust zu erkunden und blieb die meiste Zeit an Bilbos Seite. Er hatte gehofft, auf Sam zu treffen, doch im Getümmel konnte er ihn nirgendwo entdecken. Zu seiner Freude war Hamfast Gamdschie im Graten beschäftigt, als sie gegen Mittag nach Hause kamen und Frodo fragte ihn sogleich nach Sam, woraufhin dieser ihm versicherte, seinen Sohn am Nachmittag vorbeizuschicken.
Frodo war dabei den Tisch abzuräumen, den Geschmack von Kraut und Würstchen noch auf der Zunge, als es an der Türe klopfte. "Ich mach auf!" rief er entzückt, während er in die Halle eilte, schmutzige Teller und Besteck bereits vergessen. Mit einem Ruck öffnete er die Tür und erblickte Sam, der mit einem unsicheren Grinsen im Gesicht auf der Schwelle stand und nervös mit seinen Fingern spielte. "Hallo, Frodo!" grüßte er schüchtern, wagte kaum, den älteren Jungen anzusehen. "Mein Ohm hat gemeint, du hättest nach mir gefragt?" Frodo grinste über das ganze Gesicht, erheitert von Sams Schüchternheit. Samweis machte häufig einen unsicheren Eindruck, wenn er bei ihm war, doch nie schien er so beunruhigt, als wenn er die Gartentür von Beutelsend durchschritt. Nichtsdestotrotz war Frodo glücklich, seinen Freund wieder zu sehen und umarmte ihn freudig zur Begrüßung, was den jüngeren Hobbit noch mehr zu überraschen schien. Einen Augenblick sah Frodo ihn verdutzt an, lächelte dann aber. "Ich habe mir gedacht, wir könnten den Nachmittag zusammen verbringen, wenn du Zeit hast." Mit einem Mal schien Sams Unsicherheit von ihm abzufallen und machte einem breiten Grinsen Platz. "Ich habe Zeit", erklärte er, "und wenn wir zum Markt hinuntergehen, treffen wir bestimmt auch die Hüttingers." Frodo war begeistert von dieser Idee und noch mehr von der Tatsache, dass sein Onkel dem Marktbesuch sofort zustimmte, auch wenn er versprechen musste, nicht zu spät zurückzukommen.
Bald darauf eilten die jungen Hobbits die Bühlstraße hinunter und hielten auf den Markt von Hobbingen zu. Es war angenehm warm für die Jahreszeit und kaum ein Wölkchen trübte den tiefblauen Himmel. "Mein Ohm meint, es wird Regen geben. Er sagt, er kann ihn riechen." Frodo sah Sam verdutzt an. "Den Regen riechen?" "Er kann das", beharrte Sam mit einem überzeugten Nicken. "Ich habe es schon oft erlebt, allerdings weiß ich nicht, wie er das macht." Darauf schien Frodo keine Antwort zu wissen, denn für eine lange Zeit ging er schweigend neben Sam her, bis diesem plötzlich auffiel, dass er die Nase in die Luft streckte und angestrengt schnupperte. "Was machst du da?", fragte er überrascht. Frodo warf ihm einen ahnungslosen Blick zu. "Ich versuche, den Regen zu riechen, aber ich rieche nichts", ein verschmitztes Lächeln huschte über seine Lippen, "nichts, außer den Pilzen von denen ich heute Morgen schon gekostet habe." "Ich glaube, du schnüffelst zu angestrengt", meinte Sam und versuchte sich daran zu erinnern, wie sein Ohm sich verhielt, wenn er glaubte, Regen zu riechen. Sein konzentrierter Gesichtsausdruck ließ Frodo in schallendes Gelächter ausbrechen. "Wenn du meinst! Komm jetzt, oder die Pilze sind alle weg ehe wir da sind."
Der Nachmittag verging schnell. Frodo und Sam trafen nicht nur die Hüttingers sondern auch viele der anderen jungen Hobbits. Gemeinsam durchstreiften sie den Markt, begutachteten einzelne Stände ein wenig genauer und genossen das schöne Wetter. Bald jedoch bedeckten dunkle Wolken den Himmel und es war gerade mal Zeit für den Vier-Uhr-Tee, als sie sich wieder auf den Heimweg machten. "Siehst du, mein Ohm hatte Recht!" meinte Sam stolz, ehe er sich von Frodo verabschiedete und den Beutelhaldenweg entlang eilte, um nicht vom Regen erwischt zu werden.
Frodo entkam den ersten Regentropfen nur knapp. Als er nach Beutelsend zurückkehrte, fand er Bilbo in seinem Arbeitszimmer über einem seiner vielen Bücher sitzend. Frodo sah sich staunend um. Bilbos Arbeitszimmer erschien ihm noch größer als Saradocs und war neben dem großen Schreibtisch, dem Kamin und zwei Kommoden auch mit vielen Bücherregalen ausgestattet, die Frodo mit großen Augen betrachtete. "Hast du alle Bücher gelesen?", fragte das Kind verblüfft. „Nicht alle, aber die meisten“, erklärte Bilbo lächelnd, wobei er sein Buch zuklappte und beobachtete, wie Frodo voller Staunen an den raumhohen Regalen vorüber lief. Eines der Fächer betrachtete er genauer, hielt Bilbo schließlich einen Stapel Karten entgegen. "Was ist das?" Mit gerunzelter Stirn nahm Bilbo die Karten an sich, betrachtete sie eingehend, während Frodo erwartungsvoll zu ihm aufsah. "Diese Karten habe ich aus Elronds Haus", erinnerte er sich. "Ich glaube, es gibt ein Spiel zu dem sie gebraucht werden, aber ich weiß nicht, wie es geht." "Darf ich sie haben?" Frodos Augen ruhten auf den Karten, als wären sie das Wertvollste, das er in Beutelsend hätte finden können und Bilbo reichte sie mit einem Lächeln an ihn zurück. "Natürlich, wenn du etwas mit ihnen anzufangen weißt, nimm sie." Mit strahlendem Gesicht rannte Frodo ins Wohnzimmer und setzte sich auf einen Stuhl. Die Karten breitete er vor sich auf dem Tisch aus. Sie waren weiß und auf jeder war ein anderes Muster eingezeichnet. Feine Linien, wie mit Gold gemalt, zierten ihre Rücken und Frodo strich behutsam über die feinen Wölbungen. Sie schienen nicht hinaufgemalt, sondern hineingestanzt, doch er erkannte keine Spuren, die ihre Machart preisgegeben hätten. Bilbo war ihm ins Wohnzimmer gefolgt, hatte einen frischen Scheit ins Feuer gelegt und sich vor dem Kamin niedergelassen. Frodo nahm ihn jedoch kaum wahr. Selbst der Regen, der gegen die Fensterscheibe prasselte, ließ ihn völlig unbeeindruckt. Er hatte nur mehr Augen für die besonderen Karten und tastete behutsam deren Ränder ab. Sie schienen stabil genug, um ein Kartenhäuschen zu bauen. Vorsichtig nahm er zwei Karten in die Hände und stellte sie auf. Seine Augen glänzten, als das erste Häuschen stehen blieb. Schnell baute er eine Schutzwand aus anderen Karten darum, bevor er sich behutsam an das nächste Häuschen machte. Karte um Karte, Häuschen um Häuschen, baute er übereinander auf, bis er schließlich auf den Stuhl stehen musste, um die letzten beiden Karten darauf zu setzen. Er wagte kaum zu atmen und erstarrte in seiner Bewegung, als der Turm gefährlich ins Wanken geriet. Voller Stolz präsentierte er dann sein Kunstwerk, während er möglichst behutsam vom Stuhl kletterte, in der Hoffnung, keinen Luftzug zu erzeugen, der das Kartenhaus in sich hätte zusammenstürzen lassen.
"Ein weißer Turm", murmelte Bilbo, der an ihn herangetreten war und die Karten mit einem verträumten Blick betrachtete. "So weiß, wie die Weißen Türme im Westen." Verblüfft sah Frodo zu ihm auf. "Die Weißen Türme im Westen?" "Es sind Türme der Elben", erklärte Bilbo. "Es heißt, man sehe das Meer von ihrer Spitze, doch ob dem wirklich so ist, kann ich dir nicht sagen. ich war noch nie dort, auch wenn ich die Türme schon gesehen habe." Frodos Augen glänzten, als Bilbo die Elben erwähnte und ein Lächeln zeigte sich in seinen Zügen. Er wollte noch viel mehr darüber erfahren und war erfreut, als Bilbo auch ohne sein Bitten weiter sprach. "Wenn du von dort noch weiter nach Westen gehst, erreichst du die Anfurten. Es heißt, dies sei der Ort von dem aus die Elben nach Valinor reisen." "Valinor?", fragte Frodo, der mit jedem Wort, das Bilbos Lippen verließ, mehr ins Staunen geriet. "Wo ist das? Ich habe den Namen noch nie gehört." "Natürlich, nicht. Wie solltest du auch?" Bilbo lachte und wuschelte ihm durch die Haare. "Kaum ein Hobbit weiß von den Weißen Türmen, geschweige denn von Valinor. In Elronds Haus habe ich davon erfahren. Ich habe Sagen der Elben gehört und in beinahe jeder davon fiel auch einmal das Wort Valinor. Aman, wie es auch genannt wird, ist ein Land weit im Westen dieser Welt. Ein Land voller Segen und Freude. Dort, auf einem sehr hohen Berg, dem Taniquetil, lebt Manwe mit seiner Frau Varda. Du hast vielleicht schon einmal den Namen Elbereth gehört, mein Junge." Frodo schüttelte den Kopf und Bilbo legte einen Arm um seine Schultern, doch sein Blick blieb verträumt in die Ferne gerichtet. "Nun, Elbereth war es, die die Sterne schuf." Frodo sah mit großen Augen zu seinem Onkel auf. Sie hatte die Sterne geschaffen. Dieselben Sterne zu denen er aufblicken sollte, wenn er traurig war. Seufzend senkte Frodo den Kopf und gedachte seiner Eltern, ehe er erneut fragend zu Bilbo aufblickte. "Können wir später noch einmal nach draußen gehen?" Sein Onkel schenkte ihm ein Lächeln. "Nur, wenn es zu regnen aufhört, sonst würdest du die Sterne ohnehin nicht sehen." Frodo runzelte die Stirn, blickte einen Augenblick verwirrt zu seinem Onkel auf. Woher wusste er, dass er die Sterne sehen wollte? Schulter zuckend wandte er sich schließlich wieder seinem Turm zu, vermutend, dass er Bilbo bereits von seiner Liebe zu den Sternen erzählt hatte, schließlich war diese nicht erst seit seinem Traum erwacht, auch wenn die Worte seiner Mutter, den Wunsch zu den Sternen zu blicken, verstärkt hatten. Er zögerte einen Augenblick, bis er die Frage stellte, die ihn beschäftigte. "Wie hat Elbereth die Sterne geschaffen?" Bilbo wusste, dass die Sterne Frodo schon immer fasziniert hatten, und war gerne bereit, sein Wissen an ihn weiterzureichen. "Elbereth hat sie für die Erstgeborenen, die Elben, geschaffen, mein Junge. Sie schuf sie aus dem Silbertau Telperions, einem der großen Bäume. Seither erleuchten sie jede Nacht diese Welt und jeder, der unter den Sternen wandert, wird von Elbereth beschützt."
Frodo blickte ehrfürchtig auf seinen Turm und murmelte kaum hörbar den Namen Elbereth. Inzwischen war es Abend geworden und kein Licht drang durch das südliche Fenster. Das Zimmer wurde nur mehr vom flackernden Schein des Feuers erhellt. Ein sanfter, roter Schimmer wurde von den Karten reflektiert, ließ den Turm dunkel und bedrohlich wirken. "Elbereth", murmelte Frodo noch einmal. Ein Fenster wurde aufgestoßen und pfeifend blies der Wind ins Zimmer. Kalte Luft strich über Frodos Wangen, brachte sein Haar zum Wehen. Starr blickte er auf den dunklen Turm vor sich, als dieser langsam in sich zusammenfiel. Frodo fröstelte, unfähig, den Blick von den einstürzenden Karten zu nehmen. Der Wind pfiff schrill in seinen Ohren und er konnte den Regen prasseln hören, während kalte Luft über seinen Nacken strich, bis sich die feinen Härchen aufrichteten und ein erneutes Zittern ihn durchlief. "Frodo?" Aus weiter Ferne hörte er jemanden rufen. "Frodo? Komm, machen wir uns etwas zu Essen!" Überrascht wandte Frodo sich um. Bilbo hatte das Fenster geschlossen und war nun auf dem Weg in die Küche. Verwirrt runzelte er die Stirn und warf einen letzten Blick auf das zusammengefallene Kartenhaus, ehe er seinem Onkel mit knurrendem Magen folgte.
Der Regen hatte aufgehört und die Wolken sich verzogen. Bilbo wollte nur ungern nach draußen, denn auch die Bank vor der Höhle war vom Regen nicht unverschont geblieben, doch Frodo zuliebe nahm er einen alten Umhang und legte ihn auf das feuchte Holz, auf dass ihnen der Anblick der Sterne nicht verwehrt blieb. Er stopfte sich eine Pfeife, während Frodo die Beine von der Bank baumeln ließ und verträumt gen Himmel blickte. Es war ein überraschend klarer Abend, auch wenn der Regen herbstliche Kälte mit sich gebracht hatte. Bilbo nahm einen kräftigen Zug des Krautes und ließ einen Rauchring über den Bühl ziehen. Lange Zeit sagte keiner ein Wort und Frodo war es, der die Stille schließlich brach. "Bilbo?" "Ja?", er blickte fragend zu seinem Neffen, der den Blick nun nach unten gerichtet hatte. Frodo hielt sich mit den Händen am feuchten Holz der Bank fest. Sollte er sich ihm anvertrauen? Sollte er ihm erzählen, was ihn belastete? Unruhig rutschte er hin und her. Fastred hatte gesagt, es wäre besser, doch konnte er das wirklich tun? Konnte er über seine Ängste sprechen? Seine Fragen wurden mit einem Nein beantwortet, doch dieses Nein sollte nicht für immer bestehen, nur vorübergehend. Jetzt war es noch zu früh. Frodo selbst war noch nicht bereit dazu, jemanden an einen Gedanken teilhaben zu lassen, doch der Tag würde kommen. "Ach, nichts", sagte Frodo schließlich knapp und richtete seinen Blick wieder auf die Sterne und Bilbo tat es ihm gleich.
~*~*~
Frodo saß auf einer Eckbank im Grünen Drachen, an einem der hintersten Tische. Nur wenige Lampen tauchten die große Gaststube in schummeriges Licht. Der Geruch von Pfeifenkraut, Bier und gebratenem Speck drang Frodo in die Nase, doch schien er nun sehr viel konzentrierter, als noch bei seinem letzten Besuch und der junge Hobbit war bemüht, so wenig wie möglich davon einzuatmen.
"Ertrunken sagst du?" "Ja ja, ich habe es immer gewusst. Diese Bockländer sind komisches Volk. Hobbits sollten sich nicht für Boote interessieren. Der Herr Drogo hätte niemals eine von da drüben heiraten dürfen. Das führt zu einem schlimmen Ende, das habe ich immer gewusst."
Frodo wandte sich um, als er die Stimmen hörte. Wut und Traurigkeit gleichermaßen stiegen in ihm empor. Wie konnten sie es wagen, so von seinen Eltern zu sprechen? "Sie geben die Schuld meiner Mutter, aber sie ist es nicht, die die Schuld dafür trägt." Erschrocken erkannte Frodo, dass sein Ebenbild neben ihm saß und voller Hass auf ihn herabblickte. Die nassen Locken hingen ihm ins Gesicht, die Kleider klebten an seinem Körper. Frodo zog erschrocken die Hand zurück, als ein Wassertropfen seine Finger umschloss. "Du bist schuld!" fauchte der andere, ließ Frodo unwillkürlich zurückweichen. Die unbeschreibbare Angst, die ihn in der Gegenwart seines jüngeren Ichs immer heimsuchte, ergriff erneut Besitz von ihm. "Nein, das bin ich nicht!" platzte es aus Frodo heraus, während er so schnell es ihm möglich war, hinter der Eckbank hervorrutschte. Doch der Andere war schneller, ergriff sein Handgelenk. "Was denkst du denn, weshalb sie so spät noch auf den Fluss hinaus fuhren? Sie wollten dich nicht bei sich haben. Wärest du nicht gewesen, hätten sie an diesem Abend das Brandyschloss gar nicht verlassen!" Entsetzt starrte Frodo in die kalten, blauen Augen, unwillig, den Worten des Anderen Glauben zu schenken. Doch was, wenn er Recht hatte? Verzweifelt wandte er den Blick ab und starrte zu Boden. Waren sie wirklich nur seinetwegen weggegangen? War er tatsächlich schuld an dem, was geschehen war? Es durfte nicht sein. Es konnte nicht sein. Doch die Worte beinhalteten eine schreckliche Wahrheit und ein Zittern durchlief Frodo, als Tränen in ihm aufstiegen. "Lass mich in Ruhe!" jammerte er, doch der Andere zeigte kein Erbarmen, blickte voller Hass auf das Häufchen Elend, das zusammengekauert auf der Eckbank saß und mit seinen Tränen kämpfte. "Du hast es nicht verdient, dass ich dich in Ruhe lasse!" zischte der durchnässte Hobbit. "Du sollst leiden, genau wie sie gelitten haben, genau wie ich jetzt leide!" Der Griff um seine Handgelenke verstärkte sich noch, als Frodo plötzlich mit einem Ruck zurück in die Ecke gerissen wurden.
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Schweißgebadet schreckte Frodo aus seinem Traum. Ängstlich blickte er sich im Zimmer um, griff dann keuchend nach der Bettdecke, wickelte sie um seine Schultern und sprang zum Schreibtisch unter dem Fenster. Dort kauerte er sich auf dem Stuhl zusammen und blickte verzweifelt zu den Sternen auf, die blass am nächtlichen Firmament leuchteten. "Lass ihn weggehen, Elbereth!" flüsterte er mit Tränen der Angst in den Augen. "Bitte, er soll mich in Ruhe lassen!"
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Als Frodo am nächsten Morgen aufwachte, ruhte sein Kopf auf seinen verschränkten Armen auf dem Schreibtisch. Sein Nacken schmerzte, als er müde den Kopf hob. Er hatte nicht geträumt, auch wenn die Erinnerung an seinen früheren Traum ihm einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Weshalb wurde er verfolgt? Bevor Frodo weiter darüber nachdenken konnte, klopfte es an der Tür und Bilbo kam herein. "Guten Morgen, Frodo, mein Junge! Oder sollte ich besser sagen, einen schönen Mittag? Du hast sowohl das erste, als auch das zweite Frühstück verpasst und wenn du noch lange hier sitzt wird wohl auch der Elf-Uhr-Imbiss ausfallen." Bilbo zwinkerte ihm zu, als Frodo überrascht aus dem Fenster sah. Die Sonne stand schon hoch über den Wolken. "Samweis hat bereits nach dir gefragt. Er war sehr überrascht, als er erfuhr, dass du noch schläfst."
Frodo verlor keine weitere Minute, schlüpfte in sein Hemd und ein Paar Hosen und verließ die Höhle gleich nach einem anständigen Frühstück. Sam verbrachte auch diesen Tag mit ihm. Der jüngere Hobbit führte ihn in ganz Hobbingen herum stellte ihm alles und jeden vor, auch wenn Frodo sich kaum an die vielen Gesichter und neuen Eindrücker erinnern konnte. Sein Albraum und der leichte Schlaf der letzten Nacht, ließen ihn den ganzen Tag über gähnend durch die Straßen gehen und als er zum Abendessen nach Beutelsend zurückkehrte, war er mindestens genauso müde, als wenn er in der vergangenen Nacht überhaupt nicht geschlafen hätte. Besorgt legte Bilbo eine prüfende Hand auf seine Stirn, als er ihn zu Bett brachte. "Ich hoffe, du wirst nicht krank. Du scheinst mir sehr müde zu sein. Fühlst du dich nicht gut?" Frodo schüttelte den Kopf. "Ich habe in der letzten Nacht nur etwas schlecht geschlafen." Bilbo lächelte, doch die Besorgnis wich nicht aus seiner Stimme. "Dann hoffe ich, dass diese Nacht besseren Schlaf bringt, als die vergangene." "Das hoffe ich auch", antwortete Frodo und dachte stirnrunzelnd an seinen Traum.
~*~*~
Frodo saß auf der Bank vor Beutelsend und betrachtete die Sterne. Es war eine angenehme Nacht, doch als ein frischer Wind aufzog, fröstelte er und griff nach dem Umhang, der neben ihm lag. Diesen ließ er jedoch sofort wieder los, sprang stattdessen mit einem entsetzten Aufschrei von der Bank, als die Person, die den Umhang trug, ihn mit einem lauten "Fass mich nicht an!" zurechtwies. Mit weit aufgerissenen Augen und klopfendem Herzen betrachtete Frodo den durchnässten Hobbit, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. "Du hast geglaubt, du könntest dich hier vor mir verstecken, nicht wahr?" Der Andere lachte und sein Gesicht verzog sich zu einer schrecklichen Grimasse. "Nein, Frodo, so einfach mache ich es dir nicht. So leicht wirst du mich nicht wieder los!" Hasserfüllt blitzten die kalten Augen ihn an und Frodo erschauderte. Plötzliche Furcht ergriff ihn, als sein Ebenbild sich von der Bank gleiten ließ. Erst wich er nur zurück, als die unheimliche Gestalt näher kam, doch dann breitete sich Panik in ihm aus und er rannte verschreckt in die Hobbithöhle, um sich unter seiner Bettdecke zu verkriechen. Hier konnte ihm nichts passieren. In seinem Bett war er sicher, denn wenn nicht hier, wo sonst? "Er soll weggehen!" flüsterte er mit zitternder Stimme. "Er soll weggehen!" Jemand kratzte an seiner Tür. Das Geräusch alleine trieb Frodo den Angstschweiß auf die Stirn und er kauerte sich zitternd zusammen. Er würde kommen und ihn holen. "Du hast sie umgebracht und dafür musst du bezahlen!" krächzte die nun allzu bekannte, raue Stimme. Frodo presste die Augen zusammen. "Er soll weg gehen!" flehte er noch einmal und seine Stimme war kaum mehr, als ein Wispern. Knarrend öffnete sich die Tür zu seinem Zimmer und Frodo konnte das leise Platschen nasser Hobbitfüße hören. Er war hier nicht sicher. Panisch schlug er die Decke zurück und schrie auf, als er in die kalten, blauen Augen des Anderen blickte.
~*~*~
Frodo saß auf seinem Bett, die Decke fest umklammert. Zitternd und mit vor Angst geweiteten Augen starrte er zur Tür. "Es war ein Traum", versuchte er sich zu beruhigen. "Er ist nicht hier." Langsam kletterte er aus seinem Bett, beobachtete misstrauisch den schwachen, gelben Lichtschein unter der Tür. Kein Knarren, kein Kratzen war zu hören. Sein Herz raste, pochte laut in seinen Ohren, als er zögernd auf Tür zuging. Das Feuer im Kamin war ausgegangen und nur mehr die schwach schimmernde Glut spendete ihm Licht. Er schluckte schwer, bevor er langsam und mit zitternden Fingern nach dem Knauf tastete und ihn vorsichtig drehte. Die Scharniere quietschten und Frodo erstarrte in seiner Bewegung, führte sie dann aber dennoch zu Ende. Zögernd spähte er hinaus. Nichts. Niemand. Er war alleine. Keiner lauerte ihm auf. Keiner.
Ein Balken knarrte. Frodo konnte sich nicht einmal umwenden, als er schon entsetzt aufschrie. Er brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, wer dort auf ihn lauerte und er wollte weglaufen, doch sein ganzer Körper schien erstarrt. Ängstlich kniff er die Augen zusammen und verkrampfte sich, wartete verzweifelt auf ein Schicksal, das nun unweigerlich auf ihn hereinbrechen würde.
Bilbo schreckte aus seinen Träumen, als er Frodo schreien hörte, sprang eiligst aus seinem Bett. Er hatte keine Kinder, doch er wusste, Frodos Schrei war kein gewöhnlicher. Etwas Schreckliches war geschehen und in Gedanken sah er seinen Neffen bereits schwer verletzt in seinem Zimmer liegen. Mirabella würde es ihm nie verzeihen, wenn dem Jungen etwas geschah. Das Schlimmste befürchtend, war Bilbo beinahe überrascht, Frodo zitternd in seiner Zimmertür stehen zu sehen, erkannte jedoch sofort, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. "Frodo, mein Junge, was ist geschehen? Was ist mit dir?" Er kniete vor dem Jungen nieder, griff nach seinen Schultern und schreckte beinahe zurück vor der Spannung, die er unter seinen Fingern spürte. Jeder einzelne Muskel schien bis aufs Äußerste angespannt. Frodos ganzer Körper schien aus Stein und Bilbo schüttelte seinen Neffen voller Besorgnis und Schrecken, in der Hoffnung, er möge aus seiner Erstarrung erwachen. "Sieh mich an, Frodo!" bat er verzweifelt. "Schau mir in die Augen. Ich bin es, Bilbo!" Nur langsam, beinahe zögernd öffneten sich die Lider, bis die blauen Augen, die darunter verborgen lagen, wieder zum Vorschein kamen. Furcht war in ihnen zu lesen, so rein und deutlich, dass Bilbo es selbst mit der Angst zu tun bekam. Was hatte der Junge gesehen, das ihn so sehr erschreckte? Frodo rührte sich noch immer nicht, sah ihn wie versteinert an. Tränen stiegen ihm in die Augen, quollen über und liefen über seine Wangen wie kleine Rinnsale, bis er plötzlich in sich zusammenbrach und zu Boden sank. Bilbo konnte ihn gerade noch rechtzeitig auffangen und trug ihn vorsichtig in sein Bett.
Erst dort schien Frodo wieder zu sich zu kommen. Er wehrte sich gegen Bilbo, blickte sich panisch im Zimmer um, während er wild um sich schlug. "Er ist hier! Er weiß, wo ich bin! Ich bin schuld! Er wird mich dafür bezahlen lassen! Ich bin schuld!" Seine Stimme klang beinahe hysterisch und Bilbo hatte Mühe, ihn zu beruhigen. "Es ist niemand hier, Frodo. Es war ein Traum", wisperte er und hielt den Jungen fest, auch wenn dieser sich gegen die Berührung sträubte. "Du hast geträumt." Nur langsam entspannte sich Frodo, hörte schließlich auf, sich zu wehren und ließ sich bitterlich weinend in Bilbos Arme sinken. Bilbo drückte den zitternden Jungen an sich, strich ihm beruhigend über den Rücken. Er hatte selbst mit den Tränen zu kämpfen ob der Verzweiflung seines Neffen. Der Schrecken vor dem, was eben geschehen war, saß ihm in den Knochen, machte ihn zittern. Doch was war eigentlich geschehen? Zärtlich drückte er den Jungen an sich, fragte ihn genau das. Frodo blickte furchtsam zu ihm auf, unfähig, seine Angst zu vergessen. "Er war hier", flüsterte er, als hoffe er, von niemandem außer Bilbo gehört zu werden. Ängstlich drückte er sich an Bilbos Brust, verkroch sich förmlich im Leinennachthemd des alten Hobbits. "Es war kein Traum. Er verfolgt mich", er stockte, blickte Hilfe suchend zu seinem Onkel auf. "Ich bin mir sicher, dass er hier war." "Wer war hier?", fragte Bilbo besorgt. Ein Zittern durchlief den kleinen Körper und Frodo kauerte sich zusammen. Seine Stimme war noch leiser als zuvor. "Der andere Hobbit. Er sieht aus wie ich. Er verfolgt mich. Er sagt, ich hätte sie umgebracht. Ich wäre schuld an allem. Er sagt, ich muss dafür bezahlen." Frische Tränen quollen aus seinen Augenwinkeln und Frodo vergrub das Gesicht in Bilbos Nachthemd, während er sich verzweifelt an dem leinenen Stoff festklammerte. Frodos Worte brannten sich in Bilbos Herz, als ihm die schrecklichen Schuldgefühle seines Schützlings bewusst wurden. Voller Mitgefühl hielt er den Jungen fest umklammert. "Du hast keine Schuld. Niemand ist schuld daran. Keiner konnte so etwas ahnen. Du bist der Letzte, der Schuld daran hat und es wird auch nie jemand auf die Idee kommen, dir die Schuld dafür zu geben." "Aber er hat gesagt, ich hätte sie dazu getrieben. Sie sind nur so spät noch weggegangen, weil das die einzige Zeit war, wo ich ihnen nicht im Weg war", beharrte Frodo hilflos schluchzend. "Du bist niemandem im Weg, Frodo." Bilbo legte seine Hände auf die feuchten Wangen des Jungen, zwang ihn sanft, ihn anzusehen. "Natürlich brauchten deine Eltern auch Zeit für sich, aber das heißt noch lange nicht, dass du ihnen im Weg warst. Willst du nicht auch manchmal einfach nur alleine sein?" Frodo nickte traurig, doch seine Tränen wollten nicht versiegen und als Bilbo von seinen Wangen abließ, ließ er seinen Kopf wieder in den Schoß seines Onkels sinken. Auch wenn er nicht sicher war, ob er Bilbos Worten Glauben schenken konnte, fühlte er sich seltsam beruhigt, als er den Duft von Pfeifenkraut und Tinte einatmete, jene Gerüche, die seinen Onkel ausmachten. Der alte Hobbit wiegte ihn sanft hin und her und Frodo spürte, wie die Angst von ihm abließ und er schläfrig wurde. Es tat wohl, getröstet zu werden. Als er beruhigt die Augen schloss, erinnerte er sich plötzlich an einen Gedanken, der ihn vor gar nicht so langer Zeit beschäftigt hatte. Niemand würde ihn jemals wieder so trösten, wie seine Mutter es getan hatte. Dennoch umgab ihn bei Bilbo beinahe das gleiche warme Gefühl der Geborgenheit und Frodo fragte sich, ob er sich ihm doch hätte anvertrauen sollen, als sie vor zwei Tagen die Sterne betrachtet hatten. Doch auch dieses Mal lautete seine Antwort ‚nein', auch wenn ein Teil von ihm ein leises ‚noch nicht' hinzufügte.
Ein Gähnen von Bilbo, ließ Frodo aus seinem halbschlafartigen Zustand erwachen. Er wischte sich eine Träne weg und sah zu seinem Onkel auf. "Du siehst müde aus", sagte er mit ernstem Ton. "Du solltest schlafen gehen." Ein Lächeln huschte über Bilbos Lippen. "Ich sollte schlafen?", fragte er. "Und was ist mit dir?" Frodo blickte zu Boden. "Ich sollte das vermutlich auch." Bilbo nickte, strich ihm zärtlich durch die Haare. "Kommst du denn alleine zurecht oder soll ich bei dir bleiben?" "Ich komme zurecht", meinte Frodo und küsste Bilbo zum Abschied auf die Wange, ehe er sich wieder in sein Bett kuschelte und beobachtete, wie sein Onkel die Kerze ausblies und leise das Zimmer verließ.
~*~*~
Bilbo war schon lange gegangen, als Frodo noch immer wach in seinem Bett lag. In der Dunkelheit starrte er zur Decke, versuchte krampfhaft, die Augen offen zu halten, aus Angst, er könne wieder einschlafen. Seine Finger krallten sich an der Bettdecke fest und er lauschte angespannt auf jedes Geräusch. Warum hatte er Bilbo gehen lassen? Sein Onkel hatte ihm sogar angeboten hier zu bleiben, er hätte ihn nicht einmal darum bitten müssen. Doch nun war er fort und Frodo wünschte sich nichts mehr, als Bilbo wieder bei sich zu haben, doch dieser war inzwischen bestimmt schon lange eingeschlafen. Diese Nacht musste er alleine durchstehen. Seine Lider wurden schwer und schließlich fielen ihm die Augen zu. Erschrocken riss Frodo sie wieder auf. Er durfte nicht einschlafen. Bilbo hatte zwar gesagt, dass sein Ebenbild Unrecht hatte, doch was sollte er tun, wenn der Hobbit aus seinem Traum zurückkehrte? Frodo erschauderte. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals und seine Finger gruben sich noch fester in die weiche Daunendecke. Er konnte diese Nacht nicht alleine verbringen.
Vorsichtig kletterte er aus seinem Bett und schlich zur Tür. Seine Augen wanderten unsicher von einer Seite zur anderen, als er in den Gang hinausspähte und sich in der spärlich beleuchteten Halle umsah. Bilbo hatte fast alle Lampen gelöscht und im schwachen Licht beschlich Frodo ein mulmiges Gefühl. All seinen Mut zusammennehmend, holte er tief Luft und eilte zu Bilbos Zimmertüre, die er leise öffnete. Der alte Hobbit schlief tief und fest und Frodo konnte sein leises Schnarchen hören. Er lächelte kurz, doch dann huschte ein trauriger Ausdruck über seine Züge. Sein Vater hatte auch manchmal geschnarcht. Frodo zögerte, unsicher, ob er sein Vorhaben umsetzen sollte. Lange Zeit beobachtete er den schlafenden Hobbit, ehe er es schließlich wagte, sich an das Bett zu schleichen und sich nach erneutem Zögern, neben seinem Onkel unter die Decke zu kuscheln. Zwar lag er auf der anderen Seite des Bettes, doch Bilbo bei sich zu wissen, beruhigte ihn. Leise seufzend schloss er die Augen und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Bilbo lächelte, als er spürte, wie Frodo neben ihm ins Bett kroch. Er hatte geahnt, dass er diese Nacht lieber hätte bei ihm bleiben sollen und schimpfte sich, dass er dies nicht auch getan hatte. Doch er war beruhigt, dass der Junge zu ihm gekommen und nicht alleine geblieben war. Er rutschte etwas näher an den kleinen Körper heran und legte zufrieden einen Arm um seinen schlafenden Schützling.
Kapitel 14: Elben und Zauberer
Frodo war nun schon viele Wochen bei Bilbo und die Tage wurden kürzer. Die langen Abende verbrachte er meist mit seinem Onkel am Kamin, blätterte in einem der vielen Bücher, spielte mit Karten, oder ließ sich von Bilbo eine Geschichte erzählen. Am liebsten hörte er von großen Abenteuern, seien es nun die von Túrin oder Bilbos eigene Geschichte mit dem Drachen, oder von Elben. Sein Onkel hatte ihm sogar angeboten, ihn einige Begriffe zu lehren und Frodo war von dieser Idee sehr angetan. Noch ehe Bilbo die Zeit fand, ihm die ersten Worte beizubringen, wollte er schon das erste, und für ihn wichtigste Wort wissen: elin, die Sterne. Zu ihnen hatte Frodo an jedem klaren Abend aufgeblickt, ehe er zu Bett gegangen war, und hatte schweigend seiner Eltern gedacht. Noch lange hatte ihn die Furcht vor weiteren Albträumen verfolgt, doch diese kehrten nicht wieder. War er dennoch nachts aufgewacht, oder hatte durch Regen keinen Schlaf finden können, hatte er sich in Bilbos Zimmer geschlichen, wo er sich beruhigt an seinen Onkel gekuschelt hatte.
"Waren die Elben im Düsterwald böse?", fragte Frodo und blickte mit großen Augen zu Bilbo auf. Der alte Hobbit saß mit einer Pfeife in der Hand in seinem Sessel vor dem Kamin und Frodo saß mit verschränkten Beinen zu seinen Füßen. Der Duft von Pfeifenkraut und Apfelholz hing in der Luft und das Feuer im Kamin knisterte. "Elben sind nicht böse, mein Junge", lachte Bilbo und paffte verträumt an seiner Pfeife. "Aber sie waren misstrauisch und du musst bedenken, dass Elben sich nicht sehr gut mit den Zwergen verstehen. Aber letzten Endes hat sich alles zum Guten gewandt und König Thranduil hätte mich und Gandalf in seinen Palast eingeladen, doch wir wollten nicht mehr durch die gefährlichen Wege des Düsterwaldes. Wer weiß, was die Spinnen mit mir gemacht hätten, wenn sie mich erwischt hätten." Er zwinkerte und ein Lächeln huschte über Frodos Lippen. Wie gebannt hatte der Junge seinen Worten gelauscht, als sein Blick nun auf das glänzende Schwert über dem Kamin fiel. "Das ist Stich. Die Elben haben es geschmiedet. Die Klinge schimmert blau, wenn Orks in der Nähe sind", erklärte Bilbo. Frodo sah ihn mit großen Augen an, ein verblüfftes und ebenso neugieriges Funkeln im Blick. "Die selben Elben, denen du begegnet bist?" "Nein, das waren andere", sagte Bilbo kopfschüttelnd. "Dieses Schwert ist alt, Frodo, viel älter als du vielleicht denkst." "Wie alt?", fragte der junge Hobbit, ohne den Blick von der schimmernden Klinge zu nehmen. Bilbo zuckte mit den Schultern. "Ich vermute, es hat schon viele hundert Jahre in den Höhlen der Trolle gelegen, allerdings glaube ich, dass nicht einmal Gandalf weiß, wie alt es wirklich ist." "Weiß Gandalf viele Dinge?" Der Wissensdurst des jungen Hobbits schien unerschöpflich, auch wenn seine Aufmerksamkeit noch immer mehr dem Schwert, als dem Erzähler galt. Bilbo grinste in sich hinein. "Gandalf weiß vieles, mein Junge, und sein Feuerwerk ist das Schönste, das ich jemals gesehen habe." Ein verträumter Ausdruck huschte über seine Züge. "Es stieg auf wie Goldregen und hing den ganzen Abend am Himmel. Mein Großvater, der Alte Tuk, ließ jedes Jahr zur Sommersonnenwende eines abbrennen."
Frodo genoss diesen Abend. Er liebte es, sich mit Bilbo zu unterhalten und seine Gedanken wandern zu lassen. Sie hatten die kalte Winterluft ausgesperrt und waren gleich nach dem Abendessen an den Kamin gesessen. Bilbo hatte sich ein Glas Wein gegönnt, während Frodo sich mit einer Tasse Milch mit Honig und einigen Keksen zur Nachspeise zufrieden gegeben hatte. Meist saß Frodo mit dem Rücken zum Kamin, doch heute hatte er sich an Bilbos Beine gelehnt und sich von ihm durch die Haare streichen lassen, bis dieser angefangen hatte, von seinem eigenen, großen Abenteuer vor vielen Jahren zu erzählen. Da hatte Frodo sich schließlich umgewandt, sodass das Feuer seinen Rücken wärmen konnte, denn er wollte sehen, wie sich die Erlebnisse in Bilbos Augen widerspiegelten und kein Lächeln verpassen, dass alte Erinnerungen hervorriefen. Frodo hatte noch nie ein Feuerwerk gesehen, doch Bilbos Worte halfen ihm, sich eines vorzustellen. Er schloss die Augen und plötzlich tanzten bunte Lichter hinter seinen Lidern. Mit einem lauten Knall sprühten Funken in alle Richtungen und ihre farbenfrohe Pracht erhellte den Nachthimmel. "Ich frage mich, wo er jetzt ist", hörte er Bilbo murmeln und schlug neugierig die Augen auf. "Wahrscheinlich auf einer seiner vielen Reisen." "Glaubst du, er erlebt gerade ein Abenteuer?", wollte Frodo wissen und erschrak fast, als sein Onkel aus seinen Gedanken schreckte. "Ich glaube, Gandalf erlebt nicht nur eines, Gandalf ist ein Abenteuer", sagte Bilbo und seine Stimme sprach von absoluter Sicherheit. "Wo immer er auftaucht, wirst du etwas erleben. Misch dich niemals in die Angelegenheiten von Zauberern ein, mein Junge, denn sie sind schwierig und rasch erzürnt." Voller Verwunderung blickte Frodo zu seinem Onkel auf, zog dann fragend eine Augenbraue hoch. "Hast du dich nicht auch in seine Angelegenheiten eingemischt?" Bilbo bedachte ihn mit einem schiefen Blick. "Gandalf hat mich zu einer seiner Angelegenheiten gemacht, mein Junge." Frodo kicherte über die rasche Antwort, ließ seinen Blick dann wieder zu Stich gleiten, während er sich eine weitere Frage überlegte. Der Abend war schon weit fortgeschritten und er hoffte, Bilbo dazu bringen zu können, eine weitere Geschichte zu erzählen, denn er wollte noch nicht schlafen gehen. Gerade wollte er den Mund aufmachen, als sein Onkel die Pfeife weglegte und seine Beine ausstreckte. "So viele Fragen müssen doch müde machen", stellte er fest. "Denkst du nicht, wir sollten unser Gespräch über Zauberer und Elben morgen fortsetzen?" Frodo seufzte. Es war ausgesprochen schwer, Bilbo von der Zubettgehzeit abzulenken. Während seines ganzen Besuches, hatte er es bisher nur einmal geschafft, ihn zu einer zusätzlichen Geschichte zu überreden. Dennoch warf er ein weiteres Argument in den Raum, das ihn seinem Ziel näher bringen sollte. "Ich bin aber noch gar nicht müde!" "Du wirst müde sein, wenn du in deinem Bett liegst", erwiderte Bilbo mit einem Lächeln und Frodo senkte enttäuscht den Kopf, hoffend, dass er am nächsten Abend mehr Glück hatte.
Es klopfte an der Tür und der junge Hobbit nutzte die Gelegenheit sofort, um den Gang in sein Zimmer zu verzögern. "Ich mach auf!" rief er und war schon zur Tür gesprungen, noch ehe Bilbo sich aus seinem Sessel erhoben hatte. Dieser schüttelte lächelnd den Kopf und lauschte, ob Frodo seine Hilfe dennoch benötigte. "Hat Sam seinen Mantel hier vergessen?", hörte er den Jungen nach einigem Gemurmel rufen. "Halfred meint, er hätte ihn heute Nachmittag liegengelassen." Bilbo sah sich im Zimmer um und erblickte Sams Jacke auf der Bank unter dem Fenster, wo sie achtlos in die Ecke geschmissen worden war. Er schüttelte den Kopf, klopfte den Staub von der Jacke und ging damit in die Halle hinaus. Halfred war einer von Sams älteren Brüdern und seinem Vater noch mehr aus dem Gesicht geschnitten, als Hamsen, der älteste Sohn der Gamdschies. Krauses, ockerbraunes Haar hing ihm wirr in die Stirn, als Bilbo den Mantel zurückreichte und ihm eine gute Nacht wünschte Kaum hatte er die Tür geschlossen, schickte er Frodo in sein Zimmer, wo er sich umziehen sollte, während er in die Küche ging, um einen Kessel Wasser aufzusetzen. Er suchte gerade nach dem Glas mit den getrockneten Pfefferminzblättern, als Frodos Lockenkopf in der Tür auftauchte. "Kann ich auch Tee haben?", fragte er und blickte mit großen Augen zu ihm auf. Augen, denen man eine solch bescheidene Bitte nicht abschlagen konnte. Frodo lächelte zufrieden. Dieser Abend wurde länger, als er erwartet hatte. Als er jedoch am Tisch Platz nehmen wollte, klopfte es erneut an der Tür. Bilbo runzelte die Stirn, sah fragend zu ihm herüber. "Hat Sam denn noch etwas vergessen?" Frodo zuckte mit den Schultern und eilte erneut in die Empfangshalle von Beutelsend, um die Absichten des späten Besuchers zu erfahren. Bilbo hatte inzwischen gefunden, wonach er suchte und stopfte die getrockneten Blätter in zwei kleine Teesiebe. Wie auch schon zuvor lauschte er auf Gespräche, doch dieses Mal drang kein Laut an sein Ohr. "Frodo?", fragte er nach. "Wer ist es denn?" Niemand antwortete ihm, was Bilbo etwas unruhig werden ließ. Er trat ebenfalls in den Hauptgang hinaus und hielt auf die Eingangshalle zu. Im spärlichen Licht der Lampen an der Wand konnte er Frodos Gestalt ausmachen, die scheinbar von der Tür zurückgewichen war und nun mit offenem Mund nach oben starrte. "Wer ist es denn?", fragte Bilbo noch einmal, doch Frodo schien seine Sprache verloren zu haben, starrte nur weiterhin mit großen Augen in die Nacht hinaus. Bilbo wurde unruhig, beschleunigte seinen Gang, bis er schließlich um die Ecke spähen und erkennen konnte, wer vor seiner Türe stand und seinem Neffen einen solchen Schrecken einjagte. "Gandalf!" rief er verwundert und jegliche Sorge fiel von ihm ab, löste sich in einem überraschten Lachen auf. Gandalf der Graue, den er seit über dreißig Jahren nicht wieder gesehen hatte, stand vor seiner Höhle, nur vom Schein einer Lampe beleuchtet und blickte nicht minder erstaunt auf den jungen Hobbit hinab, der ihm die Tür geöffnet hatte, wie dieser zu ihm aufsah.
Frodos Gedanken überschlugen sich. War das wirklich Gandalf, der vor ihm stand? Der alte Mann hatte einen langen Bart und buschige Augenbrauen, wie Bilbo gesagt hatte. Er trug einen grauen Mantel und einen spitzen, grauen Hut. In der Hand hielt er einen Stab. Doch was Frodo am meisten verblüffte, war seine Größe. Er hatte noch nie jemanden gesehen, der so groß war. Der Mann war noch viel größer, als Frodo sich das Große Volk immer vorgestellt hatte. Würde er überhaupt durch die Türe passen? Wie musste es in Beutelsend ausgesehen haben mit dreizehn Zwergen, Bilbo und diesem Zauberer? Er begann sich zu fragen, wo Bilbo sie alle untergebracht hatte. Natürlich war Beutelsend eine große Höhle, viel größer als die meisten, aber jemand von dieser Größe konnte sich Frodo nicht in ihr vorstellen. Ein Schauer der Erregung durchlief ihn, als er seine Sprache endlich wieder fand. "Bist du wirklich Gandalf?" "Der bin ich", entgegnete der Fremde, der sich auf seinen Stab stützte, als könne er die Lasten, die seine Schultern beugten, alleine nicht mehr tragen. "Und mit wem habe ich die Ehre?" Frodo verschlug es vor Staunen erneut die Sprache. In seinem Bauch kribbelte es vor lauter Aufregung und er fand sich außerstande, den Blick vom alten Mann abzuwenden. Dennoch wollte er sich von seiner besten Seite zeigen und er verbeugte sich tief, was ihm auch half, sich seiner Stimme wieder zu erinnern. "Frodo Beutlin ist mein Name." "Beutlin?" Gandalf zog fragend eine Augenbraue hoch und richtete sich auf, als könne er ihn so genauer betrachten. Frodo verharrte regungslos unter dem Blick, war beinahe erleichtert, als sich der Zauberer schließlich seinem Onkel zuwandte. "Bilbo Beutlin, ich freue mich, dich wieder zu sehen! Ich hoffe, ich komme nicht Ungelegen?" Gandalf warf einen weiteren kurzen Blick auf Frodo. "Nein, ganz und gar nicht. Komm doch herein, Gandalf, mein Freund!" Bilbo trat zur Seite, schob auch Frodo ein wenig zurück, um den alten Mann eintreten zu lassen. Dieser trat gebückt durch die runde Tür der Höhle, während Frodo jede seiner Bewegungen gespannt und mit ungläubigen Augen verfolgte. Ganz gleich welches Gewicht Gandalf zu tragen hatte, es schien von ihm abzufallen, kaum dass er in die Höhle getreten war. Den Stab lehnte er an die Wand, während er Bilbo seinen Hut reichte, den dieser an einen Kleiderhaken hängte. Sein Onkel bat Gandalf im Wohnzimmer Platz zu nehmen und bot ihm auch Tee und Kuchen an, was dieser gerne annahm. Während Gandalf ins Wohnzimmer ging und Bilbo in die Küche eilte, weil der Teekessel pfiff, blieb Frodo in der Eingangshalle stehen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals vor Aufregung und seine Augen leuchteten, als er ehrfürchtig auf den Stab blickte. Bilbo hatte gesagt, Gandalf könne Blitze aus ihm schlagen und wer wusste, was der Zauberstab noch alles konnte? "Frodo, der Tee ist fertig!" Der junge Hobbit zuckte zusammen, riss erschrocken seine Hand zurück, die sich, ohne, dass er es bemerkt hatte, langsam auf den leicht gekrümmten Stab zu bewegt hatte. Er trottete ins Wohnzimmer und ließ sich neben Bilbo nieder, so dass er gegenüber von Gandalf saß. Nicht einmal ließen seine neugierigen Augen von dem Zauberer ab, während er schweigend seinen Tee trank und den Gesprächen der beiden lauschte. Er verstand nicht genau worüber sie sprachen, doch das störte Frodo nicht. Alles was zählte, war Gandalf und die Aufregung, die er seinetwegen empfand, ließ ihn beinahe auf seinem Stuhl herumhüpfen, einen Drang, den er verzweifelt zu unterdrücken suchte. Er stellte die leere Tasse wieder auf den Tisch und Bilbo nutzte den Moment sofort, um ihn zu Bett zu schicken. "Aber…", versuchte er zu protestieren. "Nein, kein Aber", unterbrach Bilbo streng. "Ich werde nachher noch zu dir kommen." Frodo warf seinem Onkel einen missmutigen Blick zu, ehe er sich vom Stuhl gleiten ließ und sich höflich von Gandalf verabschiedete.
Als Bilbo schließlich in das Zimmer kam, lag Frodo hellwach in seinem Bett. Das Licht einer Kerze erhellte seine Züge, während er mit großen, bittenden Augen zu ihm aufsah. "Muss ich wirklich schon schlafen?", jammerte er. Bilbo setzte sich neben ihm auf die Bettkante. "Es ist spät, morgen ist auch noch ein Tag." Frodo warf zwei schnelle Blicke nach links und nach rechts, als wollte er sich vergewissern, dass sie alleine waren. Dann bedeutete er Bilbo verschwörerisch, sich zu ihm herunter zu beugen und flüsterte ihm kaum hörbar und mit aufgeregter Stimme ins Ohr: "Aber da sitzt ein Zauberer in unserem Wohnzimmer." Bilbo lachte und wuschelte kopfschüttelnd durch Frodos Locken. "Auch er wird morgen noch hier sein, Frodo", versicherte er schmunzelnd und zwinkerte dem Jungen zu. "Schlaf jetzt!" Frodo warf ihm einen letzten, flehenden Blick zu, doch Bilbo schüttelte den Kopf, pustete die Kerze aus und verließ das Zimmer.
Frodo klopfte ungeduldig mit den Fingern auf seine Bettdecke, starrte mit wachen Augen zur Decke und lauschte nach Stimmen. Er konnte keine Gespräche ausmachen und beobachtete stattdessen die seltsamen Schatten, die der rote Schimmer der Glut an die Decke warf. Wie sollte er jetzt schlafen können? Im Wohnzimmer saß Gandalf, der Zauberer, und er selbst musste hier ihn seinem Zimmer sein und sollte schlafen?! Schlaf war das Letzte, woran er jetzt dachte. Schon so oft hatte Bilbo ihm von Gandalf erzählt und nun, da er tatsächlich hier war, durfte er ihn nicht sehen. Er fragte sich, wo der Zauberer wohl so lange gewesen war. "Ich glaube Gandalf erlebt nicht nur eines, Gandalf ist ein Abenteuer." Konnte jemand wirklich ein Abenteuer sein? Frodo war sich sicher, dass dies bestimmt nur auf jemanden zutraf, der so groß wie Gandalf war und buschige Augenbrauen hatte. Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Stab, den er um ein Haar berührt hätte. Woher Gandalf den Stab wohl hatte und wozu er gut sein mochte? Er wirkte nicht wirklich besonders, doch immerhin war er der Stab eines Zauberers und das allein genügte schon, um ihn zu etwas Besonderem zu machen. Tausende Fragen schwirrten ihm im Kopf herum und am liebsten hätte Frodo alle sofort gestellt. Sehnlichst wünschte er sich den nächsten Morgen herbei, während er sich unruhig von einer Seite auf die andere drehte und auf einen Schlaf wartete, von dem er wusste, dass er nicht allzu bald kommen würde.
~*~*~
Gandalf und Bilbo saßen unterdessen im Wohnzimmer, tranken Tee und aßen Kuchen. Ein Feuer prasselte im Kamin, warf lange Schatten an die Decke und verströmte den angenehmen Duft von Holz. "Frodo Beutlin", wiederholte Gandalf gedankenverloren, sah Bilbo dann fragend an. "Du hast also einen Sohn?" "Ich?", Bilbo schmunzelte bei dem Gedanken und schüttelte den Kopf. "Nein, Primula und Drogo sind seine Eltern." Gandalf lächelte unter seinem Bart, auch wenn seine Augen weiterhin fragend auf dem Hobbit ruhten. "Was macht er dann hier bei dir?" Betrübt wandte Bilbo den Blick ab. Ein Holzscheit knarrte, als die Flammen im Feuer züngelnd danach langten. "Vor einigen Wochen hatten Primula und Drogo einen Bootsunfall", begann er zögernd und seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser, "von dem sie beide nicht zurückkehrten. Ich dachte, Frodo würde es gut tun, etwas Abstand zwischen sich und den Brandywein zu bringen und habe ihn für einige Zeit zu mir genommen." Gandalf nickte mitfühlend, als der alte Hobbit wieder zu ihm aufsah und er die Trauer über den Verlust in seinen Augen sehen konnte. "Ich vermute, Frodo hat sich selbst die Schuld für ihren Tod gegeben, denn er wurde von Albträumen gequält. Er ist sehr verschlossen und ich hatte gehofft, er würde sich mir anvertrauen, wenn er einige Zeit hier ist. Bis jetzt ist es allerdings noch nicht dazu gekommen. Er scheint aber dennoch weniger betrübt zu sein." Bilbo seufzte und überlegte einen Augenblick. "Die Sterne liegen ihm sehr am Herzen. Beinahe an jedem Abend geht er noch einmal hinaus, um sie zu betrachten. Sterne, elin, war auch das erste Wort, das ich ihm beibringen sollte, als ich vorschlug, ihn einige elbische Worte zu lehren." Gandalf stopfte sich seine Pfeife, musterte den Hobbit eingehend. "Du scheinst den Jungen sehr gern zu haben." Bilbo lächelte nickend und kramte nach seiner Pfeife. "Er ist mir ans Herz gewachsen", gestand er.
~*~*~
Als Frodo am nächsten Morgen aufwachte, war er nicht weniger aufgeregt, als am Abend zuvor. Schnell hatte er sich angezogen und gewaschen. Er konnte Bilbo in der Küche hören, als er den Hauptgang entlang schlich, doch Frodo vermutete, dass Gandalf wohl wie am Abend zuvor im Wohnzimmer sitzen würde. Auf Zehenspitzen trat er an die Tür und entdeckte den Zauberer in einem Sessel vor dem Kamin sitzend. Staunend betrachtete er die bunten Rauchringe, die sich über dem Kopf des Zauberers zu einer großen farbigen Wolke sammelten. Bilbo hatte ihm auch davon erzählt, doch Frodo hatte ihm nicht geglaubt, fest davon überzeugt, dass Rauch immer grau war. Nun bewies sich ihm das Gegenteil. "Guten Morgen, Frodo!" Frodo zuckte erschrocken zusammen, als er die tiefe, aber dennoch freundliche Stimme vernahm. "Guten Morgen!" antwortete er zaghaft und bedachte den Zauberer mit einem argwöhnischen Blick. Zögernd trat er schließlich ein, ging zum Kamin, ohne den Blick von Gandalf zu nehmen und ließ sich dann vor ihm zu Boden sinken, um ihn neugierig zu betrachten. Der Anblick des Zauberers erfüllte ihn, nun da Bilbo nicht bei ihm war, mit großer Ehrfurcht und Frodo wurde unruhig, als er spürte, wie die weisen Augen unter den buschigen, grauen Brauen ihn beobachteten. "Siehst du auch, was hinter dir passiert?", fragte er schließlich, um die unangenehme Stille, die den Raum erfüllte, zu umgehen. Gandalf lachte. "Nein, ganz im Gegenteil. Ich habe dich gehört, mein lieber Hobbit." Frodo betrachtete ihn stirnrunzelnd. Er hatte selbst für einen Hobbit ausgesprochen leise Solen und hielt es daher für beinahe unmöglich, dass Gandalf ihn gehört hatte. Nicht einmal Merry hätte ihn entdeckt, so leise war er gewesen. Andererseits durfte er nicht vergessen, dass Gandalf ein Zauberer war und als er ihn im Feuerschein betrachtete, führte ihn das zu seiner nächsten Frage. "Gibt es noch anderer Zauberer?" "Ja, die gibt es", antwortete Gandalf. Das Entzücken über diese Antwort brachte Frodos Augen zum Leuchten. "Sind sie alle so groß wie du?" Gandalf lachte erheitert, als er den neugierigen Blick Frodos sah. Dieser Hobbit war zweifelsohne wissensdurstiger, als dies für sein Volk üblich war. Der Junge konnte vor Aufregung kaum still sitzen. "Ja, ich denke schon, dass sie alle in etwa dieselbe Größe haben, wie ich selbst."
"Guten Morgen, Frodo!" rief Bilbo, der mit einem Tablett beladen ins Zimmer kam und dieses auf dem Esstisch abstellte. "Kannst du mir bitte dabei helfen, das Frühstück vorzubereiten?" Frodo wollte protestieren, trennte sich nur ungern von Gandalf, verschwand dann aber dennoch in der Küche. "Hast du gewusst, dass es noch mehr Zauberer gibt?", fragte Frodo aufgeregt, während er neben Bilbo herhüpfte, die Marmeladegläser aus den Schränken holte und das Besteck bereitlegte. "Was glaubst du, was sie können? Denkst du, alle Zauberer machen Feuerwerke?" Bilbo lächelte ob dem Übermut seines Neffen, erfreut, ihn so glücklich zu sehen. "Ich glaube, das solltest du besser Gandalf fragen, mein Junge."
Selbst während des Essens konnte Frodo seine Neugier nur schwer zurückhalten und erntete ein verzweifeltes "Erbarmen! So viele Fragen schon am frühen Morgen!" von Gandalf, was ihn sofort zum Schweigen brachte, auch wenn er den Zauberer weiterhin nicht aus den Augen ließ und verschmitzt lächelte, wann immer diesem das auffiel. Auch den Rest des Tages wich Frodo nicht von Gandalfs Seite. Er bemühte sich, sich mit seinen Fragen etwas zurück zu halten, doch musste er auch dann ein wenig enttäuscht feststellen, dass Gandalf keinesfalls gewillt war, alle seine Fragen zu beantworten. Manchmal schwieg der Zauberer nur oder bedachte ihn mit einem Blick, den der junge Hobbit nicht zu deuten wusste. Frodo überlegte sich, ob es vielleicht auch Dinge gab, die Gandalf nicht wusste, doch diesen Gedanken schlug er sich schnell aus dem Kopf. Spätestens als er hörte, wie Gandalf und Bilbo sich über die Geschehnisse außerhalb des Auenlandes austauschten und der Zauberer auf alles eine Antwort und über jeden etwas zu berichten wusste, hegte Frodo keinen Zweifel mehr daran, dass dieser über alles Bescheid wusste. Die Fragen, die er stellte, waren dem weisen Mann wahrscheinlich nur zu dumm und deshalb einer Antwort nicht würdig.
Die Sonne war beinahe untergegangen, als Frodo mit dem Zauberer auf der Bank vor der Höhle saß. Nur mehr ein blasser, hellblauer Streifen schimmerte am westlichen Horizont. Durch einige der Fenster auf der Südseite der Höhle strömte ein blasses Licht heraus, ließ die beiden nicht in vollkommener Dunkelheit zurück. Seinen Stab hatte Gandalf neben sich an die Wand gelegt und Frodo betrachtete diesen eingehend. Schließlich sah er Gandalf fragend an, streckte dann zögernd die Hand aus und tastete vorsichtig über das glatte Holz des Stabes. Auch wenn er ihn anfasste, fühlte Frodo keinerlei besondere Kräfte und der Gedanke, dass Gandalf den Stab wirklich nur dazu brauchte, um sich abzustützen, verfestigte sich immer mehr. "Haben alle Zauberer einen solchen Stab?", fragte er nach einiger Zeit. "Was kann man damit machen?" "Jeder Zauberer braucht einen Stab." Das war nicht unbedingt die Antwort, die Frodo sich erhofft hatte, doch an unzufrieden stellende Aussagen Gandalfs hatte er sich schon beinahe gewohnt und er hatte es aufzugeben, weiter nachzufragen, denn der Zauberer würde ohnehin nicht antworten, wenn er nicht etwas entgegnen wollte. Schweigend blickte Frodo zum Festbaum hinunter, ließ seine Füße von der Bank baumeln. Er genoss Gandalfs Gesellschaft, auch wenn ihn dessen Nähe noch immer mit tiefer Ehrfurcht erfüllte und ihn beizeiten klein und unwichtig fühlen ließ. Er war schließlich nur ein Hobbit und ein sehr junger noch dazu. Was hatte er im Vergleich zu Gandalf schon zu sagen und zu erzählen? Nichtsdestotrotz hielt ihn das nicht davon ab, eine weitere Frage zu stellen. "Glaubst du, ich werde auch einmal ein Abenteuer erleben, genau wie Bilbo?" Gandalf wandte sich ihm zu. Er wirkte überrascht, was Frodo ungemein erfreute. "Ich weiß es nicht. Du bist sehr neugierig und vielleicht werde ich eines Tages auch an deine Tür klopfen", meinte er dann lächelnd. "Bilbo hat gesagt, ich solle mich nicht in die Angelegenheiten von Zauberern einmischen", klärte Frodo ihn auf, wobei er weiterhin auf die Festwiese hinunterblickte. "Hat er das?" Gandalf zog erstaunt eine Augenbraue hoch. Frodo nickte, sah ernst in die unergründlichen Augen des alten Mannes. "Er hat gesagt, dass Zauberer schwierig und rasch erzürnt wären. Stimmt das?" Gandalf brach in lautes Gelächter aus. "Ich glaube, ich sollte ein ernstes Wörtchen mit dem guten Bilbo wechseln. Allerdings hat er nicht ganz Unrecht. Es ist durchaus ratsam, sich aus den Angelegenheiten der Zauberer heraus zu halten." "Warum?" Frodo war sehr gespannt, was Gandalf wohl für Gründe nannte, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass er Bilbo Recht geben würde. "Es gibt Dinge, Frodo, die du jetzt noch nicht verstehst und vielleicht niemals verstehen wirst." Neugierig sah Frodo zu ihm auf, während er sich an der Bank festhielt, als befürchte er, herunterzufallen. Er hatte aufgehört, mit den Beinen zu schwingen, wartete stattdessen gespannt darauf, dass Gandalf weiter sprechen würde, doch dieser sagte nichts mehr. Ein wenig enttäuscht ließ Frodo den Kopf hängen, dachte über die Worte nach, konnte jedoch nicht verstehen, was der Zauberer damit hatte ausdrücken wollen.
Die ersten Sterne leuchteten am Himmel und Frodo sah verträumt nach oben. Es erfüllte ihn mit ungemeiner Beruhigung, ihr schwaches Funkeln zu betrachten und er blickte gerne zu ihnen auf. "Elbereth", murmelte er, ohne sich darüber im Klaren zu sein. "Bilbo hat dir von Elbereth erzählt?", fragte Gandalf überrascht. "Er hat mir gesagt, dass du dabei bist, elbisch zu lernen. Hat er dir denn auch die Worte beigebracht, mit denen die Elben Elbereth preisen?" Frodo schüttelte den Kopf, sah jedoch mit großen Augen zu Gandalf auf. Ein Wunsch, der einem Verlangen gleichkam, wurde in ihm laut. Er wollte Elbereth preisen, wie es die Elben taten, wollte jene Worte hören, die zu Ehren der Erschafferin der Sterne gesprochen wurden. Gandalf schien dies zu spüren, denn obwohl Frodo ihn nicht danach fragte, begann er leise zu sprechen.
A Elbereth Gilthoniel, silivren penna míriel o menel aglar elenath! Na-chaered palan-díriel o galadhremmin ennorath, Fanuilos, le linnathon nef aear, sí nef aearon!
Wie gebannt lauschte Frodo den Worten, schloss die Augen, um deren Klang in sich aufzunehmen. Die Worte hatten dieselbe Wirkung auf ihn, wie die Sterne und eine tiefe Ruhe erfüllte ihn. Erst als Gandalf schon lange zu sprechen aufgehört hatte, öffnete er seine Augen wieder und nahm einen tiefen Zug der frischen Nachtluft. "Das ist wunderschön", sagte er schließlich. Gandalf nickte lächelnd. "Die wahre Schönheit dieser Worte, Frodo, wird dir jedoch erst bewusst werden, wenn die Elben sie singen." Frodo konnte sich nicht vorstellen, dass diese Worte noch schöner klingen konnten, doch er nickte trotzdem. Lange Zeit sah er dem Zauberer in die Augen, seufzte dann und blickte wieder zum Himmel.
~*~*~
Später am Abend saßen sie wieder im Wohnzimmer vor dem Kamin. Frodo hatte sich neben Bilbo auf dem großen Sessel zusammengerollt und träumte müde vor sich hin, während dieser lange Gespräche mit Gandalf führte. Ein Feuer brannte im Kamin, dessen sanfter Lichtschein und leises Knistern ihn schläfrig werden ließ. "Ich werde euch noch heute Abend verlassen." Bilbo blickte verwundert zu seinem Freund auf, sah ihn einige Zeit lang fragend an, nickte dann aber. "Das ist schade, doch davon abhalten können, werde ich dich ohnehin nicht." "Wohl kaum", entgegnete Gandalf mit einem Lächeln. Sein Blick fiel auf Frodo, der nun friedlich schlummerte. Den ganzen Tag über hatte er ihn beobachtet, hatte seinen Fragen gelauscht und so viel über den jungen Hobbit gelernt. Er war anders als die meisten seines Volkes. Ein Leuchten schien ihn zu umgeben und Gandalf war sich sicher, dass er in seinem Leben bestimmt für die eine oder andere Überraschung sorgen würde. "Frodo ist viel zu neugierig für einen Hobbit! In dieser Hinsicht ist er dir sehr ähnlich." Bilbo blickte lächelnd in das schlafende Gesicht seines Neffen. "Vielleicht", entgegnete er und strich Frodo durch die Haare.
Frodo wurde von Bilbo wach gerüttelt. "Gandalf verlässt uns", flüsterte er ihm ins Ohr. Verschlafen sah Frodo sich um, versuchte zu erkennen, wo er war. Nur langsam erinnerte er sich an den vergangenen Abend und er blinzelte erneut, als er sich schließlich auf dem Sessel aufrappelte. Er sah zum Fenster. Draußen war es noch immer dunkel. "Jetzt?" Bilbo antwortete ihm nicht, sondern war bereits auf dem Weg in die Halle hinaus und Frodo torkelte ihm müde hinterher, rieb sich den Schlaf aus den Augen. Als sie in der Eingangshalle ankamen, erkannte er, dass Gandalf bereits im Garten stand und nur mehr auf sie zu warten schien. "Leb wohl, Frodo Beutlin!" sagte der Zauberer und kniete sich vor ihm nieder, um ihm in die Augen sehen zu können. Frodo deutete eine kleine Verbeugung an. "Auf Wiedersehen, Gandalf!" er lächelte kurz, auch wenn er nicht glaubte, dass er die Traurigkeit darüber, dass der Zauberer schon wieder gehen musste, verbergen konnte. "Werde ich bei deinem nächsten Besuch ein Feuerwerk sehen?" Gandalf lachte und strich ihm durch die Haare. "Mein lieber Frodo, dir werden wohl niemals die Fragen ausgehen. Ich werde sehen, was sich machen lässt", versicherte er mit einem Augenzwinkern, ehe er sich an Bilbo wandte. "Leb wohl, Bilbo, mein alter Freund!" Auch Bilbo verabschiedete sich von Gandalf, der sich schließlich vom warmen Lichtschein, der aus Beutelsend drang, abwandte und raschen Schrittes den Bühl hinunterging. Frodo winkte ihm noch lange hinterher, ließ sich erst von Bilbo zurück in die Höhle führen, als er die graue Gestalt mit dem spitzen Hut nicht länger erkennen konnte. Bilbo schloss die Tür hinter ihnen und Frodo blickte fragend zu ihm auf, wobei er ein Gähnen nur mit Mühe unterdrücken konnte. "Warum bricht er so spät in der Nacht auf?" "So ist Gandalf nun mal, mein Junge", erklärte sein Onkel, wobei er ihm einen Arm um die Schulter legte und ihn durch den spärlich beleuchteten Hauptgang in sein Zimmer führte. "Er kommt und geht wann es ihm beliebt."
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Gedicht: Die Gefährten - Viele Begegnungen
Kapitel 15: Jultage
Die Tage verstrichen und mit ihnen das schöne Wetter. Dichte Nebelschwaden hingen über dem Auenland, die sich meist erst am späten Nachmittag lichteten. Dennoch herrschte ein emsiges Treiben unter den Hobbits. Die Jultage standen bevor und wie jedes Jahr sollten Zelte auf der großen Wiese unterhalb des Bühls aufgestellt werden. In den Wäldern der Umgebung wurde Holz gesammelt, um die vielen Zelte in den sechs Tagen des Feierns warm halten zu können. Die Vorratskammern jeder Höhle wurden noch einmal bis zum Rand gefüllt und in vielen Küchen wurden schon die einen oder anderen Menüvorstellungen durchgegangen. Die Kinder jedoch kümmerten sich wenig um die Festtagsvorbereitungen und verbrachten die Tage wie gewöhnlich. Auch Sam und Frodo schlenderten den ganzen Tag gemeinsam durch Hobbingen. Natürlich waren die Festtage das vorherrschende Gesprächsthema, schließlich wurde auch bei ihnen zu Hause die Höhle mit Bändern und Mistelzweigen geschmückt, und beide konnten den 29. Vorjul gar nicht mehr abwarten.
Am Mittag des 28. Vorjul stürmte Frodo aus der Haustür von Beutelsend. Mit einem überraschten "Brrrrr" machte er jedoch auf dem Absatz kehrt und rannte wieder zurück in sein Zimmer. "Was habe ich dir gesagt?", meinte Bilbo, der in das Zimmer gelaufen kam und den Jungen mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte. Frodo stand an seinem Schrank, nickte nur knapp, während er in ein wärmeres Hemd schlüpfte und eine dickere Jacke von den Bügeln nahm. "Vergiss deinen Umhang nicht!" erinnerte Bilbo. Frodo warf ihm einen kurzen Blick zu, der zeigen sollte, dass er diesen bestimmt nicht vergessen würde, griff dann nach seinem Umhang, den er sich mit geschickten Fingern am Hals zuknöpfte und nach einer raschen Verabschiedung war er auch schon wieder aus der Höhle verschwunden. "Komm nicht zu spät!" rief Bilbo ihm noch hinter her, doch das ging im Lärm der zufallenden Eingangstür unter. Er seufzte und ging kopfschüttelnd zurück in die Küche, wo er sich um den Abwasch kümmern wollte.
Frodo war noch nicht bei der Höhle der Gamdschies angekommen, als Sam aus der Tür trat. Er hatte sich einen roten Wollschal umgewickelt und war in einen dicken Mantel gehüllt, fröstelte aber dennoch. "Was für ein kaltes Wetter!" beschwerte er sich und rieb seine Hände, ehe er Frodo erkannte und ihm freudig zuwinkte. Frodo wartete an der kleinen Gartentür, hauchte sich ebenfalls in die kalten Hände. Ein frischer Wind wehte um den Bühl, zerzauste ihm die Haare und schlich sich unter seinen Umhang, bis Frodo sich überlegte, noch einmal zurückzugehen, um ebenfalls einen Schal zu holen. Er entschied sich jedoch dagegen und wandte sich stattdessen an Sam, während sie gemächlich den Bühl hinuntertrotteten. "Ich habe gehört, hier wird in Zelten auf der großen Wiese gefeiert. Ich hoffe nur, dass das nicht zu kalt sein wird." "Keine Sorge, dafür wird gesorgt", entgegnete Sam und berichtete ihm, wie Hamsen, Halfred und der Ohm schon seit zwei Tagen in die umliegenden Wälder gingen, um Holz für die Beheizung zu sammeln. Hamsen war sogar mit einem Wagen der Hüttingers bis ins Nordviertel gegangen. "Feiert man in Bockland denn das neue Jahr auf andere Weise?" Frodo dachte einige Zeit darüber nach. Er hatte nie besonders darauf geachtete, wie die einzelnen Feiertage gefeiert wurden. Für ihn hatten nur das Fest und das Vergnügen gezählt und so war es eigentlich noch immer. "Nun ja", setzte er nach einiger Überlegung an, "bei uns bleibt man meist im Brandschloss und feiert dort. Nur am 1. und 2. Jul treffen sich alle Bockländer an den Ufern des Brandyweins. Dort wird ein großes Julfeuer entzündet und es wird bis spät in die Nacht gesungen und getanzt."
Leise seufzend blickte Frodo zu Boden. Der Brandywein. Er konnte sich nicht mehr vorstellen, an den Ufern dieses Flusses zu feiern. Vor seinen Augen sah er plötzlich, wie das Wasser sich erhob. Stolz und zugleich bedrohlich ragten die Wellen in die Höhe, bis sie schließlich nieder preschten und die feiernden Hobbits verschlangen. Das Julfeuer erlosch zischend und eine große Dampfwolke stieg in den nächtlichen Himmel empor, während die einst aufeinander gestapelten und nun bereits verkohlten Holzscheite im braunen Wasser trieben. Ein Schauer durchlief ihn und er kniff die Augen zusammen, als er versuchte, den Gedanken abzuschütteln und die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben.
Sam bemerkte von alldem nichts. Er dachte einen Moment nach, bevor er anfing zu erklären: "Hier kann man jeden Abend zur Festwiese gehen. Die Zelte stehen alle sechs Tage da. Am 1. und 2. Jul trifft man dort jeden und meist auch an den anderen Tagen, obwohl es dann keine Pflicht ist zu erscheinen, wenn man es eine Pflicht nennen kann. Ich finde es viel besser, hinunter zu gehen. In der eigenen Höhle kann man oft genug feiern, aber nicht auf der großen Wiese. So etwas gibt es nur am Jahresbeginn und an den Lithetagen." Erst jetzt bemerkte er, dass Frodos Blick abwesend wirkte, beinahe so, als würde er ihm nicht zuhören. Er wirkte betrübt und Sam runzelte verwirrt die Stirn. "Ist alles in Ordnung?" Sie hatten ihre Geschwindigkeit verlangsamt und Frodo blickte überrascht auf, als er Sams Stimme vernahm. Er nickte rasch, als er die Sorge im Blick seines Freundes erkannte und richtete seine Augen wieder auf die Straße. Sam sollte seinetwegen nicht betrübt sein, es genügte, wenn sein Herz schwer war. "Ich glaube, ich weiß woran du denkst." Die Worte ließen ihn unruhig werden und so verzichtete er darauf, Sam anzusehen, starrte stattdessen weiterhin stur auf die Straße. "Ich will nicht sagen, dass ich mir vorstellen kann, wie du dich fühlst, denn das kann ich nicht. Ich wüsste nicht, was ich ohne meine Eltern und meine Geschwister machen würde. Ich will auch nicht sagen, dass du nicht daran denken sollst, denn, wenn du nicht an sie denkst, könntest du sie vergessen und das wäre schrecklich. Aber du solltest dich von deinen Erinnerungen nicht traurig machen lassen."
Frodo blieb abrupt stehen und sah ihn fragend an, als Sam plötzlich einen Arm um seine Schultern legte und ihn aufmunternd anlächelte. Er hatte nicht wirklich an seine Eltern gedacht und doch konnte er nicht an den Fluss denken, ohne sie zu sehen. Jedes Mal erinnerte er sich an die Bootsfahrt, die sie an seinem letzten Geburtstag gemeinsam unternommen hatten und immer endete sie mit einem Bild, das er niemals würde vergessen können. Es war nur ein Tuch, das er gesehen hatte und doch würde er nie vergessen können, was er in jenem Augenblick gefühlt und gedacht hatte. Jener Schmerz, jene Angst, jene Verzweiflung und das blaue Tuch, das zwischen den Füßen der umstehenden Hobbits im Gras gelegen hatte. Er spürte Tränen in sich aufsteigen und senkte betrübt den Kopf. Die zitternden Hände ballte er zu Fäusten. Nur mit Mühe rang er sich dazu durch, Sam anzusehen, ihm zu antworten und als er dies tat, war seine Stimme kaum mehr, als ein Wispern. "Ich danke dir, Sam, aber das kann ich nicht." "Sind es denn keine schönen Erinnerungen?", fragte Sam, der nicht recht zu verstehen schien, was Frodo damit sagen wollte. Frodo schüttelte den Kopf und seufzte leise. "Doch, das sind es. Es sind sogar sehr schöne Erinnerungen", sagte er betrübt. "Ich versuche auch, nicht betrübt zu sein, doch es gelingt mir nicht. Es kann nie mehr so sein wie in meiner Erinnerung und das macht sie traurig." Frodo senkte erneut den Blick, schluckte schwer. Ein Zittern durchlief seinen Körper, als er seine Tränen zu unterdrücken suchte. Es gelang ihm nur mit Mühe, doch schließlich entspannten sich seine Finger wieder und er holte tief Luft. "Lass uns nicht weiter darüber sprechen", sagte er dann, schenkte Sam einen Blick der nicht halb so fröhlich war, wie er gehofft hatte, und ging dann weiter.
Sam seufzte traurig, versuchte sich vorzustellen, was Frodo wohl empfinden mochte, was er mit seinen Worten hatte ausdrücken wollen. Bei dem Gedanken plötzlich alleine zu sein, erschauderte er. Doch er würde niemals alleine sein, ganz gleich, was geschah. Selbst wenn er seine Eltern eines Tages verlieren sollte, und er hoffte, dass dieser Tag noch in ferner Zukunft lag, hatte er noch immer seine Geschwister. Sie würden ihm Trost spenden und für ihn da sein. Sie würden seine Tränen trocknen, wenn Traurigkeit ihn quälte. Sein Blick fiel auf Frodo. Wer tröstete ihn? Er hatte keine Geschwister, keine Familie mehr. Er war ganz alleine und Sam fasste im Stillen einen Entschluss. Frodo sollte sich nicht länger alleine fühlen. Er wollte ihn trösten und für ihn da sein, wann immer Frodo in Hobbingen zu Besuch war.
"Kommst du, Sam?" Sam schreckte aus seinen Gedanken. Frodo war schon ein ganzes Stück vorausgegangen und sah nun verwirrt zu ihm zurück. Sofort rannte er ihm hinter her, wobei ein zufriedenes Lächeln seine Lippen umspielte, das Frodo mit einem verwunderten Blick zur Kenntnis nahm.
Nach einiger Überlegung entschlossen sich Frodo und Sam auf die Festwiese zu gehen und die Vorbereitungen für die Feiertage zu beobachten. Zelte wurden aufgestellt, alles festlich und mit immergrünen Zweigen geschmückt und selbst der Festbaum wurde mit einigen roten und goldenen Bändern behangen. In der Mitte der Wiese wurde ein Großteil des gesammelten Holzes zusammengetragen und einige Hobbits, unter ihnen Bauer Hüttinger, waren damit beschäftigt, die Scheite aufeinander zu stapeln, um ein großes Julfeuer zu garantieren. Frodo und Sam halfen bei einigen kleineren Arbeiten, waren jedoch die meiste Zeit damit beschäftigt, mit anderen Kindern verstecken zu spielen. So verging der Nachmittag recht schnell, doch gerade als sie sich auf den Heimweg machen wollten, rissen die Wolken auf, die den Himmel schon den ganzen Tag bedeckt hatten, und dicke Regentropfen prasselten wild zur Erde. Ohne nachzudenken zogen sich die beiden ihre Kapuzen über und eilten rasch den Bühl hinauf.
Am ganzen Körper zitternd und mit klappernden Zähnen betrat Frodo die Höhle. Seine Haare waren trotz der Kapuze nass geworden und die kalten Regentropfen rannen nun auf seinen Nacken und liefen seinen Rücken hinab, als er vorsichtig aus seinem völlig durchnässten Umhang schlüpfte. "Da bist du ja endlich!" Bilbo kam mit besorgtem Ausdruck aus dem Wohnzimmer gelaufen. "Ich habe mir schon Sorgen gemacht." Er trat an ihn heran, half ihm, auch seinen Mantel auszuziehen, wobei er immer wieder über die kalten Arme strich, die auch Frodo vergebens zu erwärmen versuchte. "Es ist eisig kalt draußen", stellte der alte Hobbit fest, "und du bist ja nass bis auf die Knochen. Ich werde dir ein warmes Bad vorbereiten." Frodo nickte schweigend, schlang die Arme um die Brust und folgte Bilbo mit langsamen Schritten ins Badezimmer, wo er sich seiner nassen Kleider entledigte. Sein Onkel hatte inzwischen Wasser aufgesetzt und bereitet alles für ein warmes Bad vor, während Frodo zähneklappernd in der Ecke stand und ihn aufmerksam beobachtete. Es dauerte nicht lange, da forderte Bilbo ihn auf, in den Zuber zu steigen und während Frodo sich in das angenehme Wasser gleiten ließ und darauf wartete, dass es seine Glieder wieder erwärmte, verließ sein Onkel den Raum und erlaubte ihm, sich zu entspannen. Das Wasser tat gute Dienste. Die Erinnerung an den kalten Regen verblasste zunehmend und als Frodo wieder genug Kraft gesammelt hatte, begann er damit, auszutesten wie viel Schwung er benötigte, um das Wasser genau an die Kante der Wanne zu stoßen, ohne, dass es überschwappte. Die ersten Versuche scheiterten kläglich. Entweder nahm er zu wenig Schwung oder zuviel und so war der Zuber bald von einer riesigen Wasserpfütze umgeben. "Du meine Güte!" Bilbo kam wieder ins Badezimmer und sah sich mit großen Augen um. Frodo sog scharf die Luft ein, schenkte ihm einen unschuldigen Blick, ließ seine Hände jedoch blitzschnell hinter seinem Rücken verschwinden, als könne dies verhindern, dass er als Übeltäter entlarvt wurde. Zu seiner Erleichterung schüttelte Bilbo nur den Kopf und erklärte, dass er sich später darum kümmern wolle, ehe er mit seinen nassen Kleidern verschwand, nur um kurz darauf ins Badezimmer zurückzukehren.
Er wollte ihm die Haare waschen und so tauchte Frodo für einen kurzen Moment seinen Kopf unter Wasser, während sein Onkel sich neben den Zuber kniete, die Überschwemmung scheinbar außer Acht lassend. Frodo hatte schon vor langer Zeit bemerkt, dass es ihn einige Überwindung kostete, unterzutauchen. Anfangs hatte er große Angst davor gehabt, doch inzwischen wusste er, dass ihm nichts passieren konnte, solange er nicht zu tief und nicht zu lange unter Wasser war. Sie sprachen nicht miteinander, während Bilbo seine dunklen Locken einschäumte und ihn schließlich aufforderte, erneut unterzutauchen. Frodo hätte sich die Haare eigentlich alleine waschen können, doch da Bilbo wünschte, dies selbst zu tun, ließ er ihn gewähren und genoss die Behandlung, die die liebevollen Finger ihm zuteil werden ließen.
Bilbo wollte sich gerade erheben, als er ein hinterhältiges Funkeln in Frodos Augen bemerkte und noch ehe er wusste, wie ihm geschah, hatte der Junge ihn triumphierend grinsend nass gespritzt. Bilbo sah entrüstet auf ihn hinab. "Na warte, du kleiner Halunke!" Mit diesen Worten tauchte er seine Hände in das Wasser und binnen kürzester Zeit, hatte Frodo eine handvoll desselben im Gesicht. Für einen Moment schien der Junge überrascht, doch dann ging er sofort zum Gegenangriff über, wobei er vergnügt lachte und quiekte. Bilbo erfreute das und da das Badezimmer ohnehin schon überschwemmt war, störte es nicht, wenn noch einige Tropfen Wasser zusätzlich auf dem Boden landeten. Schließlich hatte jedoch auch seine Energie ein Ende erreicht. "Genug", bat er völlig außer Atem, während Frodo siegreich grinste. Bilbo hatte zuvor eine Bohnenweizensuppe aufgesetzt, um seinen Neffen wieder aufzuwärmen und diese galt es nun zu essen. Frodo schien nicht sehr begeistert, als er ihm von ihrem Abendessen erzählte. "Gibt es nur Suppe?", fragte er mit zweifelndem Blick. Bilbo lächelte aufmunternd. "Keine Sorge, ich habe noch einen Rosinenkuchen von heute Nachmittag." Frodo grinste zufrieden, kletterte aus dem Zuber und wurde sogleich von Bilbo in ein Handtuch eingewickelt. Dieser kümmerte sich um die Überschwemmung, während Frodo sich abtrocknete und sein Nachtgewand anzog.
~*~*~
Spät in der Nacht erwachte Frodo mit knurrendem Magen. Verschlafen zündete er eine Kerze an und schlurfte in die Küche. Er wusste, dass noch immer ein Stück des Rosinenkuchens übrig war, denn er hatte gesehen, wie Bilbo es abends in den Schrank gestellt hatte. Leise stellte Frodo die Kerze auf den Tisch und blickte auf die oberen Schränke. Bilbo erreichte deren Türen gerade noch, doch er würde sie nie erwischen. Davon ließ sich Frodo jedoch nicht abhalten und so stellte er einen Stuhl an die Anrichte und stellte sich darauf. Mühelos erreichte er den Griff und öffnete die Tür. Im mittleren Fach entdeckte er das übrig gebliebene Kuchenstück. Dieses lag etwas höher, als die Schranktür und Frodo musste sich auf die Zehenspitzen stellen und selbst dann bekam er nur das Fach selbst zu fassen. Hungrig wie er war, ließ er sich jedoch auch davon nicht aufhalten und er versuchte, sich noch ein wenig zu strecken, um so das nur wenige Millimeter entfernte Kuchenstück zu erreichen. Dabei bemerkte er jedoch nicht, wie der Stuhl unter ihm gefährlich ins Wanken geriet. Frodo machte sich so lange wie er konnte, bis er den Teller endlich erwischte, doch da war es bereits zu spät. Der Stuhl fiel um und Frodo konnte sich nur mehr erschrocken am Fach festhalten. Dieses rutschte jedoch nach vor und gab schließlich unter dem Gewicht des jungen Hobbits nach. Mit einem entsetzten Aufschrei und dem Klirren und Poltern vieler Schüsseln und Teller landete Frodo auf dem Boden.
Stöhnend kam er wieder auf die Beine, rieb sich die Rippen. Sein Körper schmerzte, doch war der Sturz von seinem Hinterteil abgefangen worden und es war nur der Schrecken, der ihn zittrig machte. Mit großen, entsetzen Augen blickte er sich um. Mehl, getrocknete Kräuter und andere Gewürze lagen verstreut auf dem Küchenfußboden. Teller waren zu Bruch gegangen und hier und da rollte eine Schüssel und verteilte ihren Inhalt über den Scherben. Im Licht der Kerze sah es aus, als hätte er den ganzen östlichen Bereich der Küche auf den Kopf gestellt und Frodo wagte gar nicht, daran zu denken, was Bilbo wohl dazu sagen würde. "Was ist…?" Frodo verkrampfte sich, als er die Stimme vernahm. Bilbo war aus dem Schlaf geschreckt und sofort in die Küche geeilt, denn dort glaubte er den Ursprung des Lärmes. Als er nun jedoch das Durcheinander sah, blieb er abrupt in der Tür stehen und sah sich mit einer Mischung aus Verwirrung, Entsetzen und Verzweiflung um. Frodo sah ihn mit großen, verschreckten Augen an, senkte dann den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. "Geh in dein Zimmer", schimpfte Bilbo, schärfer als gewollt. Die strengen Worte ließen ihn zusammenzucken, doch Frodo schlurfte gehorsam aus der Küche. Als er im Gang stand, wandte er sich jedoch noch einmal um. "Ich... ich hatte Hunger", murmelte er mit zittriger Stimme. "Ich wollte... es... es tut mir Leid." Bilbo antwortete nicht darauf und so tapste er betrübt und mit gesenktem Kopf in sein Zimmer, wo er noch lange wach lag.
~*~*~
Am nächsten Morgen vermied es Frodo, Bilbo in die Augen zu sehen. Auch sah er sich kaum in der Küche um. Bilbo hatte die Unordnung der vergangen Nacht wieder aufgeräumt, doch die Töpfe und heil gebliebenen Teller standen alle noch auf der Anrichte, da der Schrank erst repariert werden musste. Frodo verzog beinahe schmerzvoll das Gesicht bei dem Anblick und senkte beschämt den Kopf, um während des ganzen Frühstücks nur wenige Male aufzusehen.
"Es hat aufgehört zu regnen", stellte Bilbo fest, während er sich ein Brot schmierte. "Wenn du willst, kannst du hinunter gehen zur großen Wiese. Samweis wird bestimmt auch dort sein." Über den ganzen Tumult hatte Frodo beinahe vergessen, dass heute der erste der Feiertage war. Überrascht hob er den Kopf, um seinen Onkel für einen kurzen Moment verwirrt anzusehen. "Kommst du denn nicht?" Bilbo schüttelte den Kopf. "Ich werde später nachkommen, aber erst habe ich noch etwas zu erledigen", sagte er, ohne ihn anzusehen. Seine Worte ließen Frodo erneut den Kopf senken, der daraufhin lustlos in seinem Frühstück herumstocherte.
Der Tag verging schnell. Frodo traf Sam in einem der Zelte und die beiden hatten eine Menge Spaß auf den Feierlichkeiten. Für einige Zeit vergaß Frodo sogar den Vorfall der vergangenen Nacht und erst als er abends zu Bett gehen wollte, aber von Bilbo zu sich gerufen wurde, erinnerte er sich wieder daran und ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Mit gesenktem Kopf trat er ins Wohnzimmer, wo Bilbo in seinem Sessel saß. Frodo konnte den Blick des alten Hobbits auf sich spüren, doch er wagte es nicht, aufzusehen. Der Schein des Feuers und einiger Lampen tauchte das Zimmer in ein angenehmes Licht. "Ich habe Saradoc heute einen Brief geschrieben", begann Bilbo. "Ich habe ihm gesagt, er solle dich nach den Feiertagen abholen." Frodo starrte ihn ungläubig an. "Aber weshalb?" Mit ernstem Blick sah Bilbo ihm in die Augen und Frodo spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. "Nun, das neue Jahr ist nun schon fast da und..." "Nein!" fiel Frodo ihm ins Wort. Er atmete heftig, Unglauben in den blauen Augen. Bilbo sah ihn verwundert an und Frodo hielt dem Blick einen Augenblick stand, senkte dann aber erneut den Kopf. Er spürte Tränen in sich aufsteigen und ballte die Hände zu Fäusten, um dagegen anzukämpfen. "Es... es ist wegen gestern Nacht, habe ich Recht? Es ist weil ich... ich...", er stockte, "ich wollte das doch gar nicht. Ich..." Frodo schnappte nach Luft, fand jedoch keine Worte, um weiter zu sprechen. Bilbo runzelte die Stirn, sah seinen Neffen traurig an. Die Tatsache, dass der Junge den Grund für sein Handeln im Vorfall der vergangenen Nacht suchte, schmerzte ihn, doch er hätte es ahnen müssen. In den vergangenen Monaten hatte er einiges über Frodo gelernt, auch wenn der Junge bisher kein Wort über den Tod seiner Eltern verloren hatte. Bilbo hatte ihn lieben gelernt und zu sehen, dass er glaubte, er würde ihn wegen solch einer Kleinigkeit wegschicken, stimmte ihn traurig. "Du hast ein ganz schönes Durcheinander angerichtet", bemühte er sich zu erklären, "doch das ist nicht der Grund, weshalb ich Saradoc geschrieben habe. Es war von Anfang an vorgesehen, dass du bis zum neuen Jahr bei mir bleibst." "Dann bist du mir nicht böse?", Frodo hob zögernd den Kopf und ungeweinte Tränen ließen die blauen Augen glitzern. "Ich war verärgert, ja", sagte Bilbo, "doch der Schrank kann repariert und die zerbrochenen Teller ersetzt werden. Das Wichtigste ist, dass dir nichts geschehen ist." Verwundert sah Frodo zu ihm auf. Das Feuer erwärmte seine Wangen, als er tief Luft holte. Sein Mund öffnete sich, doch nur zaghaft kamen die nächsten Worte über seine Lippen. "Was wäre, wenn ich noch länger hier bleiben wollte?" Bilbo schüttelte traurig den Kopf, griff nach Frodos rechter Hand. "Das geht nicht, mein Junge." "Warum sollte das nicht gehen?" Frodo trat einen Schritt näher an seinen Onkel, wobei sich das Licht des Feuers in seinen Augen spiegelte. "Ich werde auch ganz brav sein und du wirst dir keine Sorgen mehr um mich machen müssen und..." Seine Unterlippe hatte zu zittern begonnen und schließlich wurden seine Worte von Tränen ertränkt, die er nicht länger zurückhalten konnte. In Bilbos Augen hatte er die Antwort bereits gesehen. Er vergrub das Gesicht in der Weste seines Onkels, als dieser ihn seufzend in die Arme schloss. "Ich weiß, Frodo, ich weiß", hörte er ihn tröstend sagen. "Trotzdem kannst du nicht für immer hier bleiben. Du gehörst nach Bockland. Merry und die anderen vermissen dich bestimmt schon. Vermisst du sie denn nicht auch?" Frodo nickte. Vor allem an Merry hatte er in den vergangenen Wochen oft gedacht, doch Bilbo wollte er nicht wieder verlassen. Es gefiel ihm hier und der alten Hobbit würde ihm ebenso fehlen, wie er Merry vermisste. "Kannst du nicht mitkommen?", fragte er, jedoch ohne viel Hoffnung. "Nein, Frodo, das kann ich nicht." Sein Onkel strich ihm durch die Haare, hielt ihn dann fest in den Armen. "Ich verspreche dir aber, dass ich dich oft besuchen kommen werde. Außerdem", er lächelte, als er Frodos Kinn berührte, sodass er zu ihm aufblicken musste, "Saradoc wird erst in fünf Tagen kommen." Er wollte ihm die Tränen aus den Augen wischen, doch ehe Bilbo seine Wangen berührt hatte, hatte Frodo das Gesicht wieder in dessen Hemd vergraben. "Was sind schon fünf Tage?", schluchzte er.
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Den Abend des 2. Jul verbrachten Frodo und Sam mit den Zwillingen Rosie und Jupp Hüttinger und mit Sams Schwestern Maie und Goldblume. Die jüngste Tochter der Gamdschies hatte ihren Namen aufgrund ihres Haares, das im Sonnenlicht golden schimmerte, etwas, das bei Hobbits sehr ungewöhnlich war. Rosie hatte sich ihr wild fallendes, hellbraunes Haar mit einer Spange gebändigt und einige ihrer Locken am Hinterkopf zusammengebunden. Sie klatschte den Takt der Musik mit, die von einer Kapelle angestimmt worden war und sah begeistert den tanzenden Paaren zu, ebenso wie Maie und Goldblume. Das große Julfeuer in der Mitte der Festwiese war entzündet worden und überall wurde gelacht, getanzt, getrunken und sich unterhalten, während die züngelnden Flammen hoch in den Himmel ragten und die Nacht erhellten. Sam und Jupp, der seiner Schwester nicht im geringsten ähnlich sah, sondern mehr seinem Vater glich, unterhielten sich angeregt, während Frodo der Musik lauschte. Es war eine Melodie, die er in Bockland noch nie gehört hatte. "Niemand tanzt mit mir", beschwerte sich die kleine Goldblume und trat an ihren Bruder heran. "Tanz mit mir, Sam!" verlangte sie. Ihre entschlossene Miene ließ Frodo in sich hineinlachen, doch ließ er sich nichts anmerken, während Sam seine Schwester ernst ansah und eine Augenbraue hochzog. "Nein, ich tanze nicht mit dir!" ließ er sie wissen und wandte sich wieder Jupp Hüttinger zu. Erbost schob Goldblume die Unterlippe vor und verpasste ihrem Bruder einen schmerzhaften Hieb auf den Arm. "Du bist gemeint!" schimpfte sie beleidigt. "Ich will auch tanzen!" Ein Kichern entwich Frodos Lippen, was ihn einen wütenden Blick von Sam ernten ließ, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Oberarm rieb. Er setzte eine Unschuldsmiene auf, versuchte weiterhin, sich das Lachen zu verkneifen, als nun auch Goldblume einen übelgelaunten Blick schenkte, was sie mit ihren acht Jahren ausgesprochen trotzig wirken ließ. Frodo zwinkerte seinem Freund zu, als der drohende Lachanfall vorüber war und wandte sich an dessen jüngste Schwester. "Weißt du was, Goldblume? Ich werde mit dir tanzen." Ihre Augen strahlten und ein Lächeln stahl sich über ihre Lippen. Sofort packte sie Frodo am Arm, warf ihrem Bruder einen vielsagenden Blick zu und zog ihn mit sich auf die Tanzfläche. Frodo war sich nicht mehr ganz sicher, ob dies wirklich eine gute Idee gewesen war und warf einen unsicheren Blick zurück zu den anderen, während Goldblume ihn mitten unter die tanzende Menge führte und nach seinen Händen griff. Kurz darauf hüpften sie wild im Kreis und Frodo war überrascht, wie viel Spaß ihm das machte. Rosie hatte sich inzwischen zu Sam umgedreht. "Glaubst du, ich könnte dich zu einem Tanz überreden?", fragte sie schüchtern. Sam errötete und blickte verlegen zu Boden, murmelte eine leise Zustimmung. Dann ergriff er ihre Hand und die beiden gesellten sich neben Frodo und Goldblume. Bald tanzten und lachten alle vier gemeinsam und erst spät in der Nacht trennten sich ihre Wege wieder.
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Die Feiertage waren viel zu schnell vergangen. Frodo saß auf seinem Bett und ging in Gedanken noch einmal durch, ob er auch nichts vergessen hatte. Alles, was noch fehlte, war sein Bild, doch dieses wollte er erst einstecken, wenn er aufbrach. Bis dahin sollte es auf dem Nachttisch stehen bleiben, wo er es jederzeit betrachten konnte. Überrascht sah er auf, als es an seiner Tür klopfte. "Kann ich herein kommen?", fragte eine wohlbekannte Stimme. "Saradoc!" Frodo sprang dem Herrn von Bockland freudig entgegen, als dieser in das Zimmer trat. "Hallo!" rief Saradoc fröhlich und nahm den Jungen in die Arme, erfreut über die freudige Begrüßung. "Wie geht es dir?" Zur Antwort bekam er nur ein aufgeregtes Nicken und sobald er Frodo nach einer kurzen Umarmung wieder auf den Boden gestellt hatte, brach dieser in einen Wasserfall von Fragen aus. "Wie geht es dir? Und Merry? Geht es ihm gut?" Er bot Saradoc an, sich auf das Bett zu setzen und der Herr kam dieser Aufforderung gerne nach, ohne seinen Blick von Frodo zu nehmen, der sich den Schreibtischstuhl näher ans Bett stellte, um ihm gegenüber zu sitzen. "Mir geht es sehr gut", erklärte er lächelnd. "Und Merry auch. Er kann es kaum erwarten, bis du wieder zurück bist. Erst wollte er mitkommen, doch ich konnte ihn davon überzeugen, zu Hause auf dich zu warten. Allerdings musste ich versprechen, dir mitzuteilen, dass es etwas Ernstes zu besprechen gäbe. Du wüsstest, worum es sich handle."
Frodo runzelte die Stirn. Er hatte keine Ahnung, welche wichtige Angelegenheit Merry meinen könnte. Immerhin war er nun schon drei Monate nicht mehr in Bockland gewesen und er wusste von nichts, dass so ernst und geheim war, dass Saradoc nicht darüber Bescheid wusste. Einen kurzen Augenblick beschlich ihn die Angst und er fürchtete, dass Bauer Maggot vom Diebstahl der Pilze berichtet hatte, doch diesen Gedanken schüttelte er sofort wieder ab. Hätte Maggot ihn verraten wollen, hätte er es schon vor langer Zeit getan. Außerdem würde Saradoc dann wissen, wovon Merry sprach. Plötzlich durchfuhr es ihn jedoch wie ein Blitz. Die Angelegenheit von der Saradoc sprach, war in Wahrheit eine Person. Es konnte sich nur um Marroc Boffin handeln, ein Unruhestifter. Er war neun Jahre älter als Frodo und hatte seine Freude daran, sich über andere lustig zu machen und sich mit ihnen zu streiten. Besonders gerne brachte er Merry und Frodo in Schwierigkeiten. Frodo war schon oft einer Tat beschuldigt worden, die er nicht begangen hatte, von der er noch nicht einmal wusste. Drogo hatte solche Angelegenheiten meist in Ordnung gebracht und sowohl mit Marroc selbst, als auch mit dessen Eltern gesprochen, doch die Sticheleien hatten immer nur für kurze Zeit nachgelassen. Erst im vergangenen Sommer hatte Frodo eine Auseinandersetzung mit ihm gehabt. Marroc und Merry hatten Streit gehabt und der ältere Hobbit war handgreiflich geworden. Frodo war schließlich dazwischen gegangen und wäre vermutlich von Marroc geschlagen worden, wäre nicht Saradoc in jenem Moment aufgetaucht. Gegen Merrys Willen hatte Frodo Saradoc von dem Streit erzählt und seither war Marroc noch schlechter auf ihn zu sprechen, als zuvor. Auch Merry ging es keineswegs besser.
"Weißt du, wovon er spricht?", fragte Saradoc neugierig und holte ihn mit seinen Worten wieder in die Wirklichkeit zurück. Überrascht blickte Frodo auf, sah in die fragenden Augen des Herrn, zuckte schließlich mit den Schultern. Wenn Merry so verschwörerisch war, sollte es geheim bleiben und, wenn es sich tatsächlich um neue Schwierigkeiten mit Marroc handelte, war es besser, wenn Saradoc noch nichts davon erfuhr. "Ich habe keine Ahnung!"
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Unruhig wälzte Frodo sich in seinem Bett hin und her, richtete sich schließlich seufzend auf. Er blickte sich im Zimmer um und eine große Traurigkeit umfing ihn, wie ein dunkler Schatten. Warum musste er gehen? Weshalb sollte er Bilbo verlassen, wo er sich bei ihm doch so wohl fühlte? Er hatte sich viel zu sehr an die Ruhe in Beutelsend und die liebevolle Art seines Onkels gewohnt, um den Wunsch zu verspüren, nach Bockland zurückzugehen, ganz gleich, wie sehr er Merry vermisste. Er wollte hier nicht weg und die Geborgenheit zurücklassen, die er neu entdeckt hatte. Frodo seufzte erneut und ließ seinen Blick zur Tür wandern. Er war nachts lange nicht mehr bei Bilbo gewesen, doch nun hatte er das Gefühl, nicht länger alleine bleiben zu können, schließlich sollte dies seine letzte Nacht in Beutelsend, bei seinem Onkel sein. Er warf die Decke zurück, schritt langsam zur Tür und öffnete sie einen Spalt weit. Die Nacht musste schon weit fortgeschritten sein, denn er konnte keine Geräusche mehr ausmachen. Auf leisen Solen schlich er sich in Bilbos Zimmer, blieb jedoch überrascht in der Tür stehen, als er seinen Onkel auf dem Bett sitzen sah. Im fahlen Licht einer Kerze glaubte er, Tränen in dessen Augen glitzern zu sehen. "Frodo? Ist alles in Ordnung, mein Junge?", fragte er besorgt, klopfte dann aber einlandend auf sein Bett. "Komm, setz dich zu mir." Frodo spürte Bilbos sorgenvollen Blick auf sich ruhen, als er an ihn herantrat und auf das Bett kletterte. "Es ist alles in Ordnung", versicherte er. "Ich konnte nur nicht einschlafen." Er betrachtete den alten Hobbit einen Augenblick, beobachtete den Lichtschein, der über dessen Gesicht tanzte. "Weshalb bist du noch wach?" Bilbo legte einen Arm um ihn, schüttelte leicht den Kopf. "Das ist unwichtig." Erneut glaubte Frodo, Tränen in Bilbos Augen zu erkennen, spürte, dass sein Onkel mindestens genauso betrübt darüber war, dass er ihn verlassen musste, wie er selbst. Traurig ließ er den Kopf in den Schoß des alten Hobbits sinken. Bilbo strich ihm durch die Haare, ließ seine Hand schließlich auf seinen Schultern ruhen. Beruhigt schloss Frodo die Augen, genoss die Wärme, die ihn erfüllte. Was immer die anderen auch behaupten mochten, Frodo wusste, dass sein wahres Zuhause nicht mehr im Brandyschloss war, sondern hier, bei Bilbo. Umso schwerer wurde sein Herz, da er wusste, dass er ihn morgen früh verlassen musste. Leise wimmernd sank er in einen ruhelosen Schlaf.
Kapitel 16: Trautes Heim, Glück allein
Müde ließ Frodo sich von seinem Pony gleiten und klopfte ihm den Hals. Sie waren den ganzen Tag geritten. Saradoc war mit zwei Ponys nach Hobbingen gekommen, sodass Frodo auf einem eigenen Tier hatte reiten können, denn dies war angenehmer für Pony und Reiter. Die Sonne war schon lange untergegangen, als die Lichter Bockenburgs in der Ferne auftauchten, und für gewöhnlich wäre Frodo um diese Zeit bereits in seinem Bett gewesen. Saradoc sprang vom Rücken seines Reittieres und griff nach den Zügeln von Frodos Pony. "Ich werde mich um die Tiere und das Gepäck kümmern. Geh du hinein und leg dich schlafen. Es war ein langer Tag." Frodo nickte und stolperte zur Hintertür, froh sich bald hinlegen zu können. Gerade als er nach dem Türknauf greifen wollte, öffnete sich die Tür mit einem Ruck und Merry stürmte ihm mit einem lauten "Frodo!" entgegen, wobei er ihn beinahe zu Boden warf. Das schwache Licht einiger Lampen strömte in die Nacht heraus und warme Luft wehte Frodo entgegen, was seine kalten und müden Glieder noch eifriger werden ließ, endlich in die warme Höhle zu kommen. Merry ließ ihm dazu jedoch keine Möglichkeit und klammerte sich so fest an ihn, dass Frodo sich kaum noch rühren konnte. "Merry, komm herein! Es ist kalt draußen!" Esmeralda tauchte in der Türe auf, winkte beide ins Innere der Höhle. "Willkommen zu Hause, Frodo! Wie war deine Reise?" Frodo löste sich aus der festen Umarmung seines Vetters, der übermütig neben ihm her tänzelte, während er in die Höhle trat. "Ich bin vollkommen erschöpft. Ich hatte schon befürchtet, auf meinem Pony einzuschlafen." "Ich bin so froh, dass du wieder hier bist", ließ Merry in wissen, wobei er nach seiner Hand griff, als wolle er sicher gehen, dass er nicht wieder wegging. "Es war so langweilig ohne dich." Esmeralda legte ihm eine Hand auf die Schulter. "In der Küche gibt es noch etwas zu Essen für dich", sagte sie, ehe sie in der kalten Nacht verschwand, mit der Erklärung, sie wolle Saradoc mit den Ponys helfen.
"Hat Papa von der wichtigen Sache erzählt?", fragte Merry mit einem geheimnisvollen Ton, als sie durch die Gänge des Brandyschlosses gingen. "Das hat er", entgegnete Frodo, wobei er den Schal um seinen Hals löste und die Knöpfe seines Mantels öffnete, "Ich hatte vermutet, dass es sich hierbei um Marroc handelt." Merry nickte. "Du hast richtig vermutet. Er..." Weiter kam er nicht, denn Gorbadoc kam ihnen entgegen. "Hallo Frodo! Schön dich wieder hier zu haben", sagte er und wuschelte seinem Enkel durch die Haare, ehe sein Blick auf Merry fiel. "Solltest du nicht schon längst im Bett sein?" Merry hatte Erlaubnis gehabt, bis zu Frodos Ankunft aufzubleiben und da er seinen Vetter nun begrüßt hatte, gab es keinen Grund mehr, ihn noch länger durch das Brandyschloss streifen zu lassen. Doch noch wollte er Frodo nicht verlassen, schließlich hatten sie sich lange nicht mehr gesehen und es gab eine Vielzahl von Dinge zu besprechen. Mit bittenden Augen sah er zu dem alten Hobbit auf, doch Gorbadoc blieb streng. "Ihr könnt euch morgen weiter unterhalten", ließ er Merry wissen und scheuchte den Jungen in sein Zimmer.
Frodo winkte ihm hinterher, als dieser mit betrübtem Ausdruck verschwand. Inzwischen war er aus seinem Umhang geschlüpft, den er nun in der Hand hielt. Die Kälte, der er den ganzen Tag über ausgesetzt war, verflüchtigte sich bereits und würde bald nicht mehr, als eine Erinnerung sein. Müde schlurfte er in die Hauptküche, wie Esmeralda es ihm aufgetragen hatte, wo er sogleich von seiner Großmutter und einigen anderen Tanten und Verwandten empfangen wurde. Mirabella ließ sogleich nach einer großen Schüssel Suppe schicken, während seine Tante Amaranth ihm eine Tasse Tee reichte, die Frodo dankend annahm. Zu müde für Gespräche, aß er schweigend, was ihm aufgetischt wurde. Gerade als er sich verabschieden wollte, trat Saradoc, gefolgt von Esmeralda, in die Küche. "Ich habe deine Sachen bereits in dein Zimmer gebracht", ließ er ihn wissen. Frodo bedankte sich, griff nach seinem Mantel, dem Schal und dem Umhang und wünschte allen eine gute Nacht. Die vielen Stimmen, die er auf dem Weg in sein Zimmer vernahm, schienen ihm beinahe ungewohnt, bis er schließlich in den abgeschiedenen, östlichen Gang trat, vorbei an einem der kleineren Badezimmer, um schließlich den Knauf seiner Türe zu drehen und von absoluter Dunkelheit und Stille willkommengeheißen zu werden. Schon der östliche Gang war spärlicher beleuchtet gewesen, als der restliche Bereich das Brandyschlosses und Frodo trat blind in sein Zimmer, tastete nach dem Kerzenhalter, der immer auf seinem Nachtkästchen stand und entzündete ihn mit den Streichhölzern, die daneben lagen. Seine Kleider warf er auf den Stuhl, ehe er sich völlig erschöpft auf sein Bett fallen ließ und für einen Moment die Augen schloss. Müdigkeit ergriff Besitz von ihm, doch er rappelte sich noch einmal auf, griff nach dem Rucksack, den Saradoc neben den Schreibtisch gelegt hatte und kramte sein Bild hervor. Lange Zeit betrachtete er es, strich beinahe zärtlich über den Rahmen. "Nun bin ich also wieder zurück", flüsterte er, als er die liebevoll gemalte Zeichnung der Familie Beutlin an ihren Platz auf dem Nachtkästchen stellte. Er gähnte. Es war höchste Zeit, schlafen zu gehen. Rasch hatte er ein Nachthemd aus dem Schrank geholt, sich umgezogen und war in sein Bett gekrochen, als ihn plötzlich ein seltsames Gefühl der Sehnsucht überkam. Sein Blick glitt zur Tür. "Nein", sagte er sich selbst und schüttelte den Kopf. Bevor er mit Bilbo gegangen war, hatte er sich dazu entschlossen, wieder in seinem eigenen Bett zu schlafen, er würde jetzt nicht wieder in das seiner Eltern klettern. Seine Finger krallten ich an der Bettdecke fest, als er gegen den Wunsch ankämpfte, in ihr Zimmer zurückzukehren. ‚Nur einen Augenblick', hörte er die Stimme seines Herzens flüstern und es war schwer, diese Stimme zu ignorieren. Er schloss die Augen. "Nur einen kurzen Moment", versicherte er sich dann, warf die Decke zurück und trat, wenn auch nur mit zögernden Schritten, in den Gang hinaus. Als er schließlich langsam die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern öffnete, fühlte er sich ungemein erleichtert. Doch was er dann sah, raubte ihm den Atem. Für einen Moment stand er starr vor Schreck und mit vor Entsetzen geweiteten Augen da.
Verlassen. In der Mitte des Raumes stand das große Bett, nicht mehr für den Gebrauch bestimmt. Die bestickte Tischdecke, die das Tischchen in der Ecke geziert hatte, war verschwunden. Keine Bilder hingen mehr an der Wand. Die Regale waren ausgeräumt, die Türen des Kleiderschranks offen, der Kleiderschrank selbst leer. Frodo spürte, wie er zu zittern begann. "Was...?", fragte er atemlos, wobei er nach dem Türrahmen tastete, um seinem Körper Halt zu geben. "Frodo? Was machst du hier? Ich dachte, du würdest bereits schlafen." Esmeralda trat an ihn heran, legte eine Hand auf seine Schulter. Verwirrt wandte er sich zu ihr um, blickte mit ungläubigen Augen zu ihr auf. "Was... was ist hier geschehen?", fragte er mit stockender Stimme. "Wo sind ihre Sachen?" "Wir haben das Zimmer ausgeräumt", erklärte sie. "Die Sachen wurden nicht mehr gebraucht. Wir haben sie weggeräumt. Komm jetzt, es ist schon spät." Verzweifelt schlug Frodo ihre Hand weg, als sie ihn wegführen wollte, starrte weiterhin ungläubig in das Zimmer, suchte nach etwas, dass diesen Raum wieder zum Zimmer seiner Eltern machte, zu dem Ort, an dem er sich immer am wohlsten gefühlt hatte. Esmeralda kniete sich vor ihm nieder, um ihm in die Augen sehen zu können und legte ihre Hände auf seine Schultern. Frodo sah sie nur widerwillig an, die Augen noch immer voller verzweifelter Verwirrung. "Es tut mir Leid, Frodo, aber es musste sein", sagte sie ruhig. "Es leben viele Familien im Brandyschloss und viele von ihnen in einem kleinen Zimmer. Es gibt genügend Hobbits in deinem Alter, die kein eigenes Zimmer haben. Vermutlich wird einer von ihnen in nicht allzu ferner Zukunft hier einziehen." Sie lächelte ihm freundlich zu, als sie sich erhob und nach seiner Hand griff, um ihn in sein Zimmer zu führen. "Sei nicht traurig." Frodo warf einen letzten, verzweifelten Blick in den nun verlassenen Raum, ehe er sich schweren Herzens von Esmeralda zu Bett bringen ließ.
Obschon er zuvor vollkommen erschöpft gewesen war, lag er nun wach in seinem Bett und starrte in die Dunkelheit, die ihn umgab. Er konnte nicht glauben, dass sie ihr Zimmer einfach so ausgeräumt hatten. Hatten sie dazu überhaupt das Recht? Die Sachen wurden nicht mehr gebraucht. Sein Herz weinte, als er an Esmeraldas Worte dachte. "Ich brauche sie", wisperte er kaum hörbar, rollte sich traurig unter der Bettdecke zusammen und schloss die Augen.
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Schon beim Frühstück leistete Merry Frodo Gesellschaft. Er hatte zwar schon gefrühstückt, als Frodo endlich aufgestanden war, doch war er der Ansicht, dass ein weiterer Happen nicht Schaden konnte. Sie saßen in einigem Abstand zu Mirabella, die sich mit einigen Damen am anderen Ende des Esszimmertisches bei einer Tasse Tee unterhielt. Merry hoffte, so seinem Vetter ungestört von den Vorkommnissen der letzten Monate berichten zu können. "Einige Wochen vor Jul wurde dann das Zimmer ausgeräumt", fuhr Merry in seinem Bericht fort, schwieg jedoch einen Augenblick, als er den traurigen Ausdruck in Frodos Gesicht bemerkte. "Die Sachen wurden alle aufgehoben", versicherte er, doch sein Blick war beunruhigt, denn Frodos Ausdruck änderte sich nicht. "Es tut mir Leid, dass du nicht da warst, um etwas dagegen einwenden zu können." Frodo schüttelte den Kopf, blickte nachdenklich in seine Teetasse. "Mach dir keine Gedanken darüber, Merry", sagte er nach langem Schweigen. "Es musste so kommen, auch wenn mir lieber gewesen wäre, sie hätten sich etwas Zeit damit gelassen." Merry lächelte. "Es freut mich, dass du so darüber denkst." Er war froh, zu sehen, dass Frodo sich anscheinend nicht mehr so viele Gedanken über seine Eltern machte. Als sein Vetter weggegangen war, war er sehr betrübt gewesen, hatte sich große Sorgen gemacht und war nun umso erleichterter, dass es Frodo sehr viel besser zu gehen schien, als noch bei seinem Aufbruch. "Was ist denn nun mit Marroc?", Frodo senkte seine Stimme, lehnte sich verschwörerisch zu seinem Vetter. "Du hast mir noch immer nicht erzählt, was vorgefallen ist. Hattest du wieder Streit mit ihm?" Merry vergewisserte sich mit einem kurzen Seitenblick, dass ihnen auch wirklich keine Beachtung geschenkt wurde, bevor er antwortete: "Dazu wollte ich gerade kommen. Und, um deine Frage zu beantworten, ja, wir hatten wieder einen Streit. Keiner weiß davon, und dabei soll es auch bleiben!" Er warf Frodo einen vielsagenden Blick zu. "Mein Vater braucht nichts davon zu wissen und auch alle anderen nicht. Worum es bei dem Streit ging, ist unwichtig, denn das ist es nicht, worüber ich mit dir sprechen will. Jedenfalls ist er gleich zu meinem Vater gegangen, als er erfuhr, dass ein Zimmer frei werden sollte." Frodo starrte ihn entgeistert an. Völlig um ihre Heimlichkeit vergessend, rief er entrüstet: "Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass er in das Zimmer meiner Eltern ziehen wird?!" Mirabella hob den Kopf, sah fragend zu ihnen herüber. Frodo, sich seines Fehlers bewusst werdend, legte rasch eine Hand auf den Mund, als Merry ihn erschrocken ansah. Auf Mirabellas Blick antworteten sie mit einem unschuldigen Lächeln, ehe sie erneut die Köpfe zusammensteckten. "Lass mich doch erst einmal ausreden", verlangte Merry mit gesenkter Stimme. Frodo sah ihn ungeduldig an. Jeder Muskel seines Körpers war gespannt. "Papa hat gesagt, er überlegt es sich noch, für was er das Zimmer später verwenden wird und hat ihm nicht zugesagt", fuhr Merry fort. "Es ist noch nicht einmal die Rede davon, dass überhaupt jemand dort einzieht." Frodo stand ruckartig auf. Saradoc konnte niemanden im Zimmer seiner Eltern einziehen lassen und noch weniger sollte es für andere Zwecke verwendet werden. Frodo wurde plötzlich klar, dass er zu lange von hier weg gewesen war und nun alles, das er einst geliebt hatte, dabei war, zu zerbrechen. "Was immer dein Vater vorhat, Marroc wird dieses Zimmer nicht bekommen!" sagte er entschlossen und stapfte aus dem Esszimmer.
Merry sah ihm verblüfft hinterher. Er hatte nicht erwartet, dass Frodo sich so sehr darüber aufregen würde, hatte er doch kurz zuvor noch davon gesprochen, dass er es akzeptieren musste, dass das Zimmer nun verlassen war. Verwirrt runzelte er die Stirn, lächelte dann Mirabella an, die fragend zu ihm herüberblickte.
Frodo war auf dem Weg in sein Zimmer, als Marroc ihm entgegen kam. Der groß gewachsene, kräftig gebaute Hobbit wurde von seinen Freunden Sadoc und Ilberic begleitet. "Sieh an, du bist also doch wieder zurückgekehrt", sagte der ältere spöttisch. Frodo blitzte ihn wütend an, sagte jedoch nichts. Für den Augenblick hatte er vor, sie zu meiden. Er musste erst einen Plan schmieden, um zu verhindern, dass bald ein Unglück geschah. Ohne ein Wort, drängte er sich an ihnen vorüber und ging in sein Zimmer, beinahe überrascht, dass keiner der drei versuchte, ihn aufzuhalten, auch wenn Marrocs hämisches Grinsen nichts Gutes versprach.
Er war tief in Gedanken, als er nach seinem Rucksack griff, um seine Kleider auszupacken. Wie hatte Saradoc das Zimmer Marroc versprechen können? Wenn jemand dort einziehen sollte, dann war er das. Frodo war sich sicher, dass Marroc das mit Absicht gemacht hatte. So hatte er bessere Möglichkeiten, ihn zu erniedrigen, wie er es schon immer getan hatte, wenn sich ihm die Gelegenheit geboten hatte. Marroc wusste, wie sehr er an seinen Eltern hing und hatte sich oft darüber lustig gemacht, wie wenig er ohne sie zurechtkommen würde. Frodo hielt sich an einem Hemd fest, das er in den Schrank legen wollte und schluckte schwer. Wenn er daran dachte, wie verlassen, wie verloren er sich fühlte, seit er den ausgeräumten Raum gesehen hatte, musste er sich eingestehen, dass Marroc Recht hatte. Ohne seine Eltern war er zu nichts mehr Nutze. Wen hatte er denn nun noch? Wen konnte er um Hilfe bitten, wenn Marroc tatsächlich einen fiesen Plan hatte, jetzt wo sein Vater solche Dinge nicht länger richtig stellen konnte? Seine Hände ballten sich zu Fäusten, als ein Zittern ihn durchlief. "Reiß dich zusammen!" schimpfte er sich selbst und kramte einige Hosen aus dem Rucksack. Er war bei Bilbo alleine zurechtgekommen und das würde ihm auch hier gelingen. Marroc sollte dieses Zimmer nie bekommen, dafür wollte er sorgen. Frodo wusste auch schon wie. Nach dem Abendessen wollte er mit Saradoc sprechen und ihn bitten, selbst dort einziehen zu dürfen. Wenn das stimmte, was Merry ihm gesagt hatte, war im Moment noch nichts entschieden und Saradoc würde gewiss einsehen, wie wichtig es ihm war, im Zimmer seiner Eltern zu leben. Marroc würde weiterhin ein Zimmer am anderen Ende der Höhle haben, wo er ihm nichts anhaben konnte. Zufrieden mit seiner Entscheidung lächelte Frodo, als er auch den leer geräumten Rucksack im Schrank verstaute, blickte dann überrascht auf, als es an der Tür klopfte. Merry spähte herein. "Kommst du mit ins Wohnzimmer?", wollte er wissen. "Gorbadoc hat versprochen, eine Geschichte zu erzählen." Bei dem Gedanken an eine Geschichte hellte sich Frodos Miene auf und die beiden huschten rasch durch die Gänge des Brandyschlosses um kein Wort der Erzählungen zu versäumen.
Während Frodo und Merry Gorbadocs Worten lauschten, ging der Nachmittag schnell vorüber. Gemeinsam mit vielen anderen Kindern jeden Alters hatten sie es sich auf dem Fußboden eines der Wohnzimmer gemütlich gemacht und im Schein des Kaminfeuers und einiger Wandlampen Gorbadocs Geschichte gelauscht. Sie handelte vom Alten Wald, der sich östlich des Bocklands befand und gleichzeitig auch die Grenze des Auenlandes darstellte. Die Behauptung, die Bäume in diesem Wald würden miteinander sprechen, sich sogar bewegen, war im ganzen Auenland bekannt, doch vor allem in Bockland gab es unzählige Geschichten darüber. "Die seltsamsten Dinge passierten im Tal der Weidenwinde", sagte Gorbadoc und seine Stimme klang Furcht einflößend, ließ den Kindern einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Nichtsdestotrotz wollten sie mehr darüber erfahren, doch Gorbadoc wandte sich anderen Dingen zu, berichtete stattdessen davon, wie die Bäume eines Tages vor vielen Jahren nahe an die Hecke kamen, die eigens dafür errichtet worden war, um das Bockland vom Wald abzutrennen. Er erzählte vom großen Feuer, das damals entzündet worden war, um die Bäume zu vertreiben und das sie sich seither nicht wieder so nahe an die Hecke herangewagt hatten. "Warst du denn schon einmal im Wald, Großvater?", fragte Frodo neugierig. Sein Interesse für Geschichten war schon immer groß gewesen und der Alte Wald hatte ihn schon sein ganzes Leben ungemein fasziniert. "Das war ich, vor vielen Jahren", antwortete dieser ernst. "Manch ein Brandybock ist schon hinein gegangen, wenn er Lust dazu verspürte. Die meisten bei Tageslicht, denn nachts soll es sehr gefährlich sein." Seine Stimme senkte sich, nahm einen bedrohlichen Unterton an. "Die Bäume mögen keine Fremden. Tagsüber genügt es ihnen, dich zu beobachten, doch nachts, Frodo, nachts beginnen sie zu flüstern. Sie strecken ihre Zweige nach dir aus und bringen dich zum Stolpern." Gorbadoc sah sie einen nach dem anderen an, einen Furcht einflößenden Ausdruck in den Augen, der Frodo unwillkürlich frösteln ließ. Er spürte Merrys Hand, die sich nervös an seinen Arm klammerte. Sie tauschten einen unsicheren Blick, beide ein ebenso mulmiges Gefühl in der Magengegend, wie alle Kinder im Raum. Gorbadoc lachte laut auf und ließ die jungen Hobbits erschrocken zusammenzucken. "Lasst euch nicht schon so früh am Abend von meinen Geschichten erschrecken", lachte er, wobei er Minto Platschfuß, der ihm am nächsten saß, durch die Haare wuschelte. "Jetzt sollten wir erst einmal etwas essen." Als wäre dies ein heimliches Stichwort gewesen, erhoben sich plötzlich alle Kinder und trotteten zum Esszimmer, dicht gefolgt von den meisten Erwachsenen.
Frodo hatte gerade den letzten Bissen seines Kümmelkuchens geschluckt, als Saradoc sich von seinem Platz erhob. "Ich habe heute zwei freudige Nachrichten zu verkünden." Der Herr von Bockland war einer der Ersten, die das Mahl bereits beendet hatten, wollte scheinbar sicher gehen, dass jeder von dieser Ankündigung erfuhr. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Frodos Magen aus und, hätte er noch einen Teil seines Abendessens auf dem Teller gehabt, wäre ihm der Appetit vergangen. Unruhig sah er zum Herrn. "Die Erste von ihnen", fuhr dieser fort, "betrifft Marmadas und seine Frau Hanna." Saradoc bedeutete Marmadas Brandybock aufzustehen. Dieser nickte ihm dankend zu, wirkte jedoch sehr unruhig, als er sich erhob. Er schenkte seiner Frau ein verlegenes Lächeln, das sie nicht weniger verschämt erwiderte. "Hanna und ich", begann er zögernd, "wir erwarten noch in diesem Jahr unser erstes Kind." Tosender Applaus und freudige Zurufe aller Bewohner ließen Marmadas und Hanna über das ganze Gesicht strahlen. Auch über Frodos Züge stahl sich ein Lächeln. Er kannte die beiden gut und es freute ihn, sie so glücklich zu sehen. Als die Hobbits sich wieder beruhigt hatten und Marmadas sich wieder setzte, ergriff Saradoc erneut das Wort. "Die zweite Neuigkeit betrifft einen unserer jüngeren Mitbewohner." Das Lächeln in Frodos Gesicht verschwand und seine Unruhe, für kurze Zeit vergessen, kehrte wieder. Er warf Merry einen fragenden Blick zu, doch dieser zuckte ahnungslos mit den Schultern. "Marroc Boffin, ich habe mich entschieden dir dein eigenes Zimmer zu geben. Fortan wirst du im östlichen Bereich des Brandyschlosses hausen." Frodo riss die Augen auf. Entsetzen spiegelte sich in ihnen wieder. Merry sah überrascht zu ihm auf, als er sich ruckartig von seinem Platz erhob, den Blick direkt auf Saradoc gerichtet. "Das kannst du nicht machen!" schrie er. Ein Hauch Verzweiflung lag in seiner Stimme. Seine Hände ballten sich zu krampfhaften Fäusten. Alle Augen waren nun auf ihn gerichtet. Marroc warf ihm einen mitleidigen Blick zu, was Frodo nur noch mehr verärgerte und ihn in seinem Gedanken bestätigte, dass der ältere Hobbit dies schon von langer Hand geplant hatte. "Frodo, bitte beruhige dich", versuchte Saradoc ihn zu besänftigen, doch Frodo wollte sich nicht abregen. Er musste schleunigst etwas tun und schalt sich selbst, dass er nicht schon früher gehandelt hatte. Weshalb hatte er warten müssen? Verzweifelt sah er sich um, blickte in die verwunderten Gesichter seiner Verwandten und Bekannten. Tränen brannten in seinen Augen und schließlich konnte er ihre Blicke nicht länger ertragen und er fand nicht den Mut sein Anliegen vor allen vorzutragen. Wütend und elend zugleich stürmte er aus dem Esszimmer. "Frodo, warte!" Merry wollte ihm hinterher laufen, doch Esmeralda hielt ihn zurück. Ratlose Augen wurden auf den Stuhl gerichtet, auf dem Frodo noch kurz zuvor gesessen hatte und leises Getuschel erfüllte den Raum. Nur Merry bemerkte das hämische Grinsen in Marrocs Gesicht, als dieser Saradoc etwas ins Ohr flüsterte.
Frodo saß auf seinem Bett, hatte die Arme um die Knie geschlungen und ließ seiner Verzweiflung freien Lauf. Tränen strömten über seine Wangen. Das durfte nicht geschehen. Wenn Marroc erst einmal hier eingezogen war, würde er keine ruhige Minute mehr haben. Er hegte keinen Zweifel daran, dass Marroc dann keine Möglichkeit mehr auslassen würde, um ihn zu quälen und sich über ihn lustig zu machen. Jetzt, da sein Vater kein Auge mehr darauf werfen konnte, würde ihn niemand mehr vor dem älteren Hobbit schützen. Frodo bezweifelte, dass sein Zimmer dann noch sein Zimmer sein würde. Der östliche Gang führte nur zu zwei Räumen: seinem eigenen und dem, welcher nun das neue Heim von Marroc werden sollte. Keiner würde bemerken, was vor sich ging. Marroc würde tun und lassen können, was er wollte. Der bloße Gedanke daran, ließ Frodo einen Schauer der Furcht über den Rücken laufen. Er musste sofort mit Saradoc sprechen und retten, was es noch zu retten gab. Rasch trocknete er seine Tränen und öffnete die Tür, nur um Merry vor sich zu entdecken. "Ich wollte gerade zu dir", erklärte sein Vetter. "Es tut mir Leid. Ich wusste das nicht." "Du kannst nichts dafür, Merry", sagte Frodo rasch und ging bereits den spärlich beleuchteten Gang entlang, fest entschlossen, Saradoc entgegenzutreten. Merry folgte ihm mit einem verwirrten Ausdruck. "Ich muss deinen Vater davon überzeugen, dass es ein großer Fehler wäre, Marroc hier einziehen zu lassen." Merry nickte mitfühlend. "Es schaudert mich, wenn ich daran denke, dass du Tür an Tür mit diesem Rüpel leben sollst." Frodo entgegnete nichts darauf, schenkte seinem Vetter jedoch ein dankendes Lächeln. Merry würde ihn unterstützen und mit ihm an seiner Seite, würde Saradoc ihn bestimmt nicht zurückweisen.
Gemeinsam traten sie in das Arbeitszimmer des Herrn von Bockland. Ein Feuer prasselte im Kamin und tauchte den Raum in ein schummriges Licht. Saradoc saß an seinem Schreibtisch und grübelte über einem Stapel Papiere. Lange Zeit blickte er nicht auf und als er schließlich den Kopf hob, schickte er Merry hinaus, sagte, er wolle mit Frodo alleine sprechen. Der Tonfall, den Saradoc dabei anschlug, ließ Frodo unruhig werden und er ließ seinen Vetter nur ungern gehen, doch hatte er keine andere Wahl. Verunsichert blickte er zu Boden, als Saradoc seufzend seinen ernsten Blick auf ihn richtete. "Was ist vorhin nur in dich gefahren, Frodo?", fragte er und zu Frodos Überraschung klang er nicht halb so verärgert, wie er befürchtet hatte. Dennoch schluckte er schwer, ließ seinen Blick weiterhin auf den Holzdielen ruhen. "Es tut mir Leid, dass ich so aufbrausend war, aber…" "Aufbrausend?", Saradocs Stimme gewann an Lautstärke, ließ Frodo beinahe zusammenzucken. "Das warst du, allerdings." Der Herr von Bockland schwieg einen Augenblick, eine Stille, die Frodo nicht zu brechen wagte. Mit ruhiger Stimme fuhr Saradoc fort. "Ich bin es, der nun für dich verantwortlich ist und ich versuche mein Bestes. Allerdings machst du es mir mit solchen Taten nicht gerade leichter." Frodo nickte stumm, spürte erneute Tränen in sich aufsteigen. Er wollte es Saradoc nicht schwer machen, doch was hätte er sonst tun sollen? Tief Luft holend, hob er den Kopf, blickte zum großen Schreibtisch und dem dahinter liegenden Fenster. "Ich wollte heute Abend mit dir sprechen, wegen dem Zimmer", bemühte er zu erklären und war überrascht, wie kraftvoll seine Stimme klang, in Anbetracht dessen, wie viel Überwindung es ihn gekostet hatte, überhaupt den Mund aufzumachen. "Ich... ich wollte fragen, ob nicht ich dort einziehen darf." Bittend sah er Saradoc an, doch dieser schüttelte den Kopf, blieb ernst. "Nein, Frodo, das geht nicht." "Weshalb nicht?", rief er verzweifelt aus. "Dann wäre mein Zimmer jenes, das frei wird und ich hätte das meiner Eltern." Saradocs Ausdruck blieb unverändert, ebenso wie sein Tonfall. "Es bleibt so, wie es ist. Du lebst schon lange in diesem Zimmer und bisher warst du immer zufrieden damit. Ich sehe nicht ein, warum du es plötzlich verlassen willst." "Es war das Zimmer meiner Eltern!" wiederholte Frodo noch einmal bestimmt, verletzt und verärgert zugleich, dass Saradoc ihn nicht verstand. Den Blick hielt er unverwandt auf den Herrn gerichtet, in der Hoffnung, doch noch Verständnis in dessen Augen zu finden. "Das war es", entgegnete der Herr bestimmt, "und ich verstehe durchaus, dass du nun gerne dort einziehen willst. Allerdings werde ich es dir nicht erlauben. Es bleibt so, wie es ausgemacht wurde. Marroc wird dort einziehen." Er erhob sich von seinem Schreibtisch, ging zur Kommode und holte sich seine Pfeife aus einer der Schubladen. Für ihn war diese Angelegenheit bereits erledigt. Nach allem, was er in den Tagen nach Drogos und Primulas Tod erlebt hatte, war er der Ansicht, dass es besser war, wenn Frodo in seinem eigenen Zimmer blieb und das seiner Eltern an einen anderen weitergereicht wurde. "Also gut, das Zimmer ist für mich verloren", sagte Frodo, der betrübt den Kopf schüttelte. Den Blick hielt er noch immer stur auf dem Herrn gerichtet, denn er fürchtete, wenn er ihn einmal abwandte, würde er nicht wieder den Mut finden, Saradoc anzusehen. "Aber muss ich es denn ausgerechnet an Marroc verlieren?" "Frodo, ich bitte dich", Saradocs Stimme war lauter, als er es beabsichtigt hatte. Er hatte dem Jungen den Rücken zugedreht, doch nun wandte er sich wieder zu ihm um. "Ich kann verstehen, dass du sehr am Zimmer hängst, doch ich verstehe nicht, weshalb du dich so darüber aufregst, dass Marroc es bekommen soll." Frodo starrte ihn ungläubig und mit offenem Mund an, während Saradoc gemächlich zum Schreibtisch zurückging. Hatte er denn nicht bemerkt, dass Marroc nur daran interessiert war, ihn in Schwierigkeiten zu bringen? "Auch er kann sich vorstellen, wie schwer es für dich sein muss, dass nun ein anderer im Zimmer deiner Eltern wohnt", fuhr Saradoc mit wieder gewonnener Ruhe fort. "Er hat mir nach deinem Ausfall beim Abendessen sogar selbst angeboten, dass du jederzeit in sein Zimmer kommen kannst." "Ich will aber nicht in sein Zimmer!" schrie Frodo, dessen Unglauben sich immer mehr in Verärgerung umwandelte. "Siehst du denn nicht, was für ein Spiel er spielt? Er hasst mich!" Seine Augen blitzen wütend. Wollte Saradoc ihn nicht verstehen, oder war er wirklich so blind? Das Herz klopfte ihm bis zum Hals und seine Empörung ließ ihn keuchen, doch Frodo nahm dies kaum wahr. Für ihn zählte nur mehr, Saradoc davon zu überzeugen, dass Marroc nicht in das Zimmer seiner Eltern ziehen durfte. "Es reicht, Frodo!" Saradoc legte seine Pfeife hin und sah wütend auf den Jungen hinab. Jegliche Ruhe seiner Stimme war inzwischen Strenge gewichen. "Du weißt wie er ist!" Frodo wagte einen letzten, verzweifelten Versuch. "Du hast von den Streitigkeiten zwischen ihm und Merry erfahren. Du weißt, dass er nur daran interessiert ist, Unheil anzurichten." "Hör damit auf, Frodo!" schimpfte Saradoc und rang nach Haltung. "Ich weiß durchaus vom Streit im letzten Sommer, doch ein Streit ist nichts Besonderes und so etwas kommt häufig vor. Marroc wurde damals bestraft und seither habe ich von keinen gröberen Zwischenfällen mehr gehört."
Frodo biss sich auf die Lippen. Er hatte Merry versprochen, nichts vom Streit zu erzählen, und dieses Versprechen würde er halten. Doch Marroc hatte auch ihn schon immer gepeinigt, wenn sie sich begegnet waren. Frodo hatte selten etwas davon gesagt und nur wenn die Auseinandersetzungen überhand genommen hatten, hatte er sich entweder seiner Mutter oder seinem Vater anvertraut. Hatten sie denn nie mit Saradoc darüber gesprochen?
Als Frodo in Schweigen verfiel, ließ sich Saradoc zufrieden zurück in seinen Sessel fallen, vermutend, der Junge habe nun endlich verstanden. Erneut nahm er seine Pfeife zur Hand, und begann damit, sie zu stopfen.
"Du willst mich nicht verstehen, habe ich Recht?" Frodo hatte den Kopf schief gelegt und seine Stimme zitterte. "Ich verstehe dich durchaus, Frodo. Du willst nicht, dass jemand anderes, als du selbst in das Zimmer deiner Eltern einzieht und versuchst jetzt mit allen Mitteln zu verhindern, dass Marroc es bekommen wird", folgerte Saradoc in geruhsamem Ton. "Ich glaube das einfach nicht!" Frodos Unverständnis platzte in einer schrillen Anschuldigung aus ihm hervor, ehe er es hatte verhindern können. "Er hasst mich! Er wird niemals einen Schritt der Versöhnung auf mich zu machen!" Saradoc schlug wütend seine Hand auf den Tisch, erhob sich aus seinem Sessel und funkelte den jungen Hobbit vor sich an. Überrascht über die plötzliche Wut in den Augen des Herrn, wich Frodo einen Schritt zurück. "Dann wirst du eben den ersten Schritt machen, denn wie mir scheint, bist du es, der nicht mit Marroc auskommt und nicht umgekehrt", donnerte der Herr und seine Stimme ließ Frodo beinahe einen weiteren Schritt nach hinten machen, doch er war aufgebracht und seine Zunge schneller, als gut für ihn war. "Sollte ich einen Schritt auf ihn zu machen, wird er mir auf die Zehen treten!" "Dann soll er das machen!" ließ Saradoc ihn zornig wissen und das gefährliche Funkeln in seinen Augen wurde nicht weniger. "Mir scheint du hast es nötig, dass dir jemand auf die Zehen tritt!" Saradoc hatte den Jungen noch nie so aufgebracht erlebt und er konnte sich nicht vorstellen, dass allein sein Unwillen Marroc gegenüber, den jungen Hobbit dazu brachte, so mit ihm, dem Herrn von Bockland, zu sprechen.
Frodo sah ihn ungläubig an. Tränen verschleierten seinen Blick. Hatte er es wirklich nötig, dass ihm jemand auf die Zehen trat? War er zu weit gegangen? Was sollte er denn noch tun, um Saradoc verständlich zu machen, dass Marroc ein falsches Spiel spielte? "Er hat das alles geplant!" schluchzte er verzweifelt, die Stimme noch immer schrill in seinen Ohren. "Wenn er erst einmal eingezogen ist, dann..." "Genug!" Saradoc ballte seine Hände zu Fäusten und schlug erneut auf den Schreibtisch. Was fiel dem Jungen überhaupt ein? Es wurde höchste Zeit, dass er Frodo wieder klar machte, wo seine Grenzen lagen. "Ich will nichts mehr davon hören, Frodo Beutlin!" zischte er zornig. "Mir scheint, der Besuch bei Bilbo hat dir alles andere als gut getan. Ich glaube, du hast die Regeln, die in dieser Höhle herrschen, vergessen. Ich habe hier das Sagen und ich habe eine Entscheidung getroffen. Es tut mir Leid, dass sie dir missfällt, aber damit musst du dich abfinden. Marroc wird in das Zimmer deiner Eltern einziehen. Du wirst sehen, so schlimm wird es nicht sein, ihn zum Nachbarn zu haben. Sollte es Schwierigkeiten geben, lasse ich jederzeit mit mir reden, aber vorerst ist die Entscheidung gefallen." ‚Die einzige Schwierigkeit ist, dass Marroc dort einzieht!' wollte Frodo erwidern, doch das Funkeln in Saradocs Augen brachte ihn zum Schweigen. Er hatte verloren. Tränen rannen über seine Wangen, als er dem Herrn von Bockland ein letztes Mal flehend in die Augen sah. Saradoc wandte den Blick von ihm ab, sah stattdessen auf die Pfeife, die er sich vorbereitet hatte. Seine Hände entspannten sich wieder. "Du solltest jetzt gehen!" ließ er den jungen Hobbit mit kontrollierter Stimme wissen. Frodo nickte schwach, senkte den Kopf und verließ mit zittrigen Knien und ohne ein weiteres Wort, das Zimmer.
Saradoc seufzte und ließ sich erschöpft auf seinen Sessel fallen. Was war nur in den Jungen gefahren? Hatte er denn jeglichen Respekt vor ihm verloren? Was trieb ihn dazu, in einem solchen Ton mit ihm zu sprechen? War es wirklich nur, um seinen Willen durchzusetzen? Allerdings hatte er sich eingestanden, dass das Zimmer für ihn verloren war. War tatsächlich Marroc selbst das Problem? Er wusste um die Streitigkeiten im vergangenen Sommer. Auch war er sich darüber bewusst, dass Merry und Frodo nicht unbedingt gut auf Marroc zu sprechen waren, doch nach dem, was beim Abendessen vorgefallen war, glaubte er, dass der Grund dafür bei Frodo und Merry lag. Er seufzte noch einmal und rieb sich mit den Fingern zwischen den Augen. Marroc und Frodo würden miteinander auskommen, sollte es dennoch Probleme geben, würde er Wege finden, diese zu beheben.
Schwer atmend lehnte Frodo sich gegen die Wand, nachdem er in den Gang getreten war. Seine Knie waren weich und er zitterte. Woher hatte er den Mut für eine solche Auseinandersetzung mit Saradoc genommen? Nie zuvor hatte er sich gegen die Entscheidungen des Herrn gestellt, nicht zuletzt, weil sie ihn selten betrafen. Erst recht nicht in solch einem hitzigen Wortwechsel. Nicht einmal bei seinem Vater hätte er das gewagt. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und sah sich um. Merry wollte hier auf ihn warten, doch statt Merry lehnte Marroc einige Meter entfernt an der Wand. "Mir scheint, du hast deinen Willen nicht bekommen", meinte dieser mit einem hinterhältigen Lächeln und trat gemächlichen Schrittes auf ihn zu. Frodo funkelte ihn wütend an, denn Marroc war genau derjenige, dem er heute nicht begegnen wollte. Für eine weitere Auseinandersetzung war er bereits zu erschöpft. "Lass mich in Ruhe!" Marroc lächelte sein boshaftes Grinsen. "Warum denn gleich so wütend?", hänselte er, "Geht man so mit seinem neuen Nachbar um?" "Du wirst nicht lange mein Nachbar sein!" ließ Frodo ihn giftig wissen, ehe er sich von ihm abwandte. "Was willst du denn noch tun?" fragte Marroc und Frodo konnte das höhnische Lachen selbst in seiner Stimme hören. "Hast du Saradoc nicht zugehört? Er hat sich entschieden und ich werde dafür sorgen, dass es keine Schwierigkeiten geben wird, die ihn dazu verleiten könnten, mich wieder in das Zimmer meiner Eltern zu schicken." Frodo entgegnete nichts, sondern ging weiterhin den Gang entlang. Er konnte hören, dass Marroc ihm folgte, zwang sich jedoch dazu, seine Schritte nicht zu beschleunigen. Sie waren in einem der Hauptgänge des Brandyschlosses und es konnte jederzeit passieren, dass jemand aus einem der Zimmer trat. Marroc würde es nicht wagen, ihm hier zu nahe zu kommen. Umso erschrockener war er, als er plötzlich grob von hinten gepackt und gegen die Wand gedrückt wurde. "Hast du mich verstanden, Kleiner?", zischte Marroc und seine böswilligen Augen blickten tief in die seinen. "Es wird keine Schwierigkeiten geben, sonst bist du es, der dafür bezahlen wird." Überrascht, ängstlich und wütend zugleich sah Frodo zu ihm auf. Er versuchte, die Hand, die ihn am Kragen gepackt hatte, weg zu schlagen, doch Marroc verstärkte seinen Griff noch und drückte ihn fester gegen die Wand, nahm ihm so beinahe den Boden unter den Füßen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals und seine Augen wanderten verzweifelt von einer Seite zur anderen, in der Hoffnung, jemand würde sie entdecken, doch der Gang war an diesem Abend überraschend leer. "Erinnerst du dich an das Gespräch mit Saradoc?", höhnte der ältere Junge, doch seine Worte klangen fast wie eine Drohung. "Es ist keine fünf Minuten her. Erinnerst du dich auch an seine Worte, dass dir der Besuch bei dem alten Bilbo Beutlin nicht gut getan haben soll? Ich erinnere mich sehr gut daran." Ein böswilliges Grinsen schlich über sein Gesicht, doch dann wurde er sofort wieder ernst und beugte sich gefährlich nah, an Frodos Gesicht heran. "Wenn du Probleme machst, Beutlin, werde ich dafür sorgen, dass es nie wieder zu einem Besuch bei diesem Dummschwätzer kommen wird." Mit diesem Worten ließ Marroc von ihm ab und stapfte davon, als wäre nichts gewesen. Frodo sah ihm entsetzt hinter her, während seine Hände unwillkürlich damit beschäftigt waren, seinen Kragen wieder glatt zu streichen. Seine Finger schienen der einfachen Aufgabe kaum gewachsen, denn er zitterte noch mehr, als zuvor. Konnte Marroc das wirklich tun? Konnte er Saradoc dazu bringen, ihm einen weiteren Besuch bei Bilbo zu verbieten? "Bilbo", flüsterte er verzweifelt. Das durfte niemals geschehen.
Mit Tränen in den Augen rannte Frodo in sein Zimmer und ließ sich in sein Bett fallen. Er hatte alles verloren. Das Zimmer seiner Eltern. Den Kampf gegen Marrocs Einzug. Sein Leben. Marroc würde fortan mit ihm machen können, was er wollte. Sobald er sich gegen den älteren Jungen stellte, würde dieser dafür sorgen, dass er Bilbo nie wieder besuchen konnte. Weinend griff Frodo nach dem Bild seiner Eltern und drückte es an seine Brust. Soweit durfte es niemals kommen.
Kapitel 17: Marroc und andere Schwierigkeiten
Die Wochen vergingen und der Winter ging in den Frühling über. Vögel bauten ihre Nester und duftende Blumen blühten in herrlichen Farben. Die Temperaturen stiegen und der Sommer kündigte sein Kommen an. Frodo hatte viele Briefe von Bilbo erhalten, beinahe jede Woche einen, die er fleißig beantwortete. Auch hatte er sich über die Monate ein dickes Buch mit leeren Seiten besorgt, in welchem er seine Gedanken niederschrieb. Marroc war schon lange in seinem neuen Zimmer eingezogen und von ihm schrieb Frodo am meisten. Jeden einzelnen Streit hatte er festgehalten, ebenso wie die Drohung, dass er Bilbo nie wieder sehen würde, sollte er Marroc verraten. Saradoc wusste von all dem nichts, und auch Bilbo hatte Frodo nie etwas darüber berichtet. Selbst Merry hatte kaum eine Ahnung, was im östlichsten Gang des Brandyschlosses vor sich ging. Frodo ertrug sein Leiden schweigend, auch wenn er nach seiner Rückkehr nach Bockland schnell hatte feststellen müssen, dass sich einige Dinge geändert hatten. Er war schon immer mehr ein Einzelgänger gewesen, doch selten hatte man ihm so viele heimliche Blicke zugeworfen, wie das nun der Fall war. Viele hatten sich von ihm abgewandt, bezeichneten ihn als seltsam oder verrückt, wenn sie glaubten, er würde sie nicht hören. Frodo verletzte das, doch kümmerte er sich nicht weiter darum, denn Merry war an seiner Seite und würde es auch immer bleiben.
Die Sonne war schon lange untergegangen, als Frodo in seinem Zimmer saß und in sein Tagebuch schrieb. Seit der Frühling gekommen war, hatte ihn eine große Sehnsucht heimgesucht, die Sehnsucht nach seinen Eltern, und wann immer sie zu stark wurde, zog er sein Buch heraus und schrieb seine Gedanken nieder. Über seine Gefühle zu schreiben, fiel ihm leichter, als mit anderen darüber zu sprechen. Letzteres schien ihm unmöglich, denn selbst beim Schreiben fand er oft nicht die richtigen Worte und der Gedanke, dass jemals jemand davon erfuhr und ihn darauf ansprechen konnte, erfüllte ihn mit Grauen. Doch schreiben musste er, oder seine Sehnsucht würde ihn zerfressen. Seufzend steckte Frodo die Feder zurück in die Halterung, brachte dadurch die Flamme einer Kerze zum flackern. Er verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte seinen Kopf darauf, den Blick starr auf das Bild vor sich gerichtet. Seine Finger strichen zärtlich über den Rahmen. "Könnt ihr denn nicht zu mir zurückkehren?", wisperte er betrübt. "Nein, das können sie nicht! Wie naiv bist du eigentlich?" Frodo schreckte hoch und fuhr überrascht herum. Marroc lehnte dreist gegen den Schrank und blickte zum Schreibtisch, das nussbraune Haar noch feucht von einem Bad, das er wohl gerade genommen hatte. "Was machst du hier?", rief Frodo mit klopfendem Herzen. "Das ist mein Zimmer!" Marroc zog eine Augenbraue hoch und trat grinsen auf ihn zu. "Na und?" Wütend funkelte Frodo ihn an, packte sein Buch und stand auf, entschlossen, sein Zimmer zu verteidigen, auch wenn er das schon mehrere Male erfolglos versucht hatte. "Ich will, dass du jetzt gehst, sonst..." "Sonst was?", fragte Marroc barsch. "Willst du zu Saradoc laufen und dich beklagen? Er glaubt dir ohnehin nicht mehr, seit du das Schmuckkästchen von Esmeralda gestohlen hast." Frodo sah ihn entrüstet an. Vor etwas mehr als drei Wochen hatte er eines Morgens mitangehört, wie Esmeralda seiner Großmutter völlig verzweifelt mitgeteilt hatte, dass ihr Schmuckkästchen unauffindbar war. Die Herrin von Bockland bewahrte darin einige der wertvollsten Ketten und Ringe Bocklands, vielleicht sogar das ganzen Auenlandes auf. Frodo hatte nur einmal einen kurzen Blick darauf werfen dürfen, als er kurz vor Beginn der Julfeierlichkeiten vor zwei Jahren mit Merry in Esmeraldas Zimmer gewesen war und sie sich eine der Ketten umgelegt hatte. Er war sehr angetan von den funkelnden Steinen, doch wäre ihm nie in den Sinn gekommen, das Kästchen zu stehlen. "Das war nicht ich, sondern du!" sagte er anklagend, doch die Anwesenheit des älteren Jungen schüchterte ihn zu sehr ein, als dass seine Stimme die nötige Schärfe gehabt hätte. "Natürlich, das hast du Saradoc auch oft genug gesagt", Marroc lachte, während seine Finger über den Schreibtisch strichen. Frodo stand inzwischen mit dem Rücken zu seinem Bett und beobachtete den älteren wachsam, sein Tagebuch fest an die Brust gedrückt. "Ich war jedoch den ganzen Nachmittag mit Ilberic fischen und hätte das Schmuckkästchen gar nicht nehmen können", fuhr Marroc fort und lächelte dabei siegessicher, "und da ich einen Zeugen habe, hat Saradoc mir geglaubt." Der Blick des älteren Hobbits fiel auf Frodos Bild und Frodo fürchtete schon, er würde es nehmen, doch dann wandte er sich wieder ihm zu, das eingebildete Grinsen noch breiter als zuvor. "Du allerdings, warst den ganzen Nachmittag zu Hause. Noch dazu wurde das Kästchen in deinem Schreibtisch gefunden", er schmunzelte. "Keine Sorge, ich habe Saradoc gesagt, dass er sich nicht zu viele Sorgen machen soll, schließlich hast du vor gar nicht allzu langer Zeit deine Eltern verloren." Er machte einen Schritt auf den kleinen Hobbit zu und legte ihm gespielt freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. Frodo wich zurück und funkelte ihn wütend an. Er hatte von Anfang an gewusst, dass Marroc das Schmuckkästchen gestohlen und dann in seinem Zimmer versteckt hatte. Wie er das gemacht hatte, war ihm ein Rätsel geblieben, ebenso, wie er nie erfahren würde, was der ältere Hobbit gesagt hatte, dass Saradoc ihn für einen möglichen Schuldigen gehalten hatte. "Was ist das eigentlich für ein Buch?" Mit einer schnellen Handbewegung hatte Marroc Frodo das Buch entrissen. Entsetzt packte Frodo den älteren am Arm, versuchte, sein Tagebuch zurückzubekommen, doch dieser drehte sich von ihm weg und hielt das Buch in die Höhe, sodass er es nicht erreichen konnte. "Gib es mir zurück!" rief Frodo verzweifelt, doch Marroc dachte nicht daran. Er griff nach seinem Handgelenk, drehte es, bis Frodo vor Schmerz aufschrie und stieß ihn dann zur Seite. Der junge Hobbit landete unsanft auf dem Fußboden, rieb sich das schmerzende Handgelenk. Missmutig sah er zu seinem Gegner auf, wollte sich wieder aufrappeln, um einen weiteren Versuch zu starten, sein Eigentum zurückzuholen, doch ein Blick von Marroc genügte und Frodo wusste, dass, egal was er tat, er derjenige sein würde, der die Konsequenzen dafür tragen musste. Ob es nun jene waren, die auf ihn zukommen würden, wenn Marroc in seinem Tagebuch las, oder jene, wenn Marroc wieder irgendwelche Lügengeschichten über ihn verbreitete, weil er das Buch nicht hatte lesen können, spielte dabei keine Rolle. Geschlagen setzte Frodo sich auf sein Bett und beobachtete den älteren Jungen misstrauisch und mit ängstlichen Augen.
Marroc blätterte die Seiten durch, vollkommen emotionslos wie es schien, warf Frodo schließlich einen schiefen Blick zu. "Du bist wirklich naiver, als ich dachte, wenn du noch immer glaubst, sie würden wieder kommen", Marroc klappte das Buch zu, sah ihn scharf an. "Sie kommen nicht wieder!" Frodo wich seinem Blick aus. Seine Hände verkrampften sich. Scheinbar genügte es Marroc nicht, sein Tagebuch zu lesen, er musste sich auch noch über ihn lustig machen. Er wusste, dass seine Eltern nicht wieder kommen würden, doch das hieß nicht, dass er nicht davon träumen konnte. Es war eine Sehnsucht, ein Wunsch und dies war sein Tagebuch und er konnte hineinschreiben, was immer er wollte, schließlich war es nie dazu gedacht gewesen, auch von anderen gelesen zu werden und das ausgerechnet Marroc derjenige war, schmerzte. "Du hast einiges über mich geschrieben, allerdings übertreibst du maßlos!" Ein hämisches Grinsen glitt über das Gesicht des älteren, doch dieses verschwand blitzschnell und ehe Frodo sich versah, kniete Marroc vor ihm und packte ihn am Kragen. Erschrocken wich Frodo zurück und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien, doch Marroc zog ihn zu sich herunter, sodass er beinahe von seinem Bett fiel. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als der andere ihm so nah kam, dass er seinen Atem im Gesicht spüren konnte. "Ich rate dir, dass es niemals jemand zu Gesicht bekommt!" knurrte er. "Ansonsten werde ich dafür sorgen, dass du ernsthafte Probleme bekommst, Frodo. Du weißt, dass ich dazu fähig bin." Seine Stimme war drohend und sein Blick versprach eine Vielzahl von grausamen Gemeinheiten. Frodo schluckte schwer, nickte kaum merklich. Er stützte sich mit den Händen am Bett ab, um zu verhindern, dass er von der Matratze rutschte. Marroc nickte zufrieden, löste seinen Griff und erhob sich. Das Buch warf er achtlos in eine Ecke, bevor er das Zimmer mit stolzer Haltung verließ.
Frodos Blick verharrte auf der geschlossenen Tür. Seine Hand glitt an seinen Kragen und brachte ihn mit zitternden Fingern wieder in Ordnung. Sein Herz raste, sein Atem ging schnell. Er ignorierte das Brennen in seinen Augen und holte tief Luft.
Warum konnte Marroc so mit ihm umgehen? Die Antwort war einfach, auch wenn sie ihm nicht gefiel. Marroc hatte ihn in der Hand. Wann immer er sich gegen dessen Angriffe zur Wehr setzte, verbreitete Marroc eine neue Lüge über ihn. Meist so geschickt, dass niemand Verdacht schöpfte. Niemand, außer Merry. Doch was konnte Merry schon machen? Natürlich war er der Sohn des Herrn von Bockland, doch auch wenn Saradoc inzwischen misstrauisch geworden war, konnte Merry ihm nicht helfen. Dazu wusste sein Vetter viel zu wenig über das, was vor sich ging. Frodo senkte hilflos den Kopf. Weshalb schwieg er? Warum ließ er sich so von Marroc unterdrücken, ohne jemandem auch nur ein Wort zu verraten? Nichts wäre ihm lieber, als diesem Leiden ein Ende zu setzen, doch er konnte nicht sprechen. Ganz gleich, was er unternahm, Marroc würde einen Weg finden, ihn von Bilbo fernzuhalten und das wollte er keinesfalls riskieren. Bilbo war ihm sehr ans Herz gewachsen, besonders nach seinem letzten Besuch in Beutelsend und Frodo wollte nicht, dass Marroc auch ihm ein falsches Bild von sich aufzwang. Noch immer zitternd kroch er schließlich zu seinem Tagebuch, drückte es einen Augenblick an sich und wischte dann vorsichtig über den ledernen Umschlag. Er stand auf und legte es in die unterste Schublade seines Schreibtisches. Morgen würde er über ein besseres Versteck dafür nachdenken. Marroc sollte nicht noch einmal Einblick in seine geheimsten Gedanken erhalten.
~*~*~
Die Sonne stand schon hoch am tiefblauen Himmel, als Merry und Frodo auf den Hügeln vor dem Schloss herumalberten. Mit einem lauten Seufzen ließ sich Merry rücklings in das saftige Gras fallen. Frodo tat es ihm gleich. Ein sanfter Luftzug brachte die Grashalme zum tanzen und strich über die Gesichter der jungen Hobbits. Verträumt beobachtete Frodo die Wolken, die gemächlich am Himmel entlang zogen. Für eine Weile herrschte Schweigen, dass nur vom Zwitschern der Vögel und von den entfernten Rufen anderer Kinder durchbrochen wurde. Merry drehte sich plötzlich zur Seite, stützte sich auf den Ellbogen und sah ihn ernst an. "Wie kommst du eigentlich in letzter Zeit mit Marroc aus?"
Frodo verkrampfte sich, blickte überrascht auf. Wusste Merry von Marrocs Eindringen am vergangenen Abend? Ein unruhiges Kribbeln machte sich in seinem Bauch bemerkbar, ließ ihn wachsam werden. "Wie meinst du das?" Er wollte seine Frage beiläufig klingen lassen, was ihm nicht ganz gelang. "Du hast vor einiger Zeit berichtet, dass er in deinem Zimmer war, ohne dass du es wolltest", erklärte Merry. "Es würde mich auch wundern, wenn du ihm das erlauben würdest." Er setzte zu einer kurzen Pause an, in der er Frodo eingehend musterte, doch dieser verzog keine Miene, weiterhin darum bemüht gleichgültig zu wirken. "Ich habe mich gefragt, ob sich das inzwischen gebessert hat, oder ob du noch immer mit ihm zu kämpfen hast." Frodo sagte nichts, sondern wandte sich wieder den Wolken zu. Er war sich unsicher, was er darauf antworten sollte, denn er wusste, Merry würde auf eine Antwort bestehen, oder annehmen, dass er Probleme hatte. Dennoch musste er vorsichtig sein, nicht zuviel preiszugeben oder Marroc würde Wegen finden, ihn dafür büßen zu lassen. Merry hatte sich ebenfalls wieder auf den Rücken gelegt, als Frodo zu einer stotternden Antwort ansetzte. "Er... er war erst gestern wieder uneingeladen in meinem Zimmer. Er...", Frodo verfiel in Schweigen, holte dann tief Luft und schüttelte leicht den Kopf, ohne den Blick von den Wolken zu nehmen. "Es war nichts weiter. Ich komme zurecht."
Merry betrachtete seinen Vetter argwöhnisch. Er verschwieg etwas, dessen war er sich sicher. Nur zu gerne hätte er gewusst, was vor sich ging, doch er konnte Frodo nicht dazu zwingen, ihm alles zu erzählen. Zwar kannte er fast alle Geheimnisse seines Vetters, doch seit dem vergangenen Herbst war Frodo verschlossener denn je und Merry wurde das Gefühl nicht los, dass er selbst ihm nicht mehr alles anvertraute, so, wie er es früher immer getan hatte. Er seufzte und schüttelte die trüben Gedanken ab. Aus den Augenwinkeln schielte er zu seinem Vetter, versuchte ein verschmitztes Grinsen zu verstecken. Die Mühe hätte er sich gar nicht zu machen brauchen, denn Frodo schien vollkommen vertieft in den Anblick des Himmels und hätte es ohnehin nicht bemerkt. Mit einem lauten Aufschrei stürzte er sich auf seinen Vetter und kitzelte ihn erst unter den Achseln, dann am Bauch. Frodo fuhr erschrocken hoch und versuchte, Merrys Finger von sich fernzuhalten, stieß die betrügerischen Hände von sich weg. "Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken?!" schimpfte er mit tadelndem, todernstem Blick. Anstatt zu antworten setzte Merry ein herausforderndes Grinsen auf. Frodo zog eine Augenbraue hoch, konnte sich aber das Lachen nicht länger verkneifen und warf sich nun seinerseits auf seinen Vetter. Mit einem überraschten Aufschrei fiel Merry rückwärts und die beiden purzelten kichernd den Abhang hinunter.
Aus dem Schatten der großen Eiche trat Marroc. Sein Blick war auf die lachenden jungen Hobbits gerichtet, die er nun schon einige Zeit beobachtet hatte. Das Gesicht hatte er zu einer Maske der boshaften Berechnung verzogen und seine Augen blitzten. "Du redest zu viel, Frodo", sagte er leise zu sich selbst. "Mir scheint, du benötigst einen Denkzettel." Er wandte sich von den Kindern ab, ging auf der anderen Seite des Hügels hinunter und ein arglistiges Grinsen trat in sein Gesicht.
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Frodo stapfte durch die Gänge des Brandyschlosses, auf der Suche nach einem kleinen Happen zu essen, als Saradoc ihm nervös entgegen gerannt kam. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und er wirkte verwirrt. "Frodo, hast du Merry gesehen?", fragte er hastig, als er ihn entdeckte. Frodo schüttelte den Kopf, runzelte verwirrt die Stirn. So zerstreut hatte er den Herrn noch nie erlebt und er fragte sich, was ihn so sehr durcheinander brachte. "Was ist los?" "Er sollte heute Nachmittag zu mir kommen", erklärte Saradoc, sah dabei jedoch immer wieder über ihn hinweg, als hoffe er, Merry würde plötzlich hinter ihm auftauchen. "Ich habe ihm versprochen, ihm beim Lesen ein wenig unter die Arme zu greifen, doch bis jetzt ist er noch nicht erschienen." Überrascht wandte er sich um, als Rufus Lochner aus einem der Zimmer trat. Frodos Onkel grüßte sie kurz und ging dann gemächlichen Schrittes den Gang hinunter. Saradoc seufzte und wandte sich wieder Frodo zu. "Ich wollte ihm sagen, dass es heute Nachmittag nicht geht. Hanna bekommt ihr Kind und ich wäre froh, wenn du etwas für mich tun könntest." Frodo machte große Augen. "Hanna bekommt ihr Baby?!" rief er überrascht, erfreut und zugleich erschrocken. "Soll ich Merry Bescheid sagen, dass du keine Zeit hast?" Er war schon dabei, sich abzuwenden, um nach seinem Vetter zu suchen, als Saradoc ihm eine Hand auf die Schulter legte, um ihn aufzuhalten. "Nein, Frodo! Du musst nach Bockenburg laufen und Fastred zu uns bringen. Mirabella braucht seine Hilfe." Saradocs ernster Ausdruck ließ Frodo nicht lange überlegen und so nickte er knapp und eilte aus dem Brandyschloss.
Er rannte nach Osten, so schnell ihn seine Beine trugen. Saradocs Stimme mochte zwar ruhig geklungen haben, doch an seiner Zerstreutheit hatte Frodo erkannt, dass diese Angelegenheit ernster war, als sie sich anhörte. Er wusste, dass seine Großmutter schon vielen Frauen geholfen hatte, Kinder zur Welt zu bringen, auch wenn ihm nie erlaubt worden war, dabei zusehen, auch nicht, als seine Cousine Drida vor fünf Jahren ihren ersten von drei Söhnen geboren hatte. Selbst seine Mutter war damals dabei gewesen, doch ihn hatte man weggeschickt, noch ehe er einen Blick in das Zimmer hatte werfen können. Damals war kein Heiler hier gewesen und nur Mirabella, seine Tante Amaranth und seine Mutter hatten Drida beigestanden, auch wenn seine Großmutter sehr viel länger in Dridas Zimmer geblieben war, bis das laute Schreien eines Neugeborenen durch die Gänge gehallt war. Er fragte sich, was wohl mit Hanna war, dass sie einen Heiler benötigte und die Künste seiner Großmutter nicht ausreichten. Er verstand zwar nichts vom Kinderkriegen, doch hatte er oft gehört, wie seine Mutter Mirabellas Können rühmte. Sein Herz raste, sein Atem ging schnell, während er den geebneten Weg entlang stolperte und Frodo befürchtete, dass er ihm bald ausgehen würde, wenn er mit dieser Geschwindigkeit weiterlief. Er verlangsamte seinen Schritt ein wenig, als er weit in der Ferne die ersten Häuser Bockenburgs erkennen konnte.
Auf einmal traten zwei Hobbits aus den Büschen und stellten sich ihm in den Weg. "Lasst mich durch!" rief Frodo, vollkommen außer Atem. Er wollte schon versuchen über die Wiese ausweichen, als er erkannte, wer sich ihm in den Weg gestellt hatte. Ilberic und Sadoc, Marrocs Freunde. Keuchend tat er noch wenige Schritte, blieb schließlich stehen, als er erkannte, dass die beiden ihn auch nicht vorbei lassen würden, wenn er über die Wiese auswich. Noch einmal verlangte er, durchgelassen zu werden, doch die beiden lachten nur und schüttelten die Köpfe. Frodo wollte sich an ihnen vorüberdrängen, als ihn jemand grob an der Schulter packte. "Wohin denn so eilig?" Marrocs Stimme drang von hinten an sein Ohr und er fuhr erschrocken herum, schlug die Hand auf seiner Schulter weg. "Ich muss zu Fastred! Hanna braucht den Heiler!" Frodo sah seinem Gegenüber ernst in die Augen. "Sofort!" "Wer sagt das?", fragte Marroc scharf, und seine Augen blitzten, als er sich zu ihm herunterbeugte. "Saradoc", lautete die knappe Antwort. Frodos Brustkorb hob und senkte sich in raschen Atemzügen. Der Schweiß rann ihm von der Stirn und klebte an seinem Nacken, während er darum bemüht war, Marrocs Blick standzuhalten. "Saradoc?" Ein grässliches Grinsen trat auf Marrocs Gesicht, das Frodo einen Schritt zurückweichen ließ. Der ältere Hobbit plante seine nächste Grausamkeit, war vielleicht nur noch wenige Schritte davon entfernt, sie auszuführen. Er wich einen weiteren Schritt zurück, doch ein Kopfnicken von Marroc genügte und Ilberic und Sadoc packten ihn an der Schulter. Frodo blickte erschrocken von einem zum anderen, als Marroc noch näher auf ihn zutrat, das Grinsen in seinem Gesicht voller boshafter Entschlossenheit. "Das macht die Sache interessant!" ließ er ihn selbstgefällig wissen. "Sorgt dafür, dass er hier bleibt. Ich komme bald wieder." Mit diesen Worten stapfte der ältere davon und lachte dabei triumphierend. Frodo sah ihm entgeistert hinterher. Plötzlich verstand er, dass Marroc nicht erst dabei war, ein neues Netz zu spinnen, sondern dass er seinem Peiniger schon längst in die Falle gegangen war. "Das kannst du nicht machen!" rief Frodo fassungslos und versuchte, sich aus dem Griff der älteren Jungen zu befreien, doch es war vergebens. Sadoc und Ilberic hatten jeweils eine Hand auf seine Schultern gelegt, während die andere seine Arme fest umklammert hielt. "Marroc!" rief Frodo noch einmal verständnislos. "Warum kannst du mich nicht einfach meinen Auftrag erfüllen lassen?" Der ältere Hobbit lachte laut auf, als er kurz über die Schulter blickte. "Das wirst du noch früh genug erfahren, Kleiner!" Er winkte den dreien amüsiert zu, lief dann lachend von dannen.
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Marroc durchstreifte die Gänge des Brandyschlosses auf der Suche nach Saradoc. Er spähte gerade in eines der großen Wohnzimmer, als der Herr von Bockland um die Ecke gerannt kam. Er schien sehr nervös und beunruhigt, machte nicht den Eindruck, als wisse er, weshalb er durch die Gänge eilte. "Marroc, hast du Frodo gesehen?" fragte er ungeduldig. Marroc nickte, setzte eine vollkommen ehrliche Miene auf, auch wenn er Mühe hatte, sich ein selbstzufriedenes Grinsen zu verkneifen. "Gerade eben war er unten am Fluss." "Am Fluss?!" Saradoc starrte ihn entgeistert an. "Was hat er am Fluss zu suchen, wenn ich ihn zu Fastred schicke?" Marroc zuckte mit den Schultern. "Lauf du zu Fastred, Marroc!" sagte Saradoc dann und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Beeile dich!" Marroc nickte und wandte sich um, während der Herr mit einem verzweifelten Seufzer wieder in die Richtung ging, aus der er gekommen war.
Marroc lächelte, während er nach Bockland eilte, zufrieden damit, wie sich die Dinge entwickelten. Von seinen Freunden und Frodo fehlte jede Spur, als er die Stelle passierte, an der er sie verlassen hatte. Er grinste noch breiter, begann schließlich zu laufen. Nur wenig später erreichte er das Haus des Heilers und klopfte an der Tür. "Herr Fastred, seid Ihr zu Hause?" Fastred öffnete die Tür und begrüßte den Jungen, der ihm sogleich von der bevorstehenden Geburt berichtete, woraufhin dieser keine weitere Minute verlor.
Nachdem er den Heiler zum Brandyschloss geführt hatte, machte sich Marroc wieder auf den Weg nach Bockenburg. Er summte eine fröhliche Melodie, als er plötzlich abbog und durch die Wiesen wanderte, wohl wissend, dass Sadoc und Ilberic Frodo in das kleine Waldstück südlich der Straße gebracht hatten.
Er ahnte nicht, dass zwei Augen ihn neugierig beobachteten.
Kapitel 18: Netz aus Lügen
Frodo sah Marroc verzweifelt hinterher. Weshalb konnte er ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Was hatte er getan, dass ausgerechnet er immer wieder in Marrocs Arme laufen musste? Marrocs Gestalt wurde in der Ferne immer kleiner, als sich die Griffe um seine Schultern verstärkten und er von Sadoc und Ilberic von der Straße weg geschoben wurde. Seine Augen noch immer entgeistert auf Marroc gerichtet, leistete Frodo keinen Widerstand. Was hatte der ältere Hobbit dieses Mal vor? Erst als ein leichter Luftzug seine schweißnasse Haut zum Frösteln brachte, besann er sich seines Auftrages. Frodo wusste, dass mit Ilberic und Sadoc ebenso schlecht zu reden war, wie mit Marroc selbst, nicht, wenn dieser ihnen etwas aufgetragen hatte. So zwickte er Sadoc kraftvoll in den Arm, der daraufhin aufschrie und von ihm abließ. Frodo nutzte die Gelegenheit, trat Ilberic auf die Zehen und schlug dessen Hand von seiner Schulter. Als der Griff um seinen Arm sich lockerte, stürzte er davon. So schnell er konnte rannte er über die Wiese, schlug wieder den Weg nach Osten ein. Hinter sich hörte er Sadoc und Ilberic schimpfen, doch sah er sich nicht um, rannte immer weiter, so schnell ihn seine Füße trugen. Er wollte nach Bockenburg, wollte tun, was Saradoc ihm aufgetragen hatte, doch schon jetzt klopfte sein Herz so rasch, als wolle es ihm aus der Brust springen. In dieser Geschwindigkeit würde er nicht mehr lange laufen können. Er keuchte, versuchte verzweifelt, nicht langsamer zu werden, als ihm klar wurde, dass er nicht ewig davon laufen konnte. Schritte hinter ihm kamen immer näher. "Wirst du wohl stehen bleiben?", hörte er Sadoc unweit hinter sich rufen und warf einen raschen Blick zurück. Angst machte sich in seinem Herzen breit, als Frodo erkannte, wie nahe ihm die beiden schon gekommen waren. Seine Füße flogen über die wehenden Grashalme hinweg, doch seine Kräfte schwanden. Sadoc hatte ihn beinahe erreicht, wollte ihn packen. Frodo wich ihm mit geschickten Schritten aus, aber Sadoc gelang es trotzdem, ihm kräftig gegen den Rücken zu stoßen, was dazu führte, dass Frodo stolperte und schmerzhaft auf dem Boden landete. Erschrocken schrie er auf und schlug wie wild um sich, als Sadoc seinen Knöchel zu fassen bekam. Er landete einen gezielten Tritt im Bauch des älteren Jungen, was diesen jedoch nicht davon abhielt, nach seinen Armen zu langen und sie neben seinem Gesicht ins Gras zu drücken. "Ich habe gesagt, dass ich dafür Sorge, dass du hier bleibst und das werde ich auch!" keuchte Sadoc wütend und kniete sich mit einem Bein auf seine Brust, um zu verhindern, dass Frodo weiterzappelte. "Und ich habe gesagt, dass ich meinen Auftrag ausführen werde!" entgegnete Frodo hitzig, versuchte vergebens sich seiner misslichen Lage zu befreien. Seine Lungen brannten und er bekam kaum genügend Luft, doch erst als auch Ilberic keuchend an ihn herantrat, hörte er auf, sich zu wehren.
Frodo sah wütend zu den schnaufenden Hobbits auf, während er bemüht war, wieder zu Atem zu kommen. Er wusste, dass Marroc einen bösen Charakter hatte, doch konnte es wirklich sein, dass diese beiden genauso schlimm waren? Vielleicht standen sie auch nur zu lange unter seinem Einfluss und waren in Wahrheit gar nicht daran interessiert, ihn hier zu behalten. "Warum macht ihr das?", fragte er, auch wenn ihm das mit dem zusätzlichen Gewicht auf seiner Brust nicht leicht fiel. Ilberic sah ihn verwirrt an. "Warum machen wir was?" Frodo lag nun ganz still, in der Hoffnung, Sadoc würde den kraftvollen Griff um seine Handgelenke lockern und das Knie von seiner Brust nehmen. "Ihr haltet mich hier fest, nur weil Marroc es euch gesagt hat." "Genau das machen wir", entgegnete Sadoc knapp, nahm jedoch sein Knie von Frodos Brust. "Aber warum? Warum hört ihr auf ihn?" Frodos Gesichtsausdruck verriet nichts von seiner Anspannung. Er musste etwas finden, das diese beiden von Marroc unterschied, musste sie davon überzeugen, dass sie ihn nicht hier behalten durften. "Er ist unser Freund. Du würdest auch auf Merry hören, oder etwa nicht?" Das war Ilberics Stimme, mit deren Antwort Frodo nicht gerechnet hatte. Er zögerte einen Moment, in dem er nach den richtigen Worten suchte. "Nicht, wenn es unrecht wäre." "Unrecht?" Sadoc lachte auf. Verdutzt wandte sich Frodo wieder dem jüngeren der beiden Hobbits zu und auch wenn Sadoc mit seinen dunklen Locken und dem weniger robusten Körperbau keinerlei Ähnlichkeit mit Marroc hatte, konnte Frodo deutlich die Stimme seines Peinigers aus dessen Lachen hören. Von einer unbestimmten Furcht ergriffen, war er für einen Augenblick zu keiner Entgegnung fähig und auch Ilberic und Sadoc wechselten kein weiteres Wort mehr, als sie ihn schließlich auf die Beine zogen und fortführten. Frodo wusste, dass es keinen Sinn hatte, wegzulaufen. Sie würden ihn wieder einfangen. Doch nun, da er auch wusste, dass sie nicht von dem Plan abzubringen waren, den Marroc für sie vorgesehen hatte, schwand seine Hoffnung. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich fragte, wo die beiden ihn nun hinbringen und was sie mit ihm machen würden. Marroc hatte gesagt, alle seine Fragen würden beantwortet werden, wenn er zurückkehrte, doch daran wollte Frodo noch gar nicht denken.
Auf Antworten von Marroc kann ich verzichten. Genügt es ihm denn nicht, ungebeten in mein Zimmer zu kommen, Lügen über mich zu verbreiten oder mein Tagebuch zu lesen? Muss er mich denn auch noch davon abhalten, einen wichtigen Auftrag von Saradoc zu erfüllen? Oder ist es genau das, was er will? Ein neues Gerücht, eine neue Lüge über mich in die Welt setzen? Saradoc soll von nun an also auch im Glauben gelassen werden, ich wäre unzuverlässig. Und was ist mit Hanna? Etwas muss schief gegangen sein, sonst könnte Oma ihr alleine helfen. Wenn ihr nun etwas passiert, bin ich schuld. Doch was soll ich machen? Ich komme hier nicht weg, sie würden mich aufhalten.
Frodo unterdrückte ein Schluchzen. Seine Gedanken kreisten nur mehr um Hanna und die Angst, dass ihr etwas passieren konnte wofür er die Schuld trug. Im Stillen bat er Elbereth, dass Hanna nichts geschehen mochte, doch beruhigte ihn das nur wenig. Griffe um seine Arme wurden fester, als Sadoc und Ilberic ihre Geschwindigkeit erhöhten.
Marroc will mich ruinieren. Er wird seinen Willen bekommen und ich werde Bilbo nie wieder sehen. Saradoc vertraut mir ohnehin nicht mehr, seit er Esmeraldas Schmuckkästchen in meinem Schreibtisch gefunden hat und wenn dieser Tag vorüber ist, wird er mir wohl nie wieder Glauben schenken. Er glaubt mir ja selbst jetzt nicht mehr, wenn ich von Marroc erzähle. Marroc hat sich bei allen beliebt gemacht, sodass ich jedes Mal als Lügner dastehe. Saradoc wird wütend sein, wenn ich wieder im Brandyschloss bin. Schon einmal hat er meinem Besuch bei Bilbo die Schuld für mein schlechtes Benehmen gegeben und er wird es bestimmt wieder tun. Damals konnte ich nicht anders. Ich hatte ihn davon überzeugen müssen, dass Marroc ein falsches Spiel spielte und doch war alles anders gekommen, als ich gehofft hatte. Heute bin ich überrascht worden, bin blind in eine Falle getappt. Ich wünschte, ich könnte ihnen entkommen, zu Fastred laufen und Hanna helfen, doch sie sind zu stark für mich. Selbst wenn ich Saradoc davon erzählte, würde er mir nicht glauben. Er wird mir verbieten, noch einmal zu Bilbo zu gehen, weil seither alles schlechter geworden ist. Vielleicht wird er sogar verlangen, dass ich aufhöre, ihm zu schreiben. Wenn ich Bilbo keine Briefe mehr schicken kann, werde ich ihn noch mehr vermissen. Er hat mich lieb, sonst würde er mir nicht schreiben und wäre in den ganzen letzten Jahren nicht so oft nach Bockland gereist oder hätte mich zu sich eingeladen. Er hat mich lieb, oder würde selbst er Marrocs Lügen Glauben schenken?
Frodo sog scharf die Luft ein, als er über eine Wurzel stolperte. Er wäre hingefallen, hätten Sadoc und Ilberic ihn nicht festgehalten. Beinahe überrascht blickte er von einem zum anderen, als sie ihn ohne Unterbrechung weiter mit sich führten. "Mach doch die Augen auf!" fuhr ihn Ilberic an, blickte zornig auf ihn herab, doch dann verfiel er wieder in Schweigen und auch Frodo senkte erneut den Kopf. Er wusste, dass er auf den Weg hätte achten sollen, doch im Augenblick bereiteten ihm andere Dinge größere Sorgen, als eine Wurzel, über die er stolpern konnte.
Ob Merry wohl weiß, was vor sich geht? Ob er mir glaubt? Mama, Papa, warum könnt ihr nicht hier sein? Ihr würdet mir glauben, nicht wahr? Wer glaubt mir denn nun noch? Wenn Marroc all seine Pläne umgesetzt hat, wird es niemand mehr tun. Selbst jetzt glaubt mir keiner, zumindest nicht, wenn ich von Marrocs Schandtaten berichte. Jeder ist der Ansicht, dass er es gut mit mir meint. Was immer das heißen soll. Vielleicht würde ich es sogar selbst glauben, wenn ich Marroc nur kennen würde, wenn Erwachsene in der Nähe sind. Er hat gelernt, sich beliebt zu machen und er ist sehr gut, wenn es darum geht, seine wahren Absichten zu verstecken. Aber weshalb ich? Was habe ich ihm getan? Mama, Papa, ich flehe euch an, bitte helft mir! Lasst das alles nur ein böser Traum sein! Kommt zu mir zurück!
"Hör auf zu weinen! So fest habe ich nun auch wieder nicht zugepackt!" meinte Sadoc, lockerte seinen Griff aber dennoch, als wäre er sich seiner Worte nicht sicher. Frodo sah den älteren Hobbit verwirrt an. Er hatte nicht bemerkt, dass er zu weinen begonnen hatte. Schnell wischte er sich die Tränen aus den Augen und besann sich seiner Lage. Die beiden ließen ihn los, bedeuteten ihm, sich hinzusetzen und Frodo lehnte sich betrübt gegen einen Baum, wobei er ihnen einen missmutigen Blick zuwarf. "Ein weiterer Fluchtversuch könnte böse für dich enden!" drohte Ilberic, als er sich ihm gegenüber auf einem niederließ. Sadoc setzte sich neben ihn auf den mit Kiefernnadeln bedeckten Boden und ließ ihn nicht mehr aus den Augen.
Frodo sah sich um. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie das kleine Waldstück südlich der Straße erreicht hatten. Die Luft roch nach Kiefernnadeln, feuchter Erde und Holz. Sie waren umgeben von Bäumen jeglicher Art, ganz gleich, ob deren Äste Nadeln oder Laub trugen. Das Sonnenlicht hatte Mühe, durch das dichte Blätterdach zu scheinen und so erreichten nur hier und da einzelne tanzende Lichtflecken, den kühlen Waldboden. Hier würden sie also auf Marroc warten. Hier würde er erfahren, was sich sein Peiniger dieses Mal für ihn ausgedacht hatte. Frodo senkte den Kopf und starrte zu Boden.
Stunden schienen zu vergehen. Frodo hatte sich schließlich ebenfalls auf den Boden gesetzt und schweigend den Vögeln gelauscht. Sadoc und Ilberic hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt, als Frodo plötzlich Schritte ausmachen konnte und überrascht den Kopf hob. Marroc tauchte mit einem siegreichen Lächeln zwischen den Bäumen auf und Frodo wandte den Blick sofort wieder ab. Er wünschte sich, Saradoc hätte ihm niemals aufgetragen zu Fastred zu gehen, wünschte sich, die Ereignisse des Nachmittages wären niemals geschehen. "Was ist denn?", fragte Marroc sarkastisch. "Willst du denn gar nicht wissen, warum du hier bist?" Frodo verkrampfte sich innerlich, doch schenkte er dem älteren Jungen keine Beachtung. "Nun gut, ich werde es dir trotzdem erzählen", meinte Marroc, der offensichtlich sehr zufrieden mit sich war und ließ sich lächelnd neben ihm zu Boden plumpsen. "Saradoc dürfte sehr enttäuscht von dir sein", begann er nach einer kurzen Pause. Frodo ballte die Hände zu Fäusten, was Marroc nicht entging. "Wusste ich doch, dass dich das interessiert", meinte er schadenfroh. "Jedenfalls war er alles andere als erfreut, als ich ihm berichtete, dass du am Fluss warst. Du bist in die falsche Richtung gelaufen, Frodo. Nach Osten solltest du gehen, nicht nach Westen. Hast du dich nur geirrt, oder war es Absicht? Bereitet es dir Freude, den Herrn von Bockland zu verstimmen?" Marroc sah ihn an, als würde er ein kleines Kind tadeln. Frodo konnte seinen Blick auf sich spüren, erkannte aus den Augenwinkeln den überaus befriedigten Gesichtsausdruck des älteren. Seine Hände zitterten, als sich seine Fingernägel tief in sein Fleisch gruben, bis es ihm Schmerzen bereitete. Wenn er jemals in seinem Leben jemanden gehasst hatte, dann war es Marroc Boffin gewesen und in diesem Augenblick hasste er ihn besonders. "Ich habe den Heiler geholt", ließ Marroc ihn wissen. Er bemerkte Frodos hilflosen Zorn und erfreute sich daran. "Keine Sorge, er kam rechtzeitig." "Warum?", platzte es aus Frodo heraus, als er sich schließlich umwandte. Den Blick hatte er unverwandt auf den älteren Hobbit gerichtet, doch seine Wut war von Verzweiflung, von Furcht und Unverständnis überschattet. "Warum tust du mir das an?" Marroc zuckte gleichgültig mit den Schultern, schien scheinbar Mühe damit zu haben, sich ein Kichern zu verkneifen. "Bereitet es dir Freude mich zu quälen? Willst du unbedingt mein Leben zerstören? Was habe ich getan? Womit habe ich das verdient?" Tränen traten in seine Augen, die er vor Marroc nicht vergießen wollte. Die Anstrengung, die es ihn kostete, nicht zu weinen, ließen ihn keuchen, während Wut und Empörung seinen Körper zittern machten. "Du solltest dich nicht zu sehr aufregen", entgegnete Marroc ruhig, sah ihn dabei nicht einmal an, sondern zwinkerte Sadoc und Ilberic zu, die das Schauspiel gespannt beobachteten. "Ich würde mir besser eine gute Ausrede einfallen lassen, wenn du heute Abend zum Brandyschloss zurückkehrst." Frodo starrte ihn fassungslos an. Er hatte genug, würde diesem Spiel ein Ende bereiten. "Nein, das werde ich nicht tun!" "Was willst du dann machen?", zischte Marroc und funkelte ihn aus seinen dunklen Augen so finster an, dass er beinahe zurückgewichen wäre, doch er hielt dem Blick tapfer stand. "Ich werde Saradoc alles erzählen. Alles!" Marroc und seine Freunde brachen in schallendes Gelächter aus. "Wer glaubst du, wird dir glauben?", fragte Marroc amüsiert. "Niemand, Frodo. Dafür habe ich gesorgt. Keiner wird dir jemals wieder glauben. Wer weiß, wenn du weiterhin die Schuld auf mich schiebst, anstatt sie bei dir selbst zu suchen, wirst du vielleicht des Brandyschlosses verwiesen. Vielleicht schicken sie dich fort. Ganz allein."
Frodo zitterte am ganzen Leibe. Kalte Angst umklammerte sein Herz. Ihn wegschicken? Das würden sie machen? Ihn einfach so vor die Tür setzen und sich selbst überlassen? Marroc hatte schon so vieles mit geschickten Worten erreicht, weshalb sollte ihm das nicht auch gelingen? War es das was er wollte, ihn aus der Höhle vertreiben? Wohin sollte er dann gehen? Wer würde ihn noch bei sich aufnehmen, nachdem Marroc alle Bewohner des Brandyschlosses gegen ihn aufgehetzt hatte? Er wäre verlassen, einsam und allein und nicht einmal Merry würde dann noch an seiner Seite sein.
Keiner sprach mehr ein Wort, doch alle Augen waren auf Frodo gerichtet, dem der Kampf gegen seine Angst deutlich anzusehen war. "Die Sonne geht unter", bemerkte Marroc schließlich und zog ihn auf die Beine. "Ich hoffe, du hast eine gute Ausrede."
Gemeinsam gingen sie den Weg zurück zum Brandyschloss. Frodos Knie waren weich und ab und an wollte er nichts mehr, als sich ins Gras sinken zu lassen und den Kampf gegen seine Furcht aufgeben, doch wann immer er zurückzubleiben drohte, packte ihn einer seiner Begleiter am Arm und zog ihn mit sich. Während des ganzen Weges sagte er nicht ein einziges Wort, auch wenn die anderen drei in eine rege Unterhaltung vertieft waren, deren Inhalt er nicht folgte. Kurz bevor sie das Brandyschloss erreichten, schickte Marroc ihn weg. "Du wirst zum Fluss gehen und von Westen kommen", trug er ihm auf, ehe er ihn mit einem letzten, drohenden Blick bedachte. "Überlege dir gut, was du sagst."
Wut blitzte in den Augen, die nur darauf gewartet hatten, dass Marroc wieder zurück auf die Straße kam. Endlich hatten sie ihn bei einer seiner Schandtaten überführt. Groß war die Überraschung, als Frodo mit ihm zurückkehrte, zitternd, Furcht und Verzweiflung in den Augen. Doch sie konnten ihm nicht helfen. Noch nicht. Sie mussten auf den richtigen Zeitpunkt warten. Würden sie jetzt eingreifen, wäre nicht nur Frodo verloren, auch sie hätten nichts mehr, dass sie gegen Marroc verwenden konnten. Sie mussten warten und Beweise sammeln. Beweise, die sie jetzt noch nicht hatten. Doch dann würde die Falle zuschnappen und Marrocs grausames Spiel hätte ein Ende.
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Noch immer zitternd öffnete Frodo die Haupteingangstür des Brandyschlosses. Von dort war der Weg in sein Zimmer am kürzesten und die Möglichkeit, dass er jemandem begegnete, am geringsten. Vorsichtig sah er sich um, als er in die Eingangshalle trat. Er konnte einige Hobbits ausmachen, doch wenn er schnell und leise war, würden sie ihn nicht entdecken. Rasch eilte er in den östlichsten Gang, erleichtert, dass wohl die meisten Bewohner noch beim Essen saßen. Er würde an diesem Abend nichts zu sich nehmen und sich in seinem Bett verkriechen, in der Hoffnung, dass morgen früh alles bereits vergessen war. Seine Hand berührte den Türknauf, als eine drohende Stimme ihn erzittern ließ. Jene Stimme, die er an diesem Abend am meisten fürchtete. "Wo warst du heute Nachmittag?" Wütend und mit verschränkten Armen trat Saradoc um die Ecke. Frodo spürte, wie er sich innerlich verkrampfte. Er biss sich auf die Lippen, wandte den Kopf in die andere Richtung, um den Zorn und die bittere Enttäuschung in Saradocs Ausdruck nicht sehen zu müssen. "Ich hatte dich gebeten, etwas für mich zu erledigen und dann musste ich erfahren, dass du deine Zeit lieber am Fluss verbringst, anstatt meinen Auftrag auszuführen", schimpfte er und das Missfallen, das in seinem Ton lag, machte Frodo nur allzu deutlich, wie viel Marrocs Lügen bereits bewirkt hatten. "Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?" Frodo wagte es nicht, aufzublicken und schwieg. Er hielt sich weiterhin am Türknauf fest, als wäre dieser seine einzige Rettung. Sein ganzer Körper war angespannt und er erwartete voller Angst Saradocs nächste Worte. "Sieh mich an, Frodo", ein leichtes Zittern lag in der Stimme des Herrn. Frodo wusste um die unterdrückte Wut, die Saradoc nur mit Mühe verbergen konnte, als er schließlich zögernd den Kopf hob, wobei er dessen Augen jedoch weiterhin mied. "Du hast mein Vertrauen missbraucht, Frodo", klagte ihn die unzufriedene Stimme an. "Ich bin zutiefst enttäuscht."
Frodo biss sich auf die Lippen. Alles in ihm schrie danach, zu protestieren, sich zu verteidigen. Er wollte Saradoc nicht enttäuschen, wollte ihn die Wahrheit sehen lassen. Seine Finger umklammerten krampfhaft den Türgriff, bis seine Knöchel sich weiß färbten. Wer glaubst du, wird dir glauben? Wer weiß, wenn du weiterhin die Schuld auf mich schiebst, anstatt sie bei dir selbst zu suchen, wirst du vielleicht des Brandyschlosses verwiesen. Vielleicht schicken sie dich fort.
"Obwohl du Esmeraldas Schmuckkästchen gestohlen hast, habe ich dir vertraut, Frodo", fuhr Saradoc schließlich mit ruhigerer Stimme fort. "Weißt du, was für ein Schlag es für mich war, zu erfahren, dass du dich lieber am Fluss herumtreibst, anstatt mir zu gehorchen? Das habe ich nicht von dir erwartet. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr mich das verletzt hat." Saradoc schüttelte resignierend den Kopf, als Frodo keine Anstalten machte, zu antworten. Er wandte sich um und ging davon.
Es versetzte Frodo einen Stich im Herzen, die Enttäuschung in der Stimme des Herrn zu hören. Alles, was er wollte war, dass Saradoc stolz auf ihn sein konnte, und selbst das hatte Marroc verhindert. Frodo brachte es nicht einmal fertig, sich zu entschuldigen, denn sein Hals war wie zugeschnürt, seine Zunge trocken. Langsam drehte er schließlich den Knauf, trat mit gesenktem Kopf in sein Zimmer und schloss die Tür, als plötzlich alles in ihm verzagte. Seine Knie gaben nach und er sank bitterlich weinend zu Boden, wo er die Beine anzog und das Gesicht in seinen Händen vergrub. Frodo fühlte sich leer. All seine Gefühle, Gedanken und Empfindungen hatten ihn verlassen. Alle, außer der Angst und der Verzweiflung. Es war, als hätte er niemals etwas anderes gefühlt. Alle Hoffnung verlierend wollte er sich in seinem Bett verkriechen, doch er hatte nicht die Kraft dazu. So blieb er hinter der Türe sitzen und weinte bittere Tränen der Hilflosigkeit. Nie war die Sehnsucht nach den tröstenden Armen seiner Mutter stärker gewesen, als in jenem Augenblick.
Merry schlich aus seinem Versteck, von dem aus er die Unterhaltung zwischen Frodo und seinem Vater mitangehört hatte. Er ging den Gang hinunter zu Frodos Zimmer, wagte jedoch nicht, dort einzutreten. Voller Mitleid hörte er Frodos Schluchzen und ließ sich langsam an der Wand herab rutschen, als er gegen seine eigenen Tränen ankämpfte. Er ballte die Hände zu Fäusten. "Halte durch, Frodo!" dachte er bitter, "Nicht mehr lange und ich werde Beweise haben, für das, was Marroc dir angetan hat. Dann wird ihm keiner mehr glauben und du wirst wieder lachen können, dafür werde ich sorgen."
Kapitel 19: Zweifel
Drei Monate waren seit dem Vorfall mit Marroc vergangen. Frodo hatte nicht weiter darüber gesprochen und auch Merry hielt geheim, was er wusste. Selbst Saradoc war nicht weiter auf den Vorfall eingegangen, doch hatte er Frodo seither nicht wieder um einen Gefallen gebeten. Hanna hatte sich nach der Geburt ihres Sohnes Merimas gut erholt und der kleine Hobbit hatte für einige Aufregung im Brandyschloss gesorgt. Die Sommermonate waren schnell vergangen und auch wenn es tagsüber noch immer heiß war, wurden die Nächte wieder kühler. Frodo und Merry hatten die meiste Zeit gemeinsam verbracht, waren zum Bruch gegangen oder hatten nahe dem Fluss gespielt. Dank Merry hatte Frodo seine Furcht vor dem Wasser wieder verloren. Lange Zeit hatte er nicht gewagt, auf den Steg zu gehen oder nahe dem Ufer zu spielen, doch inzwischen ließ er seine Füße mit Freuden wieder in das kühle Wasser baumeln.
So verbrachten sie auch diesen Nachmittag zusammen. Frodo saß auf einem Felsen, der an einer seichten Stelle aus dem Fluss ragte und ließ seine Zehen im glitzernden Wasser kreisen, während Merry sich daran versuchte, Fische mit bloßer Hand zu fangen. Überraschte Ausrufe waren dabei keine Seltenheit und Frodo konnte sich vor Lachen oft kaum auf dem Felsen halten, wenn er Merry bei seinen komischen Verrenkungen beobachtete. Er nannte das die "Brandybock-Sonder-Fischfang-Position", doch Frodo konnte nur einen unbeholfenen Hobbit erkennen, der des Öfteren aus lauter Übermut und "besonderen Fischfang-Positionen" der Länge nach im Wasser landete. "Ich glaube, jeder Fisch in diesem Fluss lacht dich aus!" meinte Frodo und hielt sich den Bauch, als Merry wieder einmal nach einem missglückten Versuch im Wasser landete. "Meinst du?", fragte Merry, als er sich wieder aufrappelte und das knietiefe Wasser nach Fischen absuchte. "Der Einzige, der hier lacht, bist du. Weißt du, dass du mir damit alle Fische vertreibst?", meinte er mit gespielt ernstem Ton, als er feststellen musste, dass keine Fische mehr in seiner Nähe waren. "Die vertreibst du auch alleine. Dazu brauchst du mein Gelächter nicht", erklärte Frodo sachlich, begann dann jedoch wieder zu kichern. "Du solltest dich sehen, Merry! Man kann gar nicht anders, man muss einfach lachen!" Merry kletterte neben Frodo auf den Felsen und sah ihn beleidigt an. "Vielen Dank, Vetter! Als Dankeschön sollst du einmal in den Arm genommen werden!" erklärte er, vor Nässe tropfend, und ein verschmitztes Grinsen huschte über sein Gesicht. "Nein! Bleib mir vom Hals!" rief Frodo und wich zurück, doch es war zu spät. Merry legte seine Arme um ihn und drückte ihn kräftig an sich. Frodo gab einen angeekelten Laut von sich, als die Feuchtigkeit von seinen Kleidern aufgesogen wurde. Er verzog das Gesicht, als sich Merry schließlich von ihm löste und sich ein triumphierendes Lachen nicht verkneifen konnte. "Du solltest es selbst einmal versuchen", meinte Merry schließlich, während Frodo noch damit beschäftigt war, das Wasser von seinem Hemd zu reiben. Frodo zog eine Augenbraue hoch. "Fischen?" "Natürlich", erklärte Merry. "Ich glaube, ich könnte dir die Brandybock-Sonder-Fischfang-Position beibringen." Frodo rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. "Nein, danke! Ich habe meine eigene Methode, Fische zu fangen." "Welche?", fragte Merry neugierig. Frodo konnte sich das Lachen kaum verkneifen, als Merrys Blick interessiert auf ihm ruhte. Er entschied, die Geduld des jüngeren Hobbits auf die Probe zu stellen, so wie es dieser beizeiten gerne mit ihm tat und blickte einen Augenblick schweigend über das Wasser. "Ich gehe auf den Markt und lasse mir den Fisch frisch verkaufen", verkündete er dann grinsend, als er Merrys fordernden Blick nicht länger ertragen konnte. Sein Vetter verdrehte die Augen und ließ en nassen Lockenkopf auf Frodos Schulter ruhen. "Du machst mich wahnsinnig!" murmelte er und schloss die Augen. Ein sanfter Wind wehte über den Fluss, ließ das ruhig fließende Wasser sich kräuseln, während vorbeiziehende Wolken Schatten über den Brandywein und dessen Ufer wandern ließen. Frodo legte ihm lächelnd einen Arm um die Schulter und tätschelte seinen Vetter. "Du wirst dich von mir doch nicht unterkriegen lassen?" "Keine Sorge, das mach ich nicht", antwortete Merry, setzte sich wieder auf und sah ihn ernst an. "Du solltest das genauso wenig." Verwundert blickte Frodo in Merrys wachsame Augen. "Wie meinst du das?" "Ich spreche von Marroc", antwortete er ohne zu zögern. "Du lässt dich von ihm unterdrücken und machst nichts dagegen."
Frodo runzelte die Stirn und betrachtete seinen Vetter skeptisch. Wie kam Merry auf Marroc? Musste er an einem solch schönen Tag von ihm sprechen? Er war Marroc über den Sommer, mehr oder weniger erfolgreich, aus dem Weg gegangen. Dennoch stand dieser manchmal plötzlich in seinem Zimmer, drohte ihm etwas an oder verlangte, dass er ihm bei einer seiner Grausamkeiten behilflich war. Frodo hatte meist keine Wahl, als zu gehorchen. Er war sich sicher, dass Saradoc inzwischen mehr als nur enttäuscht von ihm war, denn er konnte es in seinen Augen sehen. Dennoch wagte er es nicht, mit ihm zu sprechen. Zu gefährlich klangen Marrocs Drohungen und zu gering war sein Mut. Außerdem hatten Marrocs Taten Wirkung gezeigt und Saradoc hatte aufgehört, ihm zu glauben. Nicht mehr nur, wenn es sich um Marroc handelte, sondern auch sonst. Frodo hatte Saradoc einmal dabei beobachtet, wie er eine seiner Aussagen persönlich nachprüfte. Es kränkte ihn, doch was konnte er dagegen machen, ohne sich dabei größerem Leid auszusetzen? "Das ist meine Sache. Du weißt nichts davon", entgegnete er knapp und wandte den Blick ab. "Doch das tue ich. Ich weiß mehr, als dir vielleicht lieb ist!" antwortete Merry und betrachtete ihn verständnislos.
Frodo wäre unter diesen Worten beinahe zusammengezuckt. Merrys Worte erfüllten ihn mit Furcht und Hoffnung gleichermaßen, was er sich jedoch nicht anmerken lassen wollte. Wenn Merry tatsächlich etwas wusste, dann hatte er endlich jemanden, der ihm Glauben schenkte, jemanden, mit dem er seinen Kummer teilen konnte. Doch brachte sich Merry dadurch selbst in Gefahr. Marroc würde zu verhindern wissen, dass Saradoc von den Geschehnissen erfuhr und er würde auch Merry zum Schweigen bringen, ebenso, wie er ihn zum Schweigen gebracht hatte. Den Blick stur auf das Wasser gerichtet, lauschte Frodo angespannt Merrys Worten. "Ich weiß, welche Lügen er verbreitet", fuhr dieser fort, "ich habe ihn beobachtet. An jenem Tag, als Merimas geboren wurde, hat er dir befohlen, zum Fluss zu gehen, sodass du aus der anderen Richtung nach Hause kamst, scheinbar von dem Ort zurückkehrend, an dem Marroc dich an jenem Nachmittag gesehen haben wollte. Was er nicht hat. Du warst niemals am Fluss. Ich weiß, dass er dich aufgehalten hat und trotzdem hast du die ganze Schuld auf dich genommen." Frodos Augen weiteten sich in Entsetzen. Sein Vetter wusste tatsächlich Bescheid. Das Herz schlug ihm wild in der Brust, als er entgeistert zu Merry aufblickte, doch dieser ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Ich weiß nicht, was er dir erzählt hat, Frodo, doch du solltest zu meinem Papa gehen. Ich habe nachgeforscht seit jenem Tag und..." "Ich werde nicht mit deinem Vater sprechen", unterbrach ihn Frodo, ein nervöses Funkeln in den Augen. "Er würde es nicht verstehen. Er glaubt mir nicht." "Dann müssen wir versuchen, es ihm zu erklären. Wir müssen es ihm doch irgendwie beweisen können!" beharrte Merry. "Wie denn? Du kannst das vielleicht machen, aber ich nicht. Ich muss in seinem Ansehen inzwischen so weit gesunken sein, dass ihn das nicht einmal mehr interessiert", antwortete Frodo traurig. "Red keinen Unsinn! Wir werden mit ihm sprechen und dann..." "... dann wird Marroc bestraft werden. Aber das wird mir nichts nützen. Er wird weiterhin tun, wonach ihm der Sinn steht!" entgegnete Frodo scharf. Dann wurde sein Ton wieder ruhiger. "Nein, Merry. Ich kann nicht mit ihm sprechen und du wirst es auch nicht tun." Frodo sah ihn streng an. Merry hielt seinem Blick stand, doch dann senkte er den Kopf und nickte. "In Ordnung. Aber du musst mir versprechen, dass du es mir sagst, wenn ich dir irgendwie helfen kann." ‚Du kannst mir nicht helfen, Merry', dachte er, doch seine Antwort war eine andere. "Das werde ich, mach dir keine Sorgen."
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Die Schatten wurden länger, als sich Merry und Frodo auf den Heimweg machten. Der Saum von Merrys Hose war noch immer nass, da sich dieser am späteren Nachmittag noch einmal darin versucht hatte, Fische zu fangen. Das Unterfangen war jedoch, ebenso wie das vorangegangene, erfolglos geblieben und hatte nur zu Frodos Erheiterung beigetragen. Sie hatten den Fluss bereits hinter sich gelassen, konnten in der Ferne schon den Bockberg erkennen. Die Luft war kühler geworden und der Wind wehte heftiger, als noch am Nachmittag, brachte das Gras auf den Hügeln Bocklands zum Tanzen.
Die jungen Hobbits waren in eine rege Unterhaltung vertieft, die immer wieder durch lautes Lachen und überschwängliche Gesten unterbrochen wurde, und so bemerkten sie nicht, wie sich jemand von hinten an sie heran schlich. "Wen haben wir denn da? Meriadoc Brandybock und Frodo Beutlin! Na wenn das kein Zufall ist." Frodo erstarrte, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte und auch Merry verharrte auf der Stelle, als Marroc an ihnen vorüberging und sich vor ihnen aufbaute. "Was willst du, Marroc?", sagte Merry ernst. "Lass uns vorbei!" Marroc packte auch ihn an der Schulter, nachdem er von Frodo wieder abgelassen hatte, doch Merry schlug seine Hand weg. "Du bist mutiger, als dein kleiner Freund hier", entgegnete Marroc, während er mit einem hämischen Grinsen vor Frodo, der wütend zu ihm aufblickte, jedoch nicht wagte etwas zu sagen Er warf einen kurzen Blick hinter die beiden Hobbits, wo er Sadoc und Ilberic erkannte, ehe er sich an Frodo wandte. "Du hast keinen Mut. Nicht erst seit dem Tod deiner Eltern bist du ein jämmerlicher Anblick. Ich glaube ja nicht daran, dass sie tot sind. Ich denke eher, dass sie gegangen sind. Geflüchtet, möchte man vielleicht sagen, vor jemandem wie dir." "Wie kannst du es wagen!" schrie Merry wütend und stürmte nach vor. Marroc wich zurück, doch das wäre nicht nötig gewesen. Sadoc hatte den jungen Hobbit sofort gepackt und hielt ihn fest, auch wenn dieser sich heftig wehrte. Frodo blickte starr zu Boden. Seine Hände hatten sich zu zitternden Fäusten geballt und sein ganzer Körper bebte. Er atmete schwer. "Lass dir das nicht gefallen, Frodo!" rief Merry ihm zu, doch Frodo reagierte nicht auf ihn. Auch sah er das wütende Funkeln in Marrocs Augen nicht, als dieser seinem Vetter zornig riet, still zu sein, ehe er sich wieder ihm zuwandte. "Bist du nicht auch meiner Meinung?", fragte er nach und sein spöttisches Grinsen wurde immer breiter. Schließlich runzelte Marroc die Stirn. "Vielleicht war es aber auch ganz anders. Es gibt viele Gerüchte um ihren Tod. Eines davon besagt, dass Primula deinen Vater ins Wasser gestoßen haben soll und Drogo hat sie mit sich in die Tiefe gerissen."
Wut flammte in Frodos Herzen. Lügen über ihn zu verbreiten, war eine Sache, aber Gerüchte über den Tod seiner Eltern in die Welt zu setzen, war eine ganz andere. Vor allem, wenn es sich um Gerüchte dieser Art handelte. Lügen. Seine Eltern hatten sich geliebt und daran hegte er keinen Zweifel. Sie liebten sich mehr, als alles andere in der Welt.
Seine Wut gab ihm Kraft, von der er nicht wusste, dass er sie besaß. Mit einem Satz sprang Frodo nach vor und warf Marroc zu Boden. Marrocs Augen weiteten sich erschrocken. Es ging viel zu schnell, als dass Ilberic hätte eingreifen können. Marroc hatte sich jedoch schnell wieder gefasst und die Situation unter seine Kontrolle gebracht. Zwar konnte Frodo einen kräftigen Schlag in dessen Gesicht landen, doch noch ehe er zu einem zweiten hatte ausholen können, hatte Marroc ihn von sich gestoßen und sich auf ihn gerollt. Als Frodo sich heftig wehrte, sich beinahe wieder hätte befreien können, legte Marroc die Hände um seinen Hals und sperrte dem jüngeren Hobbit die Luft ab.
"Was soll das?! Marroc! Frodo! Hört sofort auf damit!" Saradoc rannte auf die Gruppe Jungen zu. Er war gerade von den südlichen Feldern zurückgekehrt, als er sah, wie sich Frodo ohne weiteres auf Marroc stürzte. Wütend dachte er an den Jungen, der ihn in den letzten Monaten einige Nerven gekostet hatte. Immer wieder hatte es Auseinandersetzungen mit Marroc gegeben und Saradoc hatte bald nicht mehr gewusst, wem er glauben sollte.
Marroc ließ sofort von Frodo ab und auch Merry wurde gehengelassen. Dieser lief sogleich zu seinem, der hustend und keuchend auf dem Boden lag und eine Hand an seinen schmerzenden Hals gelegt hatte. Marroc stellte sich neben seine Freunde, setzte eine fassungslose Miene auf und wischte sich das Blut von der Nase.
"Was ist das hier?" Saradoc trat zwischen die Hobbits und sah von einem zum anderen. Frodo kam wieder auf die Beine, machte sich nicht einmal die Mühe, das Gras aus seinen Kleidern zu klopfen, sondern funkelte wütend zu Marroc. "Ich weiß nicht, was er hat, Saradoc. Er ist plötzlich auf mich losgegangen", sagte Marroc mit erschrockenem Tonfall und unschuldigen Gesichtsausdruck. "Du bist ein Lügner!" schrie Frodo wutentbrannt und stürzte sich auf seinen Gegenspieler, noch ehe Merry ihn davon abhalten konnte. Saradoc packte Frodo am Handgelenk. Er wollte auch nach seiner anderen Hand greifen, um den wild fuchtelnden Jungen aufzuhalten, doch Frodo entzog ihm diese. "Er lügt!" rief er aufgebracht. "Durchschaust du denn sein falsches Spiel noch immer nicht?" Frodo hatte sich zu Saradoc umgewandt, versuchte jedoch weiterhin, sich aus dessen Griff zu winden, um Marroc anzugreifen. Für diese Beleidigung sollte der ältere Junge büßen müssen. Saradocs Griff wurde jedoch immer fester, anstatt dass er sich lockerte und das ließ Frodo noch wütender werden, doch richtete sich sein Zorn nun auf den Herrn von Bockland. "Du willst es nicht erkennen! Du hasst mich! Du...", schrie er zornig, doch weiter kam er nicht. Eine Hand schnitt durch die Luft und hinterließ einen roten Abdruck auf seiner Wange. Frodo verharrte in seiner Bewegung. Unwillkürlich strichen seine Finger über die schmerzende Backe, ehe er entsetzt zu Saradoc aufsah, die Augen geweitet vor Schrecken. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er war unfähig, zu sprechen, schien von Überraschung und Furcht wie versteinert.
Merry starrte seinen Vater entgeistert an. Nie zuvor hatte er erlebt, dass er jemanden ohrfeigte. Mit offenem Mund sah er von Saradoc zu Frodo, dann kurz zu Marroc und den anderen und schließlich wieder zu seinem Vater. Gingen Marrocs Lügen wirklich schon so tief, dass sein Vater so schnell die Geduld verlor, wenn es um Frodo ging? Merry wollte es nicht glauben, doch nach allem, was er in den letzten Monaten herausgefunden, nach allem, was er erlebt hatte, konnte das durchaus möglich sein.
Marroc und seine Freunde blickten ebenfalls einen Moment erstaunt auf das Schauspiel, das sich ihnen soeben geboten hatte. Keiner schien wirklich zu begreifen, was geschehen war und nur über Marrocs Gesicht glitt ein boshaftes Grinsen, das jedoch ebenso schnell verschwand, wie es erschienen war. Er hatte sein Ziel erreicht. Saradoc verlor die Geduld mit Frodo.
Verblüfft sah Saradoc auf seine Hand, spürte das Kribbeln, das sich von seiner Handfläche über seine Finger zog. Sein verwirrter Blick fiel auf Frodo, der ihn entgeistert und ängstlich anstarrte. Das rechte Handgelenk des Jungen hielt er noch immer fest umklammert, doch lockerte er seinen Griff nun ein wenig, ließ ihn jedoch nicht gehen, während sein Blick bekümmert auf Frodos furchtsamen Augen ruhte. Was war in ihn gefahren? Nie zuvor hatte er jemanden geschlagen, geschweige denn ein Kind. Frodo, der Sohn seiner Tante. Wie konnte es soweit kommen? Es dauerte einen Augenblick, doch schließlich fand er seine Stimme wieder. "Ich möchte, dass du gehst, Frodo!" Frodos Augen weiteten sich in purem Entsetzen. "Geh nach Hause und warte in deinem Zimmer auf mich", forderte er den Jungen auf und löste den Griff um seinen Arm. Frodo rannte sogleich von dannen. Merry wollte ihm folgen, doch Saradoc hielt ihn auf. "Du bleibst hier", bestimmt er, darum bemüht, wieder Haltung einzunehmen. "Ihr vier werdet mir nun berichten, was geschehen ist. Wahrheitsgetreu!" Das letzte Wort betonte er besonders ausdrucksstark und richtete seinen Blick dabei auf Marroc. Dieser zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern hielt dem Blick stand, als hätte er nichts zu befürchten. Auch als Saradoc ihnen schließlich auftrug, sich ins Gras zu setzen, wollte Marroc noch nicht aufgeben und blieb bei seiner Darstellung der Ereignisse. Merry unterbrach ihn bei jedem seiner Sätze und stellte ihn richtig, doch gab er das bald auf, je länger das Gespräch dauerte.
Saradoc war bald klar, dass Marroc log und Schuldgefühle machten sich in ihm breit. Frodo hatte das oft gesagt, aber er hatte ihm nie geglaubt. Merry ließ verlauten, dass Marroc Frodo schon lange unterdrückte. Dieser stritt die Vorwürfe aufs heftigste ab, doch das bestätigte Saradoc nur noch mehr in seinem Glauben an Merry. Alles, was er am heutigen Tag und auch in den Monaten davor gesehen hatte, erschien plötzlich in einem völlig neuen Licht und er brannte darauf, mehr darüber zu erfahren. Von Marroc würde er allerdings nur Lügen erhalten und so musste Saradoc abwarten. Zu Hause würde er in aller Ruhe sowohl mit Frodo, als auch mit Merry sprechen. Er bereute die Ohrfeige und schimpfte sich selbst, dass er Frodo nicht geglaubt hatte, ließ sich das bei der Unterhaltung mit den vier Hobbits jedoch nichts anmerken.
Die Sonne war bereits untergegangen, als sie zum Brandyschloss zurückkehrten. Dunkle Wolken waren aufgezogen und Donner grollte, kündigte eines der letzten Sommergewitter an. Ein feiner Nieselregen hatte eingesetzt, der sich alsbald als heftiger Schauer entpuppte. Saradoc war erschöpft und verschwitzt und sehnte sich nach einem Bad, als er Marroc, Sadoc und Ilberic in die Küche schickte. Erst musste er jedoch mit Frodo sprechen und so schlug er gleich nach seiner Ankunft den Weg zu dessen Zimmer ein. Merry war an seiner Seite. Sein Sohn klopfte an der Tür, rief nach Frodo, doch keiner antwortete ihnen und als sie die Türe öffneten, war das Zimmer verlassen. Merry sah fragend zu seinem Vater auf. Sorge spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Auch bei Saradoc machte sich Unruhe breit, doch zeigte er diese vor seinem Sohn nicht. Gemeinsam gingen sie in die Hauptküche, doch auch da war Frodo nicht und keiner hatte ihn seit dem Mittagessen gesehen. "Wir müssen ihn suchen!" verlangte Merry furchtsam, als sie wieder im östlichen Gang standen, nachdem sein Vater und er auch einige der Badezimmer und Wohnzimmer abgesucht hatten. Saradoc nickte. Sorge hatte sich nun auch wie eine gefährliche Schlinge um seine Brust gelegt und er machte sich schreckliche Vorwürfe. Er musste den Jungen finden und sich bei ihm entschuldigen. So vieles hatte er in den vergangenen Monaten falsch gemacht. "Ich werde mich sofort aufmachen", tat er kund und legte eine Hand auf die Schulter seines Sohnes, als dieser sich zum Gehen anschickte. "Du bleibst hier, Merry!" "Aber...", protestierte dieser und sah bittend zu seinem Vater auf. "Keine Widerrede!" sagte er streng. "Marmadas und Merimac werden mich bestimmt begleiten."
Kurze Zeit später hatte Saradoc alles mit Esmeralda besprochen und ihr aufgetragen, sich in der Höhle nach dem Jungen umzusehen. Sein Bruder Merimac und Marmadas hatten eingewilligt, ihn bei der Suche nach Frodo zu unterstützen. Während sich Merimac auf dem Weg nach Bockenburg umsehen wollte, wollte Marmadas am östlichen Ufer des Brandyweins nach Frodo suchen. Saradoc hatte vor, sich am westlichen Ufer umzusehen. In Umhänge gehüllt und mit Laternen traten sie schließlich in die regnerische Nacht hinaus, als ein Blitz den dunklen Himmel erhellte.
Kapitel 20: Die Netze sind durchtrennt
"Ich möchte, dass du gehst, Frodo!" Frodos Fassungslosigkeit ging in blankes Entsetzen über. Kalte Angst umklammerte sein Herz. Vielleicht schicken sie dich fort. Ganz allein. Marrocs Worte hallten in seinen Gedanken wider und er wusste mit plötzlicher Gewissheit, dass Saradoc ihn des Brandyschlosses verweisen würde. Er schickte ihn fort, wollte ihn nicht länger bei sich haben. Marroc hatte gewonnen. "Geh nach Hause und warte in deinem Zimmer auf mich!" Frodo starrte Saradoc einen Augenblick wie versteinert an, konnte den Seufzer der Erleichterung, der auf seinen Lippen lag, gerade noch verhindern. Der Griff um seinen Arm löste sich und Frodo zögerte keine Sekunde, um davonzurennen. Er bemerkte, dass Merry ihm folgen wollte, dieser jedoch von Saradoc aufgehalten wurde. Nachdem er einige Schritte gerannt war, wandte er sich noch einmal um. Er konnte sehen, wie Saradoc mit Merry und den anderen sprach, verstand jedoch nicht, was sie sagten. ‚Er schickt mich weg, um mit Marroc zu sprechen', schoss es Frodo durch den Kopf. ‚Er wird auf seine Lügen hören und dann wird er mich bestrafen.' Seine Furcht, für einen kurzen Augenblick von Erleichterung vertrieben, kehrte zu ihm zurück. Saradoc hatte ihn nur in sein Zimmer geschickt, doch wenn der Herr dieses Gespräch mit Marroc beendet hatte, würde er seine Entscheidung noch einmal überdenken. Im Brandyschloss wartete Schlimmes auf ihn. Saradoc würde ihn fortschicken, ihn einsperren, ihn vielleicht sogar verprügeln. Frodo strich unwillkürlich über die erhitzte Wange. Er konnte nicht zurück zum Brandyschloss, wollte die Enttäuschung in Saradocs Augen nicht sehen, konnte Marrocs Lügen nicht länger hören. Er würde alledem ein Ende bereiten. Vielleicht schicken sie dich fort. Ganz allein. Erneut kamen ihm Marrocs Worte in den Sinn.
Sie müssen mich nicht fortschicken, ich werde von alleine gehen. Saradoc hat mich geschlagen und wenn Marroc mit ihm fertig ist, wird er das bestimmt wieder tun. Keiner, außer Bauer Maggot, hat mich bisher verprügelt und von Saradoc habe ich eine Ohrfeige ebenso wenig erwartet, wie von meinem Papa. Marrocs Plan ist aufgegangen. Saradoc hasst mich. Wenn ich zu Hause auf ihn warte, wird er mich noch einmal verprügeln und nicht nur er, sondern alle anderen werden mich hassen. Marrocs Quälereien werden niemals enden. Es ist besser für mich, wenn ich gehe, als an jenem Ort zu bleiben, an dem mir keiner traut, an dem keiner darauf achtet, was mit mir passiert. Ich bin ihnen gleichgültig. Vermutlich wird ihnen nicht einmal auffallen, dass ich fort bin.
Frodo hielt weiterhin auf das Brandyschloss zu, bis er sich sicher war, dass er von den anderen nicht würde gesehen werden, wenn er zurück zum Fluss ging. Schließlich schlug er den Weg zur Fähre ein, eilte über die Wiesen so schnell ihn seine Beine trugen, trottete dann zur Anlegestelle hinunter. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten den Himmel in ein dunkles Rot, als Frodo die Taue löste und sich schließlich vom Ufer abstieß. Keuchend blickte er zum Himmel. Er konnte in der Ferne einige dunkle Wolken erkennen, machte sich jedoch keine Gedanken darüber.
Als er das andere Ufer erreichte und das Fährenboot vertäute, hielt er plötzlich inne. Zweifel wurden in ihm laut und er wandte den Blick nach Osten, zögerte er einen Augenblick. Der Himmel war dunkel und nur mehr ein blasser Streifen am westlichen Horizont spendete Frodo das nötige Licht, um das andere Ufer erkennen zu können. Es würde nicht mehr lange dauern und jemand würde kommen, um die Lampen, die an den weißen Pfosten zu beiden Seiten des Holzsteges hingen, zu entzünden. Frodo schüttelte den Kopf, wandte sich entschlossen dem Fährweg zu, bis er die Kreuzung zur Landstraße erreichte. Dort blieb er stehen, blickte von einer Seite zur anderen. Die Straße, die mehr einem Damm entsprach, um Ponywagen nicht in der sumpfigen Bruchlandschaft einsinken zu lassen, verlief zu beiden Seiten gerade, wurde hier und im Norden von Bäumen gesäumt, während sie im Süden nur von einigen Büschen und Hecken begrenzt wurde. Wohin sollte er gehen? Nach Norden oder nach Süden? Frodo musste nicht lange überlegen, bis er sich für den Weg nach Norden entschied, denselben Weg, den er vor beinahe einem Jahr mit Bilbo gegangen war. Zu ihm wollte er gehen. Frodo war sich sicher, dass er sich noch an den Weg erinnern würde und war fest davon überzeugt, dass er am Abend in zwei Tagen in Hobbingen sein konnte, wenn er sich beeilte. Doch dann stockte er plötzlich, ging langsamer, als zuvor.
Was, wenn Bilbo mich nicht bei sich haben will? Schließlich bin ich von zu Hause weggelaufen und wer will schon einen Ausreißer bei sich aufnehmen? Bilbo wird bestimmt ebenfalls wütend werden, doch lieber begegne ich seinem Zorn, als Saradocs Hass und seiner Enttäuschung. In Beutelsend könnte ich ohne Marroc leben und ohne ständig als Lügner gesehen zu werden. Doch was, wenn Bilbo einen Brief nach Bockland schickt? Saradoc käme sofort und würde Bilbo all die Lügen erzählen, die Marroc ihm erfolgreich eingetrichtert hat. Bilbo wird ihm bestimmt glauben und selbst wenn nicht, würde Saradoc mich wieder zurück zum Brandyschloss bringen. Doch hier glauben sie Marrocs Lügen bereitwilliger, als jedem meiner Worte. Hier wollen sie mich nicht mehr haben. Sie achten ja selbst jetzt nicht mehr auf mich und wenn sie mich dann wegschicken, werde ich wirklich alleine sein. Selbst Merry kann daran nichts mehr ändern.
Frodo verdrängte den Gedanken. Erst musste er nach Hobbingen kommen und dann konnte er sich den Kopf darüber zerbrechen, wie es weitergehen sollte. Zügig ging er die Straße entlang. Ohne, dass er es in der Dunkelheit bemerkt hatte, waren die Wolken über ihm dichter geworden. Donner grollte in der Ferne, ließ ihn erzittern. Gewitter hatten ihm schon immer Angst gemacht und er hoffte, es würde vorüberziehen. In der Ferne zuckte ein Blitz, erhellte für einen kurzen Augenblick den nächtlichen Himmel. Frodo wurde unruhig, beschleunigte seine Geschwindigkeit noch, bis er schließlich zu laufen begann. Seine Hoffnung auf eine trockene Nacht schwand, als ein feiner Nieselregen sein Gesicht kitzelte, der bald darauf von dicken Tropfen abgelöst wurde, die unaufhörlich auf ihn hernieder prasselten. Immer wieder zuckte ein Blitz am Himmel, ließ Frodo zusammenschrecken. Bald war er vollkommen durchnässt und zitterte am ganzen Leibe. Das Wasser tropfte ihm von den Haaren, lief über sein Gesicht oder rann über seinen Nacken den Rücken hinab. Ein starker Wind hatte zu wehen begonnen und erschwerte Frodo das Weitergehen, während Donnerschläge ihn in Furcht versetzten. Unglücklich blickte er zum Himmel, hoffte ein Zeichen dafür zu finden, dass das Unwetter bald vorüber war, fand jedoch keines.
Unzufrieden mit seiner Lage, eilte Frodo weiter durch die Dunkelheit, wobei er immer wieder über Löcher stolperte, die sich im immer stärker werdenden Regen rasch mit Wasser füllten. In der immer dunkler werdenden Nacht konnte er kaum etwas ausmachen, was ihn in seiner Hoffnungslosigkeit beinahe zum Verzweifeln brachte.
Über das Prasseln des Regens konnte Frodo plötzlich das Plätschern eines Baches ausmachen. Es war nicht etwa das ruhige Fließen des Brandyweins, das inzwischen vom Regen übertönt wurde und seine Miene hellte sich plötzlich auf. Er musste den Stockbach erreicht haben, der nur etwas mehr als eine Meile südlich von Stock in den Brandywein mündete. Frodo überlegte, ob er nun bis nach Stock weiterlaufen sollte, um für eine Weile im Goldenen Barsch Unterschlupf zu suchen und sich aufzuwärmen, oder ob er hier bleiben sollte. Er wusste von einer mächtigen Weide, die am Ufer des Baches stand. Ihre Wurzeln waren dick und ragten bis in den Bach hinein und unter einer davon würde er bestimmt ein wenig Schutz vor dem Regen finden. Frodo brauchte nicht lange zu überlegen, ehe er die Straße verließ und zum Ufer des Baches rannte. Hinter ihm erhellte ein Blitz die Nacht, der von grollendem Donner begleitet wurde. Frodo zuckt zusammen, hielt sich einen Augenblick erschrocken die Ohren zu. Im Goldenen Barsch mochte es bestimmt bequemer sein, doch konnte es ebenso gut passieren, dass das Unwetter vorüber war, bis er dort angekommen war. Außerdem war es nicht unwahrscheinlich, dass er ihm Gasthaus auf Hobbits treffen würde, die ihn kannten oder zumindest wussten, dass er im Brandyschloss lebte und zu dieser späten Stunde nichts auf der falschen Seite des Flusses zu suchen hatte. Verärgert und unglücklich kroch er schließlich unter eine der Wurzeln, schlang vor Angst und Kälte zitternd die Hände um die Knie. Hier war es nur unwesentlich trockener, doch zumindest war er vor dem Wind geschützt. Betrübt dachte er an das Brandyschloss, wünschte, er hätte seinen Umhang mit sich genommen, sodass er sich nun wenigstens ein wenig hätte aufwärmen können. Erneut grollte Donner am Himmel und Frodo kniff ängstlich die Augen zusammen und hoffte, der Sturm würde bald vorüber gehen. Nässe und Kälte ließen ihn müde werden und so kauerte Frodo lange mit geschlossenen Augen unter der Baumwurzel, bis der Regen lange Zeit später endlich abschwächte und schließlich endete. In der Zwischenzeit hing Frodo seinen Gedanken nach, denn sein Gemüt war betrübt und erneut hatten sich Zweifel in sein Herz geschlichen.
Ist es richtig gewesen das Brandyschloss zu verlassen? Ich hätte zumindest noch einmal hineingehen sollen, um meinen Umhang und mein Bild mitzunehmen. Wie weit mag ich ohne Umhang und ohne Essen wohl kommen? Schon nach den ersten Meilen musste ich mich der Natur ergeben und nun sitze ich hier mit knurrendem Magen und kann vor lauter Kälte meine Hände und Zehen nicht mehr spüren. Ich habe Angst, schreckliche Angst. Ich fürchte mich vor dieser Nacht, vor dem neuen Morgen und vor dem, was Saradoc mit mir machen wird, wenn er mich wieder sieht. Marroc hat Recht, ich bin ein Feigling. Ich wollte doch nur, dass Saradoc ebenso stolz auf mich sein kann, wie auf Merry und habe genau das Gegenteil erreicht. Ich glaube, wenn er mich jetzt ansieht, wünscht er sich, er hätte sich meiner niemals angenommen und sich dadurch bittere Enttäuschungen erspart. Wegen Marroc habe ich sicherlich nicht nur ihn verletzt, sondern auch viele andere meiner Familie. Ich sehe es in ihren Augen, in der Art wie sie sich in meiner Gegenwart verhalten. Auf mich ist niemand stolz. Konnte sich Papa jemals meiner erfreuen und mit Stolz verlauten, dass ich sein Sohn bin? Selbst wenn, jetzt könnte er das nicht mehr. Ich laufe vor meinen Schwierigkeiten davon, anstatt mich ihnen zu stellen, wie er es mich gelehrt hat. Es tut mir Leid, Papa, aber ich halte es dort nicht länger aus, nicht mit Marroc. Gegen ihn kann ich alleine nicht gewinnen, zumindest wüsste ich nicht wie. An Kraft bin ich ihm unterlegen, ebenso wie an Größe und ohne Beweise glaubt mir ohnehin keiner. Mama, Papa, warum könnt ihr nicht bei mir sein und mir helfen? Ich weiß, ihr würdet mir glauben. Wer hilft mir denn nun noch, da ihr es nicht mehr könnt? Niemand. Keiner interessiert sich für mich. Ich bin allen nur im Weg, eine Bürde. Sie lassen mich allein. Nachts ist es am Schlimmsten. Wenn ich nicht einschlafen kann, habe ich niemanden, an den ich mich wenden könnte. Keiner kommt zu mir, wenn ich Angst habe. Einzig Merry bemerkt, wenn es mir schlecht geht. Er tröstet mich, doch er kann mir nicht geben, was der Brandywein mir genommen hat. Ich brauche euch! Werde ich immer so alleine sein? Wird die Leere in meinem Herzen für immer bestehen bleiben?
‚Wenn du traurig bist, Frodo, dann sieh zum Himmel und betrachte die Sterne. Vergiss nicht, wir werden immer bei dir sein.' Erinnerungen an einen Traum, den Frodo schon lange vergessen glaubte, wurden in ihm wach. Fröstelnd richtete er seinen Blick nach oben, doch er sah nichts, außer Dunkelheit. Dunkelheit, die alles in sich zu verschlingen schien.
Selbst die Sterne haben mich verlassen. Wenn ihr wirklich hier seid, warum kann ich euch nicht fühlen? Habt am Ende auch ihr mich im Stich gelassen? Einsamkeit. Ein schwarzes Loch, das unersättlich an meiner Seele nagt. Es zerfrisst mich. Langsam. Jeden Tag ein Stückchen mehr, bis eines Tages nichts mehr von mir übrig sein wird. Weshalb bin ich gegangen? Was kann mir hier draußen besseres Widerfahren, als im Brandyschloss? Dort wäre es jetzt zumindest warm und ich würde unter der weichen Decke in meinem Bett liegen und der Sturm wäre ausgesperrt. Wenn Marroc nur nicht wäre...
Ein leises Schluchzen entrann seiner Kehle, als ihm eine Träne heiß über die kalten Wangen rann und auf sein durchnässtes Hemd tropfte.
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Saradoc hatte die Hoffnung schon beinahe aufgegeben. Stunden waren vergangen, seit er seine Suche begonnen hatte. Erst war er nach Süden gegangen, bis er Maggots Hof erreicht hatte. Ständig hatte er von einer Seite zur anderen gesehen, immer wieder Frodos Namen gerufen, doch hatte er den Jungen nicht entdecken können. Blitze hatten den nächtlichen Himmel erhellt, gefolgt von Donnergrollen. Regen war erbarmungslos auf ihn nieder geprasselt, hatte bald seinen Umhang durchdrungen und ihm Hemd und Hose durchnässt. Bauer Maggot hatte ihm nicht weiterhelfen können, hatte ihm jedoch seine Hilfe bei der Suche angeboten, doch Saradoc hatte abgelehnt, da der Blick von Frau Maggot ihm deutlich gezeigt hatte, wie ungern sie ihren Mann bei diesem Wetter draußen sah. Daraufhin hatte er den Weg nach Stock eingeschlagen, in der Hoffnung, dort eine Spur von Frodo zu entdecken. Wenn er das Kind auch dort nicht fand, würde er zum Brandyschloss zurückkehren, hoffend, dass Marmadas und Merimac bei ihrer Suche mehr Erfolg hatten. Während Wind und Regen ihm ins Gesicht peitschten und er immer wieder Frodos Namen rief, zerfraßen Schuldgefühle sein Herz. So vieles hatte er in den vergangenen Monaten falsch gemacht und wenn Frodo etwas geschehen war, so trug einzig er die Schuld dafür. Von Anfang an hatte er nicht hören wollen und nun war es womöglich zu spät dafür. Er würde es sich nie verzeihen, wenn er Frodo nicht wieder fand. Saradoc hielt seine Laterne in die Höhe und rief erneut Frodos Namen, doch nur Donner antwortete seinem Ruf. Müde schüttelte er die trüben Gedanken ab und stolperte die Straße entlang, wobei er immer wieder von einer Seite zur anderen ging, um die umliegenden Büsche und das hohe Gras nach dem vermissten Jungen abzusuchen.
Der Regen ließ bald nach, das Gewitter zog vorüber. Saradoc warf seine Kapuze zurück, schüttelte sich die Regentropfen aus dem Haar, als er auf der Brücke des Stockbaches eine kurze Pause einlegte. Erschöpft legte er seine Arme auf das Geländer der hölzernen Brücke und lauschte dem Rauschen des Wassers. Das Licht in seiner Laterne war schwächer geworden, würde bald ausgehen. Saradoc seufzte. Seine Glieder waren schon am Abend nach der langen Arbeit auf dem Feld schwer gewesen und nun war ihm, als würde sein Körper darum flehen, dass er sich zur Ruhe bettete, doch das konnte er sich nicht erlauben, nicht ehe er Frodo gefunden hatte. Er wollte sich gerade wieder auf den Weg machen, als ein leises Geräusch an sein Ohr drang. Hätte es noch geregnet, hätte er es nicht wahrgenommen, doch nun, da nur das Plätschern des Baches in seinen Ohren klang und er im Stillen auf jenes leise Wimmern gehofft hatte, hatte er seinen Blick zum Ufer gewandt, noch ehe er sich dessen bewusst geworden war. "Frodo", flüsterte er hoffnungsvoll und rannte von der Brücke, eilte zum Ufer des Stockbaches. Unter den Wurzeln einer Weide erkannte er eine kleine Gestalt, ängstlich zusammengekauert. Der Anblick erfüllte ihn mit Erleichterung und Traurigkeit gleichermaßen und er musste sich zusammenreißen, um nicht sofort auf den Jungen zuzueilen, der nach allem, was am Abend geschehen war, bestimmt noch völlig verschreckt war.
Ein Rascheln drang an Frodos Ohr. Erschrocken sah er auf, wischte sich eine Träne aus den Augen. Sein Herz stand still, als er einige Schritte entfernt Saradoc erkannte, eine Laterne in der Hand, die sein Gesicht in ein blasses, goldenes Licht tauchte. Ihre Blicke trafen sich. Frodo war wie versteinert. Minuten schienen zu verstreichen, in denen keiner ein Wort sprach und jeder den Blick des anderen festhielt. Der Wind brachte die Blätter der Weide zum Rascheln und wurde nur vom Rauschen des Baches übertönt. Zögernd trat Saradoc schließlich näher und Frodo schnappte nach Luft. Von plötzlicher Angst ergriffen, wich er zurück, bis die Wurzel ihm ein Weiterkommen verwehrte. Für einen Augenblick vergaß er zu atmen.
Saradoc schmerzte es, zu sehen, dass das Kind vor ihm zurückwich. Er hatte keine bösen Absichten, hatte nie welche gehabt, doch nach allem, was geschehen war, war es nicht verwunderlich, dass Frodo ihm nicht länger traute. Er selbst hatte dem Jungen schließlich auch lange Zeit nicht geglaubt. "Kann ich mich zu dir setzen?", fragte er mit sanfter Stimme, jedoch ohne viel Hoffnung. Frodo zuckte mit den Schultern, wandte seinen Blick ab. Saradoc konnte die Anspannung in dem kleinen Körper förmlich spüren, wusste, dass Frodo auf jede seiner Bewegungen achten würde, auch wenn er ihn nicht ansah. Schweigend ließ er sich neben dem Jungen zu Boden fallen, stellte die Laterne vor seine Füße und blickte in die Nacht hinaus. Saradoc wusste, dass er es war, der dieses Gespräch beginnen musste, denn Frodo hatte inzwischen oft genug gewagt, den ersten Schritt zu machen, ohne, dass er auch nur ein einziges Mal auf die Worte des Kindes gehört hatte. Dennoch hatte er nun keine Ahnung, wo er beginnen sollte, wie er den Schleier der Angst, der Frodo so deutlich umgab, dass selbst er die Unruhe spüren konnte, hätte lichten sollen. Die unangenehme Stille, die sie zuvor schon umgeben hatte, drohte, sie erneut einzuhüllen, als das Schweigen sich ausdehnte. Frodo war der Erste, der die Ruhe nicht länger ertragen konnte. Unruhig rutschte er auf seinem Platz hin und her. "Wie hast du mich gefunden?", fragt er dann, ohne ihn an zusehen. "Es war Zufall", entgegnete Saradoc wahrheitsgemäß. Frodo nickte, als wäre er davon nicht sonderlich überrascht, ehe er wieder in Schweigen verfiel.
Sein Plan nach Beutelsend zu gehen, war vollends fehlgeschlagen. Er schaffte es nicht einmal bis nach Stock, ohne gefunden zu werden und dann auch noch ausgerechnet von Saradoc. Frodo fühlte sich unbehaglich. Der Herr von Bockland hatte ihn geohrfeigt, hatte anschließend mit Marroc gesprochen und doch war er jetzt hier. Saradoc machte nicht den Eindruck, als wäre er wütend, doch Frodo traute der Stille nicht. Sie ließ ihn noch unruhiger werden, als er ohnehin schon war. Er wollte nicht so nahe bei Saradoc sein, doch er fürchtete, was geschehen würde, wenn er sich vom Herrn entfernte und so beschränkte er sich darauf, Saradoc nicht anzusehen. Angespannt und mit klopfendem Herzen wartete er darauf, was als nächstes geschehen würde. "Ich möchte mit dir reden, Frodo, wenn du nichts dagegen hast." Saradocs Worte ließen ihn beinahe zusammenschrecken, auch wenn die Stimme noch immer ruhiger klang, als Frodo es nach allem, was am vergangenen Abend geschehen war, erwartet hätte. Er wagte nicht, den Herrn anzusehen. Darauf zu antworten machte ebenfalls keinen Sinn, denn Saradoc würde nun mit ihm sprechen, ob er es wollte, oder nicht. Hier konnte er nicht vor ihm davon laufen, nicht einmal, wenn er flink war. Bis er unter der Wurzel hervor gekrochen wäre, hätte Saradoc ihn längst wieder eingefangen. Schweigend zuckte er mit den Schultern, wartete darauf, dass Saradoc zu einer Rüge ansetzte, die nun unweigerlich folgen würde. Tadel, der vielleicht mit Schlägen enden würde. Frodo konnte Saradocs Blick auf sich spüren und kauerte sich zusammen. Sein Haar war noch nicht getrocknet und er fror noch immer, doch hatte er es inzwischen geschafft, das Zittern unter Kontrolle zu bringen und sich mit seinem eigenen Körper zumindest bedürftig warm zu halten. "Es geht um Marroc, wie du dir vielleicht denken kannst." Die Nennung jenes Namens ließ die Wut des vergangenen Abends in Frodo neu aufflammen. Hatte er es doch gewusst! Es ging um Marroc! Natürlich, um wen denn sonst? Marroc hatte dem Herrn neue Lügen eingetrichtert, die dieser ihm nun vortragen würde. Wieder würde er der Enttäuschung Saradocs gegenüberstehen und wieder würde er nicht in der Lage sein, ihm vom Gegenteil zu überzeugen. Nun, da er weggelaufen war, vermutlich noch weniger, als zuvor. Konnte Marroc ihn nicht endlich in Frieden lassen? Konnten all die anderen nicht aufhören, mit ihm über Marroc sprechen zu wollen, wo sie ihm ohnehin nicht glauben wollten? "Was gibt es da noch zu bereden?", fragte Frodo scheinbar gleichgültig, doch seine Hände hatten zu zittern begonnen und seine tauben Finger verkrampften sich ineinander. "Ich glaube, es gibt einiges, von dem ich nicht weiß", antwortete Saradoc ruhig und Frodo spürte den Blick des Herrn deutlich auf sich ruhen, während er den eigenen starr in die andere Richtung hielt. ‚O ja, es gibt vieles, von dem du nichts weißt', dachte er grimmig, jedoch ohne zu antworten. ‚Du weißt nichts! Gar nichts!'
Saradoc wartete einige Augenblicke, ehe er weiter sprach, den Blick wieder auf die Wiese vor sich gerichtet. Das Licht seiner Lampe war beinahe erloschen und ihr schwacher Schein erreichte die Gräser außerhalb der Wurzel kaum. "Ich hatte heute ein interessantes Gespräch mit Marroc und..." "Marroc! Marroc! Immer nur Marroc!" platzte es aus Frodo hervor. Saradoc wandte sich überrascht um, war erfreut, dass der Junge ihn nun wieder ansah, auch wenn seine Augen wütend funkelten. Für gewöhnlich hätte er sich über diesen Blick geärgert und den Jungen zurechtgewiesen, doch dieses Mal ließ er Frodo gewähren. Er hatte den Zorn des Kindes verdient. "Ich kann es nicht mehr hören! Jeder glaubt immer nur ihm! Doch was ist mit mir? Was ich zu sagen habe, interessiert niemanden! Mir glaubt keiner!" Saradoc nickte betrübt. Er senkte den Blick, seufzte tief, ehe er den Jungen unverwandt ansah, die Stimme leise und betroffen. "Ich weiß, ich habe dir nicht geglaubt. Ich hätte dir vertrauen sollen, anstatt Marrocs Worten Glauben zu schenken. Ich weiß nicht, ob du mir das vergeben kannst, dennoch bitte ich um deine Verzeihung."
Der Zorn in seinem Blick wich Verwunderung, als Frodo verblüfft in die Augen des Herrn blickte. Für einen kurzen Moment schien er unfähig, etwas zu entgegnen. Angespannt versuchte er, die Absicht hinter diesen Worten zu erkennen, doch fand er nur Ehrlichkeit in Saradocs Blick. Hatte er es endlich eingesehen? Hatte Saradoc endlich aufgehört, auf Marroc zu hören? Frodo wagte das nicht zu hoffen, wollte dem Herrn von Bockland nicht so einfach Glauben schenken. Vielleicht war es nur ein Trick, um ihn wieder zurück zum Brandyschloss zu bringen, wo seine wahre Bestrafung auf ihn wartete. Frodo runzelte die Stirn, musterte Saradoc einen Augenblick eingehend, ehe er den Blick abwandte und erneut stur zu Boden starrte. So sehr er sich wünschte, ihm glauben zu können, wagte er es nicht. Die Furcht saß zu tief. Die Furcht vor Marroc und Saradoc.
"Heute Abend habe ich mit Marroc gesprochen", fuhr Saradoc mit sanfter Stimme fort, wobei er Frodo aus den Augenwinkeln ständig beobachtete. Er erkannte, wie der Junge sich verkrampfte und seufzte innerlich. Er musste seine Worte so wählen, dass er zu dem Kind durchdringen konnte, oder Frodo würde sich noch mehr aufregen, ihm vielleicht gar nicht mehr zuhören. "Merry war dabei." Er war erleichtert, als Frodos Ausdruck sogleich entspannter wirkte und fuhr leise fort. "Er hat mir einiges erzählt, von dem ich nicht wusste. Dinge, die mir die Augen öffneten, Frodo. Ich erkannte die Falschheit in Marrocs Worten. Wie blind muss ich gewesen sein, wenn ich die Hilfe meines Sohnes benötigte, um das zu erkennen? Dennoch weiß ich nur wenig von dem, was geschehen ist, so glaube ich zumindest." Saradoc ließ seinen Blick wieder zu Frodo wandern, der sich schnell von ihm abwandte. "Willst du mir nicht sagen, was alles geschehen ist?", fragte er, ohne den Jungen drängen zu wollen. Schweigen breitete sich aus, das nur von den Wassern des Stockbaches und dem schwächer werdenden Wind gestört wurde. Frodo hatte zu zittern begonnen, seine Finger spielten nervös mit den Knöpfen seines Hemdes. Offensichtlich rang er mit sich selbst, unentschlossen, ob er mit ihm sprechen sollte, oder nicht. Zögernd hob Frodo dann den Kopf, sah unsicher zu ihm auf. "Du meinst das auch wirklich ernst? Du willst mir glauben?" Seine zaghafte Stimme zitterte. "Das will ich. So wie ich dem Sohn meines besten Freundes und meiner Tante schon lange hätte glauben sollen", antwortete Saradoc entschlossen.
Frodo nickte, senkte jedoch erneut den Blick. Sollte er es tun? Sollte er Saradoc nun vertrauen, auch wenn er unzählige Male zuvor vergebens darauf gehofft hatte, dass der Herr ihm Glauben schenkte? Frodo war sich nicht sicher, ob es dieses Mal anders sein würde und doch wollte er ihm glauben, wollte ihm alles erzählen, selbst wenn er nur wenig Hoffnung hatte, dass Saradoc ihm zuhören würde. Frodo erschrak beinahe, als das Licht der Laterne ausging und er plötzlich wieder in vollkommener Dunkelheit saß. Die Kälte schien zu ihm zurückzukehren und er fröstelte. Während er erneut die Hände um seine Knie schlang und sie näher zu sich heranzog, konnte er seinen Herzschlag spüren. Er war schneller als gewöhnlich. Frodo wusste, dass er Angst davor hatte. Angst vor Saradocs Reaktion, Angst davor, was Marroc ihm antun würde, sollte er sprechen, doch was er noch immer am meisten fürchtete, war, dass Saradoc ihm nicht glaubte. Dennoch wollte er es versuchen. Er musste sich ihm anvertrauen, in der Hoffnung, dass dadurch alles besser würde, denn so konnte es nicht weitergehen.
Nach einer langen Zeit der Stille begann Frodo schließlich mit zitternder Stimme zu sprechen. Den Blick hielt er weiterhin auf den Boden gerichtet, denn es fiel ihm leichter, wenn er Saradoc nicht ansehen musste, während er dem Herrn von all den Lügen, all den Schandtaten Marrocs berichtete. Saradocs Miene verfinsterte sich bei jedem von Frodos Worten mehr. Wut und Staunen standen in seinen Augen. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt und er war sich sicher, wenn Marroc nun vor ihm gestanden wäre, hätte er so einiges getan, was er später womöglich bereut hätte. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass ein Hobbit aus dem Brandyschloss zu solchen Taten fähig war. Als Frodo seinen Bericht beendet hatte, ruhten seine Augen voller Mitleid und Schuldgefühl auf dem Jungen. "Warum hast du mir nicht schon früher etwas davon gesagt?" Saradoc hatte Mühe seine Stimme unter Kontrolle zu halten. "Das habe ich doch", antwortete Frodo, ein Hauch von Verärgerung in der betrübten Stimme. Er schnappte nach Luft, ehe er Saradoc den Blick zuwandte. "So oft habe ich meine Unschuld beteuert, doch nie wolltet ihr mir glauben. Marroc hatte euch um den Finger gewickelt. Er hat das alles von Anfang an geplant und sich mit Heucheleien bei euch beliebt gemacht. Und später, als ich erkannte, dass es hoffnungslos war, euch davon überzeugen zu wollen, dass ich es war, der von Marroc belästigt wurde und nicht umgekehrt, hatte ich Angst." Frodo blickte in die Nacht hinaus. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, doch nun, da er angefangen hatte, spürte er, dass er nicht mehr aufhören konnte. Er selbst sah nun Dinge, die er zuvor nicht gesehen hatte und zu wissen, dass Saradoc neben ihm saß, ihm zuhörte, beruhigte ihn ebenso sehr, wie es ihn zuvor erschreckt hatte. Er seufzte, fuhr schließlich fort, ohne Saradoc anzusehen. "Marrocs Drohungen waren eindrucksvoll und aus Furcht, er könnte sie tatsächlich umsetzen, habe ich geschwiegen. Außerdem habe ich mit der Zeit angefangen, seinen Lügen ebenfalls zu glauben, und das machte mich noch anfälliger für seine Drohungen. Wann immer er mir damit drohte, dass ich Bilbo nicht mehr wieder sehen würde, oder, dass du mich des Brandyschlosses verweisen wirst, habe ich ihm geglaubt. Er lieferte nicht nur die Drohung, sondern auch einen Grund dafür, weshalb sie sich erfüllen könnte, wenn ich nicht machte, was er von mir verlangte. Wie du siehst, hat er Recht behalten. Selbst wenn ich mit dir gesprochen hätte, hättest du mir nicht geglaubt. Es ging sogar so weit, dass du mir nicht mehr nur in Bezug auf Marroc keinen Glauben mehr schenktest. Ich habe dich dabei beobachtet, wie du meine Aussagen überprüft hast."
Saradoc nickte betrübt, als Frodo ihm einen anklagenden Blick zuwarf. Er hatte in der Tat Frodos Aussagen nachgeprüft, war zu blind gewesen, um zu sehen, was sich vor seinen Augen abspielte. "Heute schien er dann endlich erreicht zu haben, was er wollte", fuhr Frodo fort, ehe Saradoc länger darüber nachdenken konnte. "Ich hielt es nicht mehr aus. Als er dann auch noch von meinen Eltern sprach, wurde ich so wütend. Ich hätte nie gedacht, dass ich es einmal wagen würde, die Hand gegen ihn zu erheben." Frodo schüttelte den Kopf in völliger Fassungslosigkeit, die Augen weiterhin starr in die Nacht hinaus gerichtet. Seine Stimme war leise geworden, kaum mehr, als ein Wispern. "Dann kamst du und hast mich geschlagen. Genau das war es, was er erreichen wollte. Er wollte sehen, wie du die Geduld mit mir verlierst und wie ich daran zugrunde gehe. Zumindest glaube ich das."
Frodo hüllte sich in Schweigen, während Saradoc noch versuchte, die Worte, die er soeben vernommen hatte, zu ordnen. Die Hände des Kindes zitterten und er schnappte nach Luft, drohte jeden Augenblick in Tränen auszubrechen. Frodo legte den Kopf schief, als er sich zu ihm umwandte und die Stimme, die nun zu Saradoc sprach, klang gebrochen, bloßgestellt. "Glaubst du mir wirklich, Saradoc, oder ist das nur eine weitere Grausamkeit, die sich Marroc für mich ausgedacht hat?"
Saradoc hatte selbst mit den Tränen zu kämpfen. Die Wunden, die Marroc Frodo zugefügt hatten, waren weitaus tiefer, als er vermutet hatte. Selbst jetzt zweifelte Frodo noch an seiner Ehrlichkeit und nach allem, was er durchgemacht hatte, hatte der Junge allen Grund dazu. "Ich glaube dir, Frodo", versicherte er dem Kind und seine Stimme reichte ebenfalls kaum über ein Flüstern hinaus. "Verzeih mir, dass ich das nicht schon viel früher getan habe. Ich weiß nicht, was heute Abend über mich gekommen ist, doch ich wusste sofort, dass es ein Fehler war, dich zu schlagen, auch ohne von Marrocs Taten zu wissen. Jetzt, da ich davon weiß, bereue ich noch mehr, dass ich mich nicht unter Kontrolle hatte. Es tut mir so schrecklich Leid." Saradoc schluckte schwer, als er in die großen, unschuldigen Augen des Jungen blickte. Schmerz, Angst und große Erleichterung lagen nun darin verborgen.
Selbst in der Dunkelheit konnte Frodo erkennen, dass sich ein Teil seines Schmerzes in Saradocs Augen widerspiegelte. Von Erleichterung und Erschöpfung gleichermaßen überwältigt, ließ Frodo seinen Kopf auf Saradocs Schulter sinken, wo er endlich Linderung von all den Schmerzen, die Marroc ihm zugefügt hatte, erfuhr. Tränen suchten sich ihren Weg über seine Wangen und er schluchzte jämmerlich. Saradoc legte seine Arme um ihn, hielt ihn fest an sich gedrückt. Sofort wickelte er seinen Umhang um das Kind, als er erkannte, wie kühl der kleine Körper war. Frodo klammerte sich an diese Wärme, die mehr von Saradocs Glauben herrührte, als von dessen Umhang. Er erlaubte dem Herrn, ihn festzuhalten, denn nirgendwo sonst hätte er im Augenblick mehr Trost gefunden, als in dessen Armen.
Ein Stein fiel von Saradocs Herzen, als Frodo sich plötzlich an ihn lehnte und zu weinen begann, denn nichts war mehr Beweis, dass Frodo seinen Glauben in ihn wieder gefunden hatte, ebenso wie er wieder gelernt hatte, dem Jungen zu vertrauen. Tröstend hielt er das Kind in seinen Armen, versuchte, den unterkühlten Körper trotz der feuchten Kleider warm zu halten. Saradoc wollte den Jungen mit Worten beruhigen, doch der Worte war in dieser Nacht genug getan und es waren die Taten, die zählten. Er wusste, dass Frodo in seiner Umarmung ebensoviel Trost fand, wie er es selbst tat, auch wenn es lange Zeit dauerte, bis die Tränen des Kindes versiegten. Schließlich beruhigte sich Frodo jedoch, und als Saradoc zu ihm hinabblickte, bemerkte er, wie sehr der Junge mit seinen schweren Lidern zu kämpfen hatte und erinnerte sich plötzlich seiner eigenen Müdigkeit. Er gähnte und ein Lächeln stahl sich über seine Lippen, als Frodo es ihm gleichtat. "Marroc wird also ausziehen?", hörte er den Jungen flüstern und neue Hoffnung keimte in den Augen, die nun zu ihm aufblickten. "Das wird er. Weit weg, in die westlichsten Gänge, zurück in das Schlafzimmer seiner Eltern. Und wenn er dir auch nur einen Schritt zu nahe kommt, wird er mit heftigen Konsequenzen rechnen müssen!" versicherte Saradoc und spürte die Wut auf Marroc in seinem Herzen aufflammen. Für den Augenblick wollte er diese jedoch vergessen und sich um Frodo kümmern. Der Junge erwiderte nichts darauf und erst als erneute Momente des Schweigens verstrichen, schlug er vor, wieder nach Hause zu gehen.
Saradoc war von dieser Idee sehr angetan und so krochen sie unter der Wurzel hervor, streckten die steif gewordenen Glieder und machten sich auf den Heimweg. Müde und hungrig schlurfte Frodo neben dem Herrn von Bockland her. Immer wieder stolperte er, doch jedes Mal wurde er von Saradoc aufgefangen. Frodo behielt nichts von seinem Rückweg in Erinnerung und auch wie sie die Fähre erreichten, bekam er kaum mit. Saradoc endlich auf seiner Seite zu wissen, hatte seine Sorgen von ihm abfallen lassen und stattdessen jene Erschöpfung überhand gewinnen lassen, gegen die er schon seit den späten Abendstunden angekämpft hatte. Während sie den Fluss überquerten, legte er den Kopf auf Saradoc Schoß und war bald eingeschlafen.
Saradoc vertäute das Boot, wickelte den Jungen enger in seinen Umhang und hob ihn hoch. Frodo schmiegte sich an ihn, wachte jedoch nicht auf. Bei Sonnenaufgang erreichte Saradoc das Brandyschloss, trug Frodo in sein Zimmer. Als er Frodo in sein Bett legte und ihm vorsichtig die feuchten Kleider auszog, schlug dieser für einen Moment die Augen auf. "Onkel Saradoc?" "Ich bin hier", antwortete Saradoc mit einem Lächeln und wickelte die Decke enger um den Jungen, um ihn warm zu halten. "Kannst du hier warten, bis ich aufwache und Marroc weg ist?", fragte er ein wenig unsicher. Saradocs Lächeln wurde breiter. "Natürlich, ich werde hier sitzen bleiben." Er sank auf den Stuhl von Frodos Schreibtisch und ließ seinen Blick auf dem kleinen Hobbit ruhen. Frodo murmelte noch ein leises Dankeschön, ehe ihm die Augen erneut zufielen und er in einen tiefen Schlaf fiel.
Kapitel 21: Angst und Aufklärung
Frodo spürte das warme Licht der Sonne auf seinem Gesicht. Verschlafen schlug er die Augen auf, sah sich verwundert um. Er war in seinem Zimmer, doch wie er hierher gekommen war, wusste er nicht. Verwirrt dachte er an die vergangene Nacht zurück, erschauderte unwillkürlich bei der Erinnerung an den Regen, die Kälte und das Gespräch mit Saradoc und doch war er erleichtert. Sein Blick fiel auf den Herrn von Bockland, der schlafend auf dem Stuhl saß. Ein Lächeln huschte über Frodos Lippen. Er musste auf dem Heimweg eingeschlafen sein und Saradoc war bei ihm geblieben. Mit schief gelegtem Kopf beobachtete er den schlafenden Hobbit. Saradoc sah vollkommen erschöpft aus und Frodo vermutete, dass es nicht sonderlich bequem war, mit dem Kopf auf dem Schreibtisch zu schlafen. Am liebsten wäre er zu ihm gelaufen und hätte ihn in die Arme geschlossen, so groß war die Dankbarkeit, die sein Herz erfüllte. Er hatte ihm zugehört, glaubte ihm und war bei ihm geblieben, trotz allem, was geschehen war. Doch Frodo wollte Saradoc nicht aufwecken und so beließ er es dabei, seinen Blick auf ihm ruhen zu lassen. Ein leises Grummeln erinnerte ihn daran, dass es höchste Zeit für eine Mahlzeit war. Es musste schon eine halbe Ewigkeit her sein, seit er das letzte Mal etwas zu essen gehabt hatte. Leise kroch Frodo aus seinem Bett, schlich an Saradoc vorüber und holte sich frische Kleider aus dem Schrank. Das leise Quietschen der Scharniere ließ ihn zusammenzucken und er kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung, er würde Saradoc nicht aufwecken. Rasch befestigte er Hosenträger an einer sauberen Hose und schlüpfte in ein frisches Hemd. Er warf noch einen letzten Blick auf seinen Onkel, bevor er auf Zehenspitzen das Zimmer verließ.
Als er den Gang betrat, seufzte er leise. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Saradoc dabei gewesen wäre, wenn er zu den anderen ging. Er wollte ihnen nicht erklären, weshalb er am vergangenen Abend einfach so weggegangen war. Für einen Augenblick blieb er unschlüssig stehen, fragte sich, ob er nicht doch besser auf Saradoc warten sollte, doch sein Hunger gebot ihm schließlich, in die Küche zu gehen. Sein Blick fiel auf die gegenüberliegende Tür und seine Miene verfinsterte sich. Marroc hatte ausgespielt. Frodo war noch keine zehn Schritte gegangen, da hörte er, wie eine Tür hinter ihm geöffnet wurde. Er hatte Saradoc also doch aufgeweckt. In freudiger Erwartung wandte er sich um, doch das Lächeln in seinem Gesicht, erstarb eben so schnell, wie es gekommen war. An Stelle von Saradoc stand Marroc vor ihm, der ihn sogleich am Kragen packte und gegen die Wand drückte. Eine Kerze, die in einer Halterung an der Wand stand, flackerte gefährlich. Frodo stockte der Atem. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und dessen nervöses Pochen klang ihm in den Ohren. Marrocs kräftige Arme hatten ihn beinahe vom Boden hochgehoben und Frodo umklammerte verzweifelt Marrocs Handgelenk, versuchend, den Griff des älteren Hobbits zu lockern. "Was glaubst du, was du gestern getan hast, Beutlin?!" zischte Marroc wutentbrannt und seine zornigen Augen schienen Frodo förmlich aufzuspießen. "Du wirst bereuen, mich geschlagen zu haben. Ich werde dich grün und blau prügeln!" Marroc war so nahe, dass Frodo seinen warmen Atem im Gesicht spüren konnte und er wollte sich von ihm abwenden, doch der ältere Hobbit verwehrte ihm jegliche Bewegung. Er schauderte, hielt aber Marrocs stechendem Blick stand, auch wenn ihm seine Angst zum Gegenteil riet. Dies war seine Stunde. Dieses Mal würde er gewinnen. "Ich habe Saradoc alles erzählt", presste er schließlich hervor, obwohl Marrocs fester Griff ihm beinahe die Luft zum Sprechen raubte. Ein siegreiches Grinsen trat in sein Gesicht. "Das ist mir gleich!" entgegnete Marroc scharf. Er packte Frodo grob an der Schulter und stieß ihn zu Boden.
Panik stand in Frodos Augen, als Marroc ihn erneut auf die Beine zog und vor sich in sein Zimmer schob. Das Zimmer, das zuvor seinen Eltern gehört hatte. Wenn es Marroc nun schon gleich war, ob der Herr von Bockland Bescheid wusste oder nicht, was konnte ihn dann noch aufhalten? Saradoc! Frodo wollte nach ihm rufen, doch nur ein leises Wimmern drang aus seinem Mund. Er zitterte am ganzen Körper und das kalte Gefühl der Angst, das sich in seinem Bauch ausbreitete, ließ ihm übel werden. Sein Blick wanderte furchtsam von einem Ort zum anderen. Überall lagen schmutzige Kleider herum, hier und da war Pfeifenkraut verschüttet worden, von dem Frodo sicher war, das Marroc es irgendwem gestohlen hatte, denn er hatte den älteren Hobbit noch nie rauchen sehen. Das Licht im Zimmer kam von mehreren Kerzenhaltern und Wandlampen, nicht etwa vom Kamin, der um diese Jahreszeit nur selten entzündet wurde. Er erkannte Sadoc und Ilberic, die sofort herbei eilten und ihn an den Armen packten, als Marroc ihn erneut grob zu Boden stieß und er schmerzhaft auf seine Knie fiel. Das Zimmer, einst so vertraut, schien Frodo nun vollkommen fremd, hatte seine behagliche Stimmung ebenso verloren, wie die liebevolle Einrichtung. Der Geruch, den er so sehr geliebt hatte, war einem anderen gewichen. Die Luft schien nun unheilschwanger und jagte ihm Angst ein. Verzweifelt versuchte Frodo, sich aus den Griffen der älteren Hobbits zu befreien, doch so sehr er sich auch wehrte, seine Kraft reichte nicht aus. Seine Furcht ließ ihn keuchen und jagte einen unangenehmen Schauer durch seinen Körper, das einem Zittern gleichkam. "Du glaubtest wirklich, du könntest mich schlagen und ungeschoren davon kommen?" Marroc ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor ihm auf und ab, wie es Saradoc beizeiten zu tun pflegte. Seine Stimme war sachlich und doch konnte Frodo die Wut, die darin lag, deutlich erkennen. Saradoc! In Gedanken schrie er den Namen immer wieder, doch kein Ton drang aus seinem Mund. Seine Kehle war trocken und seine Zunge fühlte sich schwer an. Ein harter Schlag traf Frodo im Gesicht, ließ ihn taumeln. Er wäre zurückgefallen, hätten Sadoc und Ilberic ihn nicht fest gehalten. Ein Brennen durchzuckte seine linke Wange. Tränen stiegen in ihm auf, ließen seine Augen wässrig werden. "Saradoc." Endlich gelang es ihm, den Namen zu formen, doch seine Stimme war nur ein hilfloses Flüstern. "Gib es auf, Frodo! Ich gewinne!" zischte Marroc wutentbrannt und ein hämisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Frodo ließ den Kopf hängen, schloss gequält die Augen und wartete zitternd auf den nächsten Schlag. Seine Ohren klingelten und die Übelkeit, die er zuvor verspürt hatte, wurde mit einem Mal so stark, dass er glaubte, sich übergeben zu müssen.
"Bist du dir da sicher?" Die Frage war mehr eine Drohung. Eine starke Hand packte Marroc am Arm und riss ihn von Frodo weg, gerade als er zu einem weiteren Schlag ansetzen wollte. Marroc sah entsetzt auf, während er beinahe rückwärts zu Boden stolperte. Saradocs wütende Augen funkelten ihn an. "Was glaubst du, was du da tust, Marroc Boffin?" Marroc entgegnete nichts, starrte weiterhin fassungslos auf den Herrn von Bockland. "Lasst ihn gehen!" Saradoc sah wütend zu Ilberic und Sadoc, die vor Schreck wie erstarrt waren.
Frodo fiel ein Stein vom Herzen, als er Saradocs Stimme vernahm. Er spürte, wie sich noch mehr Tränen in seinen Augen sammelten. Es waren Tränen der Erleichterung, doch Frodo schluckte sie hinunter. Marroc und die anderen sollten nicht sehen, wie erleichtert er war. Die starken Griffe um seine Oberarme wurden gelöst und er hatte im ersten Augenblick Mühe, auf den Beinen zu bleiben, so weich waren seine Knie geworden.
"Sadoc, Ilberic, geht! Euch werde ich mich später widmen!" Die Wut in seiner Stimme und sein gebieterischer Tonfall machten selbst Frodo Angst, auch wenn Saradocs Zorn nicht ihm galt. Sadoc und Ilberic zögerten nicht lange, sondern eilten sofort aus dem Zimmer, offensichtlich erleichtert, nicht sofort mit dem Herrn von Bockland sprechen zu müssen. "Du, Marroc, setzt dich dort hinüber!" Saradoc deutete mit einem Kopfnicken zu einem Sessel in der Ecke und als Marroc keine Andeutungen machte, seinen Worten Folge zu leisten, packte er ihn grob am Arm und stieß ihn förmlich in den Sessel. Marroc wollte protestieren, doch Saradoc ließ ihn nicht zu Wort kommen, woraufhin dieser ihn wütend anblitzte, sich jedoch schnell abwandte, als er bemerkte, dass Saradoc seinen Blick noch zorniger erwiderte.
"Ist alles in Ordnung mit dir, Frodo?" Frodo blickte noch immer starr zu Boden. Er spürte die liebevolle Berührung seines Onkels an seiner Schulter. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Wie gerne wäre er ihm nun um den Hals gefallen, um sich bei ihm auszuweinen, genau wie in der vergangenen Nacht. Doch all das wollte er nicht, während Marroc ihn beobachtete. Er würde nicht wie ein kleines Kind um den Hals seines Onkels fallen und weinen. Nicht vor Marroc. Er begnügte sich mit einem schwachen Nicken und Saradoc klopfte ihm tröstend auf die Schulter.
Marroc war das nicht entgangen und ein schadenfrohes Grinsen trat auf sein Gesicht. "Spar dir dein dämliches Grinsen, Marroc!" schimpfte Saradoc und wandte sich wieder dem älteren Jungen zu. "Wie konntest du nur so etwas machen? Ich hatte gehofft, nein, ich war sogar fest davon überzeugt, dass die Hobbits in Bockland, vor allem jene im Brandyschloss, in meinem Haus, in Frieden miteinander leben können. Doch ich wurde eines besseren belehrt. Du gehst grundlos mit Gewalt gegen einen viel jüngeren Hobbit vor! Was noch viel schlimmer ist, du bedrohst ihn und du belügst uns alle! Weißt du, was du ihm angetan hast? Was du mir antust?" Saradoc hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt, ging nun vor Marroc auf und ab, wie dieser es zuvor bei Frodo getan hatte. Frodo wagte kaum, das Schauspiel zu beobachten, fühlte sich unbehaglich und fehl am Platz. Er hielt den Blick auf den Boden gerichtet, schielte nur ab und an in die Ecke, in der der Herr von Bockland den Peiniger zurechtwies. "Ich bin enttäuscht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich von dir enttäuscht bin. Du hast gewusst, wie leicht Frodo zu manipulieren war. Du hast genau gewusst, wo seine Schwächen liegen und du hast sie schamlos ausgenutzt. Schämst du dich denn nicht?" Marroc warf einen wütenden Seitenblick zu Frodo, der diesen angstvoll zusammenzucken ließ, dann starrte er zu Boden. Er ballte die Hände zu Fäusten, entgegnete jedoch nichts. "Wir werden später weiter sprechen, wenn deine Eltern auch dabei sind", sagte Saradoc schließlich mit ruhigem Ton. Marroc sah entsetzt auf, doch Saradoc schüttelte den Kopf, sodass die Worte, die dem aufsässigen Jungen zweifelsohne auf den Lippen lagen, gar nicht erst gesprochen wurden. Der Herr packte Marroc an der Schulter und führte ihn aus dem Zimmer, schob ihn dann vor sich her. Frodo trottete ihm schweigend hinterher, den Kopf noch immer gesenkt. Er spürte die Spannung, die in der Luft lag, auch wenn er nur erahnen konnte, wie wütend Saradoc tatsächlich war.
Als sie an der Küche vorüber gingen, wurden sie von Esmeralda abgefangen, die sowohl Saradoc als auch Frodo voller Sorge in die Arme schloss. Frodo wollte sie gar nicht mehr los lassen und vergrub das Gesicht in ihren Röcken, noch immer verbissen gegen seine Tränen ankämpfend. "Wo bist du denn nur gewesen, Junge?", fragte sie besorgt und strich ihm durch die dunklen Locken, doch ihr Blick ruhte fragend auf Saradoc. Frodo antwortete nicht und auch der Herr wollte ihr alles erst später berichten, meinte jedoch, der Junge solle erst einmal vernünftig frühstücken, ehe er mit weiteren Fragen überschüttet wurde. Frodo sah ein wenig verlegen zu ihm auf und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als Saradoc ihm zuzwinkerte. Marroc murrte abschätzig, doch ein kurzer Blick des Herrn genügte, um ihn wieder zum Schweigen zu bringen. Mit klopfendem Herzen sah Frodo ihnen hinterher, als Saradoc den Jungen fort führte, erleichtert, Marroc endlich los zu sein.
Esmeralda hatte einen besorgten Ausdruck im Gesicht, als sie bemerkte, wie Frodos Hände zitterten. Sie beugte sich zu ihm hinab, sah sorgenvoll in seine feuchten Augen. Die Stirn in Falten gelegt, strich sie mit dem Handrücken über Frodos linke Wange. Sie schien ihr geschwollen und als Frodo unter ihrer vorsichtigen Berührung zusammenzuckte, bestätigte sich ihre Vermutung. "Was ist denn passiert?", fragte sie mit leiser, besorgter Stimme, doch Frodo antwortete noch immer nicht, brach stattdessen in Tränen aus. Esmeralda wusste nicht, wie ihr geschah. Sie legte ihre Arme um Frodos Schultern, hielt den Jungen fest an sich gedrückt und versuchte, ihn zu beruhigen. Es behagte ihr gar nicht, nicht zu wissen, was geschehen war, vor allem da sie in der vergangenen Nacht vergebens auf ihren Gatten gewartet hatte. Lange war sie wach gelegen, hatte auf Saradocs und Frodos Rückkehr gehofft. Nach Mitternacht waren Merimac und Marmadas heimgekehrt, doch Frodo und ihr Gatte blieben verschwunden. Besorgt hatte sie auf die beiden gewartet, bis Schlaf sich ihrer bemächtigt hatte. Als Saradoc bei ihrem Erwachen nicht neben ihr gelegen hatte, war sie sofort in Frodos Zimmer gelaufen und erleichtert gewesen, beide dort vorzufinden. Sie hatte ihren Schlaf nicht gestört, hatte sich damit begnügt, sie einige Augenblicke zu beobachten, ehe sie die Nachricht ihrer Rückkehr im Brandyschloss verbreitete. Esmeralda war nicht dumm, hatte sich in den vergangenen Monaten oft mit Saradoc über Frodo und Marroc unterhalten und doch fühlte sie sich nun im Dunkeln stehengelassen. Seit dem Tod seiner Eltern hatte sie Frodo nicht weinen gesehen und es erfüllte sie mit Sorge, ebenso, wie es sie mit Unbehagen erfüllte, wie zornig Saradoc mit Marroc umgegangen war.
Frodo genoss den Trost, auf den er so viele Wochen vergebens gehofft hatte. Er wollte Esmeralda nicht beunruhigen, doch es gelang ihm nicht sofort, seine Tränen zurückzuhalten. In den vergangenen zwölf Stunden hatte ihn zu vieles aufgewühlt und, hatte er zuvor geglaubt, das Gespräch mit Saradoc würde am schwersten sein, so wusste er nun, dass die Begegnung mit Marroc am heutigen Morgen noch sehr viel schlimmer gewesen war. Schließlich gelang es ihm jedoch, seine Tränen zu trocknen und selbst ein zaghaftes Lächeln glückte ihm. Es widerstrebte ihm, sich aus Esmeraldas Umarmung zu lösen, doch schließlich ließ er sich zum Tisch führen. Erneut meldete sich sein Magen zu Wort und Frodo stürzte sich hungrig auf alles, was ihm aufgetischt wurde und nur der Gedanke an Marroc dämpfte seinen Appetit. Was geschah nun? Marroc würde ausziehen müssen, dessen war sich Frodo gewiss. Doch was dann? Marroc nahm es ihm übel, dass er mit Saradoc gesprochen hatte. Außerdem konnte Saradoc nicht immer hier sein, um ihn zu schützen. Er schauderte bei dem Gedanken an das, was passieren würde, wenn er Marroc alleine begegnete.
"So etwas darfst du nie wieder machen! Mich alleine zurück lassen! Du hättest mir wenigsten Bescheid sagen können. Nein, du hättest mir Bescheid sagen müssen! Mach so etwas nie wieder! Nie wieder, hörst du?" Frodo schreckte aus seinen Gedanken, als Merry ihm plötzlich um den Hals fiel und sich schluchzend an ihn drückte. Heiße Tränen, die in den Augen seines Vetters ihren Ursprung fanden, tropften unaufhörlich auf seinen Hals, während sich Merrys Finger in seinem Hemd vergruben, unwillig, ihn jemals wieder gehen zu lassen. Was hatte er getan? Wie selbstsüchtig war er gewesen, Merry nach den Ereignissen am vergangenen Abend einfach stehen zu lassen. Was musste sein Vetter nur von ihm denken? Zögernd legte Frodo seine Arme um den jüngeren Hobbit. "Nie wieder, das verspreche ich!" flüsterte er und merkte nicht, dass ihm selbst Tränen in die Augen getreten waren. Sein Vetter sah zu ihm auf. "Ich habe Papa von den Lügen erzählt. Es tut mir Leid, dass ich mein Versprechen gebrochen habe, aber es musste sein. Ich wollte nicht, dass ..." Frodo stoppte Merrys Redefluss, indem er einen Finger an seine Lippen legte und den Kopf schüttelte, während er Merry ein Lächeln schenkte. "Ist schon gut", versicherte er. "Wenn du nicht geredete hättest, hätte ich es auch nicht getan. Dann würde ich jetzt vermutlich nicht hier sitzen und frühstücken", seine Miene verfinsterte er sich, ehe er leise weiter sprach. "Wahrscheinlich wäre ich in Marrocs Zimmer und würde verprügelt werden." "Verprügelt?" Merrys Augen weiteten sich in Entsetzen. Frodo nickte nur, ging aber nicht weiter auf dieses Thema ein.
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Bald nach seinem späten Frühstück ging Frodo in sein Zimmer. Er wollte alleine sein, doch Merry ließ ihn keine Minute aus den Augen. Eigentlich hatte er vorgehabt, die Ereignisse der vergangenen Nacht in sein Tagebuch einzutragen und so vielleicht einen Teil von dem, was ihn nun belastete, vergessen zu können, doch das konnte er nicht, solange Merry bei ihm war. Einerseits war er froh, dass dieser ihm Gesellschaft leistete, andererseits jedoch, wäre es ihm lieber gewesen, einige Minuten für sich zu haben. Wegschicken konnte er Merry jedoch nicht, nicht nach dem, was er ihm am vergangenen Abend angetan hatte. Merry sollte nicht glauben, dass er ihn nicht bei sich haben wollte. Außerdem hatte er erkennen müssen, dass ihm die Gegenwart seines Vetters gut tat. Merry hatte es sogar geschafft, ihn wieder zum Lachen zu bringen, etwas wonach Frodo nach der Begegnung mit Marroc gar nicht zumute gewesen war. Doch selbst mit Merry an seiner Seite, wanderten seine Gedanken immer wieder zu dem älteren Hobbit. Marroc hatte es nichts ausgemacht, dass Saradoc Bescheid wusste. Er hatte ihn dennoch geschlagen, härter, als jemals zuvor. Was konnte ihn nun noch aufhalten? Saradoc würde Maßnahmen ergreifen, doch würden diese auch nutzen? Wozu war der Herr überhaupt in der Lage? Saradoc konnte nicht dafür sorgen, dass er Marroc nicht mehr über den Weg lief. Dazu war selbst das Brandyschloss nicht groß genug. Was würde geschehen, wenn...
"Frodo?" Frodo zuckte zusammen und verkrampfte sich innerlich, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Erschrocken sah er auf, blickte direkt in Merrys blaue Augen, die ihn besorgt musterten. "Ist alles in Ordnung?", fragte sein Vetter zögernd. Frodo senkte den Blick, strich mit den Fingern über seine Bettdecke, auf der sie es sich gemütlich gemacht hatten. Goldenes Sonnenlicht strömte durch das kleine Fenster und wärmte ihre Gesichter. Frodo lehnte mit angezogenen Knien am Kopfende seines Bettes, während Merry mit verschränkten Beinen vor ihm saß und sorgenvoll zu ihm aufsah. Frodo fröstelte, wollte die trüben Gedanken abschütteln und versuchte zu lächeln. "Es geht mir gut, mach dir keine Sorgen", versicherte er, auch wenn seine Stimme nicht halb so fröhlich klang, wie er gehofft hatte. Merry betrachtete ihn misstrauisch, schien von seinen Worten nicht sonderlich beruhigt und Frodo betrübte es, dass er nun auch seinem Vetter Sorgen aufbürdete, die dieser nicht hätte tragen müssen. Umso überraschter war er, als sich dessen Gesicht plötzlich aufhellte. Fragend legte er die Stirn in Falten. "Ich weiß, was dir fehlt!" meinte Merry mit einem Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte und sprang von Frodos Bett. "Ich bin sofort zurück!" Noch ehe Frodo etwas erwidern konnte, rannte er aus dem Zimmer und ließ seinen Vetter völlig verblüfft alleine sitzen.
Kurze Zeit später öffnete sich Frodos Zimmertür schwungvoll und Merry sprang herein, in der Hand das Buch, welches Frodo ihm an seinem Geburtstag gegeben hatte. "Ablenkung!" verkündete der jüngere Hobbit schließlich stolz und ließ sich wieder neben Frodo nieder. Frodo starrte ihn noch immer verwundert an. "Ich denke, ich werde dir alle drei Geschichten vorlesen. Was hältst du davon?" Merry war fest entschlossen. Das Buch hatte er schon aufgeschlagen und nun sah er erwartungsvoll zu Frodo auf.
Dieser wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Er war von diesem Vorschlag völlig überrascht, doch schmeichelten ihm Merrys Worte auch. Die Tatsache, dass sein Vetter, der fast drei Jahre jünger war als er selbst, ihm etwas vorlesen wollte, ließ ihn schmunzeln. Was würde er nur ohne ihn machen? "Wenn du willst, kannst du das machen. Ich höre dir gerne zu", sagte Frodo, rutschte näher an Merry heran und legte einen Arm um dessen Schultern. Das Grinsen im Gesicht des jüngeren wurde daraufhin noch breiter als zuvor, wenn dies überhaupt möglich war und kurz darauf begann Merry zu lesen. Zwar waren seine Worte mehr als nur holprig und Frodo musste seinem Vetter oft zur Hand gehen, doch es genügte, um ihn seine Sorgen vergessen zu lassen.
Ein lautes Poltern ließ beide die Bilder in ihren Köpfen vergessen. Sie tauschten einen fragenden Blick, als erneut ein lautes Krachen zu vernehmen war Die beiden Hobbits sprangen vom Bett, öffneten die Tür einen Spalt weit und spähten neugierig hinaus. Frodos Mund stand offen. Er erkannte Marrocs Vater, der emsig damit beschäftigt war, das Zimmer auszuräumen. Ilberic und Sadoc, die beide einen reuigen Blick in seine Richtung warfen, waren dem Hobbit dabei behilflich. Frodo konnten auch Marroc erkennen, der missmutig an der Wand lehnte und das Geschehen aus wachsamen Augen beobachtete. "Mir scheint, du hast deinen Willen doch noch bekommen, Frodo", meinte dieser verärgert. Frodo öffnete die Tür nun ganz und sah ihm in die Augen. Er versuchte ernst zu wirken, doch er wusste, dass der Schreck des Morgens und die Angst vor Marroc klar in seinem Blick zu lesen waren. Merry starrte Marroc aus wütenden Augen an und verfolgte jede seiner Bewegungen. Er würde nicht zulassen, dass er Frodo zu nahe kam.
"Lass ihn in Frieden, Marroc! Du hast genug angerichtet. Wenn du meinst, du würdest uns dabei helfen, wenn du hier im Weg herum lungerst, solltest du wohl besser in dein Zimmer gehen. Dein altes Zimmer!" Die Stimme von Marrocs Vater klang wütend und zugleich betrübt. Frodo wusste, dass Saradoc mit Marrocs Eltern gesprochen hatte und konnte spüren, wie sehr Rancho Boffin die Taten seines Sohnes verletzten. Einen Moment lang fragte Frodo sich, ob es richtig gewesen war, Saradoc Bescheid zu sagen, doch wies er sich gleich darauf selbst zurecht. Er hatte richtig gehandelt, denn die Erwachsenen wussten besser mit seinen Worten umzugehen, als er mit Marrocs Taten.
Marroc verdrehte die Augen, machte eine abschätzige Bewegung und ging dann von dannen. Frodo sah ihm misstrauisch hinter her, unfähig zu glauben, dass jener Junge, der zuvor keine Gelegenheit ausgelassen hatte, ihn zu quälen, nun wortlos davonging. Merry, scheinbar nicht weniger verblüfft, ergriff seine Hand und Frodo drückte sie sanft, um nicht nur seinen Vetter, sondern auch sich selbst zu beruhigen. "Frodo?" Überrascht sah er auf, als er seinen Namen vernahm. "Es tut mir Leid, was mein Sohn dir angetan hat. Ich weiß, dass das seine Taten nicht ungeschehen macht, doch ich hoffe, du kannst mir verzeihen. Ich hätte ihm das niemals zugetraut."
Frodos Augen weiteten sich voller Verwunderung. Er war viel zu verblüfft, als dass er hätte antworten können. Marrocs Vater hatte sich vor ihm nieder gekniet und die Hände auf seine Schultern gelegt. Frodo überraschte das völlig und er fühlte sich unbehaglich. Schuldgefühle, ebenso wie Mitleid erfüllten sein Herz, als er in die betrübten Augen des Hobbits sah und er senkte verlegen den Blick. Damit hatte er nicht gerechnet. Marrocs Vater hatte nichts mit dem zu tun, was Marroc angerichtet hatte. Wenn sich jemand bei ihm entschuldigen musste, dann war das Marroc selbst, nicht Rancho Boffin. Er verstand die Welt nicht mehr und hoffte, dieser Augenblick möge schnell vorüber gehen, auf dass er mit Merry in sein Zimmer zurückkehren konnte.
~*~*~
Sein Blick war starr auf die Tischplatte gerichtet. Er wollte nicht aufsehen, wollte nicht einmal hier sein. Warum war es Saradoc so wichtig, dass er dabei war, wenn diese Angelegenheiten besprochen wurden? Seine Finger strichen nervös über den Stoff seiner Hose. Merry bemerkte das und ergriff eine seiner Hände, drückte sie sanft. Frodo lächelte seinen Vetter an. Immerhin durfte Merry bei ihm sein. Dennoch wäre es ihm lieber gewesen, er müsste überhaupt nicht hier sein. Saradoc, Esmeralda, Mirabella und Gorbadoc, Saradas, Merimac, Marmadas und Hanna, und noch viele mehr, alle blickten sie auf ihn und lauschten Saradocs Worten. Worte, die Frodo am Abend zuvor gesprochen hatte. Worte, von denen er froh gewesen wäre, wenn er sie nicht wieder hätte hören müssen. Er spürte erneut Tränen in sich aufsteigen, schluckte sie aber hinunter. Was mussten die anderen von ihm denken? Wegen jeder Kleinigkeit brach er in Tränen aus. Er drückte Merrys Hand fester.
"Er ist also unschuldig. Frodo hatte gar nichts damit zu tun. Marroc hatte ihn benutzt." Es waren Saradocs Worte, die ein bestätigendes Nicken hervorriefen. Kaum hatte der Herr von Bockland zu Ende gesprochen, bemerkte er, wie verkrampft Frodo auf seinem Stuhl saß, den Kopf noch immer gesenkt. "Ich denke, wir sollten für heute Schluss machen. Komm, Frodo, ich bringe dich zu Bett." Mit diesen Worten erhob sich Saradoc von seinem Platz am Esszimmertisch und nahm Frodo bei der Hand, während Esmeralda und Merry den jungen Hobbit eine gute Nacht wünschten.
Frodo hatte noch immer nicht gesprochen, als Saradoc ihn zudeckte. "Was hältst du davon, nun doch umzuziehen?" Frodo sah ihn verwirrt an. "Ich meine das Zimmer deiner Eltern", erklärte Saradoc mit einem Lächeln. "Vielleicht willst du immer noch dort einziehen?" Frodo bedachte den Vorschlag einige Zeit, blickte zu seinem Bild und der tanzenden Flamme einer Kerze. "Ich glaube, ich werde hier bleiben", sagte er dann leise. "Du hast es selbst gesagt, Saradoc. Ich war mein ganzes Leben in diesem Zimmer, weshalb sollte ich nun ausziehen wollen?" Saradoc schien von seiner Antwort überrascht, doch er nickte und lächelte freundlich. "Dann sollst du hier bleiben." Er strich ihm mit der Hand über die rechte Wange, denn die linke war noch immer geschwollen, wünschte ihm dann eine gute Nacht und verließ das Zimmer.
Frodo seufzte leise, als er gegangen war und blickte in die Nacht hinaus. Es ist nicht mehr dasselbe Zimmer, das es vor einem dreiviertel Jahr gewesen ist. Zu vieles hat sich verändert. Ich vermisse sie noch immer, vielleicht sogar mehr als zuvor, doch dort werde ich sie nicht finden. Nicht mehr.
Kapitel 22: Merimas
Rethe 1382 AZ:
"Merimas, nicht!" Frodo sprang erschrocken auf, doch es war bereits zu spät. Der Wäschekorb kippte und begrub den neun Monate alten Hobbit unter sich, der mit einem vergnügten Quieken nach einem schmutzigen Hemd griff. Frodo hob den Korb auf und der darunter zum Vorschein kommende kleine Hobbit grinste über das ganze Gesicht und hielt ihm voller Freude das Hemd entgegen. "Was machst du denn?", jammerte er, kniete sich neben dem Kind nieder und stopfte die schmutzige Wäsche wieder in den Korb. Er hatte Merimas nur für einen kurzen Augenblick den Rücken zugedreht, um einen frischen Scheit in das Feuer im Kamin zu geben, und schon war der kleine Hobbit am anderen Ende des großen Zimmers verschwunden. Merimas konnte zwar nicht laufen, hatte noch nicht einmal Haare auf den Füßen und doch war er schon flinker, als Frodo es vermutet hatte. Das Zimmer war in ein behagliches Licht getaucht, das von den Wandlampen und dem Kaminfeuer herrührte. Hanna Brandybock schob sich eine ihrer hellen, braunen Strähnen zurück, ehe sie einen Stapel frische Wäsche vom Bett nahm und die Hemden im Schrank verstaute. "Er hält einen ganz schön auf Trab, was?", meinte sie gut gelaunt. Frodo seufzte: "Das tut er. Da lässt man ihn einen Moment aus den Augen und schon sitzt er in der anderen Ecke und stellt irgendetwas an. Ich hätte nie gedacht, dass er so schnell sein kann, wo er doch nur kriecht." Hanna trat zu ihnen herüber, um ihren Sohn in die Arme zu nehmen. "Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann er sehr schnell werden." Sie lächelte und küsste die Wange des Kindes, was diesem ein erfreutes Glucksen entlockte. Frodo nickte bestätigend, während er die letzten Wäschestücke in den Korb stopfte und schließlich vom Fußboden aufstand. "Danke für deine Hilfe, Frodo. Ich denke, ich komme jetzt alleine zurecht und du hast bestimmt auch etwas Besseres zu tun, als auf diesen kleinen Lausebengel hier aufzupassen." Hanna wuschelte ihrem Sohn durch die Haare und strich anschließend mit dem Zeigefinger über Stirn und Nase des kleinen Hobbits. Merimas lachte vergnügt und hüpfte aufgeregt auf ihrem Schoß auf und ab. "Ich passe gern auf ihn auf", entgegnete Frodo, der die beiden gedankenverloren beobachtete. Merimas griff nach Hannas Finger, wollte ihn sich in den Mund stecken, doch sie entzog ihm ihre Hand, kitzelte ihn stattdessen am Bauch. Das Kind kicherte vergnügt, drückte den Kopf an ihre Brust und kuschelte sich an sie.
Frodo hatte ein seltsames Gefühl in der Magengegend, als er sie beobachtete. In gewisser Weise beneidete er Merimas. Es war jetzt über achtzehn Monate her, seit seine Eltern gestorben waren. Er hatte geglaubt, der Schmerz über ihren Verlust würde mit der Zeit nachlassen, doch dem war nicht so. Oft vergaß er über seine Trauer, doch in Augenblicken wie diesen, überkam ihn erneut eine starke Sehnsucht nach ihnen. Nachdem Marroc ausgezogen war, war alles besser geworden. Es war sogar noch besser geworden, als einige Tage darauf Marmadas zu ihm gekommen war und verkündet hatte, dass er gerne mit Frau und Kind einziehen wollte. Frodo hatte nichts dagegen, war sogar froh, Marmadas in seiner Nähe zu wissen. Er und sein Vater waren sehr gute Freunde gewesen und hatten viel Zeit miteinander verbracht. Doch auch ihr Einzug änderte nichts an Frodos unruhigen Nächten. Zwar weinte er sich nur mehr selten, aus Angst und Trauer, selbst in den Schlaf, wurde aber von Weinen um den Schlaf gebracht. Merimas schrie oft nächtelang so herzzerreißend, dass selbst Frodo keine Ruhe mehr finden konnte.
An einem Winterabend war Frodo einmal in das benachbarte Zimmer gegangen und hatte Hanna auf ihrem Bett sitzend vorgefunden. Sie hatte Merimas in den Armen gehalten und ihm die Brust gegeben. Frodo hatte gezögert, wollte sie in einem solch vertraulichen Moment alleine lassen, doch Hanna hatte ihn zu sich gerufen und so hatte er sich neben sie gesetzt und das Baby beim Trinken beobachtet. Frodo hatte Hanna und ihre gütige, liebevolle Art lieb gewonnen. Nach ihrem Einzug war er oft in ihrem Zimmer gewesen, denn es war ihm, als hätte der Raum mit dem Einzug von Marmadas und seiner Familie auch seine einstige Behaglichkeit zurück gewonnen. Das Gefühl der Geborgenheit hieß ihn wieder willkommen, wenn er eintrat und Hanna hatte ihm erlaubt, zu ihr zu kommen, wann immer es ihm beliebte. Dass er sie dabei jedoch beim Stillen störte, war bisher nie eingetroffen und so hatte er sich an jenem Winterabend erst unbehaglich gefühlt. Doch dann ließ er sich von der Ruhe, die Mutter und Kind ausstrahlten, anstecken und ihm war, als könne er hier das ständige Kommen und Gehen des Brandyschlosses vergessen. Hanna musste das ebenfalls gespürt haben, denn sie hatte ihm angeboten, dass er jeden Abend kommen konnte, wenn er wollte und Frodo hatte freudig zugestimmt. Mit seinen Besuchen hatte sich jedoch sein Interesse am jungen Merimas gehäuft und oft hatte er Hanna Fragen gestellt, die keiner besser beantworten konnte, als die Mutter. Einmal hatte Hanna ihm schließlich das Kind auf den Arm gelegt, als Frodo, wie so oft, seine Augen nicht von dem Baby hatte nehmen können. Anfangs war er unsicher gewesen, doch je länger ihn die großen, dunklen Augen Merimas' forschend gemustert hatten, umso sicherer war er geworden. Vorsichtig waren seine Finger über die weiche Haut des Babys gewandert und als Merimas ihm schließlich ein Lächeln geschenkt hatte, das Frodo erwiderte, noch ehe ihm das bewusst geworden war, hatte er das hilflose Bündel in seinen Armen in sein Herz geschlossen. Beinahe jeden Tag war er seither bei Hanna gewesen, hatte ihr nicht nur vor dem Zubettgehen Gesellschaft geleistet, sondern war oft auch schon nachmittags in ihrem Zimmer gewesen und hatte mit Merimas gespielt, sofern sie mit ihrem Sohn nicht in eines der Wohnzimmer gegangen war. Inzwischen war er jedoch froh, dass er nur gelegentlich auf Merimas Acht geben und nicht ständig auf ihn aufpassen musste. Erst vor wenigen Tagen hatte der junge Hobbit zu krabbeln begonnen und seither hatte er nichts, als Unsinn im Kopf, was Frodo gerne zur Verzweiflung trieb.
Frodo seufzte leise und ging zur Tür, wo er sich noch einmal umwandte. "Darf ich heute Abend wieder kommen?" Hanna lächelte: "Wenn du willst, gerne."
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Frodo trat in eines der vielen Wohnzimmer, das dritte, das er nun auf seiner Suche nach Merry durchforstete. Wie in jedem der Wohnzimmer hing auch hier ein großer Leuchter von der Decke und tauchte den Raum in ein angenehmes Licht. Ein Feuer prasselte im Kamin und strahlte eine wohlige Wärme aus. Dort, unter vielen Verwandten und anderen Bewohnern, entdeckte Frodo seinen Vetter schließlich. Voll beladen mit Bechern und Pinseln, lief er zu einem der freistehenden Tische, dicht gefolgt von Esmeralda, die weitere kleine Becher in der Hand hielt. Frodo rannte auf sie zu. "Was machst du da?", fragte er neugierig und schielte in die Becher, die sein Vetter sorgsam auf dem Tisch platzierte. "Ich...", begann Merry, doch er wurde von einem lauten Aufschrei unterbrochen. "Farben!" rief Frodo entzückt, platzierte sich sogleich neben Merry am Tisch und langte nach einem Pinsel.
Kurze Zeit später waren die beiden vollkommen in ihre Bilder vertieft. Merry bemühte sich, einen Fluss zu malen und einen Hobbit auf einem Boot, während Frodo versuchte, Elben zu zeichnen. Große, strahlende Wesen mit goldenem Haar, tanzend in den Wäldern unter dem nächtlichen Sternenhimmel. Merry schielte auf sein Blatt und runzelte die Stirn, während er sich mit dem Pinsel an die Lippen tippte. "Wer ist das?" "Elben, Merry!" entgegnete Frodo verträumt, blickte zufrieden auf sein Blatt. "Elben!" Merrys Augen wurden groß und er blickte voller Staunen erst zu Frodo, dann zu dessen Zeichnung. "Sag bloß, du hast welche gesehen?" "Das habe ich nicht, aber Bilbo. Und eines Tages werde auch ich Elben sehen." Frodo sprach wie in einem Traum, schloss die Augen und lächelte entrückt. "Du und deine Elben", lachte Merry und schüttelte den Kopf, ehe er sich wieder seinem Bild widmete und hier und da noch kleine Details ergänzte. Frodo ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen und hing weiterhin seinen Gedanken nach.
Ein schelmisches Grinsen trat auf Merrys Gesicht, als er seinen Vetter beobachtete. Ohne lange zu überlegen, tauchte er den Pinsel in die blaue Farbe und begann seelenruhig, blaue Punkte auf Frodos Wange zu tupfen. Frodo bemerkte das Kitzeln, runzelte die Stirn und strich sich mit der Hand über die Backe. Merry schaffte es gerade noch, unbemerkt den Pinsel wegzuziehen, als Frodo seine Augen öffnete, um die unangenehm feuchte Hand zu begutachten. Verzweifelt darum bemüht, sich das Lachen zu verkneifen, blickte Merry unschuldig in die andere Richtung und presste die Lippen zusammen. Frodo schnappte erschrocken nach Luft, starrte fassungslos auf seine blaue Hand. Entgeistert wandte er sich zu Merry um, der gerade herüber schielte, weil er sich diesen Gesichtsausdruck nicht nehmen lassen wollte. Der junge Hobbit prustete los und Frodo, zwar noch immer völlig aus der Fassung, begann zu verstehen. "Was machst du denn da?!" Merry war nicht in der Lage, zu antworten. Er hielt sich den Bauch und krümmte sich vor Lachen, eher er schließlich unter endlosem Gekicher und Gegluckse ein freches "Blau steht dir gut!" heraus brachte. Frodos völlig verdutzte und verständnislose Miene war zuviel für Merry. Er hätte sich keinen amüsanteren Gesichtsausdruck vorstellen können. Verzweifelt schnappte er nach Luft und wischte sich die Tränen aus den Augen, doch immer, wenn er glaubte, sich beruhigt zu haben, brach er erneut in schallendes Gelächter aus. Frodo erholte sich sehr viel schneller, als sein Vetter und schenkte ihm einen säuerlichen Blick, als dieser erneut losprustete, kaum dass er sich zu ihm umgedreht hatte. "Na warte!" brummte er und tauchte zwei seiner Finger in die rote Farbe, um anschließend Merry quer über das Gesicht zu streichen. Nun war es an Merry, dumm zu schauen, was wiederum Frodo zum Kichern brachte. Dieser tauchte seine Finger erneut in die Farben. Dieses Mal sollte es ein kräftiges Grün werden. Merrys Erstaunen hielt jedoch nicht lange genug an und noch ehe Frodo die grüne Farbe auf seinem Gesicht verteilen konnte, hatte dieser seine Finger in den Becher mit Gelb getaucht und war bereit, die Farbe auf Frodos Hals zu verteilen. Gerade als er dazu kommen wollte, ließ Frodo jedoch seine Finger auf Merrys linke Wange klatschen und die Farbe spritzte dem jungen Brandybock bis in die Haare. Die beiden kicherten und lachten vergnügt, ehe sie zu einem weiteren Angriff übergingen.
Das laute Gelächter blieb nicht ungehört und Mirabella, Esmeralda und einige andere Damen, die an einem Tisch unweit der Vettern saßen, unterbrachen ihr Gespräch und blickten von ihrer Handarbeit auf. "Du liebe Güte, Merry!" Esmeralda stockte der Atem. Schnell warf sie Nadel und Wolle zur Seite und eilte zu den Kindern, die noch immer übermütig Farbe auf Haut, Haar und Kleidung des anderen verteilten. Sie erreichte die beiden gerade in dem Augenblick, als Merry einen weitern Versuch startete, Frodo farbenfroher zu gestalten. Schnell packte sie sein Handgelenk und zog ihn zurück. Ein fataler Fehler, denn so war sie es, die von Frodos Gegenangriff, einer handvoll blauer Farbe, getroffen wurde. Die Tropfen verteilten sich auf ihrem Kleid und auch ihre Schürze erhielt ein neues Farbmuster. Esmeralda zog scharf die Luft ein und wich einen Schritt zurück. "Frodo!" rief sie erschrocken und wütend zugleich. Mit einem überraschten Ausruf ließ Frodo seine Hände sinken und versteckte sie hinter seinem Rücken. "Was in allen Auen ist in euch gefahren?", fragte sie zornig, ließ den Blick von ihrer Schürze zu den beiden Kindern wandern. Sie hatte Merrys Handgelenk wieder losgelassen, woraufhin ihr Sohn sich neben Frodo gestellt hatte und mit einem verschmitzten Grinsen immer wieder zur blauen Schürze schielte. Auf ihre Worte hin, blickten jedoch beide mit großen, unschuldigen Augen zu ihr auf und versuchten verzweifelt, sich das Lachen zu verkneifen. "Das ist nicht lustig!" ließ Esmeralda verlauten. Die beiden Hobbits pressten die Lippen zusammen und setzten eine noch unschuldigere Miene auf. "Seht euch nur einmal an!" schimpfte Esmeralda. "Und wer, glaubt ihr, macht dieses Durcheinander hier wieder sauber?" Merry sah sich kurz um und lachte in sich hinein. Auch Frodo warf einen schuldbewussten Blick auf Tisch und Stühle, die von Farbklecksen ebenfalls nicht unverschont geblieben waren, und verkündete schließlich lächelnd: "Jetzt ist es wenigstens etwas bunter." Merry prustete los und Frodo konnte nicht anders, als auch zu lachen. "Es ist bunter?!" rief Esmeralda wütend. "Euch wird das Lachen noch vergehen!"
Sie packte die beiden Hobbits an den Ohren und führte sie aus dem Wohnzimmer, während ihr die neugierigen Blicke der anderen Anwesenden, die das Schauspiel belustigt beobachtet hatten, folgten. Mirabella schüttelte lachend den Kopf. "Diese Kinder! Nur Dummheiten im Sinn!"
Frodo und Merry war das Lachen inzwischen tatsächlich vergangen, zu sehr waren sie damit beschäftigt, ihre Ohren aus Esmeraldas Fingern zu befreien. "Fasst nichts an!" verlangte sie, während sie in eines der Badezimmer gingen. Die Herrin von Bockland machte sich daran, Wasser aufzusetzen, während die beiden Hobbits vorsichtig ihre Ohren rieben. Esmeralda füllte einen Zuber mit warmem Wasser und bereitete zusätzlich einen Eimer vor, in dem die farbigen Kleider wieder sauber gemacht werden sollten.
Merry wurde zuerst in die Wanne geschickt, während Frodo seine Kleider im Eimer waschen musste. Er war nicht gerade erfreut darüber, denn Esmeralda hatte verlangt, dass kein Farbtropfen mehr zu sehen sein durfte und dies schien beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. So saß er auf dem Steinfußboden, der unweit der großen Feuerstelle inmitten des Raumes noch angenehm warm war, und rieb lustlos zwei Enden seines Hemdes aneinander.
Merry grinste noch immer, als Esmeralda ihm die Haare zum dritten Mal einschäumte. Ohne Vorwarnung pustete er eine handvoll Schaum in Frodos Richtung. Frodo kicherte, als einige schaumige Wölkchen kribbelnd über seinen Rücken liefen. Durch einen leichten Schlag auf den Hinterkopf wurde Merry davon abgehalten, erneut Schaum auf Frodo zu blasen und ein wütender Blick von Esmeralda ließ Frodo aufhören zu kichern und eifriger schrubben.
Zwei Stunden später saßen beide Hobbits frisch gewaschen im großen Esszimmer und warteten ungeduldig auf das Abendessen. Außer ihnen hatten sich erst wenige Hobbits eingefunden und um keine Langeweile aufkommen zu lassen, begann Merry mit der Gabel einen Takt zu klopfen. Frodo stimmte sogleich mit ein, indem er seinen Löffel zwischen seinem und Merrys Glas hin und her schwingen ließ, sodass eine klimpernde Melodie entstand. Esmeralda trat, beladen mit dem letzten von mehreren Tellerstapeln, ein und die beiden ließen abrupt ihr Besteck fallen und verschränkten die Arme. Merry wollte eine ernste Miene aufzusetzen, wurde aber immer wieder von gelegentlichen Kicheranfällen geschüttelt. Frodo versuchte möglichst unschuldig auszusehen. "Verteilt die Teller! Dann habt ihr wenigstens eine sinnvolle Beschäftigung", meinte Esmeralda streng und verschwand wieder in der Küche. Merry sprang sofort auf und tänzelte übermütig auf die aufgestapelten Teller zu. Das Licht des Leuchters und der Wandlampen ließ seine noch feuchten Haare funkeln. "Ich nehme die eine Hälfte und du die andere!" ließ er Frodo wissen. Frodo nickte und nahm einige Teller in die Hand. Als hätten sie es abgesprochen, stellten sich die beiden genau gegenüber voneinander auf und verteilten die Teller mit schwungvollen Bewegungen auf dem Tisch. "Vorsichtig! Ihr beide habt heute schon genug angestellt. Ich will nicht, dass auch noch Geschirr zu Bruch geht." "Papa!" rief Merry freudig und sprang dem Herrn von Bockland in die Arme. "Du weißt davon? Woher?" "Ich weiß alles", entgegnete Saradoc mit einem Lächeln, als er seinen Sohn hochhob. "Hallo, Frodo!" Frodo grüßte kurz und machte sich dann daran, die restlichen Teller zu verteilen, dieses Mal mit mehr Vorsicht.
Bald darauf wurde das Essen aufgetischt und die beiden überdrehten Hobbits beruhigen sich endlich, waren vollständig auf ihre Mahlzeit konzentriert. Frodo hatte gerade den letzten Bissen hinuntergeschluckt, als er sah, wie ein Zimmermädchen, ein junges Mädchen, gerade erst in ihren Tweens, das erst vor kurzem hier eingezogen war, in das Zimmer trat. Sie hatte den Auftrag, auf Merimas zu achten, während dessen Mutter zu Abend aß. Nachdem sie einige kurze Worte mit Hanna gewechselt hatte, entschuldigte sich diese höflich und verließ das Esszimmer. Frodo sah ihr hinterher, blieb aber noch eine Zeit lang bei Merry sitzen und unterhielt sich mit ihm, ehe auch er sich verabschiedete.
Frodo klopfte zaghaft, ehe er eintrat. Ein Feuer flackerte ihm Kamin, tauchte den Raum in ein wohliges Licht. Hanna saß in einem Sessel vor dem Kamin und lächelte ihm zu. Ihren Sohn hielt sie zärtlich im Arm, wobei sein Kopf auf ihrer Schulter ruhte. Er hatte die Augen geschlossen und die kleinen Hände zu Fäustchen geballt. Leise trat Frodo ein, setzte sich schließlich ihr gegenüber in den anderen Sessel und beobachtete die beiden. Das Wohlbehagen, das von Mutter und Sohn auszugehen schien, ließ auch ihn nicht unberührt und er fühlte sich seltsam zufrieden. "Willst du ihn halten?", fragte Hanna sanft. Frodo nickte eifrig und setzte sich bequemer hin, als Hanna ihm das Kind vorsichtig in die Arme legte. Der Kleine rührte sich im Schlaf und bewegte die Lippen, als würde er noch immer saugen. Frodo lächelte, unfähig den Blick von dem kleinen Bündel in seinen Armen zu nehmen.
"Du hast den Kleinen sehr gerne, nicht wahr?", fragte Hanna, die die beiden lächelnd beobachtete. Sie hatte Frodo gerne erlaubt, abends zu ihr zu kommen, denn sie hatte bemerkt, dass es ihm Wohl tat, wenn er nach den Ereignissen des Tages nicht sofort alleine in seinem Zimmer war. Er sprach wenig, hüllte sich vor allem dann in Schweigen, wenn sie ihm Fragen über seine Eltern stellte. Auch über sein Befinden verlautete Frodo wenig, doch Hanna hatte gelernt zu sehen, wann es ihm nicht so gut ging, wie er gerne glauben machen wollte. Sie war eine junge Mutter und hatte Frodo erst vor etwas weniger als fünf Jahren kennen gelernt, als sie im Brandyschloss eingezogen war, doch schon bei ihrer ersten Begegnung hatte sie den aufgeweckten, spitzbübischen Jungen in ihr Herz geschlossen. Seit dem Tod seiner Eltern hatte er sich sehr verändert, doch auch wenn sein Gemüt besinnlicher geworden war, strahlte er noch immer jene Herzenswärme aus, die sie damals schon bemerkt hatte. Sie hatte ihn lieb gewonnen und für sie war er beinahe zu einem Teil ihrer Familie geworden und dies nicht nur, weil sein Zimmer als einziges so nah an ihrem lag.
Frodo sah etwas überrascht auf. "Ja, ich... er hat etwas an sich, das…" Er stockte und runzelte die Stirn, als er einen Augenblick nachdachte. Verwundert stellte er fest, dass er gar nicht beschreiben konnte, weshalb er den kleinen Hobbit mochte. "Man muss ihn einfach lieb haben", sagte er schließlich und sah Hanna in die Augen. Er fragte sich, ob das die richtige Antwort gewesen war, doch besser wusste er nicht auszudrücken, weshalb er gerne auf Merimas aufpasste. Hanna betrachtete ihren Sohn lächelnd, dann sah sie in Frodos Augen. "Du hast Recht. Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn machen würde", sagte sie sanft und strich dem Kind über die Wange.
Frodo wurde bei ihren Worten das Herz schwer. Sie wusste nicht, was sie ohne ihn tun würde? War für Eltern der Verlust eines Kindes ebenso schlimm, wie für das Kind der Verlust der Eltern? Er konnte sich das nicht vorstellen. Eltern hatten einen Platz im Leben. Sie wussten, wo sie hingehörten, auch wenn sie ihr Kind nicht mehr hatten. Doch was war mit den Kindern? Sie standen alleine. Frodo schluckte schwer, ließ seinen Blick auf dem Säugling in seinen Armen ruhen. Er wollte nicht daran denken. Er hatte das Brandyschloss und Saradoc und Esmeralda und so viele mehr. Weshalb hatte er dennoch das Gefühl, alleine zu sein?
Merimas hustete und riss Frodo aus seinen Gedanken. Schnell hob er den Kleinen hoch und klopfte ihm den Rücken, wie Hanna es ihm einmal gezeigt hatte. Kurz darauf erbrach sich der junge Hobbit. Frodo verzog das Gesicht, während Hanna ihm das Kind abnahm und es beruhigte, da es zu schreien begonnen hatte. "Hat er dich schlimm erwischt?", fragte sie, als Frodo sich mit einer Windel angeekelt über die Schulter wischte. Er schüttelte den Kopf, rümpfte jedoch die Nase, ehe er seinen Blick schließlich wieder zu Hanna wandern ließ, die ihren Sohn sanft wiegte. In den Armen seiner Mutter hatte sich Merimas schnell wieder beruhigt und kuschelte sich an sie. Hanna behielt ihn noch einige Momente länger ihm Arm und legte ihn schließlich ins Bett, als sie sicher war, dass er eingeschlafen war. "Kannst du noch kurz auf ihn aufpassen, Frodo? Ich bringe die schmutzige Windel weg", sagte sie. Frodo nickte, ehe er sich noch ein letztes Mal mit der Windel über die Schulter wischte. "Ich bin sofort zurück!" versicherte Hanna und eilte aus dem Zimmer.
Frodo gähnte, als er sich Merimas zuwandte und zärtlich durch die seidigen, dünnen Locken strich. Müde legte er sich neben den Jungen in das große Bett und stütze den Kopf auf die Hand, ohne den Blick vom Hannas Sohn zu nehmen. Die ruhige Atmung des Kindes ließ ihn schläfrig werden. Er seufzte leise. "Du hast es gut, mein Kleiner."
Als Hanna zurückkehrte, fand sie Frodo schlafend vor. Lächelnd trat sie an das Bett, bedachte die feinen Züge des Jungen, die nur erahnen ließen, wie er in späteren Jahren aussehen würde. Sie hatte vorgehabt, ihn aufzuwecken und zu Bett zu schicken, doch er sah so zufrieden aus, dass sie seinen Schlummer nicht stören wollte. "Zumindest bis Marmadas zurückkehrt", dachte sie lächelnd und deckte ihn zu.
Es dauerte nicht lange, da trat ihr Gatte auch schon in das Zimmer. Er war mit Seredic im Gasthaus Zum Springenden Hecht in Bockenburg gewesen und hatte dort, bei einigen Krügen Bier, einen gemütlichen Abend verbracht. Hanna saß in einem Sessel neben dem Kamin, als er eintrat, und war damit beschäftig, eine seiner Hosen zu flicken und nur das Kaminfeuer spendete ihr das nötige Licht dazu. Er küsste sie zur Begrüßung, ehe er nach seinem Sohn sehen wollte, sein Blick jedoch auf einen anderen jungen Hobbit fiel. "Frodo?", fragte er verdutzt und sah Hanna fragend an. Hanna nickte und erzählte ihm, wie sie den Jungen vorgefunden hatte. "Ich denke, trotz allem werde ich seinen Schlaf nun stören müssen", schloss sie ihren Bericht bevor sie an das Bett trat und Frodo sanft an der Schulter rüttelte. "Wach auf, Frodo!"
Frodo drehte sich um und blinzelte müde. Seine verschlafenen Augen blickten wie gebannt auf Hanna. Im Licht des Feuers schimmerten ihre Haare in einem hellen Braun. Ihre Stimme war sanft, ihre Berührung liebevoll. Frodo war, als würde er noch immer träumen. "Mama", flüsterte er kaum hörbar und Tränen sammelten sich in seinen Augen. Noch immer starrte er wie gebannt auf die Person vor ihm, doch plötzlich verschwamm das Bild und vor ihm stand Hanna, die ihn mit einem freundlichen Lächeln betrachtete. "Du bist eingeschlafen, Frodo. Komm, ich bringe dich in dein eigenes Bett." Etwas benommen sah er sich um. Er lag tatsächlich noch immer im großen Bett von Hanna und Marmadas. Merimas ruhte direkt neben ihm. Das Zimmer war trüb und dunkle Schatten tanzten an der Decke des Raumes, ließen Schauer über seinen Rücken laufen.
Verwirrt stolperte er aus dem Zimmer, hinein in sein eigenes. Hanna folgte ihm. "Ist alles in Ordnung?", fragte sie besorgt, als Frodo geistesabwesend die Kerze auf seinem Nachttisch entzündete und nach seinem Nachthemd suchte. "Ja, es ist nichts. Es… es geht mir gut", antwortete er stammelnd und wenig überzeugend. Sein Blick war auf den Boden gerichtet, seine Hände zuckten, als wisse er nicht recht, was er mit ihnen anfangen sollte. "Ich verstehe, wenn du nicht darüber sprechen willst", hörte Hanna sich sorgenvoll fragen. Sie betrachtete ihn traurig, doch Frodo sah nicht auf und schien erst nach einer langen Zeit des Schweigens, den Mut zu finden, zu antworten. "Ich komme zurecht." Tröstend legte sie eine Hand auf seine Schulter und nickte schwach. Sie hatte gehört, was er zuvor im Halbschlaf gemurmelt hatte und zum ersten Mal wurde ihr klar, wie sehr Frodo seine Eltern vermissen musste, auch wenn sie nur vermuten konnte, wie groß seine Trauer tatsächlich war. Hanna hätte ihm gerne geholfen, allerdings wusste sie nicht wie und Frodo dazu zwingen, mit ihr zu sprechen, konnte sie nicht.
Frodo weigerte sich noch immer, sie anzusehen, während er sich weiterhin nach seinem Nachthemd umsah. Er wusste, er würde in Tränen ausbrechen. Was war geschehen? Wie konnte er sie mit seiner Mutter verwechseln? Hanna sah ihr, abgesehen von der Haarfarbe, nicht einmal ähnlich. Es war ein solch fröhlicher Tag gewesen, weshalb musste er so enden? Beinahe krampfhaft umklammerten seine Hände das Nachthemd, als er es endlich entdeckt hatte. Hanna sollte sich keine Sorgen machen. Sie hatte Merimas und dieser bereitete ihr bestimmt oft genug schlaflose Nächte, und das nicht nur, weil er weinte. Er riss sich zusammen und rang sich ein Lächeln ab, als er langsam den Kopf hob und ihr in die Augen sah.
"Das ist gut", antwortete Hanna dann und lächelte ebenfalls. "Schlaf gut, Frodo!" "Gute Nacht!" entgegnete er, die Stimme kaum mehr, als ein Wispern. Hanna strich ihm noch einmal über die Wange und verließ dann das Zimmer.
Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, begann Frodo leise zu schluchzen und ließ sich auf sein Bett fallen. Traurig griff er nach dem Bild seiner Eltern. Er seufzte, als er seine Finger betrübt über den Rahmen gleiten ließ. "Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich euch vermisse!"
Kapitel 23: Wiedersehen
Frodo starrte gebannt auf das Blatt Papier in seinen Händen. Bei jedem Wort, das er las, wurden seine Augen größer. Mit offenem Mund blickte er schließlich auf. Er saß in einem der Wohnzimmer, in einer etwas abgelegenen Ecke, um in Ruhe seinen Brief lesen zu können. Am Tisch saßen einige Hobbits und unterhielten sich angeregt. Lautes Gelächter drang an sein Ohr, doch Frodo nahm es kaum wahr. Immer noch blickte er staunend ins Leere. Hatte er sich auch wirklich nicht verlesen? Erneut griff er nach der ersten Seite, überflog sie und wieder blieb sein Blick an einem Absatz haften.
Ich habe Saradoc bereits Bescheid gegeben. Ich hoffe doch, er hat nichts ausgeplaudert. Am 24. Astron werde ich mich in Bockland eintreffen. Vielleicht können wir gemeinsam ein kleines Abenteuer erleben. Wenn du willst, kann ich dir auch wieder einige elbische Worte beibringen. Ich freue mich darauf, dich nach so langer Zeit wieder zu sehen.
Bilbo kam. Schon in zwei Tagen würde er ihn endlich wieder sehen. Frodo konnte es kaum glauben und seine Augen flogen immer wieder aufgeregt über die Zeilen, doch auch wenn er das befürchtete, veränderten sich die Worte nicht. "Er kommt wirklich!" flüsterte er schließlich und seine Augen begannen zu leuchten. Ein strahlendes Lächeln erhellte sein Gesicht, als er den Brief vorsichtig in den Umschlag zurück steckte. Eiligst stand er auf und machte sich auf den Weg in sein Zimmer, um den Brief sicher zu verstauen. Hüpfend und singend lief er durch die Gänge, als ihm Merry aufgeregt entgegen gerannt kam. "Frodo, rate, was ich gerade gehört habe!" rief er und sah ihn breitgrinsend an. Merry hatte noch immer nicht gelernt, dass Frodo es nicht mochte, gute Neuigkeiten erraten zu müssen, bevor man sie ihm verkündete. Entweder das, oder er machte es nur, um ihn zu ärgern. Heute sollte der junge Brandybock seinen Willen jedoch haben und wer wusste, vielleicht war Merrys Neuigkeit gar nicht so neu für ihn. "Bilbo kommt uns besuchen, und das schon in zwei Tagen!" rief Frodo vergnügt. Merry sah ihn verwundert an. "Bilbo? Davon weiß ich nichts, aber das erklärt dein Grinsen. Aber jetzt zu meiner Neuigkeit: Du erinnerst dich an Pippin?", fragte er und grinste von einem Ohr zum anderen. "Du weißt schon, unser Vetter. Der Sohn des Thains ..."
Merry liebte es, Frodo auf die Folter zu spannen und holte so weit wie möglich aus. Frodos Ausdruck wurde immer ungeduldiger, bis er schließlich mit einem geplagten "Merry, was in allen Auen ist mit Pippin?" versuchte, seiner Folter ein Ende zu bereiten. "Ein Bote kam gerade von den Großen Smials und er verkündete, dass", Merry stellte sich aufrecht hin und sprach mit stolzem Ton weiter, "der Thain, gemeinsam mit seinem Sohn Peregrin auf dem Weg nach Bockland ist, um seine Schwester Esmeralda, die Herrin von Bockland, zu besuchen." Frodo zog eine Augenbraue hoch, als er den Worten seines Vetters lauschte. "Dann kommt Pippin auch? Und Bilbo?", fragte er überrascht und sein Grinsen wurde noch breiter, als zuvor. "Von Bilbo weiß ich nichts, da müsste ich meinen Papa fragen, aber Pippin wird heute Nacht hier ankommen!" jubelte Merry und sprang aufgeregt auf und ab. Frodos Augen strahlten, als er mit Merry den Gang entlang tänzelte. Nicht nur Bilbo, nein, auch Pippin sollte er wieder sehen! Das versprach ein Frühling voller Überraschungen zu werden.
~*~*~
Sterne funkelten am Himmel über Frodos Fenster. Der junge Hobbit saß an seinem Schreibtisch, über seinem Tagebuch. Neben ihm brannte eine Kerze, ansonsten wurde das Zimmer nur vom Licht des Mondes erhellt. Er strich sich mit der Feder über die Lippen, wandte sich gedankenverloren den Sternen zu: "Elin danon o Elbereth."
‚Wenn du traurig bist, dann sieh zum Himmel und betrachte die Sterne.' Es waren Worte, die er niemals vergessen würde. Wann immer er zu den Sternen sah, würde er an seine Mutter denken müssen. Schweigend ließ er den Blick auf dem Fenster ruhen, dachte lange über seine Worte nach, ehe er wieder zu schreiben begann.
Ich sage immer, sie hätte es mir gesagt, dabei war es nur ein Traum. Ein Traum, vor so langer Zeit. Und doch war er wirklich, zumindest schien er das. Ich zumindest glaube daran, an eine letzte Begegnung mit ihnen, bevor ich endgültig Abschied nehmen musste. Abschied nehmen. Ich habe nie wirklich Abschied genommen. Selbst jetzt hoffe ich noch immer auf eine Rückkehr. Eine Rückkehr, von der mein Kopf genau weiß, dass sie niemals stattfinden wird, doch mein Herz will nicht daran glauben. Angst. Ich erinnere mich noch gut an die Angst, die ich damals hatte, die ich noch immer habe. Angst vor dem Alleinsein. Sie ist noch immer da. Ich spüre sie, manchmal stärker, manchmal weniger stark. Das Brandyschloss ist groß und viele leben hier, doch ich denke, genau das ist das Problem. Es sind zu viele. Ich falle nicht auf, nicht wirklich. Sie kennen mich nicht, niemand tut das. Ich hätte gerne, wenn sie mir ein wenig mehr Aufmerksamkeit schenkten, wenn sie wenigstens versuchen würden, mich zu verstehen. Ich will, dass sie mich sehen, Frodo, und nicht nur einen weitern Hobbit, der hier lebt und doch… ich verschließe mich vor ihnen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich fürchte, was sie sehen könnten, dass ich gar nicht wirklich will, dass sie mich begreifen. Ich will Mama zurück, Mama und Papa. Ich könnte noch so verschlossen sein, sie würden mich kennen, mich lieben. Ich glaube nicht, dass mich einer der Bewohner des Brandyschlosses wirklich liebt. Bilbo, er kommt. In zwei Tagen wird er hier sein, hat sich vielleicht jetzt schon auf den Weg gemacht. So lange ist es her, dass ich ihn gesehen habe. Die drei Monate, die ich damals bei ihm verbrachte, waren viel zu schnell vergangen. So gerne wäre ich noch länger geblieben. Ich bin froh, dass er kommt. Und doch... wird es anders werden, als es in Beutelsend gewesen ist? Die Geborgenheit, die ich damals fühlte, habe ich hier niemals auch nur annähernd so stark empfunden. Ich kann nur abwarten, warten auf Bilbo und auf Pippin, der eigentlich schon lange hätte ankommen müssen. Esmeralda hat mich gleich nach dem Abendessen in mein Zimmer geschickt. Merry und ich hätten heute beim Ausmisten der Ponys behilflich sein sollen. Wir hatten besseres zu tun. Ich bin sicher, Merry hat sie inzwischen zu Bett gebracht. Ich sitze immer noch hier. Sie wird nicht kommen, nicht zu mir.
Frodo seufzte und legte die Feder weg. Auch wenn Esmeralda nicht kam, war es dennoch Zeit, zu Bett zu gehen. Er gähnte, als er das Tagebuch in einer Holzkiste in der untersten Schublade seines Nachttisches verschwinden ließ, sich rasch umzog und schließlich unter seine Decke kuschelte. Er warf noch einen letzten Blick zu den Sternen, bevor er sich zusammenrollte und die Augen schloss.
~*~*~
Am nächsten Morgen war Frodo gerade dabei sich anzuziehen, als Merry ohne anzuklopfen, in sein Zimmer stürmte. "Er ist hier!" rief er aufgeregt und nahm Frodo bei der Hand. "Komm schnell mit, wir werden ihn aufwecken!" Frodo hatte gar keine Zeit mehr, sich die letzten Hemdknöpfe zuzumachen, sondern wurde sogleich von Merry mitgezogen. Als sie durch die Gänge in jenen Bereich eilten, wo sich die meisten Gästezimmer befanden, wurde Frodo darüber aufgeklärt, in welchem Raum sich Pippin in den nächsten Tagen, vielleicht sogar Wochen, aufhalten würde.
Merry öffnete die Tür und spähte vorsichtig in das dunkle Zimmer. Auf einem kleinen Tischchen neben dem Schrank stand eine Kerze, tauchte den Raum in ein schummeriges Licht. Pippin schlief noch tief und fest. Er lag alleine in einem großen Doppelbett und Frodo nahm an, dass Paladin, der das Zimmer mit seinem Sohn teilte, bereits aufgestanden war. Merry schlich hinein, während Frodo in der Tür stehen blieb und endlich Zeit fand, sich sein Hemd zuzuknöpfen. "Wo bleibst du denn?", flüsterte Merry ungeduldig. Auf Zehenspitzen trat Frodo schließlich auch ein, ging am Schrank vorbei zum Bett. Lächelnd betrachtete er das zufriedene Gesicht seines schlummernden Vetters. "Wir sollten ihn schlafen lassen, Merry. Er hat eine lange Reise hinter sich", sagte er dann leise, unwillig den jüngeren Hobbit zu stören. Merry legte den Kopf schief und selbst im schwachen Licht der Kerze konnte Frodo das spitzbübische Blitzen in seinen Augen sehen. "Komm schon, er würde das auch machen." Frodo dachte einen Augenblick nach. Vermutlich hatte Merry Recht. Pippin nutzte solche Gelegenheiten immer aus. Weshalb sollten sie ihm nicht auch einen Streich spielen? Er grinste verschmitzt, als er sich gegenüber von Merry auf der anderen Seite des Bettes platzierte. Jeder griff sich einen Teil der Bettdecke und mit einem Ruck und einem lauten "Aufwachen!" zogen sie Pippin diese weg. Peregrin schrie entsetzt auf, doch bevor er sich überhaupt darüber klar werden konnte, was geschehen war, stürzten sich seine beiden Vettern übermütig auf ihn. Merry schnappte sich sogleich das Kissen, auf dem Pippins Kopf vor kurzem noch geruht hatte und warf es seinem Vetter ins Gesicht. Das Kissen traf allerdings Frodo, den Pippin gleich beim Aufwachen am Arm gepackt und zu sich her gezogen hatte, sodass er sich nun ohne Probleme hinter ihm verstecken konnte. "Merry!" schimpfte Frodo, der das Kissen sofort wieder aufhob, um es Merry an den Kopf zu werfen. Erst jetzt begriff Pippin, was eigentlich geschehen war und stieß Frodo von sich weg. Mit einem Aufschrei warf er sich auf Merry und die beiden plumpsten polternd zu Boden. Frodo brach in schallendes Gelächter aus, als er die dummen Gesichter seiner Vettern sah, doch hatte er nicht lange zu lachen. Merry und Pippin warfen sich listige Blicke zu und sprangen wieder auf die Matratze, warfen ihren Vetter rücklings vom Bett. Frodo hatte jedoch jeden von ihnen am Arm gepackt und riss sie mit sich zu Boden
"Guten Morgen, Frodo! Schön dich wieder zu sehen!" Pippin grinste über das ganze Gesicht. "Es ist auch schön, dich wieder zu sehen, Vetter!" entgegnete dieser mit einem verschmitzen Grinsen, während er Pippin, der auf seinem Bauch lehnte, von sich schob, um sich aufstützen zu können. Er warf Merry einen kurzen Blick zu. Dieser wusste sofort, was Frodo vor hatte und stürzte sich auf Pippin, noch ehe dieser wusste, wie ihm geschah. Ein wildes Gerangel, das bald in eine Bettzeugschlacht ausartete, entflammte, bis im ganzen Raum lautes Gelächter und übermütige Ausrufe widerhallten und es dauerte lange, bis schließlich alle drei keuchend aufgaben. Umwickelt mit Pippins gesamtem Bettzeug lagen sie auf dem Boden und grinsten zufrieden. "Ich bin froh, wieder hier zu sein", verkündete Pippin kichernd, legte den Kopf auf Frodos Brust und blickte glücklich zur Decke, wo er die tanzenden Schatten der Kerze beobachtete.
Bald darauf saßen die drei am Frühstückstisch, doch selbst neben Marmelade, Butter, Käse, Speck und Eiern war ihr Übermut kaum zu bremsen und Saradoc musste des Öfteren zur Ruhe ermahnen, um zumindest ein halbwegs gesittetes Frühstück für die anderen Anwesenden zu gewährleisten. Doch die drei Hobbits ließen sich davon nicht bremsen, und selbst als Paladin ebenfalls dazwischen ging, herrschte noch immer keine Ruhe am Tisch. Zu viele Neuigkeiten mussten ausgetauscht und zu viele Erlebnisse berichtet werden. Als schließlich auch der Milchkrug unter dem Übermut der Kinder leiden musste und er mit einem lauten Poltern umfiel und seinen Inhalt über den Tisch verteilte, war es genug für Saradoc und Paladin. "Das reicht!" schimpften sie, wie aus einem Mund. Mit einem Mal war es still. Nicht nur die drei jungen Hobbits schwiegen, sondern auch jegliche anderen Gespräche waren verstummt. Alle Augen waren auf den Herrn von Bockland und den Thain gerichtet. Saradoc holte tief Luft, bevor er zu sprechen begann: "Ich verstehe, dass ihr euch freut, wieder zusammen zu sein. Ihr könnt auch alle Neuigkeiten austauschen, wann immer euch danach beliebt, aber bitte, hört mit dem Gerangel auf und esst anständig!" Paladin stimmte ihm wortlos zu und griff, mit einem strengen Blick auf die Vettern, nach dem Brotkorb, während eines der Küchenmädchen sich erhob, um die verschüttete Milch wegzuwischen. Frodo, Merry und Pippin setzten ihr Mahl mit betretenem Schweigen fort, warfen allerdings immer wieder unsichere Blicke zu Paladin und Saradoc.
Nach dem Frühstück gingen die drei Hobbits nach draußen. Vögel zwitscherten, Bäume standen in voller Blüte und auch die Gärten des Brandyschlosses waren von einem Blumenmeer bedeckt. Die Sonne schien warm auf ihre Gesichter. Kaum waren Merry, Frodo und Pippin den beobachtenden Blicken von Saradoc und Paladin entgangen, ging das Geschnatter wieder los. All die Geschehnisse von Bockland bis Buckelstadt wurden besprochen und bis ins kleinste Detail auseinander genommen, als sie sich unter der großen Eiche auf einem Hügel hinter dem Brandyschloss nieder ließen. Ihre Berichte wurden nur durch ein kurzes Mittagessen unterbrochen.
Doch Gespräche allein wurden bald zu langweilig und so entschieden sie sich, fangen zu spielen. Lachend und albernd rannten sie über die Wiesen und Gärten um das Brandyschloss. "Hört sofort auf damit! Raus aus dem Garten!" schimpfte Rosamunde, als Pippin in aller Eile das Narzissenbeet übersah und einfach hindurch rannte. Frodo, nur daran interessiert, Pippin endlich zu erwischen, rannte schnurstracks hinterdrein. "Raus, habe ich gesagt!" Rosamunde baute sich vor Pippin auf, der selbst sie zu übersehen schien und geradewegs in sie hinein stürmte. Rosamunde Pausbacken war eine üppige Person und hauptverantwortlich für die Gärten des Brandyschlosses, die ihr sehr am Herzen lagen. Frodo blieb abrupt stehen, als er sie erkannte und wich vorsichtig zurück, während der junge Tuk entsetzt nach oben blickte, offensichtlich völlig erschrocken von ihrem plötzlichen Auftauchen. Rosamunde packte ihn an der Schulter und zog ihn mit sich mit. "Seht euch nur an, was ihr angerichtet habt!" schimpfte sie, während sie auch Frodo am Arm packte. Die beiden Hobbits blickten schuldbewusst auf die zertrampelten Narzissen. Merry, der das Schauspiel aus einiger Entfernung beobachtete, konnte sich das Lachen nicht verkneifen und erntete dafür einen strafenden Blick von Frodo, der jedoch selbst mit einem Schmunzeln zu kämpfen hatte. Auch Rosamunde warf ihm einen wütenden Blick zu, der den Sohn des Herrn verstummen ließ, während Frodo und Pippin unsanft zum Rand des Beets geleitet wurden. "Was soll aus euch nur werden?", sie warf die Hände in die Höhe und ging davon. Frodo und Merry sahen ihr unschuldig hinterher, während Pippin eine Grimasse nach der anderen schnitt. "Und bleibt von den Blumen weg!" rief sie, warf dabei einen letzten Blick zurück, der Pippin erstarren ließ. Der junge Hobbit konnte seine raus gestreckte Zunge gerade noch rechtzeitig hinter seinen Lippen verschwinden lassen und stattdessen ein unschuldiges Lächeln präsentieren, das Frodo schmunzeln ließ.
"Zur Schaukel?", fragte Merry, als Rosamunde endlich nicht mehr zu sehen war. Die anderen beiden nickten und gemeinsam trotteten sie zurück zur Eiche, wo die Schaukel von einem Ast herunter hing. Merry setzte sich als Erster darauf, schaukelte eine Zeit lang, ehe Pippin die Möglichkeit dazu bekam. Frodo kam als Letzter an die Reihe und er erfreute sich daran, vor und zurück geschwungen zu werden, den Wind in seinen Haaren zu spüren und vor sich hin zu träumen, während Merry und Pippin einen Marienkäfer beobachteten, der auf einem Grashalm nahe des Baumes gelandet war. Daran verloren sie jedoch bald das Interesse und es dauerte nicht lange, da lehnten Pippin und Frodo gelangweilt am mächtigen Stamm der Eiche, während Merry auf der Schaukel saß und sich immer wieder mit einem Fuß vom Boden wegstieß. Der Nachmittag war schon weit fortgeschritten und ein angenehmes Lüftchen hatte zu wehen begonnen. Frodo hatte den Blick nach Westen gerichtet, wo er in der Ferne das Wasser des Brandyweins glitzern sah. "Ich habe eine Idee!" verkündete Pippin schließlich. Seine Vettern wandten sich gespannt zu ihm um, entlockten ihm dadurch ein geheimnisvolles Grinsen. "Wir können alle gemeinsam schaukeln!" Frodo legte die Stirn in Falten und betrachtete ihn skeptisch. "Und wie soll das gehen?" "Wir stellen uns alle drei darauf", entgegnete Pippin entschlossen. "Der Platz müsste ausreichen." Frodo bedachte den Vorschlag mit einigen Bedenken, doch als Merry begeistert zustimmte, ließ auch er sich dazu überreden, schließlich hörte sich die Idee im Grunde gar nicht so schlecht an.
Anfangs hatten die drei Vettern einige Schwierigkeiten zu dritt auf die Schaukel zu kommen, doch es stellte sich heraus, dass diese gerade breit genug war, um sich hintereinander darauf stellen zu können. Pippin und Frodo hielten sich an den Seilen fest, als sie vorsichtig begannen, hin und her zu schwingen. Merry, der in der Mitte stand, schwankte dabei gefährlich und klammerte sich verzweifelt an Frodos Schultern fest. Als alles gut ging, wurden sie ihrer Sache sicher und lehnten sich mit immer mehr Schwung in die Seile, während sie übermütig ein Lied anstimmten. Immer höher und weiter schwang die Schaukel. Frodo und Pippin hielten sich an den Seilen fest, während Merry weiterhin Frodos Schultern umklammerte. Doch je länger sie schaukelten, umso lockerer wurde sein Griff. Pippin holte noch einmal kräftig Schwung und da geschah es: Merry verlor den Halt. Mit einem entsetzten Aufschrei packte er Frodos Hemd. Dieser wurde mit seinem Vetter zu Boden gerissen, wodurch sich auch Pippin nicht länger halten konnte und absprang. Der junge Tuk stolperte einige Schritte den Hügel hinunter, während Frodo unsanft mit dem Kopf voraus im Gras landete. Merry fiel nur wenige Schritte entfernt auf die Knie. Die Schaukel, durch den Sturz der Hobbits völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, schwang wild von einer Seite zur anderen. Merry wandte sich überrascht um, als ihn deren Kante hart an der Schläfe traf und er benommen zu Boden fiel.
"Merry!" Frodo sprang erschrocken auf. Schnell hatte er die Schaukel zum Stillstand gebracht und sich neben seinem Vetter ins saftiggrüne Gras gekniet. "Ist alles in Ordnung?" Merry sah benommen zu ihm auf, doch seine Augen schienen ihn nicht wahrzunehmen. Ein kalter Schauer lief Frodo über den Rücken und er bekam es mit der Angst zu tun, machte sich schreckliche Vorwürfe. Weshalb hatte er sich zu einer solchen Dummheit hinreißen lassen? Was, wenn Merry nun etwas geschehen war? Er war schließlich der Älteste und hätte auf ihn aufpassen müssen! Er wandte sich zu Pippin um, der wie versteinert neben ihm stand, das Gesicht angstvoll verzogen. "Hol Saradoc, schnell!" ordnete Frodo an, sein Ton strenger, als beabsichtigt und Pippin eilte sogleich den Hügel hinunter, ließ ihn mit dem regungslosen Merry alleine. Sorgenvoll wandte sich Frodo wieder ihm zu, rüttelte sanft aber bestimmt an dessen Schulter. "Merry? Merry, sag doch etwas!" bat er hilflos, ohne den Blick von seinem Vetter zu nehmen. "Das nächste Mal, werde ich nicht mehr in der Mitte stehen", ließ dieser ihn leise wissen und blinzelte verwirrt. "Es geht dir gut!" rief Frodo erfreut und nahm ihn in die Arme. "Bitte...", bat Merry schwach und schloss die Augen, denn die Welt begann sich zu drehen und mit ihr sein Magen. Er war erleichtert, als Frodo ihn vorsichtig zurück zu Boden sinken ließ und das ungute Gefühl der Übelkeit zumindest ein wenig nachließ.
Kurz darauf kam Saradoc angerannt. "Was ist passiert?", fragte er aufgeregte, als er sich neben Merry nieder ließ, ihm einige Strähnen aus der Stirn strich und seinen verwirrt blinzelnden Sohn sorgenvoll betrachtete. Frodo war sofort zur Seite gerutscht und beobachtete nun angstvoll das weitere Geschehen. "Es war... wir schaukelten und Merry", er stockte und schnappte aufgeregt nach Luft, "Merry fiel herunter ... und die Schaukel traf ihn und..." Frodo schluckte schwer, als er in Saradocs besorgte Augen blickte und senkte den Kopf. Der Herr von Bockland entgegnete nichts darauf, hob seinen Sohn hoch und ging zurück zum Brandyschloss. Frodo wurde sitzen gelassen. Pippin stellte sich zu ihm, legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter, als sich Frodo schließlich erhob. "Es war nicht deine Schuld. Die Idee kam von mir." Frodo sah ihn mit betrübten Augen an. "Nein, Pip, du kannst nichts dafür. Aber ich... ich hätte..." Frodo sprach nicht weiter. Was hätte er tun sollen? Er wollte es doch selbst. Auch wenn er anfangs seine Zweifel gehabt hatte, hatte es ihm dennoch Spaß gemacht. Hätte er trotzdem etwas tun sollen?
Pippin lehnte den Kopf an seinen Arm, griff ängstlich nach seiner Hand und riss ihn so aus seinen Gedanken. Frodo drückte die Hand seines jüngeren Vetters sanft und gemeinsam gingen auch sie zurück zur Höhle. In der Eingangshalle wurden sie bereits von Paladin erwartet, der sie in die Küche führte und sie anwies, sich hinzusetzen, was Frodo und Pippin schweigend taten. Ein Kerzenhalter mit sechs Kerzen beleuchtete ihre betrübten Gesichter, während das Prasseln des Kaminfeuers in ihren Ohren klang. Paladin setzte sich den jungen Hobbits gegenüber, doch auch er sprach kein Wort. Erst als Saradoc zu ihnen kam, begann er zu sprechen. "Peregrin Tuk", donnerte er, "war das deine Idee? Ich zweifle nicht daran! Wie kommst du nur immer auf solche Gedanken?" Paladin sah seinen Sohn, der den Blick abgewandt hatte, ernst an. Frodo betrachtete seinen Vetter mitleidig. "Und du, Frodo", Frodo schrak zusammen, als Saradoc zu sprechen begann, "wenigstens du könntest etwas besser darüber nachdenken, was ihr überhaupt macht. Es hat ja schon beim Frühstück begonnen. Ihr verschüttet die Milch, ihr unterhaltet euch in einer Lautstärke, dass ich mein eigenes Wort nicht mehr verstehe. Es fehlte nur noch, dass ihr mit Essen um euch schmeißt. Und am Nachmittag ging es nicht anders weiter. Erst rennt ihr blindlings durch den Garten und dann auch noch...", er warf die Hände in die Luft, "wie kommt man überhaupt auf solch eine dumme Idee?! Was alles hätte passieren können! Merry kam zum Glück mit einer Beule davon, aber... wenn ich nur daran denke!" Saradoc griff sich mit den Fingern zwischen die Augen und schüttelte den Kopf. "Denkt ihr überhaupt nicht nach?! Ich weiß, ihr seid jung, aber ich glaube, man kann von euch erwarten, dass ihr euren Kopf wenigstens ein bisschen benutzt!" Saradoc ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen. Pippin sah mit einem Blick zu seinem Vater, als wolle er fragen, ob diese Anschuldigungen auch für ihn galten, doch wandte er die Augen schnell wieder ab, als Paladin streng nickte.
Lange Zeit herrschte Schweigen. Frodo hasste diese Art von Schweigen. Eine Spannung lag in der Luft und keiner wusste, wann und wie sie sich entladen würde. Er spürte sowohl den Blick des Herrn, als auch den des Thain, doch wagte er es nicht, aufzublicken, sondern hielt seine Augen starr auf seine im Schoß verschränkten Hände, während er sich fragte, wie hart Saradocs Bestrafung ausfallen würde.
Schließlich ergriff der Herr von Bockland wieder das Wort: "Geh in dein Zimmer, Frodo!" Frodo konnte ein erleichtertes Aufatmen gerade noch verhindern. Nur das Übliche. Er sollte, wie schon so oft, nur auf sein Zimmer gehen. Langsam stand er auf und ging zur Tür, doch gerade, als er den Knauf in die Hand nahm, drang Saradocs strenge Stimme erneut an sein Ohr und er verharrte regungslos. "Zum Abendessen werde ich dich rufen lassen, danach wirst du ohne ein Widerwort sofort wieder auf dein Zimmer gehen. Für Morgen Abend gilt dasselbe." Frodos Augen wurden groß und er wandte sich entsetzt um. "Aber morgen Abend wird Bilbo kommen! Da muss ich hier sein!" "Das hättest du dir vor deinem Benehmen am heutigen Tag überlegen sollen", antwortete der Herr, ohne die Miene zu verziehen. "Aber...", begann Frodo noch einmal verzweifelt. "Keine Widerworte", entgegnete Saradoc scharf, "Sonst wirst du heute den ganzen Abend in deinem Zimmer bleiben." Frodo ließ den Kopf hängen und ging aus der Küche. Pippin sah ihm traurig hinterher. Fragend blickte er schließlich zu seinem Vater auf. "Für dich gilt dasselbe! Geh jetzt!" forderte Paladin streng. Pippin sprang sogleich auf und eilte zur Tür. "Peregrin!" Pippin erstarrte, als sein Vater ihn noch einmal rief. "Du wirst in dein Zimmer gehen, und nicht in das von Frodo!" Pippin nickte und sah den Thain mit einem Ausdruck an, als wolle er fragen, wie er denn auf den Gedanken käme, er wolle zu Frodo, doch Paladin kannte seinen Sohn gut und sah ihn scharf an, woraufhin der junge Hobbit davoneilte, ohne sich ein weiteres Mal umzublicken.
Frodo ging sofort in sein Zimmer, setzte sich betrübt auf sein Bett. Es war dunkel im Raum, denn er hatte keine Kerze entzündet und das Licht der untergehenden Sonne erreichte das östliche Fenster kaum. Betrübt blickte er auf seine Hände, die er, wie schon zuvor, in seinem Schoß gefaltet hatte. Konnte er denn gar nichts richtig machen? Saradoc hatte Recht, wenigstens er hätte nachdenken müssen. Warum hatte er nicht daran gedacht, was alles hätte passieren können? Was wäre das überhaupt gewesen? Frodo erschauderte bei dem Gedanken daran, was hätte sein können, wenn das Seil gerissen, oder gar der ganze Ast abgebrochen wäre. Doch er schüttelte den Gedanken ab. So oft wurde geschaukelt und nie war das Seil gerissen. Außerdem war die Schaukel an einem dicken Ast befestigt, der mindestens zehn Hobbits tragen konnte. Wie sollte er so weit denken?! Und doch hätte er es tun müssen. Merry war nur mit einer Beule davongekommen, doch selbst die hätte nicht sein müssen, hätte er nur ein bisschen nachgedacht, oder etwa nicht? Er seufzte, als er seinen Kopf auf das Bett fallen ließ und nach dem Bild seiner Eltern griff. "Was hätte ich tun sollen?", fragte er verzweifelt. Während er noch auf eine Antwort hoffte, fiel sein Blick auf den Brief, den er erst gestern auf seinem Nachtkästchen deponiert hatte. Der Brief von Bilbo. "Morgen Abend wird er kommen und ich werde in meinem Zimmer sitzen müssen und ihn nicht begrüßen können", dachte Frodo bitter. "Hätte Saradoc mich nicht auch anders bestrafen können? Hätte nicht ein Abend gereicht? Warum kann ich nicht morgen den ganzen Tag im Zimmer bleiben, und dafür abends zu den anderen sitzen? Warum ausgerechnet morgen? Jeder andere Tag, aber doch nicht, wenn Bilbo kommt. Dann werde ich ihn erst übermorgen beim Frühstück sehen. Nach dem Frühstück hat Bilbo vielleicht schon andere Pläne, als sich mit mir zu unterhalten. Vielleicht hat er aber auch ganz andere Pläne für morgen Abend und wird froh sein, dass ich nicht da sein werde, um ihn mit Fragen zu löchern." Frodo schluckte schwer. Eine einzelne Träne stahl sich aus seinen Augen, als er das Bild in seinen Händen fester an sich drückte.
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Der Abend, und auch der nächste Tag vergingen schnell. Merry war zwar wieder auf den Beinen, klagte allerdings den ganzen Tag über Kopfschmerzen. Pippin berichtete von einer langen Rede über dumme Ideen, die sein Vater am vergangen Abend noch gehalten hatte und Frodo war froh, dass er diesem Gespräch entgangen war. Lange wurde darüber diskutiert, wie ungerecht es war, dass Merry, anders als Frodo und Pippin, den Abend im Wohnzimmer verbringen und nicht nach dem Abendessen in sein Zimmer würde gehen müssen. Merry grinste verschmitzt: "Papa hat gemeint, aus meiner Beule hätte ich genug gelernt und deshalb darf ich aufbleiben." "Ich habe auch genug gelernt, von dem Schrecken den du mir eingejagt hast", grummelte Frodo missgestimmt. Merry legte ihm einen Arm um die Schulter: "Keine Sorge, du wirst Bilbo heute bestimmt noch sehen. Ich bin sicher, er wird trotzdem noch zu dir kommen, zumindest um hallo zu sagen." Frodo lächelte ihm dankend zu, doch heiterte ihn das kaum auf.
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Der Mond stand schon hoch am Himmel, als Frodo noch immer wach und vollständig angezogen auf seinem Bett saß. Der schwache Schein der Kerze tauchte sein Gesicht in ein warmes Licht. Er war unruhig. Musste Bilbo nicht schon längst angekommen sein? Er blickte aus dem Fenster, doch die Sterne verrieten ihm die Nachtzeit nicht. Würde sein Onkel wirklich noch zu ihm kommen? Frodo zweifelte an Merrys Worten und doch klammerte er sich an ihnen fest. Sie waren der einzige Grund, weshalb er sich verzweifelt wach zu halten suchte. Müde ließ er sich in sein Kissen fallen, stützte den Kopf auf die Arme. Wo blieb Bilbo nur so lange? Ein schrecklicher Gedanke drängte sich ihm auf, doch Frodo versuchte entschlossen und ängstlich zugleich, ihn abzuschütteln. Was, wenn Bilbo gar nicht kam? Er spürte wie Tränen in ihm aufstiegen und versuchte verzweifelt, sich vom Gegenteil zu überzeugen, als es plötzlich an der Tür klopfte. "Und er kommt doch!" dachte er erfreut und sprang mit leuchtenden Augen zur Tür, die sich langsam öffnete. "Saradoc?" Überrascht blieb er stehen. Saradoc konnte die Enttäuschung in den Augen des Jungen sehen, als er in das Zimmer trat und es schmerzte ihn, auch wenn er ihn verstehen konnte. "Er kommt schon noch", versicherte er tröstlich. "Du weißt doch, wie lange der Weg von Beutelsend bis hierher ist." Frodo nickte betrübt und ließ sich wieder auf sein Bett sinken, während er gespannt beobachtete, wie der Herr von Bockland sich neben ihm niederließ. Was wollte er so spät noch hier? Hatte er wieder etwas angestellt? Blitzschnell ging er die Erlebnisse des Tages durch, fand jedoch keinen Vorfall, der zu einer erneuten Bestrafung hätte führen können.
"Würde es dir etwas ausmachen, bei Merry zu übernachten, solange Bilbo hier ist?" Frodo sah überrascht auf. "Bei Merry? Weshalb?" "Nun, ich habe mich etwas verschätzt", gestand Saradoc. "Dadurch, dass nun auch Paladin und Pippin kamen, haben wir zu wenig freie Gästezimmer. Ich dachte, es würde dir vielleicht nichts ausmachen, bei Merry zu schlafen. So hätte Bilbo genügend Platz für sich. Außerdem ist Merrys Zimmer groß genug für euch beide. Wir werden einfach noch eine Matratze hinein legen." "Und Bilbo wird dann in meinem Zimmer schlafen?", fragte Frodo nachdenklich. Saradoc nickte, ein wenig verwundert von Frodos grüblerischem Ausdruck, doch war er erleichtert, als der Junge kurz darauf lächelnd zu ihm aufblickte. "Wann soll ich umziehen?" Saradoc lächelte zufrieden und klopfte ihm auf die Schulter: "Am besten, sofort."
Frodo hatte schnell sein Bettzeug zusammengepackt und war voll beladen an Saradocs Seite durch die halbe Höhle in Merrys Zimmer geeilt. Er wollte gerade zurück in den östlichen Gang, um sein Nachthemd zu holen, als laute Stimmen an sein Ohr drangen. "Bilbo?", fragte er sich und schlich auf Zehenspitzen zur Eingangshalle.
"Ja, ich hatte auch gedacht, ich würde früher ankommen. Ich hatte die Strecke kürzer in Erinnerung." Esmeralda lachte, als sie Bilbo den Mantel abnahm. Frodo blieb wie versteinert an der Ecke stehen. Bilbo war tatsächlich hier. Was sollte er jetzt machen? Sollte er ihn sofort begrüßen, oder sollte er noch etwas warten, bis er sich im Wohnzimmer hingesetzt hatte? Er brauchte nicht lange zu überlegen, denn schließlich durfte er diesen Abend nicht mit den anderen verbringen, und entschied sich dafür, zu seinem Onkel zu gehen, doch noch bevor er aus den Schatten der Lampen trat, blieb er wieder stehen.
Vielleicht hat er aber auch ganz andere Pläne für morgen Abend und wird froh sein, dass ich nicht da sein werde, um ihn mit Fragen zu löchern.
Vielleicht sollte er doch lieber warten. Frodo machte einen unsicheren Schritt rückwärts, trat so aus dem schwachen Schein der Lampen.
"Frodo, bist du das?", Bilbo sah neugierig in die dunklen Schatten vor sich. Frodo erstarrte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Etwas unsicher trat er zurück ins Licht und musterte den alten Hobbit genau. Er hatte sich seit seinem letzten Besuch kein bisschen verändert. Bilbo lächelte, sah ihn von oben bis unten an, ebenso, wie Frodo das tat, allerdings weniger zaghaft. "Willst du mich denn gar nicht begrüßen?", fragte der alte Hobbit zwinkernd. Frodos Augen begannen zu leuchten. Mit einem Mal waren alle Zweifel vergessen und er stürmte mit einem erfreuten "Bilbo!" nach vor, um seinem Onkel in die Arme zu fallen. Bilbo hob ihn erfreut hoch. "Mein lieber Junge, es tut gut, dich wieder zu sehen!"
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elin danon o Elbereth - Sterne, geschaffen von Elbereth
Kapitel 24: Geheime Vorhaben
Ein angenehmes Gefühl durchströmte ihn. Wärme, Geborgenheit nach der er sich gesehnt hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Von Erleichterung und Freude überwältigt, kämpfte Frodo gegen seine Tränen an, als Bilbo ihm zärtlich durch die Haare strich. Er legte den Kopf an die Schulter seines Onkels, sog den strengen Duft von Pfeifenkraut und vielen anderen Gerüchen ein, die eindeutig zu Bilbo gehörten. Sein Onkel war hier und schien ebenso froh zu sein, ihn wieder zu sehen, wie Frodo selbst. Wie hatte er jemals daran zweifeln können? Selbst nach so langer Zeit konnte er die Geborgenheit noch spüren, die er in jenen längst vergessenen Nächten in Beutelsend gefühlt hatte, als er von Albträumen geplagt worden war. Erleichtert hielt Frodo seinen Onkel fest, wollte ihn niemals wieder loslassen.
Doch bald wurde er Bilbo zu schwer und der alte Hobbit stellte ihn wieder auf den Boden, ließ seine linke Hand jedoch auf der Schulter des Jungen ruhen, während die Rechte noch immer durch dessen Haare strich. Er lächelte, als er seinen Neffen noch einmal von oben bis unten betrachtete. "Du bist groß geworden", stellte er schließlich zufrieden fest. Frodo sah ihn erwartungsvoll an. Er war sich nicht wirklich sicher, ob dies tatsächlich alles gewesen sein konnte, was Bilbo ihm nach so langer Zeit zu sagen hatte. Bilbo lächelte und wuschelte ihm durch die Haare. "Komm mit, mein Junge! Es gibt bestimmt einiges zu erzählen."
Frodo nahm ihn sogleich bei der Hand und wollte mit ihm mitgehen, als ihm plötzlich einfiel, dass er eigentlich gar nicht hier sein durfte. Fragend sah er zu Esmeralda auf, die deren Begrüßung schmunzelnd beobachtet hatte. Die Herrin von Bockland nickte leicht und Frodo atmete erleichtert auf. Seine Augen glänzten, als er Bilbo durch die spärlich beleuchteten Gänge in sein Zimmer führte, während er ihm ununterbrochen Fragen über die Reise nach Bockland stellte. "Du wirst in meinem Zimmer schlafen können, so lange du hier bist", sagte er schließlich, als er die Tür öffnete, zum Nachttisch eilte und die Kerze entzündete. "Und was ist mit dir?", fragte Bilbo verwundert. Frodo wandte sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihm um. "Ich werde bei Merry übernachten, da wir zu wenig Zimmer haben." "Ah", machte Bilbo nur, ließ sich dann erschöpft auf den Stuhl fallen.
Frodo blieb vor ihm stehen, wusste nicht, was er nun sagen, oder machen sollte. Lange schon hatte er auf einen Besuch von Bilbo gehofft. Vieles wollte er ihm berichten, doch jetzt, da er hier war, wusste er nicht, wie er mit dieser Lage umgehen sollte, fühlte sich plötzlich beunruhigt und war sich nicht sicher, ob es Bilbo womöglich lieber wäre, allein gelassen zu werden.
Bilbo hatte für einen Augenblick die Augen geschlossen, doch nun sah er den Jungen an, blickte lächelnd in die unsicheren Augen seines Neffen. Frodos Blick verwunderte ihn und er runzelte verdutzt die Stirn. ‚Was ist los mit ihm? Er wirkt plötzlich so unsicher, so verwirrt. Ist etwas geschehen? Hat er Angst?' Bilbo winkte den Jungen zu sich und schloss ihn erneut in seine Arme, als dieser zaghaft zu ihm trat. "Wie geht es dir, Frodo, mein Junge? Du scheinst besorgt zu sein", wisperte er, während seine Finger sanft durch die seidigen, dunklen Locken des Kindes kämmten. Frodo kuschelte sich an ihn, Bilbo konnte seinen warmen Atem an seinem Hals spüren. "Mir geht es gut. Ich kann nur kaum glauben, dass du wirklich hier bist, nach so langer Zeit", entgegnete Frodo leise. "Du hast mir so gefehlt." Bilbo bemerkte, wie eine Träne über die Wange seines Neffen rann und drückte ihn fester an sich. "Ich habe dich auch vermisst."
Einige Zeit blieb Frodo einfach in Bilbos Armen liegen und schloss die Augen. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Es war lange her, dass Frodo einfach so in den Arm genommen wurde, ohne, dass etwas vorgefallen war und das ließ ihn die Wärme, die er in dieser Umarmung fand noch mehr genießen. Bilbo war hier, und es würde so werden, wie es in Beutelsend gewesen war, dessen war er sich nun sicher.
Bilbo strich ihm durch die Haare und betrachtete das Kind nachdenklich. Die Träne war nun getrocknet, doch Bilbo ertappte sich dabei, wie er über eben jene Träne ins Grübeln geriet. Warum weinte er? War es nur die Freude, ihn wieder zu sehen, oder steckte mehr dahinter? War etwas geschehen, von dem Frodo in seinen Briefen nicht berichtet hatte? Er musste unbedingt mit Saradoc sprechen und auch mit Frodo wollte er viele Gespräche führen, doch nicht mehr heute. Es war spät und der Junge schien erschöpft. Auch er war müde von seiner Reise und hatte ein wenig Schlaf bitter nötig.
"Frodo", sagte er leise. Frodo hob den Kopf und sah ihn fragend an. Nur die linke Hälfte seines Gesichtes wurde vom Schein der Kerze erreicht, doch Bilbo erschien der Junge nun weniger gehemmt, als zuvor und das erfreute ihn. "Macht es dir etwas aus, wenn ich mich schlafen lege und wir uns morgen unterhalten?" Frodo lächelte, schüttelte eiligst den Kopf. "Ganz und gar nicht", meinte er und das Lächeln auf seinen Lippen, ließ seine Augen strahlen. "Merry lag zuvor schon im Bett, als ich eigentlich nur noch mein Nachthemd holen wollte. Inzwischen muss er schon schlafen, und das sollte ich eigentlich auch." "Dann solltest du ihn nicht länger warten lassen", meinte Bilbo mit einem Lächeln und wuschelte seinem Neffen durch die Haare. Dieser eilte zum Schrank, um sich ein sauberes Nachthemd zu holen und wünschte Bilbo eine gute Nacht, ehe er das Zimmer verließ.
Kurze Zeit später trat Frodo auf Zehenspitzen in Merrys Zimmer, das mindestens doppelt so groß war, wie sein eigenes. Saradoc hatte eine Matratze neben Merrys Bett platziert und trotz des Regals, das an der gegenüberliegenden Wand stand, vermutete Frodo, dass selbst eine dritte Matratze und vielleicht sogar eine vierte noch genügend Platz gefunden hätten. Ein Feuer knisterte im Kamin unweit von Merrys Nachttisch, doch war dieses bereits am Ausgehen. Merry war tatsächlich bereits eingeschlafen und so hatte Frodo niemanden mehr, den er an seiner Freude teilhaben lassen konnte. Rasch zog er sich um und machte es sich auf der Matratze, die für die nächsten Wochen sein Bett sein sollte, gemütlich. Mit leuchtenden Augen und einem zufriedenen Lächeln sah er zur Decke, lag noch lange wach, ehe er schließlich einschlief.
~*~*~
Früh am nächsten Morgen war Frodo schon wieder auf den Beinen. Er hatte sich vorgenommen, Bilbo aufzuwecken und schlich nun in sein Zimmer. Nur wenige der Lampen erhellten nachts die Gänge und noch waren keine zusätzlichen entzündet worden. Kaum einer war bereits auf. Nur in der Küche herrschte bereits reges Treiben und hier und da eilte ein Küchenmädchen in eine der Speisekammern, um alle Zutaten für ein vernünftiges Frühstück zusammenzuhaben. Frodo fand das ungewöhnlich, war er doch die Ruhe des östlichen Ganges gewohnt, den er schon sein Leben lang bewohnte. Auf seinem morgendlichen Gang ins Badezimmer begegnete er, wenn, dann nur Hanna, Marmadas und manchmal auch einigen Gästen, die die östlichen Bereiche des Brandyschlosses bewohnten, doch dies war ausgesprochen selten der Fall. Eine der Kerzen flackerte, als Frodo in den östlichsten Gang trat, ging schließlich aus. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht, das noch immer verschlafen wirkte, obwohl er es bereits gewaschen und sich umgezogen hatte. Vorsichtig drehte er den Türknauf zu seinem Zimmer, trat auf Zehenspitzen ein, wobei er zusammenzuckte, als eine Diele knarrte. Dieses Mal sollte die Aufweckaktion nicht in einem Gerangel enden, wie jene zwei Tage zuvor. Frodo vermutete, dass Bilbo dabei ohnehin nicht mitmachen würde, erinnerte sich dann aber an die kleine Wasserschlacht in Beutelsend, und kicherte leise, als er näher an das Bett trat. Beutelsend. Was für eine schöne Zeit er dort mit Bilbo gehabt hatte. Es gab überhaupt keinen Grund, unsicher zu sein und er verstand nun auch nicht mehr, weshalb er sich am vergangenen Abend solche Sorgen gemacht hatte. Er würde einfach er selbst sein, auch wenn er nicht so recht wusste, wer er eigentlich war. Frodo schüttelte den Kopf. Darüber konnte er sich ein anderes Mal den Kopf zerbrechen. Jetzt galt es, Bilbo aufzuwecken, oder sie würden das erste Frühstück verpassen. Er legte den Kopf schief und lächelte, als er seinen Onkel beobachtete. Das erste blasse Licht des neuen Morgens drang bereits durch das kleine Fenster. Bilbo lag auf der Seite, der Wand zugewandt, hatte die Decke bis über den Hals gezogen und nur ein spitzes Ohr sah unter den grauen Locken hervor.
Entsetzt schrie Frodo auf, als sich Bilbo plötzlich umwandte, ihn packte und ins Bett zog. "Wolltest du mich erschrecken?", fragte Bilbo und kicherte, als er den verblüfften Gesichtsausdruck seines Neffen sah. Frodo schnappte nach Luft. Sein Kopf lag nun direkt unter dem Fenster, während seine Beine noch vom Bett baumelten. Bilbo hatte sich beide seiner Hände gegriffen, hielt diese nun fest, während er sich zu einer sitzenden Position aufrappelte. Gepackt zu werden, war das Letzte, womit er gerechnet hatte, schien sein Onkel doch zuvor noch friedlich zu schlafen. "Nein", antwortete er ernst, wand sich aus Bilbos Griff und beäugte seinen Onkel skeptisch. "Wie kommst du darauf?" Bilbo zuckte mit den Schultern, während der junge Hobbit sich soweit aufrichtete, dass er mit dem Kopf gegen die Wand lehnte. Frodo kicherte, denn auch wenn das zerzauste Haar bereits ergraut und das Gesicht faltig war, erinnerte ihn das verschmitze Leuchten in den Augen und der ahnungslose Ausdruck an jemanden. "Du kannst genau so unschuldig schauen, wie Pippin", schmunzelte er. "Ich?", Bilbo wirkte überrascht. Frodo kicherte noch mehr und nickte heftig, was Bilbo amüsiert die Augenbraue hochziehen ließ. Sein Onkel nickte kurz, als wolle er kundtun, dass er seine Belustigung bemerkt hatte, streckte dann jedoch überraschend die Hand aus und kitzelte ihn am Bauch. Frodo quiekte sogleich hilflos auf und rollte sich zusammen, in der Hoffnung, die hinterhältigen Finger von sich fernhalten zu können, doch was immer er machte, Bilbo schien seinen Plan bereits zu kennen.
Nun war es an Bilbo zu lachen, da er glaubte, seinen Neffen besiegt zu haben. Doch womit er nicht rechnete, war, dass sein Opfer noch genügend Kraft für einen Gegenangriff aufbrachte und plötzlich seinerseits damit begann, ihn zu kitzeln. Frodo war erleichtert, dass Bilbo sich wesentlich schneller geschlagen gab, als er das getan hätte. Die Hände noch immer schützend erhoben, versuchte er, wieder zu Atem zu kommen, hatte von seinem Onkel jedoch nichts mehr zu befürchten, denn dieser schnappte ebenfalls verzweifelt nach Luft. "Soviel zu meinem Vorsatz, dass es diesmal nicht in einem Gerangel enden wird", dachte Frodo, wobei er vergnügt in Bilbos lächelndes Gesicht blickte. "Obwohl, ein Gerangel war es eigentlich gar nicht wirklich." Er kicherte. Er hatte Bilbo anscheinend unterschätzt, denn obschon dieser achtundsiebzig Jahre älter war, als er, war er dennoch für jeden Spaß zu haben, auch wenn damit Blödeleien am frühen Morgen gemeint waren. "Was erheitert dich so sehr?", wollte Bilbo wissen und Frodo bemerkte erst jetzt, dass sein Onkel ihn eingehend musterte. "Ach nichts", entgegnete er schmunzelnd, legte sich zwischen Bilbo und der Wand ins Bett und ließ sich von dem alten Hobbit in die Arme nehmen.
Er ist noch immer sehr verschlossen. Das war es, was Saradoc ihm in einem seiner Briefe mitgeteilt hatte, als er nach Frodo gefragt hatte. Bilbo hatte es selbst oft gespürt, wenn Frodos Antworten oft nur an der Oberfläche von Geschehnissen kratzten. Jetzt konnte er es wieder fühlen. Schon zum zweiten Mal, seit er hier war, ließ Frodo ihn nicht an seinen Gedanken teilhaben. "Du machst dir zu viele Sorgen", schalt Bilbo sich selbst. "Jeder hat seine Geheimnisse, und wenn er dir nicht sagen will, was ihn vergnügt, ist das kein Grund sich Gedanken zu machen. Außerdem hat Saradoc auch geschrieben, dass er Merry gegenüber um einiges offener zu sein scheint. Und doch..."
Bilbos Gedankengang wurde unterbrochen, als Frodo plötzlich wieder zu sprechen begann. "Ich denke, wir sollten jetzt aufstehen, sonst verpassen wir das Frühstück." Ein Lächeln huschte über Bilbos Lippen, als er in Frodos Augen blickte, die ernst und fragend zugleich zu ihm aufsahen. Er strich dem Jungen durch die Haare, ehe er sich schließlich erhob, um sich Hemd und Hose anzuziehen. Frodo verkroch sich in der Zwischenzeit unter der warmen Decke und war, als Bilbo fertig war, plötzlich gar nicht mehr so eifrig, rechtzeitig zum Frühstück zu kommen.
Nichtsdestotrotz fanden sich die beiden bald darauf im Esszimmer ein, wo bereits viele versammelt waren. Bilbo wurde noch einmal von allen begrüßt, doch schließlich konnte er neben Frodo, der ihm einen Stuhl freigehalten hatte, Platz nehmen und in Ruhe frühstücken.
Frodo genoss die Nähe seines Onkels und auch wenn ihn Pippins Besuch ebenso glücklich stimmte, verbrachte er einen Großteil dieses Tages mit Bilbo. Seine Aufmerksamkeit zu genießen, war etwas völlig anderes, als mit Pippin herumzualbern. Lange saßen sie gemeinsam in weichen, großen Sesseln in einem der Wohnzimmer und unterhielten sich. Bilbo rauchte seine Pfeife, während er Frodo von den Geschehnissen in Hobbingen und Wasserau berichtete. Seine Erzählungen endeten jedoch meist bei den Gamdschies, insbesondere bei Samweis, denn Frodo war es wichtig, zu wissen, wie es ihnen erging.
~*~*~
Als Frodo spät abends schließlich wieder auf seiner Matratze lag, grinste Merry von seinem Bett aus zu ihm herunter. Frodo hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und blickte verträumt zur Decke. "So schweigsam? Wo bist du mit deinen Gedanken?" fragte er neugierig. Die Glut im Kamin knackte leise und ein Funke flog, als Frodo lächelnd in die Augen seines Vetters sah. "Eigentlich genau hier und doch kommt es mir vor, als wäre ich meilenweit weg." "So kommt es mir auch vor", entgegnete Merry. Er stützte sich mit einer Hand vom Kissen ab und betrachtete seinen Vetter eingehend. Dieser schien zu grübeln, den Blick verträumt zur Decke gerichtet, die Stirn leicht in Falten gelegt. "Etwas ist anders, seit Bilbo hier ist", sagt er dann. "Natürlich, du schläfst jetzt in meinem Zimmer!" meinte Merry lachend, unwillig, Frodo jetzt in eine nachdenkliche Stimmung verfallen zu lassen. Er wusste, wie grüblerisch sein Vetter sein konnte und hatte bemerken müssen, dass ihm das nur selten gut tat. Oftmals waren seine Augen dann von nachdenklichen Schatten bedeckt und beizeiten kostete es Merry einige Mühe, ihn dann wieder auf den Pfad der Fröhlichkeit zu führen. Frodo schnitt eine Grimasse. "Soweit konnte ich auch denken, aber das ist es nicht. Es ist... es ist...", er verfiel erneut in Schweigen, sein Ausdruck unzufrieden. "Ich weiß es selbst nicht." "Du denkst zuviel nach", antwortete Merry direkt, aber mitfühlend. Frodo warf ihm einen kurzen Blick zu, nickte dann. Merry legte sich wieder zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf, wie Frodo es tat und blickte ebenfalls zur Decke. Doch die Stille hielt nur kurze Zeit an, denn Merry wandte sich noch einmal um. "Ich habe nachgedacht." Frodo zog eine Augenbraue hoch und begann zu kichern. "Und du sagst mir, dass ich zuviel nachdenke?" Merry warf ihm einen vielsagenden Blick zu. "Wie dem auch sei. Was hältst du davon, wenn wir Pippin morgen Abend in unser Zimmer schummeln?", fragte er, ohne weiter auf Frodos Schmunzeln einzugehen. "Es wäre bestimmt lustig. Nur wir drei. Bei Nacht, wenn es dunkel ist." Merrys Stimme klang mit jedem Wort unheimlicher und sein eingehender Blick wurde immer durchdringender, doch musste er enttäuscht feststellen, dass Frodo sich davon nicht beirren ließ. Sein Vetter lächelte nur weiterhin verträumt. "Nur wir drei." Merry grinste breit, als er erkannte, dass Frodo sich seinen Vorschlag durch den Kopf gehen ließ und versuchte, dessen Entscheidung in die richtige Richtung zu lenken. "Du könntest eine Geschichte erzählen. Du hast immer tolle Ideen und Bilbo hat dir heute bestimmt schon welche erzählt." Frodo schüttelte den Kopf. "Keine Geschichten, weder von Elben, noch von Drachen", antwortete er etwas betrübt. "Vielleicht kann uns Bilbo morgen Abend eine erzählen, wenn Pippin hier ist." Merry schüttelte rasch den Kopf. "Nur wir drei. Keiner darf davon wissen, dass Pip hier ist. Papa hat gesagt, wir hätten nur Dummheiten im Sinn, wenn wir alle drei zusammen sind." "Womit er nicht ganz Unrecht hat", meinte Frodo mit einem schelmischen Grinsen. "Ach was", entgegnete Merry mit ernstem Ton. "Es sind Wege, uns zu beschäftigen, uns die Zeit zu vertreiben. Dumm wäre es, Langeweile aufkommen zu lassen." Frodo verkniff sich das Lachen. "Weise gesprochen, mein Freund!" Merry lächelte und deutete eine Verbeugung an, bevor schließlich beide laut losprusteten.
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Am nächsten Morgen wurde Pippin in den Plan eingeweiht. Bei strahlendem Sonnenschein wurde unter der großen Eiche das weitere Vorgehen besprochen, während der Wind in ihren Ohren säuselte und die Blüten des Baumes zum Rascheln brachte. "Sobald Paladin dich zu Bett bringt, stellst du dich schlafend. Du darfst erst gehen, wenn du sicher bist, dass er nicht mehr zurückkommt", ließ Merry ihn mit verschwörerischem Tonfall wissen, vergaß dabei jedoch völlig darauf, dass Pippin das Zimmer mit seinem Vater teilte. Peregrin nickte, die Augen gebannt auf seine Vettern gerichtet. "Dann schleichst du dich zu uns", fuhr Frodo fort. "Du musst vorsichtig sein, du kannst nie wissen, wer nachts in den Gängen herum schleicht." Erneutes Nicken und das angestrengte Bemühen, jedes der Worte in Erinnerung zu behalten um keine Fehler zu machen, wenn der Ernstfall eintraf. "Du klopfst fünf Mal, damit wir sicher sein können, dass du es bist." Merry hatte wieder das Wort ergriffen. "Ich werde sehen, ob ich noch irgendwie eine weiter Decke auftreiben kann", warf Frodo ein, "Wenn ich kein Glück habe, wirst du dir eine Decke mit Merry oder mir teilen müssen." "Ich kann doch meine eigene Decke mitbringen." "Zu riskant!" fuhren ihn die beiden Hobbits an. Pippin schreckte unter den erhobenen Stimmen zusammen und sah sie sorgenvoll an. Einige Augenblicke wanderten seine Augen verblüfft von einem zum anderen, bis Frodo schließlich weiter sprach und ihm den Grund für ihr plötzliches Laut werden erklärte. "Wenn sie dich mit einer Decke erwischen, ist das zu auffallend und unser Plan wäre vollkommen zunichte. Ohne Decke hast du immer noch die Möglichkeit, dir irgendeine Ausrede einfallen zu lassen." Merry stimmte dem zu und auch Pippin nickte. Er war ein Meister im erfinden von Ausreden und es wäre eine Schande, wenn er ausgerechnet von einer Bettdecke überführt werden sollte. Merry schien jedoch noch nicht völlig zufrieden und runzelte die Stirn. Er saß Frodo genau gegenüber und musterte dessen zufriedenen Ausdruck eingehend, beinahe so, als wäre er sich nicht sicher, ob er ihm vertrauen konnte. "Woher willst du die Decke auftreiben?" Frodo grinste, offensichtlich sehr zufrieden mit dem Plan, den er sich ausgedacht hatte. Pippin lehnte sich nach vor, um kein Wort zu verpassen. Es gefiel ihm außerordentlich, teil einer Verschwörung zu sein und er wollte jede Einzelheit des geheimen Plans kennen und Frodo schien offensichtlich derjenige zu sein, der sich am meisten Gedanken darüber gemacht hatte. Gebannt sah er zu seinem älteren Vetter auf. "Ich werde versuchen, eine aus meinem Zimmer mitgehen zu lassen, wenn ich bei Bilbo bin", erklärte dieser im Flüsterton. "Ich kann nur hoffen, dass er nicht darauf achtet, was ich mache." Die drei Hobbits grinsten verschwörerisch, wobei Frodo unter den anerkennenden Blicken seine Vettern noch mehr strahlte, als zuvor. "Sehr gut", schloss Merry schließlich zufrieden und ihr heimlichtuerischer Kreis löste sich, gerade als Minto und Madoc Platschfuß den Hügel herauf gerannt kamen. "Das wäre geregelt!"
~*~*~
"Was machst du da, Frodo?" Bilbo spähte in das Zimmer. Frodo schrak zusammen, ließ sofort die Hände sinken, die sich gerade noch an den oberen Fächern des Schrankes zu schaffen gemacht hatten, bemüht, eine der Decken zu erreichen. "Gar nichts!" erwiderte er rasch. Mit einem schnellen Handgriff hatte er die Schranktür geschlossen und ein unschuldiges Grinsen aufgesetzt. Möglichst unauffällig trat er einige Schritte zurück, bis er an das Fußende seines Bettes stieß und beinahe rückwärts in selbiges gefallen wäre.
Bilbo bedachte den Jungen kritisch, blickte dann zum Schrank, ehe er seine fragenden Augen wieder auf Frodo richtete, der ihn verlegen anlächelte. Irgendetwas führte der Junge doch im Schilde? Wieder wanderte sein Blick zum Schrank und er war versucht, die Tür zu öffnen und hineinzusehen, ließ es dann aber bleiben. "Komm, es gibt Abendessen", sagte er stattdessen und kehrte dem kleinen Zimmer den Rücken zu.
Missmutig folgte Frodo seinem Onkel. Er war sich sicher gewesen, dass Bilbo bereits gegangen war und es verärgerte ihn umso mehr, dass er sein Zurückkommen nicht gehört hatte. Dies war die einzige Möglichkeit gewesen, die sich im Laufe des Nachmittags ergeben hatte, denn, anders, als er erwartete hatte, waren sie erst im Wohnzimmer gesessen und erst vor kurzem in Frodos Zimmer zurückgekehrt, weil Bilbo seine Pfeife dort vergessen hatte und nach dem Essen, wenn er sich die Pfeife stopfen würde, nicht noch einmal in den östlichen Gang wandern wollte . Frodo warf einen traurigen Blick zurück zum Schrank, ehe er die Türe schloss. Es würde also keine zusätzliche Decke für Pippin geben.
Kapitel 25: Dunkle Schatten
"Heute Nacht, wir drei allein, von Schlaf kann keine Rede sein! Doch noch Geduld, noch Ruh' im Zimmer, wenn's fünf Mal klopft gibt's Schweigen nimmer!"
Mit diesen, von Frodo gereimten Worten, tanzten Merry und sein Vetter übermütig durch den Raum, brachten dadurch die Kerzen auf dem langen Regal und jene auf Merrys Nachttisch zum Flackern. Das würde eine Nacht werden, wie sie noch keiner der drei Vettern je erlebt hatte und niemand würde davon erfahren. Dies war ganz allein ihre Nacht und Frodo konnte es kaum noch erwarten, dass sie endlich zu Bett geschickt wurden.
"Was ist denn hier los?" Die beiden verstummten sofort und Merry sprang rasch von seinem Bett, als sich die Tür öffnete und Esmeralda mit einem verwunderten Gesichtsausdruck ins Zimmer trat. Er griff nach Frodos Hand, hüpfte noch einmal aufgeregt im Kreis herum und tänzelte dann auf seine Mutter zu. Esmeralda ließ sich von der Fröhlichkeit anstecken, lachte und griff nach Merrys Händen, wirbelte ihn einmal herum, ergriff schließlich auch Frodos Hand und ließ sich mit den beiden Hobbits auf Merrys Bett fallen. Während Merry sich noch an seine Mutter kuschelte und mit ihr herumalberte, stand Frodo jedoch rasch wieder auf, um sich umzuziehen, denn Esmeralda war bestimmt gekommen, um die lang ersehnte Schlafenszeit zu verkünden. Schnell knöpfte er sein Hemd auf, warf es über den Stuhl von Merrys Schreibtisch und schlüpfte in sein Nachthemd, ehe er sich auch seiner Hose entledigte. Inzwischen hatte sich auch Esmeralda wieder erhoben und sich daran gemacht, Frodos Matratze auf dem Boden zu platzieren. Über die Schulter seiner Mutter hinweg, warf Merry seinem Vetter ein verschmitztes Grinsen zu, das Frodo erwiderte, ehe er zum Schrank ging, um sein Bettzeug zu holen. Plötzlich segelten Merrys Kleider über seinen Kopf hinweg durch das ganze Zimmer, um auf dem Schreibtisch zu landen. Frodo duckte sich erschrocken, blickte dann verwundert zu seinem Vetter. "Meriadoc", mahnte Esmeralda streng und deutete ihm mit einem Kopfnicken an, sich ein Nachthemd überzuziehen und sich ins Bett zu legen, was Merry dann auch folgsam tat. Bald darauf pustete Esmeralda die Kerzen aus. Frodo kuschelte sich unter seine Decke, während Merrys Mutter ihnen eine gute Nacht wünschte und schließlich das Zimmer verließ.
Wie zuvor abgesprochen, verhielten sich die Hobbits leise und stellten sich schlafend, wann immer sie Schritte vernahmen. Einmal spähte Saradoc noch herein und lächelte zufrieden, als er die Kinder in tiefem Schlummer vorfand, ohne zu ahnen, dass diese die Augen sofort wieder aufschlugen, nachdem er die Türe geschlossen hatte.
Die Zeit verging. Der Duft von abgebranntem Apfelholz erfüllte die Luft. Ab und an drang der Klang vieler, leiser Stimmen aus den Wohnzimmern, gerade so laut, dass sie nicht als störend empfunden wurden, an ihre Ohren. Frodo wurde unruhig, während er zur Decke blickte. Wo blieb Pippin nur so lange? Merry schien es nicht besser zu gehen, denn dieser wandte sich ständig von einer Seite zur anderen, verwarf seine Decke, nur um sich bald darauf wieder eng darin einzuwickeln. Schritte. Frodo rollte sich zur Seite und schloss die Augen. Merry lag reglos, doch Frodo konnte seine Atmung hören, die sehr an die tiefen Atemzüge eines Schlafenden erinnerten. Ein zaghaftes Klopfen drang an ihre Ohren. Einmal. Zweimal. Merry richteten sich auf. Frodo öffnete die Augen und blickte angespannt zur Tür. Dreimal. Nun verwarf auch Frodo seine Decke, setzte sich auf und tauschte einen aufgeregten Blick mit seinem Vetter, der erwartungsvoll lächelte. Viermal. Gespannte Stille. Frodo glaubte, seinen eigenen Herzschlag hören zu können. Merry rutschte unruhig auf seinem Bett herum, offensichtlich nicht weniger angespannt. Fünfmal.
"Pippin", murmelte Merry und sprang sogleich von seinem Bett, wäre beinahe über Frodo gestolpert, der ebenfalls von seiner Matratze kroch. Zaghaft traten sie an die Tür, tauschten einen weiteren aufgeregten Blick, ehe Merry vorsichtig den Knauf drehte, um Frodo in den Gang spähen zu lassen. "Ich bin es", flüsterte jemand und Pippins brauner Lockenkopf tauchte vor Frodos aufgeregten Augen auf. Er warf einen raschen Blick zu beiden Seiten, konnte im Schein der Lampen niemanden erkennen und zog Pippin mit einem Ruck in das Zimmer, während Merry blitzschnell die Tür hinter ihnen schloss. Sie hatten es geschafft! Erfreut über das Gelingen jubelten die jungen Hobbits und hüpften heiter um Pippin herum, der sich, nicht weniger aufgeregt, übermütig im Kreis drehte. Entsetzt bemerkten sie plötzlich, was sie taten und ermahnten sich gegenseitig, mit dem Zeigefinger an den Lippen und einem zischenden "Sh!!!", zur Ruhe. Leise liefen sie schließlich zurück zu ihren Betten. Pippin kroch mit Merry in dessen Bett, während sich Frodo der Länge nach auf sein eigenes fallen ließ, um dann zufrieden grinsend zu den anderen aufzusehen. "Und was jetzt?", fragte Pippin neugierig. Er hatte die Beine überkreuzt und sich Merrys Decke um die Schultern geschlungen. Seine Vettern hatten ihm zwar gesagt, dass er kommen sollte und dass es eine interessante Nacht werden würde, doch keiner der beiden hatte ihn über ihre genauen Pläne informiert und er war nun erpicht, diese zu erfahren. Frodo und Merry warfen sich unwissende Blicke zu. Die Frage kam völlig unerwartet und erst jetzt wurde Frodo klar, dass sie eine wichtige Kleinigkeit vergessen hatten. Er zuckte mit den Schultern, woraufhin Pippin hoffnungsvoll zu Merry blickte, doch auch dieser wusste darauf nichts zu erwidern. Empört blickte der junge Tuk von einem zum anderen. "Soll das etwa heißen, ihr habt gar nichts geplant?" Verlegenes Grinsen, Kopfschütteln. Entmutigt ließ Pippin sich im Bett zurückfallen, hätte sich um ein Haar den Kopf an der Wand gestoßen. Er seufzte hörbar, setzte sich dann wieder auf und blickte ungläubig auf seine Vettern. "Soviel Aufregung und dann habt ihr nicht einmal etwas geplant?!" Frodo sah ihn unschuldig an, suchte in Gedanken jedoch bereits nach einer interessanten und vergnüglichen Beschäftigung, denn schließlich sollte diese Nacht etwas Besonderes werden. "Doch, das haben wir", rief Merry plötzlich, erschreckend laut, aus. Entsetzte "Sh's" von Frodo und Pippin ließen ihn leiser fortfahren. "Frodo erzählt uns eine Geschichte!" Pippins Augen leuchten und sein Blick wanderte augenblicklich zu seinem Vetter, dessen Miene sich verdunkelte. "Ich?", fragte Frodo bestürzt. "Das habe ich nie gesagt!" "Natürlich!" beharrte Merry, "Gestern Abend, als wir davon gesprochen haben." Frodo runzelte die Stirn, ließ den Blick eindringlich auf seinem Vetter ruhen. "Ich erinnere mich nur daran, dass ich wollte, dass Bilbo eine Geschichte erzählt, nicht etwa ich." "Komm schon, Frodo!" bettelte Merry mit flehendem Blick und lehnte sich dabei soweit über sein Bett, dass sein Gesicht direkt über Frodos schwebte. "Ja, Frodo, erzähl etwas!" schloss sich Pippin an, der bei dem Wort Geschichte sofort Feuer und Flamme gewesen war, ganz gleich, wer sie erzählte.
Frodo blieb standhaft, schüttelte den Kopf, verschränkte die Arme und schloss die Augen, um nicht länger in die flehenden Gesichter seiner Vettern sehen zu müssen, die er im sanften Lichtschein, der unter dem schmalen Spalt der Tür hereinschimmerte, ohnehin kaum erkennen konnte. Auch wenn er selbst gerne eine Geschichte gehört hätte, hatte er doch keine Lust, eine zu erzählen, vor allem, da er überhaupt keine Idee hatte. "Erzählst du uns etwas?", fragten Merry und Pippin noch einmal nachdrücklich, letzterer mit einem hinterhältigen Grinsen im Gesicht. Frodo blinzelte, schüttelte leicht den Kopf. Das war Pippin Antwort genug Er stürzte sich kichernd auf seinen Vetter, um überzeugendere Methoden, als einen flehenden Blick anzuwenden. Frodo schien jedoch mit einem Angriff dieser Art gerechnet zu haben und hatte seine Handgelenke gepackt und seine Hände von sich fern gehalten, noch ehe Pippin auch nur die Möglichkeit gehabt hatte, seinen Vetter zu kitzeln. Merry eilte dem jungen Tuk jedoch sofort zu Hilfe, denn er wusste, dass sie Frodo nur so umstimmen konnten. Eine Berührung genügte und sein älterer Vetter zuckte zusammen, ließ von Pippins Handgelenken ab, um Merry von sich fernzuhalten. Frodo konnte ein überraschtes Aufschreien gerade noch verhindern, als er plötzlich gegen vier verräterische Hände anzukommen hatte, die immer wieder Wege fanden, ihre Finger bewusst über kitzlige Körperstellen wandern zu lassen. Überrascht presste er die Lippen zusammen, sodass anstelle des überraschten Aufquiekens nur ein leises Wimmern aus seiner Kehle drang. Er durfte keinen Laut von sich geben, oder sie würden entdeckt werden. Es dauerte nicht lange, da musste sich Frodo der Übermacht seiner Vettern jedoch beugen. Keuchend und voller Misstrauen beobachtete er Merry und Pippin, die nun zu beiden Seiten bei ihm auf der Matratze saßen, die Hände noch immer erhoben, um sofort wieder anzugreifen, sollte er versuchen, sie auszutricksen. Selbst in der Dunkelheit wusste Frodo um das siegreiche Grinsen, das deren Gesichter zierte. "Also gut, ihr habt es nicht anders gewollt", sagte er dann und deutete seinen Vettern mit einem Kopfnicken an, sie mögen wieder auf das Bett klettern. Er tat es ihnen gleichen, während er fieberhaft über eine Geschichte nachdachte, die Augen dabei nicht von den jüngeren Hobbits nehmend. "Erst müsst ihr mir etwas versprechen", sagte er schließlich und ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern. "Ihr werdet mich nicht mehr kitzeln." Beide nickten bestätigend und rückten näher an Frodo heran. Dieser griff nach der Kerze auf dem Nachkästchen und entzündete sie.
So saßen sie in Merrys Bett. Drei Hobbits, in einem Zimmer, das nur vom Licht einer Kerze erhellt wurde. Alle drei warteten auf eine Geschichte. Merry und Pippin, auf eine, die erzählt werden sollte, und Frodo, auf eine, die er erzählen konnte. Wo sollte er anfangen? Was sollte passieren? Fieberhaft grübelte er darüber nach, bis sie schließlich kam, die rettende Idee. Eine Idee, die nicht nur den Geschichtendurst der beiden Hobbits vor ihm stillen sollte, sondern auch seinen Rachedurst für den vorherigen Angriff. Ein überraschendes Ende, mit dem keiner der beiden rechnen würde. Jetzt musste er nur noch wissen, wie es zu diesem Ende kam. Ein gemeines Grinsen trat auf sein Gesicht, doch verschwand es wieder, ehe seine Vettern es hätten bemerken können. Das flackerten Licht der Kerze erhellte sein Gesicht, als er schließlich mit leiser Stimme zu sprechen begann.
"Es war einmal ein Hobbit. Er lebte in einer kleinen Höhle in der Nähe eines Waldes. Da der Hobbit gerne spazieren ging, streifte er oft durch den Wald." Es war kein besonders guter Anfang, doch etwas Besseres fiel ihm im Augenblick nicht ein. "Was für ein Wald?", unterbrach Pippin und seine Augen leuchteten voller Aufregung. Auch Merrys Blick war aufgeregt und er fragte neugierig: "War es der Alte Wald?" Frodo grinste innerlich. Warum eigentlich nicht? Weshalb sollte er sich mit einem gewöhnlichen Wald zufrieden geben, wenn er den Alte Wald haben konnte? Das konnte ihm nur Vorteile bringen, schließlich lag jener Wald fast direkt vor ihrer Haustür und die Geschichten darum, waren im Auenland wohl bekannt. Er nickte, sah seine Vettern eindringlich an, während seine Stimme einen unheimlichen Ton annahm. "Ja, Merry, es war der Alte Wald. Finsterer und düsterer, als jeder andere Wald in ganz Mittelerde." Pippin schluckte schwer und warf Merry einen unsicheren Blick zu, den dieser erwiderte. Ein zufriedenes Lächeln glitt über Frodos Lippen. Warum war er nicht gleich auf die Idee gekommen? So war sein Anfang sehr viel besser, als er es zu hoffen gewagt hatte. Er betrachtete seine Vettern eingehend, bevor er genauso leise weiter sprach. "Er hatte keine Furcht vor den Bäumen oder den Sträuchern, von denen es hieß, sie hätten einen eigenen Willen. Am liebsten wanderte er am Abend oder gar nachts durch den Wald. Er liebte das Gefühl von feuchtem Moos an seinen Füßen und den Geruch von Tannennadeln." Frodo schloss die Augen und sog die Luft ein, als könne er selbst den frischen Duft der Tannen riechen. Merry und Pippin taten es ihm gleich und die Flamme der Kerze flackerte. "Viele Jahre lang war er täglich durch den Wald gegangen. Er kannte jeden Baum, jeden Strauch, jeden Stein und jede Wurzel. Nicht eine Pflanze war ihm unbekannt. Doch eines Nachts, der Hobbit hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, und wollte sich in der friedlichen Stille des Waldes erholen, entdeckte er etwas, das ihm noch nie zuvor aufgefallen war." Frodo machte eine kleine Pause, in der die Augen seiner Vettern immer größer und fragender wurden, ein Anblick, der ihn nicht hätte zufriedener stimmen können. Er senkte seine Stimme noch mehr, ließ sie sanft und weich klingen. "Zarte Blumen, deren Blüten in strahlendem Weiß blühten, wuchsen überall auf dem Waldboden."
Frodo konnte förmlich sehen, wie die Anspannung aus den Körpern seiner Vettern wich. Pippin und Merry ließen die Köpfe hängen, die Enttäuschung deutlich in ihren Augen zu lesen. "Blumen, Frodo?", beschwerte sich Merry beinahe erzürnt. "Blumen?! Ich erwarte einen Wolf oder Schlimmeres, und du kommst mit Blumen?!" Frodo sah ihn ernst an, obschon er sehr damit zu kämpfen hatte, nicht zu lachen. Das schwache Licht der Kerze, das sich in seinen Augen widerspiegelte, half ihm, seiner Miene den nötigen Ausdruck zu verleihen. "Etwas mehr Geduld, wenn ich bitten darf!" entgegnete er trocken, dann senkte er die Stimme wieder. "Denn dies, Meriadoc Brandybock, waren keine gewöhnlichen Blumen. Nie zuvor hatte der Hobbit welche wie sie gesehen. Nie einen lieblicheren Duft eingeatmet, als jenen dieser geheimnisvollen Blüten. Er betrachtete den Waldboden voller Verwunderung und da bemerkte er, dass die Blumen nicht überall wuchsen. Direkt neben ihm, schienen sie einen Pfad zu kennzeichnen. Der Hobbit schluckte und zögerte einen Moment, bevor er sich schließlich dazu entschied, dem Weg zu folgen. Was hätte ihm denn in diesem Wald, dem Alten Wald, den er so gut kannte, den er so oft durchstreift hatte, passieren können? Mit festen Schritten stapfte er den Pfad entlang, bis er an eine Lichtung kam."
Als Frodo in die gebannten Augen seiner Vettern blickte, wäre er am liebsten sofort zum überraschenden Ende gekommen, doch er musste Geduld haben. Nur noch ein wenig Geduld. Er konnte ihre Spannung noch steigern, wenn er sich Mühe gab. "Sein Atem stockte, bei dem Anblick, der sich ihm bot. Die Lichtung war in gleißendes Licht getaucht und alles, was er erkennen konnte, waren Schatten. Dunkle Schatten, die tanzend über den Waldboden schwebten." Frodo konnte sich das Lachen kaum verkneifen. In den Augen seiner Vettern erkannte er, dass sie wieder etwas Schreckliches erwarteten und er brannte darauf, ihre Erwartungen zu erfüllen, doch noch nicht. Noch nicht.
"Der Wind heulte auf. Plötzlich überkam ihn das Verlangen, diesen Ort sofort wieder zu verlassen. Oder sollte er doch näher hingehen, um sich diese Wesen genauer anzusehen? Sie waren groß, größer als jeder Hobbit, und schlank, doch so genau er auch hinsah, er erkannte nicht mehr, als dunkle Schatten. Er entschied sich, zu gehen, wandte sich um und ein Schrei hallte durch die Nacht, denn unerwartet hatte ihn jemand an der Schulter gepackt. Ein Wesen, groß und schlank, dessen Gesicht verhüllt war, zischte ihn mit drohender Stimme an."
Frodo senkte den Kopf, blickte eindringlich in die Augen seiner Vettern, bis er sicher war, dass sie den Blick nicht mehr abwenden konnten und verstellte seine Stimme. Unheimlich und bedrohlich klang sie, als er weiter sprach. "Geh, sofort! Geh, und komm nicht wieder! Vergiss, was das du gesehen hast! Vergiss es und kehre nie zurück!"
Merry und Pippin fröstelten, warfen einander ängstliche Blicke zu, als Frodo für einen Augenblick die Augen schloss, als befände er sich in tiefer Konzentration, schenkten ihm jedoch ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, als er sie wieder ansah. Pippin tastete nach Merrys Hand, während er angespannt zu Frodo blickte, in dessen Gesicht das Licht der Kerze unheimliche Schatten malte. Er schluckte den Knoten in seinem Hals, überzeugte sich so selbst davon, dass er keine Furcht empfand.
"Der Hobbit bekam es mit der Angst zu tun und er rannte. Er rannte den ganzen Weg zurück zu seiner Höhle. Er legte sich in sein Bett und wollte vergessen. Vergessen, was er gesehen hatte. Vergessen, dass er jemals im Alten Wald gewesen war. Doch es funktionierte nicht, so sehr er sich auch bemühte." Frodo sah sie lange an, atmete schwer, als wäre er es, der mit dem Vergessen zu kämpfen hatte und fuhr dann mit furchtsamer Stimme fort. "Am nächsten Abend ging er wieder in den Wald. Er wollte nicht gehen, doch er konnte nicht anders. Es war, als würde eine unsichtbare Macht ihn in den Alten Wald locken. Er sah die Blumen, fand den Pfad. Unsicher und voller Angst trat er dieses Mal über den feuchten Waldboden, bis er die Lichtung erreichte."
Wieder legte Frodo eine kleine Pause ein, um Spannung zu erzeugen. Er kämpfte gegen das Lachen in sich an, als er verzweifelt versuchte, nicht in die ängstlichen, angespannten Gesichter seiner Vettern zu sehen. Wenn sie nur wüssten, dass nur mehr wenige Augenblicke sie von der Erfüllung ihrer Erwartungen, etwas Schrecklichem, trennten. Seine Augen wirkten furchtsam, seine Stimme zitterte leicht, als er, beinahe flüsternd, weiter sprach. "Er sah sie. Wieder sah er die Schatten, tanzend im hellen Licht. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und er wollte umkehren, wollte gehen, doch er konnte nicht. Noch immer wurde er von der geheimnisvollen Macht und seiner eigenen Neugier näher an das Geschehen gezogen. Leise und mit großer Vorsicht tat er das, was er niemals hätte tun dürfen."
Die Augen der jungen Hobbits wurden groß. Gebannt verfolgten sie jede von Frodos Bewegungen, lauschten auf jedes seiner Worte. Pippins Hand drückten Merrys Finger fester. Beide fanden sich außerstande, den Blick von Frodo abzuwenden und seine vielen Pausen machten sie schier wahnsinnig.
Frodos Tonfall wurde mit jedem seiner Worte unheimlicher und leiser. "Er schlich näher an sie heran. Immer weiter kroch er über den Waldboden. Näher und näher an die geheimnisvollen Wesen, bis schließlich..." Entsetzt schrieen Merry und Pippin auf, als es plötzlich dunkel wurde und etwas sie an den Schultern packte. Ängstlich klammerten sie sich aneinander fest. Frodo konnte sein Lachen nicht länger zurückhalten und prustete los. Er hatte bei seinem letzten Wort die Kerze ausgepustet und seine Vettern an den Schultern berührt, auf dass sie sich in Zukunft zwei Mal überlegten, ob sie ihn um eine Geschichte beten sollten, und vor allem, wie sie das tun sollten. Merry und Pippin war anfangs nicht klar, was geschehen war. Zitternd vor Schreck und mit großen Augen starrten sie sich an. Das führte nur dazu, dass Frodo noch mehr lachte. Dieser hielt sich den Bauch, konnte sich kaum noch auf dem Bett halten, so sehr krümmte er sich. Als sie endlich verstanden, was ihr Vetter getan hatte, genügte ein kurzer Blick und beide wussten, was zu tun war. Mit einem lauten "Alle auf Frodo!" packte Merry sein Kissen, während Pippin sich auf Frodo stürzte und ihn vom Bett warf, sodass er keuchend und prustend auf seiner Matratze landete. Eine wilde Rauferei entbrannte. Kissen flogen durch die Gegend und Finger waren bemüht, kitzlige Stellen zu finden, bis sich die Hobbits ihrer Lage wieder bewusst wurden und sich gegenseitig zur Ruhe ermahnten.
Alle drei lagen schließlich auf Frodos Bett und starrten zur Decke. Pippin hatte sich an Frodo gekuschelt, ließ seinen Kopf auf dessen Brust ruhen, während Merry sich zwischen seinem älteren Vetter und seinem Bett eingenistet hatte. Dunkelheit umfing sie, doch noch immer umspielte ein zufriedenes Grinsen Frodos Lippen. Dafür, dass er nicht gewusst hatte, was er hätte erzählen sollen, war seine Geschichte ein voller Erfolg geworden. "Wie ist die Geschichte denn nun ausgegangen?", wollte Pippin schließlich wissen. "Was ist passiert?" Frodo überlegte kurz, wandte den Blick jedoch nicht von der Decke ab und es dauerte auch nicht lange, da hatte er eine passende Idee gefunden. Wieder nahm seine Stimme einen Angst einflößenden Unterton an, der nun in der Dunkelheit noch unheimlicher klang, als zuvor. "Das weiß niemand, Pip. Keiner weiß, was aus dem Hobbit geworden ist. Die Blumen wurden seither nie wieder gesehen, doch man sagt, dass dunkle Schatten manchmal, in besonders dunklen Nächten, aus dem Alten Wald schleichen und die Bewohner Bocklands in Angst und Schrecken versetzen, als Rache dafür, dass der Hobbit zurückkam und sie weiterhin beobachtete."
Merry sah Frodo skeptisch an, doch ein Blick seines Vetters genügte und er unterließ es, der Geschichte das geheimnisvolle Ende zu nehmen. Als sein Blick auf Pippin fiel, wusste er auch, weshalb er das Ende nicht berichtigen durfte. Der jüngere Hobbit schien jedes Wort zu glauben, das Frodos Lippen verlassen hatte.
"Komm jetzt", sagte Merry schließlich gähnend und griff nach Pippins Ärmel. "Du schläfst heute Nacht bei mir." Pippin nickte, ließ seine Augen jedoch noch einen Augenblick länger auf Frodo ruhen, denn dessen Worte beunruhigten ihn ein kleinwenig. Dieser verzog jedoch keine Miene und so kletterte er schließlich zu Merry auf das Bett und kuschelte sich unter dessen Decke. Sie unterhielten sich noch einige Zeit leise, bevor sie schließlich einschliefen.
Alle, bis auf Pippin. Dieser konnte nicht aufhören, an dunkle Schatten zu denken. Mit großen Augen blickte er sich im Zimmer um, immer befürchtend, von einer dunklen Gestalt angegriffen zu werden. Ängstlich blickte er auf Merry, der friedlich schlummernd neben ihm lag. Plötzlich drang ein leises Knarren an sein Ohr. Erschrocken zog er sich die Bettdecke über den Kopf und legte sich flach auf das Bett. Durch einen kleinen Spalt versuchte er, zu erkennen, was das Geräusch ausgelöst hatte, als sich auf einmal die Tür öffnete. Das Licht der Lampen blendete ihn und Pippin konnte nur den dunklen Schatten einer großen Gestalt ausmachen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. "Sie sind hier", dachte er ängstlich und kniff verschreckt Augen zusammen. Er hörte, wie die Tür geschlossen wurde, wie die Schritte sich entfernten, doch hielt er seine Augen weiterhin geschlossen. Erst als er sicher war, dass was immer er gerade gesehen hatte, nicht zurückkommen würde, wagte er, sie wieder zu öffnen. Vorsichtig schob er die Decke weg und sah sich um. Alles war wieder ruhig. Zu ruhig, für seinen Geschmack. "Merry", flüsterte er und tastete vorsichtig nach der Schulter seines Vetters. "Wach auf, Merry!" Doch Merry antwortete nicht, zuckte nicht einmal mit den Lidern. Er lag bereits in tiefem Schlummer, weitab von dunklen Schatten und Pippin beneidete ihn darum. Leise seufzend und mit gerunzelter Stirn, überlegte der junge Tuk, was er machen sollte, kletterte schließlich über seinen Vetter und ließ sich vorsichtig auf Frodos Matratze sinken. Frodo hatte ihm den Rücken zugewandt und Pippin tastete mit zitternden Fingern nach dessen Schulter. "Frodo?" wisperte er mit ängstlicher Stimme in sein Ohr. "Bitte sei wach, Frodo!" Frodo murrte, runzelte die Stirn und zog sich die Decke über den Kopf. "Frodo!" flüsterte Pippin noch einmal verzweifelt, rüttelte etwas heftiger an dessen Schulter.
Frodo blinzelte benommen, als das unangenehme Rütteln nicht aufhörte. Mit halb geöffneten Augen drehte er sich um, erblickte das ängstliche Gesicht seines Vetters. Er runzelte die Stirn. "Was ist denn los?", murmelte er verschlafen. Pippin schien erleichtert, dass er wach war, doch die Stimme des Jüngeren zitterte, als er leise antwortete: "Ich... die Schatten, ... sie sind hier!" Frodo schloss die Augen und seufzte schwer. "Es war eine Geschichte, Pip, nichts weiter", versuchte er zu erklären. "Ich habe alles erfunden. Nichts davon ist wahr." Er gähnte herzhaft, als er sich wieder umdrehte und die Augen schloss. "Schlaf jetzt!"
Mit unsicheren Augen sah sich Pippin noch einmal im Zimmer um, doch blieb sein Blick auf Frodo haften. "Eine Geschichte, nichts weiter", versuchte er sich einzureden, erzielte damit jedoch nicht den gewünschten Erfolg. "Doch was, wenn etwas Wahres daran war?" Erneut griff er nach Frodos Schulter, rüttelte seinen Vetter wach. "Frodo?", fragte er mit zitternder Stimme und seine Augen wanderten immer wieder von einer dunklen Ecke in die andere. "Hm?", war alles was er zur Antwort erhielt, denn Frodo war schon fast wieder eingeschlafen. Pippin schwieg einen Moment, blickte furchtsam auf das schlummernde Gesicht seines Vetters, das er in der Dunkelheit nur spärlich erkennen konnte. Er wagte kaum, die Worte zu formen, doch schließlich sprach er sie in aller Eile aus, denn er fürchtete, sein Vetter könne in der Zwischenzeit bereits wieder eingeschlafen sein. "Kann ich... kann ich heute Nacht trotzdem bei dir schlafen." "Mhm", machte Frodo und rutschte ein Stück zur Seite, damit Pippin genug Platz unter seiner Decke hatte. Pippin zögerte keine Sekunde und kroch sogleich unter die weiche Bettdecke. Heute Nacht sollten ihn keine Schatten verfolgen, nicht wenn er bei Frodo war. Sein Vetter würde sie vertreiben. Beruhigt kuschelte er sich an Frodos warmen Körper und schloss die Augen.
Frodo lächelte kurz, ob der Leichtgläubigkeit seines Vetters. Hätte er gewusst, dass er Pippin einen solchen Schrecken einjagen würde, hätte er sich ein anderes, weniger grusliges Ende überlegt, obwohl seine Vettern es eindeutig verdient hatten, erschreckt zu werden. Lächelnd, legte er einen Arm um Pippins Schulter, als sich der Mantel des Schlafs wieder um ihn schloss und ihn in eine sanfte Umarmung zog.
Kapitel 26: Ein Picknick im Grünen
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, da waren die drei Hobbits auch schon wieder auf den Beinen. Nicht aus Spaß, denn dieses Mal hatten sie eine Aufgabe zu erfüllen. Auf Zehenspitzen schlichen sie durch die spärlich beleuchteten Gänge des Brandyschlosses, immer wieder ängstliche Blicke um sich werfend, um sich zu vergewissern, dass sie auch nicht gesehen wurden. Endlich erreichten sie Pippins Zimmer. Ein letzter Blick in alle Richtungen und... "Guten Morgen, Peregrin!" Wie versteinert und mit offenen Mündern blickten die drei Hobbits auf die Person, die, mit dem Gesicht zur Wand, in einem Schaukelstuhl vor ihnen saß. Frodo und Merry warfen sich unsichere Blicke zu. Pippin schluckte. "Guten Morgen, Papa!" brachte er etwas stockend hervor. "Wie ich hörte, hattest du eine aufregende Nacht." Eine Kerze brannte auf dem kleinen Tischchen in der Ecke. Die Flamme loderte für einen Augenblick auf, als Paladin leicht zu schaukeln begann, die Hände auf seinem Bauch ruhend. Er wandte sich jedoch nicht zu den Kindern um, die sich unsichere Blicke zuwarfen. Frodo zuckte zusammen, als hinter ihnen die Tür zufiel, während Pippin einen zaghaften Schritt auf seinen Vater zu machte. "Du hörtest, Papa?", fragte er neugierig und setzte dabei eines seiner unschuldigsten Gesichter auf. "Eure gelegentlichen Ausrufe und die darauf folgenden Ermahnungen blieben nicht ganz ungehört", meinte der Thain mit ernstem Ton. "Außerdem habt ihr wohl vergessen, dass Pippin und ich uns ein Bett teilen und ich nicht so dumm bin, nicht zu merken, wenn ein Kissen anstelle meines Sohnes neben mir liegt." Die drei Hobbits schluckten. Scheinbar hatten sie bei der Planung ihrer aufregenden Nacht mehrere wichtige Dinge nicht bedacht. Pippin blickte zu seinen Vettern zurück, runzelte unsicher die Stirn, trat dann weiter auf seinen Vater zu. Der Schaukelstuhl knarrte leise, doch der Thain rührte sich nicht. "Und was willst du jetzt machen?" Langsam erhob sich Paladin, drehte sich um und ging mit strengem Ausdruck auf Pippin zu. Von dessen unschuldiger Miene war nun nichts mehr zu sehen und er erwartete angespannt die Reaktion seines Vaters, während Merry und Frodo das Geschehen, nicht weniger nervös, beobachteten. Paladin legte eine Hand auf die Schulter seines Sohnes und begann ganz unerwartet zu lachen. "Was denkst du denn, was ich mit dir mache, Peregrin? Was sollte ich machen?" Pippin sah ihn fragend an und zuckte mit den Schultern. "Wenn ich nicht gewollt hätte, dass du bei ihnen bleibst, hätte ich dich schon viel früher wieder in dein eigenes Bett zurückgebracht. Ich hatte zwar befürchtet, dass ihr nachts auf dumme Ideen kommen würdet, da Merry und Frodo in solchen Dingen auch recht begabt sein sollen", er warf den beiden Hobbits einen wissenden Blick zu, der sie beide verlegen die Augen abwenden ließ, "doch ihr habt nichts angestellt. Weshalb, Pippin, sollte ich euch also bestrafen wollen?" Merry und Frodo atmeten hörbar auf, tauschten einen erleichterten Blick. "Ich weiß nicht!" meinte Pippin schließlich grinsend, "Du hast mir jedenfalls einen ordentlichen Schrecken eingejagt." Paladin lachte. "Das sollte dir eine Lehre sein, dich nie wieder heimlich aus deinem Zimmer zu schleichen und mich mit einem Kissen veralbern zu wollen." Er wuschelte Pippin durch die Haare. "Ich habe es nicht einmal bemerkt, als ich abends nach dir gesehen habe. Erst als ich mich selbst hinlegen wollte und aus dem Wohnzimmer trat, wusste ich plötzlich, dass nicht du es warst, der abends im Bett gelegen hatte, denn lautes Geschrei drang an mein Ohr. Ich ging also den Gang hinunter und hörte euch einige Zeit zu, wollte noch einmal nach euch sehen, als es schließlich leise wurde, doch obschon ich deine Stimme zuvor laut und deutlich gehört hatte, konnte ich dich nirgendwo entdecken." Paladin sah ihn ratlos an. "Sag mir, mein Sohn, wo haben sie dich versteckt?" Pippin runzelte verwundert die Stirn, doch dann hellte sich seine Miene plötzlich auf. "Dann warst du es, den ich für einen Schatten gehalten habe?" "Einen Schatten?", fragte Paladin verdutzt und warf erst Pippin, dann Frodo und Merry einen verwirrten Blick zu. Letzterer zuckte ahnungslos mit den Schultern, während Frodo verlegen den Blick abwandte. Paladin glaubte, zu erkennen, dass seine Wangen sich röteten und runzelte verwundert die Stirn. Er wollte schon fragen, was es damit auf sich hatte, doch Pippin schüttelte lächelnd den Kopf und meinte, dass das nicht so wichtig wäre.
~*~*~
Nach dem Frühstück war es an Frodo und Merry den Tisch abzuräumen und Pippin leistete ihnen Gesellschaft. Skeptisch beobachtete Frodo Marroc, der als Einziger noch am Tisch saß und an einem Stück Brot kaute. Merry trat möglichst unauffällig an ihn heran und versicherte ihm, dass er sogleich zur Stelle sein würde, sollte es Marroc tatsächlich noch wagen, ihm irgendetwas zu tun. Frodo schüttelte den Kopf. Marroc würde nichts mehr machen, und wenn doch, so würde er alleine mit ihm fertig werden. Zumindest hoffte er das. Merry nickte nur, aber sein Blick verriet, dass er Marroc nicht traute.
Pippin beobachtete das Geschehen mit fragenden Blicken. Etwas stimmte nicht, das konnte er in den Augen seiner Vettern erkennen. An der Schwelle zur Küche trat er an Merry, der die letzten Besteckstücke zusammengetragen hatte, heran. "Wer ist er und weshalb schaut ihr so kritisch?" "Das ist Marroc", verkündete Merry, dessen Tonfall alles andere als freundlich war. "Er ist ein Rüpel und vor etwa einem halben Jahr hatte Frodo große Probleme mit ihm. Marroc meint, er könne alles und jeden unterdrücken, der kleiner, oder jünger ist, als er selbst." Pippin sagte nichts weiter, warf aber einen kurzen Blick zurück zum Esszimmer, wo sich Frodo um das letzte Geschirr kümmerte.
Angespannt ging Frodo um den Tisch herum und stapelte die restlichen Teller aufeinander. Er spürte seine Nervosität, spürte, wie sein Herz schneller schlug. Immer wieder warf er unsichere Blicke auf Marroc, der zufrieden kauend am Tisch saß, ihn scheinbar nicht zu beachten schien.
Ruhig blieben. Er wird mir nichts tun. Er hat aus seinen Taten gelernt. Er muss daraus gelernt haben. Zumindest ist in den letzten Monaten nichts passiert. Warum sollte sich das jetzt ändern? Saradoc hat ihn bestraft und Marroc weiß, wo seine Grenzen liegen. Er wird sie nicht überschreiten. Er wird mir nichts tun. Ansonsten weiß ich mich zu verteidigen. Ich weiß jetzt, dass er keine Macht über mich hat. Alleine deswegen wird er nichts machen. Weil auch er weiß, dass er mir eigentlich gar nichts tun kann, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen.
Frodo holte einmal tief Luft bevor er sich den Stapel Geschirr schnappte und an Marroc vorbei stapfte. Zu spät bemerkte er das hinterhältige Grinsen in dessen Gesicht und eh er sich versah, stolperte er über Marrocs ausgestrecktes Bein und fiel mit einem entsetzten Aufschrei zu Boden. Die Teller flogen durch die Luft, landeten schließlich klirrend und polternd auf dem Fußboden. Manche zerschellten, blieben als scharfe, gefährliche Tonscherben liegen.
Marroc einen erzürnten Blick zuwerfend, rappelte Frodo sich auf und rieb sich das linke Knie, mit dem er zuerst auf dem Boden aufgekommen war. Er kann es trotz Saradocs Ermahnungen einfach nicht lassen. Er scheint ständig jemanden ärgern zu müssen! Warum immer mich? Ich darf mir das nicht gefallen lassen! "Du sollst mich in Frieden lassen!" sagte er wütend, stand schließlich vorsichtig auf, bemüht, auf keine der Scherben zu treten. Marroc lachte, biss sich ein Stück seines Brotes ab, die gleichgültigen Augen auf ihn gerichtete. "Reg dich doch nicht gleich auf!" Wut flammte in ihm auf und Frodo blitzte den älteren Jungen zornig an, während er sich daran machte, die heil gebliebenen Teller wieder einzusammeln.
"Was ist passiert!" wollte Merry wissen, der gerade zur Tür herein gerannt kam. Er und Pippin hatten Frodo schreien gehört und mit dem Schlimmsten gerechnet. In gewisser Weise war er froh, dass nur die Teller herunter gefallen waren, doch als er den schadenfrohen Blick Marrocs sah, den dieser Frodo zuwarf, wusste er sofort, dass Frodo nicht selbst an der Misere schuld war. Er wollte sofort wütend auf den Hobbit stürzen, doch Frodo bedeutete ihm mit einer Handbewegung, dass alles in Ordnung war. Nichtsdestotrotz blieb Merry in der Tür stehen, nicht gewillt, seinen Vetter aus den Augen zu lassen, so lange Marroc im selben Raum war.
Missmutig hockte Frodo auf dem Boden, sortierte heil gebliebene von zerbrochenen Tellern. Es ärgerte ihn, dass Marroc, der eigentlich an seiner Lage schuld war, keinen Finger rührte, um ihm zu helfen. All seinen Mut zusammennehmend, wandte er sich noch einmal dem Älteren zu, doch konnte er das leichte Zittern seiner Stimme nicht verhindern. "Wenn du uns nicht helfen willst, dann solltest du gehen!"
Marrocs Augen blitzten auf und bevor Frodo wusste, wie ihm geschah, wurde er am Kragen gepackt. Erschrocken schnappte er nach Luft, doch es war zu spät, zurückzuweichen. "Hör zu, Frodo! Hör mir gut zu!" fauchte Marroc. "Nur weil du glaubst, jetzt unter Saradocs Schutz zu stehen, heißt das noch lange nicht, dass du frech werden kannst."
Merry und Pippin sprangen sogleich auf, doch es bestand kein Grund einzugreifen, denn Marroc ließ bereits von Frodo ab, als eine feste Stimme zu sprechen begann. "Als frech würde ich eher dein Verhalten bezeichnen, Marroc. Frodo hat vollkommen Recht. Wenn du nicht hilfst, solltest du auch nicht im Weg herum stehen. Ich denke, es wäre nur gerecht, wenn du das restliche Geschirr wegräumst, damit die drei jungen Hobbits anderen Beschäftigungen nachgehen können."
Frodo atmete erleichtert auf, als er Bilbos Stimme erkannte und ein Lächeln stahl sich über seine Lippen. Sein Onkel trat ruhigen Schrittes in den Raum, zwinkerte ihm zu. Frodo zögerte nicht lange, trat vorsichtig von den Scherben weg und eilte zu seinem Onkel. Er konnte spüren, wie Marrocs Blick ihm folgte, doch setzte dieser sich sofort missmutig in Bewegung, als Bilbo ihm mit einem Kopfnicken bedeutete, an die Arbeit zu gehen. "Du kommst genau im richtigen Augenblick", meinte Frodo, gerade so laut, dass sein Peiniger ihn nicht hören konnte. So schnell hatte sich seine Freude über seinen Mut, Marroc die Meinung zu sagen, in Schrecken verwandelt, dass in seiner Stimme selbst jetzt noch ein ängstlicher Unterton mitklang. "Es scheint so", antwortete Bilbo, beobachtete Marroc noch einen Augenblick länger und legte dann einen Arm um Frodos Schultern. Saradoc hatte ihm von den Schwierigkeiten, die es gegeben hatte, berichtet, auch wenn Frodo in seinen Briefen nie ein Wort darüber verloren hatte, und er fragte sich nun, ob jene Angelegenheiten wirklich bereits geklärt waren, denn was er eben gesehen hatte, hatte nicht den Anschein gemacht, als wäre der Frieden wieder hergestellt. "Wir sollten ihn besser alleine arbeiten lassen. Komm mit mir!" Frodo befolgte diese Anweisung mit Freuden und auch Merry und Pippin kamen ihr gerne nach, trotteten zufrieden hinter den beiden her.
"Was hältst du von einem Picknick?", fragte Bilbo plötzlich, noch ehe sie sich weit vom Esszimmer entfernt hatten. Frodo horchte auf. Ein Lächeln stahl sich über seine Lippen, seine Augen glänzten, als er erfreut zu seinem Onkel aufsah. Bei einem Picknick würde er endlich ganz mit Bilbo allein sein können. Es wäre wie in Beutelsend, ganz ohne das ständige Kommen und Gehen, das im Brandyschloss zur Tagesordnung gehörte. "Ein Picknick?", fragte Pippin aufgeregt und trat von hinten an die beiden heran, die Augen nicht weniger leuchtend, als Frodos. "Können wir mit?", schloss sich Merry an, blickte hoffnungsvoll zu Bilbo. Dieser sah fragend zu seinen Neffen und Frodo senkte nachdenklich den Kopf. Es hätte ihm sehr zugesagt, mit Bilbo allein zu sein, doch konnte er das vor seinen Vettern nicht sagen, denn es wäre ihnen gegenüber ungerecht gewesen. Fieberhaft dachte er darüber nach, was er stattdessen sagen könnte, doch je länger er darüber grübelte, umso klarer wurde ihm, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war, die beiden dabei zu haben. Bilbo konnte eine Geschichte erzählen, sodass er das nicht mehr würde übernehmen müssen. "Natürlich, wenn es Bilbo recht ist!" meinte Frodo schließlich und sah fragend zu seinem Onkel auf. Bilbo nickte, ließ Merry und Pippin dadurch vergnügt aufjubeln.
Als Frodo und Bilbo kurze Zeit später in einer der Küchen waren, um das Essen für das Picknick einzupacken, traten Esmeralda und Hanna an sie heran. Merimas, den Hanna auf dem Arm trug, begann sofort aufgeregte Laute von sich zu geben, als er Frodo erblickte. Frodo lächelte ihn an, entlockte dem jungen Hobbit dadurch ebenfalls ein erfreutes, zahnloses Lächeln, während Hanna und Esmeralda neugierig den Picknickkorb begutachteten. Bilbo erklärte den beiden von seinem Plan für den Nachmittag, wunderte sich jedoch, dass Esmeralda davon noch nichts wusste, bis ihm klar wurde, dass Merry womöglich seinen Vater um Erlaubnis gefragt hatte. Die beiden Damen schienen von dieser Idee ebenfalls sehr angetan und nach kurzem Überlegen, wurde beschlossen, dass die beiden sie begleiten sollten. Frodo gefiel das weniger, doch er sagte nichts. Für sein Schweigen bezahlte er teuer, denn bald darauf musste er jegliche Hoffnung auf einen gemütlichen Nachmittag im Freien mit Bilbo begraben, denn Merry und Pippin kehrten zurück, beide mit ihren Vätern an der Hand. Sie hatten Erlaubnis, mitzugehen, doch sowohl Saradoc, als auch Paladin, hätten die kleine Gruppe gerne begleitet. Als sich Marmadas ihnen, kurz vor ihrem Aufbruch, ebenfalls anschloss, konnte Frodo nur noch müde aufseufzen und den Kopf hängen lassen. Es lebten zu viele, viel zu viele Hobbits, im Brandyschloss und nicht einmal ein Picknick alleine mit Bilbo war im vergönnt.
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Lustlos stapfte Frodo neben Bilbo her, hielt den Blick die meiste Zeit gesenkt. Sie folgten dem Lauf des Brandyweins, auf einem Pfad, gerade breit genug, dass ein Ponywagen ihn hätte passieren können. Sie waren ein ganzes Stück gelaufen, bis ein kleines Waldstück, das den Weg im Osten säumte, den Blick auf die weiten Hügel Bocklands verwehrte. Auch zu ihrer Rechten, im Westen, wurde das Land immer hügeliger, sodass sich der Brandywein nicht selten ihren Blicken entzog. Es war ein angenehmer Frühlingsnachmittag. Die Sonne lachte vom Himmel und der Duft unzähliger Blüten erfüllte die Luft. Marmadas hatte sich ein Tragetuch umgebunden, in dem sein Sohn ruhte. Der kleine Hobbit war in den vergangenen Wochen um einiges gewachsen und Marmadas begann bereits das Gewicht zu spüren, als Merry plötzlich zum Halten aufrief, denn sie hatten den, laut ihm, besten Platz für ein Picknick erreicht. Marmadas war sehr froh darüber und legte seinen Sohn auf eine der beiden Picknickdecken, die Hanna und Esmeralda ausbreiteten. Der Kleine, zuvor dem Einschlafen nahe, war sofort wieder hellwach und begutachtete neugierig die neue Umgebung. Als Bilbo seinen Rucksack, in dem er zusätzlichen Proviant verstaut hatte, ins Gras legte, fiel sein Blick auf Frodo, der betrübt zum Wald hinüberblickte: "Ich dachte, du freust dich auf das Picknick? Dein Gesichtsausdruck lässt jedoch anderes vermuten." Frodo seufzte und sah zu ihm auf, rang sich ein wenig überzeugendes Lächeln ab. "Ich freue mich. Es ist nur,...", er wandte den Blick ab und seine Stimme wurde leise. "Es ist nichts." Bilbo runzelte die Stirn, ging in die Knie, um dem Jungen in die Augen sehen zu können. "Etwas bedrückt dich doch, mein Junge?" Frodo schüttelte den Kopf und das Lächeln, das er Bilbo nun zeigte, wirkte sehr viel fröhlicher, auch wenn es seine Augen noch immer nicht zu erreichen schien. Es genügte jedenfalls nicht, um Bilbo zu überzeugen, doch noch ehe dieser weiterfragen konnte, erschien Merry hinter Frodo und hielt ihm einen Stock an den Rücken. "Stell dich mir zum Kampf, Frodo Beutlin!" rief er mit strengem Ausdruck.
Das ließ sich Frodo nicht zweimal sagen. Er war froh, dem Gespräch entkommen zu können. Nicht, weil er nicht gerne mit Bilbo sprechen wollte - ganz im Gegenteil - doch nicht über solche Dinge. Er wollte nicht unzufrieden erscheinen. Sein Wunsch war selbstsüchtig. Was würden Bilbo und die anderen von ihm denken? Er würde sich nicht anmerken lassen, dass er lieber mit Bilbo alleine wäre. Er würde das Beste aus diesem Nachmittag machen.
Frodo sprang auf, holte sich dem ersten Stock, den er entdecken konnte und ging sofort zum Angriff über. Die Stöcke schlugen aufeinander, wirbelten einmal durch die Luft, um dann erneut kraftvoll aufeinander zu prallen. "Seid vorsichtig!" warnte Esmeralda, die sich auf der Picknickdecke niederließ und den imaginären Schwertkampf mit einigen Bedenken beobachtete. Lass sie doch", meinte Saradoc lächelnd und legte eine Hand um ihre Hüften, während er mit der anderen nach einem belegten Brot langte. "Sie passen schon auf sich auf." Esmeralda sah ihn stirnrunzelnd an: "Das haben wir ja gesehen, als sie auf der Schaukel waren." "Es sind Kinder", meinte Bilbo, der sich zu ihnen gesellte und ebenfalls nach einem der Brote griff. "Lass ihnen ihren Spaß." "Genau!" stimmte Pippin zu und nahm einen weiteren Bissen des Kuchens, obwohl sein Mund noch voll davon war. Kaum einer verstand, was er überhaupt gesagt hatte. "Peregrin, schluck bevor du sprichst!" tadelte Paladin. Pippin nickte und schob sich ein weiteres Bissen in den Mund, woraufhin Paladin nur den Kopf schütteln konnte. "Es war eine gute Idee herzukommen", meinte Hanna lächelnd und lehnte den Kopf an Marmadas' Schulter.
Merimas saß auf der Decke und betrachtete gierig die vielen Leckerei, die darauf ausgebreitet waren. Fröhlich brabbelnd krabbelte er auf einen Kuchen zu und griff danach. Esmeralda hob ihn gerade noch rechzeitig auf. "Das ist nichts für dich", meinte sie lächelnd, doch Merimas war anderer Ansicht. Strampelnd versuchte er, zum Kuchen zurückzukommen. "Kuchen!" Merry tauchte lachend hinter seinem Vater auf und griff nach eben jenem Stück, das Merimas unbedingt ergattern wollte. Mit großen Augen folgte das Kind Merrys Hand, die den Kuchen in zwei Hälften teilte und eine davon an Frodo weiterreichte. Er begann zu weinen, als er erkannte, dass nichts für ihn übrig bleiben würde. Frodo kniete sich vor dem Kind nieder und strich ihm über die Wange. "Eines Tages wirst du es sein, mit dem ich meinen Kuchen teile, Merimas, aber noch nicht heute", sagte er tröstend, ehe er, gefolgt von Merry und Pippin, wieder davon rannte. Merimas sah ihm mit großen Augen hinterher, die Unterlippe noch immer ein wenig zitternd, ehe er das Gesicht schließlich in Esmeraldas Bluse vergrub, unentschlossen, ob er dem Kuchen hinterher trauern sollte, oder nicht. Auch Bilbo sah Frodo verwundert nach. "Ich wusste gar nicht, dass er so gut mit Kindern umgehen kann", meinte er erstaunt. "Er kann nicht nur gut mit ihnen umgehen, er scheint auch gerne von ihnen umgeben zu sein", bemerkte Hanna und setzte Merimas auf ihren Schoß. "Er kommt oft zu mir, und fragt, ob er mir bei irgendetwas behilflich sein kann. Ich habe auch schon oft dabei zugesehen, wie er den jüngeren Hobbits Geschichten vorgelesen hat." Ihre Augen ruhten gedankenverloren auf Frodo, der mit seinen Vettern im Gras saß, offensichtlich eine interessante Entdeckung begutachtend. "So schön das auch ist, manchmal denke ich, dass er sich die Zeit lieber anders vertreiben sollte." Bilbo sah Hanna verwundert an, folgte dann ihrem Blick, wobei er die Augen gegen die Sonne abschirmte. Scheinbar gab es einiges, wovon Frodo ihm nichts mitgeteilt hatte und er war nicht zu früh gekommen, um mehr über diese Dinge zu erfahren. Saradoc seufzte. "Du hast nicht ganz Unrecht. Trotzdem ist es besser, er verbringt seine Zeit mit den Kinder, als dass er alleine irgendwo herum sitzt." "Er sitzt alleine herum?", fragte Bilbo, wandte sich nun dem Herrn von Bockland zu. Die Unterhaltung wurde immer interessanter. Saradoc nickte. "Manchmal kann ihn nicht einmal Merry aus seinem Zimmer, oder wo er sich sonst gerade befindet, locken. Ich mache mir Sorgen um ihn." Sein Blick, zuvor auf den Kindern ruhend, wandte sich nun Bilbo zu. "Ich habe dir geschrieben, wie verschlossen er ist, Bilbo. Mit mir will er nicht darüber sprechen, genauso wenig mit Esmeralda. Merry hat mir zwar gesagt, dass er manchmal mit ihm über Dinge spricht, die ihn bedrücken, aber auch er will sie mir nicht mitteilen, da er Frodo versprochen hat, mit niemandem darüber zu sprechen." Bilbo nickte. Seine Sorgen waren nicht unberechtigt gewesen. Er wollte mehr erfahren und sprach noch einige Zeit mit Saradoc, über die Veränderungen Frodos, seit Drogos und Primulas Tod. Vieles von dem, was er hörte, ließ ihn stutzen, hatte Frodo sich in Beutelsend doch meist anders verhalten, als Saradoc nun berichtete und er entschloss, mit Frodo selbst zu sprechen, in der Hoffnung, der Junge würde ihm mehr erzählen, als jenen, in deren Obhut er sich befand.
Bald wandten sich die Hobbits jedoch wieder fröhlicheren Themen zu. Eine sanfte Brise zog über die Hügel, brachte die Gräser zum Tanzen. Einige Ameisen krabbelten über die Decke, wurden jedoch von den ausgebreiteten Leckereien ferngehalten. Bilbo ließ sich die Sonne aufs Gesicht scheinen und sah erst auf, als Merry und Pippin zurückkehrten und sich hungrig auf die Brote und die letzten Kuchenstücke stürzten. "Wo ist Frodo?", fragte er nicht unbesorgt. Merry deutete nach Südwesten und nuschelte etwas wie "Dort drüben!" bevor er sich den Rest seines Brotes in den Mund stopfte.
Bilbo stand sofort auf, blickte sich um. Er konnte Frodo auf dem Hügel nicht erkennen, vermutete jedoch, dass sich der Junge auf der anderen Seite des Hanges befand und entschied sich, zu ihm zu gehen. Der Wind wehte sanft durch seine Haare, als er die Anhöhe hinaufging und genau, wie er es vermutet hatte, fand er Frodo dort im Gras sitzend vor, genau soweit weg, dass man ihn vom Lagerplatz aus nicht erkennen konnte. Der Junge schien tief in Gedanken, hatte die Arme um die Knie geschlungen und blickte in das Bett des Flusses unter ihnen, dem sie hier sehr viel näher waren, als an ihrem Picknickplatz. Bilbo trat an ihn heran, legte ihm eine Hand auf die Schulter, was den Jungen überrascht zusammenzucken ließ. Erschrocken blicke er auf, doch als er ihn erkannte, wandte er den Blick wieder dem Fluss zu, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Bilbo ließ sich neben Frodo ins Gras fallen und wartete ab, in der Hoffnung, Frodo würde ihm erklären, weshalb er so alleine hier war. Doch der Junge schwieg und so zog Bilbo nach einiger Zeit seine Pfeife aus der Brusttasche seiner Weste und begann, sie zu stopfen. Frodo sah ihn kurz an, schien einen Moment zu lächeln, doch dann starrten seine Augen wieder in die Ferne. Ein Ausdruck lag in ihnen, der den Jungen älter erscheinen ließ, als er es war. Bilbo musterte die feinen, kindlichen Züge seines Neffen eingehend und erschrak fast, als dieser plötzlich zu sprechen begann. "Warum bist du hier, Bilbo?" Verwundert blickte Bilbo in die traurigen Augen des Jungen. "Deinetwegen, Frodo." "Meinetwegen", murmelte Frodo kaum hörbar und Bilbo runzelte die Stirn, als das Kind betrübt zum Fluss hinunter blickte. Der Wind spielte mit seinem Haar, ließ die dunklen Locken beinahe liebkosend über dessen Wangen streichen.
Frodos Augen folgten blind der ruhigen, braunen Strömung des Flusses. Für gewöhnlich kam keiner seinetwegen. Für gewöhnlich stießen sie zufällig auf ihn. War es Zufall, oder kam Bilbo tatsächlich seinetwegen hierher? Jetzt war er mit ihm alleine, er könnte ihn also fragen, ohne die neugierigen Ohren anderer fürchten zu müssen. Und doch tat er es nicht. Warum nicht? Fürchtete er die Antwort? Frodo ließ das Kinn auf seine Knie sinken. "Warum bist du hier?", fragte Bilbo, entzündete ein Streichholz und paffte an seiner Pfeife, um das Kraut Feuer fangen zu lassen. Frodo sah nicht auf, zuckte mit den Schultern. Eigentlich wollte er alleine sein. Zumindest hatte er das geglaubt. Doch jetzt da Bilbo hier war, war er in gewisser Weise erleichtert. Weshalb? Er konnte es sich nicht erklären. Vielleicht, weil er sich dann weniger Gedanken um den Fluss, nur wenige Schritte entfernt, machte? Machte er sich überhaupt Gedanken um den Fluss? Wenn er ehrlich war, nicht. Seine Gedanken hingen viel mehr bei der kleinen Gruppe Hobbits, deren Gelächter gelegentlich an sein Ohr drang. Er mochte sie, war gerne mit ihnen zusammen, doch in Momenten wie diesen, wünschte er sich nichts mehr, als weit weg von ihnen zu sein. Sie saßen gemeinsam auf den Decken. Sie gehörten zusammen. Er gehörte nicht dazu. Doch was war mit Bilbo? Für einen Augenblick schloss Frodo gequält die Augen. Merry hatte Recht, er dachte zuviel nach.
"Weißt du, wann ich das letzte Mal hier war?", fragte er dann und sah in Bilbos verwunderte Augen. Der alte Hobbit zuckte mit den Schultern. "Es ist lange her, und doch scheint es mir, als wäre es erst gestern gewesen. Wenige Tage bevor...", Frodo wandte den Blick ab, stockte. "Ich war mit meinem Papa hier." Wieder blickte er zum Fluss, spürte einen unbestimmten Schmerz in seiner Brust. Bilbo legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter. "Es tut mir Leid, mein Junge." "Es muss dir nicht Leid tun", erwiderte Frodo rasch und schüttelte den Kopf. Doch dann wurde seine Stimme leise und sein Blick wich Bilbos erneut aus. "Es war eine schöne Zeit." Er griff nach dem Stock, den er zuvor als Schwert benutzt hatte, drehte ihn in seinen Händen und strich mit den Fingern über die raue Rinde. "Das wäre es auch jetzt noch", fügte er seufzend hinzu. Plötzlich stand er auf und warf den Stock mit all seiner Kraft in den Fluss. Platschend landete er im Wasser, trieb stromabwärts. Frodos Blick folgte ihm bekümmert und Bilbo glaubte, ungeweinte Tränen in den blauen, undurchdringlichen Augen zu sehen. "Warum geht er nicht unter?", fragte der Junge betrübt und seine Lider schlossen sich gequält. "Er wäre mir gleich."
Bilbo hatte das Kraut aus dem Kolben geleert und die Pfeife wieder weggesteckt. Dies war kein geeigneter Moment, um zu rauchen. Seine Augen hatten jede von Frodos Bewegungen verfolgt und er wusste nun, weshalb Saradoc in Bezug auf den Jungen ratlos war. Bilbo selbst, wusste nicht, was er sagen, was er tun sollte. Frodo deutete zwar an, was ihn bedrückte, sprach jedoch nicht direkt darüber und wenn Bilbo auf dieses Thema eingehen wollte, tat er es scheinbar gleichgültig ab. Nichtsdestotrotz wollte Bilbo noch einen Versuch wagen. "Frodo, es...", begann er, doch wurde er unterbrochen. "Du hast gemeint, ich würde mich nicht auf das Picknick freuen", sagte Frodo, die Stimme noch immer unergründlich, während er ihm geradewegs in die Augen blickte. Nun war sich Bilbo sicher, dass Frodos Grübeleien tiefer gingen, als dieser es zugeben wollte, denn der Glanz von eiligst weg geblinzelten Tränen lag in seinem Blick. "Ich habe mich darauf gefreut. Es war nur, dass ich geglaubt hatte, wir würden alleine gehen. Ich hatte geglaubt, wir könnten miteinander reden." "Wir können reden, Frodo, jederzeit", versicherte Bilbo, doch Frodo schüttelte den Kopf.
Was machte er hier eigentlich? Er schnitt ein Thema nach dem anderen an, ohne auch nur einen einzigen Gedanken zu Ende zu bringen. Es war, als würde sich seine Zunge selbständig machen. Doch nicht nur, was er sagte, verwirrte ihn, auch seine Gedanken schienen sich im Kreis zu drehen. Er wollte mit Bilbo reden, wollte ihm mehr erzählen, von dem, was er erlebt hatte, seit er wieder nach Bockland zurückgekehrt war, wollte mehr über Elben erfahren, wollte ihm von seiner Geschichte erzählen, die Pippin in der vergangenen Nacht nicht mehr ruhig schlafen gelassen hatte, doch er konnte nicht. Seine Gedanken waren wirr. Nicht einmal mehr er selbst verstand, worauf er, mit dem, was er sagte, hinaus wollte. Er konnte nicht mit Bilbo sprechen. Nicht jetzt.
"Ich weiß", antwortete Frodo schließlich. "Doch nicht jetzt. Ich verstehe es selbst nicht, aber jetzt kann ich mich nicht mit dir unterhalten. Es ist alles so durcheinander. Es tut mir Leid." Kaum hatte er zu Ende gesprochen, hatte er sich umgedreht und war davon gerannt. Bilbo saß wie versteinert, blickte Frodo ratlos hinterher. Er verstand nicht, was soeben geschehen war, was seinen Neffen plötzlich beinahe ängstlich hatte werden lassen. Was in allen Auen ging in diesem Jungen vor? Saradocs Sorgen waren durchaus berechtigt und Bilbo war entschlossen, den Grund für Frodos Verhalten in Erfahrung zu bringen, denn es beunruhigte ihn, mehr als ihm lieb war. Er musste dringend etwas tun.
Kapitel 27: Viele Gespräche
Was ist das nur gewesen? Ich wollte mit Bilbo alleine sein, doch dann haben sich die anderen uns angeschlossen. Und dann? Ich wollte alleine sein. Ich saß auf dem Hügel, auf dem ich vor so langer Zeit mit Papa saß. Wir waren ausgeritten, hatten dort oben gerastet. Wir haben auf dem Hügel gesessen und nach Westen geblickt, wo die Sonne blutrot unterging. Der Himmel hatte sich im Wasser des Flusses gespiegelt. Wind war aufgekommen und Papa hatte damit begonnen, seine Pfeife zu stopfen. Ich hatte an einem Grashalm gekaut, hatte ihm ähnlich sein wollen. Er hatte gelacht und gemeint, wenn ich alt genug wäre, würde er mir eine Pfeife geben, und wir würden gemeinsam auf dem Hügel sitzen, den Sonnenuntergang beobachten und rauchen. Dazu wird es nie kommen. Der Fluss hat uns diesen Wunsch zerstört. Ich wollte alleine sein. Es tat weh, sie zu sehen. Merry und Saradoc, Pippin und Paladin, Merimas und Hanna. Und ich? Ich hätte dort nicht dazugepasst. Bilbo auch nicht. Er war auch alleine. Kam er deshalb zu mir? Einmal kommt jemand und dann schenke ich ihm keine Beachtung. Ich habe ihn übergangen, habe weiterhin nachgedacht. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich ihm gesagt habe. Ich hätte mit ihm reden sollen und wenn ich ihn nur darum gebeten hätte, eine Geschichte zu erzählen. Das hätte mich abgelenkt. Aber jetzt? Er ist ratlos. Ich sah es in seinen Augen. Weshalb sollte er das auch nicht sein? Wie kann mich irgendjemand verstehen, wenn ich mich nicht einmal selbst verstehe? Bei Bilbo hatte ich geglaubt, dass er mich kennen würde, dass er erkennen würde, was in mir vorgeht. In Beutelsend hatte er das getan, zumindest glaube ich das. Irgendetwas muss er erkannt haben, denn dort war alles anders, als es nun hier ist. Und doch schien er heute verwirrt. Habe ich ihn verwirrt, oder war er das schon immer, und ich habe mich getäuscht?
"Weinst du?" Merry schielte über die Bettkante. "Nein", erwiderte Frodo rasch und wischte sich eine Träne aus den Augen. "Was ist los mit dir, Frodo?", fragte Merry besorgt und ließ sich zu Frodo hinunter sinken. Frodo antwortete nicht. Es war dunkel im Zimmer, nur ein schwacher Schein der Lampen im Gang drang durch die Spalte unter der Tür herein. "Mir kannst du es doch sagen, Frodo", sagte Merry sanft und strich ihm durch die Haare, wie seine Mutter das immer bei ihm tat, wenn ihn etwas bedrückte. "Hat es etwas mit dem Picknick zu tun? Ist etwas geschehen? Du warst schon den ganzen Heimweg über so schweigsam." Frodo rührte sich noch immer nicht. Mit geschlossenen Augen klammerte er sich an seiner Decke fest. Merry betrachtete ihn traurig, als er spürte, wie Frodos Schultern zitterten. Leise begann sein Vetter schließlich zu sprechen, hielt die Augen jedoch weiterhin geschlossen. "Merry, es war so... ich weiß nicht", stammelte Frodo und verfiel dann für einen langen Augenblick in Schweigen. Merry befürchtete schon, er würde nicht weiter sprechen, als er mit aufgeregter, trauriger Stimme fortfuhr. "Ich saß auf dem Hügel und dann kam Bilbo. Den ganzen Tag schon hatte ich mich darauf gefreut, mich mit ihm unterhalten zu können, wie wir es in Beutelsend getan hatten. Und als er dann kam...", Frodo schnappte verzweifelt nach Luft. Seine Schultern zitterten heftiger. "Ich habe ihm keine Beachtung geschenkt, Merry! Ich hing weiterhin meinen Gedanken nach. Er denkt jetzt bestimmt, dass ich mich nicht mit ihm unterhalten will, dabei ist genau das Gegenteil der Fall!" Ein Schluchzen entrann Frodos Lippen und er sah Merry aus einem Tränenschleier heraus an. "Dann sag ihm das doch", schlug Merry vor, doch Frodo schüttelte vehement den Kopf. "Und warum nicht? Sag ihm genau das, was du mir jetzt gesagt hast." "Das kann ich nicht", entgegnete Frodo und wandte den Blick ab. Merry legte ihm die Hände auf die Schultern und sah ihm geradewegs in die Augen. Manchmal fragte er sich, weshalb für seinen Vetter solch einfache Dinge, so schwer zu sein schienen. Traurig erkannte er, wie Frodos Augen feucht wurden und Merry wusste, dass sein Vetter die Frage kannte, die er unausgesprochen in den Raum gestellt hatte. Dennoch ließ sich Frodo mit einer Antwort lange Zeit und als er schließlich sprach, war seine Stimme kaum mehr, als ein Flüstern. "Ich habe Angst davor, Merry!" gestand er hilflos und wandte den Blick ab. "Angst? Weshalb?" Merry runzelte die Stirn. Frodo wünschte sich doch nichts mehr, als mit Bilbo zu sprechen, welchen Grund gab es dann noch, Angst zu haben? "Ich weiß es nicht", wisperte Frodo kopfschüttelnd, schloss erneut seine Augen und griff nach seiner Bettdecke. "Ich weiß nur, dass sie da ist."
Das war nur die halbe Wahrheit. Die Angst war da, doch ihr Ursprung war Frodo nicht ganz unbekannt. Es war weniger die Angst, mit den anderen zu sprechen, als vielmehr die Furcht vor ihrer Reaktion. Er war sich sicher, dass sie ihn nicht verstehen würden. Die Geschehnisse mit Marroc hatten ihm noch einmal verdeutlicht, wie wenig die Bewohner des Brandyschlosses von ihm wussten und wie wenig sie versuchten, ihn besser kennen zu lernen, ihn zu verstehen. Er hatte Angst vor dem, was andere von ihm dachten. Was würden sie in ihm sehen, wenn er zuviel preisgab? Er fürchtete das, was sie sehen könnten, wusste er es doch selbst nicht.
Merry legte die Arme um seinen Vetter. Manchmal verstand er Frodo nicht. Einerseits schien er sich nicht viel von ihm selbst zu unterscheiden. Er hatte genauso dumme Einfälle, und war auch für jeden noch so dummen Streich zu haben. Andererseits aber, war Frodo oft betrübt. Manchmal glaubte Merry, dass Frodo selbst nicht einmal wusste, weshalb. Er hatte ihm oft gesagt, dass er Angst hatte, doch wenn Merry nach dem Grund fragte, konnte Frodo nicht antworten. Wusste er es wirklich nicht, oder wollte er es ihm nur nicht sagen? Das wusste nur Frodo allein, doch Merry wollte ihn nicht zwingen, darüber zu sprechen. Es würde seinen Vetter nur noch verzweifelter werden lassen. Außerdem hoffte er, dass Frodo es ihm irgendwann von alleine sagen würde, schließlich vertrauten sie einander.
"Wenn ich dich nicht hätte, Merry", murmelte Frodo und trocknete seine Tränen. Merry grinste, als sich sein Vetter zu ihm umwandte, erleichtert, dass die Zeit der Sorge vorüber zu sein schien. "Dann wäre dir ganz schön langweilig!" Ein Lächeln huschte über Frodos Lippen, während Merry zufrieden zurück auf sein Bett kletterte. Er mochte es nicht, wenn sein Vetter betrübt war und auch wenn er froh war, dass Frodo ihm erzählte, was ihn bedrückte, wie das unter guten Freunden üblich war, stimmte es ihn doch sehr viel fröhlicher, seinen Vetter lächeln zu sehen. "Schlaf gut, Frodo!" "Gute Nacht, Merry!" flüsterte Frodo, als er es sich unter seiner Decke gemütlich machte. Er hatte noch immer Angst und das Herz war ihm schwer. Manchmal wünschte er sich, er könne die Dinge ebenso gelassen sehen, wie Merry, doch bei Themen wie diesen, gelang ihm das nie. So ähnlich er seinem Vetter beizeiten sein konnte, so verschieden waren sie doch. Mit einem leisen Seufzen drehte er sich zur Seite und schloss die Augen. "Frodo", murmelte Merry verschlafen, "Morgen wirst du mit Bilbo reden, und wenn ich dich persönlich zu ihm bringen muss." Frodo antwortete nicht auf jene Worte, die fast schon wie eine Drohung klangen, sondern zog sich die Decke über den Kopf.
~*~*~
Merry war am nächsten Tag immer darauf bedacht, zufällig auf Bilbo zu stoßen, was Frodo alles andere als erfreute. So oft er konnte, wich er seinem Onkel aus, doch Merry war fest entschlossen. Er schnappte sich Pippin und gemeinsam planten sie eine Verschwörung. Frodo sollte mit Bilbo sprechen, doch wenn er nicht zu Bilbo kommen wollte, dann musste dieser eben zu Frodo kommen. Die Hobbits wollten Verstecken spielen und dabei Frodo die Aufgabe des Suchens überlassen. Merry versteckte sich jedoch gar nicht erst, sondern ging auf die Suche nach Bilbo, während Pippin sich an einem abgesprochenen Ort verbergen sollte. Dorthin wollte Merry mit Bilbo kommen, sodass Frodo nicht Pippin, sondern seinen Onkel finden würde.
Frodo blickte nach allen Seiten. Er war nun schon mehrere Male von den Ställen, bis zu den Gärten gewandert, hatte hinter den Holzscheiten nachgesehen und war sogar um den Hügel herumgegangen, auf dem die große Eiche stand, doch von Merry und Pippin fehlte jede Spur. Die Schatten einiger Wolken zogen über die Wiesen und Gärten des Brandyschlosses, als Frodo schließlich die Lust verging. Gelangweilt und ein wenig verärgert tat er kund, dass er verloren hatte und Merry und Pippin aus ihren Verstecken kommen sollten. Doch keiner kam. Seufzend ließ er sich hinter einem Holzstapel zu Boden sinken, nicht ohne einen letzten Blick zur großen Eiche hinauf zu werfen, aber auch bei der Schaukel war keiner zu sehen. Offensichtlich hatten auch die anderen Kinder an diesem Nachmittag anderes zu tun, als in der Nähe des Brandyschlosses zu spielen und Frodo fragte sich, ob Merry und Pippin vielleicht mit ihnen gegangen waren, ohne an ihn zu denken. "Mir scheint, die kleine Verschwörung deiner Freunde ist aufgegangen." Frodo zuckte erschrocken zusammen, wandte sich überrascht um. "Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken", sagte Bilbo mit ruhiger Stimme. Er stand auf der anderen Seite der aufgestapelten Holzscheite. Die Sonne schimmerte in seinen grauen Locken, bis der Schatten eines weiteren Holzstapels sie verdeckte, als der ältere Hobbit zu ihm herüber trat. "Was machst du hier?", fragte Frodo verwundert, die Stimme ein wenig reserviert, auch wenn er zu seiner Überraschung feststellen musste, dass er sitzen blieb und nicht etwa aufstand und davonging, wie er es den Rest das Tages gemacht hatte, wann immer er Bilbo zu nahe gekommen war. Bilbo lächelte betrübt. "Hat das Ganze nicht so angefangen?" Frodo wandte verlegen den Blick ab, nickte schwach. "Dieses Mal wurde ich allerdings von zwei Hobbits zu dir geführt. Ohne ihre Hilfe, würde ich dir heute wohl nicht gegenüber stehen, da du mir ständig ausgewichen bist", fügte Bilbo etwas betrübt hinzu. "Merry und Pippin", war Frodos knappe Antwort. Die Aussage, dass er ihm auswich, ließ er bewusst außer Acht. Bilbo wusste, dass er das getan hatte, ebenso wie er selbst sich darüber im Klaren war. Es bedurfte keiner weiteren Worte. Bilbo nickte. "Da wir schon einmal hier sind, wollen wir nicht das tun, was du eigentlich schon gestern machen wolltest?" "Reden." Frodos Antwort war mehr eine Feststellung als eine Frage, doch hob er dabei den Kopf nicht. Seine Finger ballten sich zu Fäusten, entspannten sich dann wieder. "Ich denke, das sollten wir, oder Merry wird mir in den nächsten Tagen keine Ruhe lassen", sagte er schließlich und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Bilbo zu. "Sehr gut!" meinte dieser lächelnd und ließ sich neben Frodo ins Gras sinken. "Ich denke, ich werde anfangen."
Frodo nickte. Er war froh, dass Bilbo anfangen würde, so hatte er genug Zeit darüber nachzudenken, was er überhaupt sagen wollte. Immerhin wusste er selbst nicht so recht, was am vergangenen Nachmittag geschehen war und er wollte Bilbo deswegen keine Sorgen bereiten, wollte jenes Vertrauen, das sie in Beutelsend geteilt hatten, nicht wieder verlieren. Seine Gedanken brachen plötzlich ab, ließen ihn beinahe erschrecken. Er würde nicht nachdenken. Heute würde er Bilbo zuhören. Wer wusste, wohin es führte, wenn er heute wieder nur seinen Gedanken nachhing und Bilbo nicht beachtete?
"Ich muss zugeben, du hast mich gestern ganz schön verwirrt", begann Bilbo. "Ich hatte das Gefühl, du wolltest reden und doch bist du meinen Fragen ausgewichen oder hast mich gar nicht erst ausreden lassen." Bilbo sah den Jungen ernst an, doch dieser verzog keine Mine, beinahe so, als wisse er bereits, was er ihm sagen wollte, doch Bilbo war überzeugt, dass dem nicht so war. "Du sagtest selbst, dass du durcheinander wärest. Was war los, Frodo? Warum warst du alleine dort oben?" Frodo antwortet nicht, ließ seine Hand über die Grashalme streichen, doch Bilbo glaubte zu erkennen, dass er unruhig wurde. "Ich glaube, dass es etwas mit deinen Eltern zu tun hat. Du hast nie mit jemandem darüber gesprochen, nicht wahr?"
Frodo verharrte in seiner Bewegung, sah seinen Onkel mit großen Augen an. Er hatte sich also nicht geirrt. Bilbo sah mehr, als alle anderen. Wie aus weiter Ferne erinnerte er sich plötzlich an die Worte Fastreds, die dieser vor langer Zeit gesprochen hatte. "Lass mich dir sagen, dass es besser ist, wenn du dich jemandem anvertraust, Frodo." Fastred hatte es damals schon gesagt und er hatte es nicht getan. Bis heute hatte er mit niemandem ein Wort darüber gewechselt, obschon er sich daran erinnern konnte, dass er es manchmal in Betracht gezogen hatte. Niemals hier im Brandyschloss, doch in Beutelsend, bei Bilbo. Jetzt war Bilbo hier, bot ihm in gewisser Weise sogar an, mit ihm darüber zu sprechen und doch...
"Ich kann nicht." Frodo wandte den Blick ab, ballte die Hände zu Fäusten. "Ich habe nie mit jemandem gesprochen, weil ich es nicht kann. Ich wüsste nicht, wie ich es erklären soll. Es ist so kompliziert. Ich verstehe es nicht. Ich will es auch niemandem sagen. Es ist meine Sache und ich weiß, wie ich damit umgehen muss." Bilbos Stimme klang sanft, als er ihm antwortet: "Ich glaube nicht, dass du das weißt. Du hast gesagt, du wärest durcheinander. Ich glaube nicht, dass du so verwirrt gewesen wärest, wenn du wüsstest, wie du damit umgehen sollst."
Wieder blickte Frodo ihn mit großen Augen an. Er erinnerte sich an das, was man über Fastred sagte. Er sehe mehr als manch ein anderer und könne in den Herzen anderer lesen. Traf das auch auf Bilbo zu? Bilbo wusste, dass er ihn belogen hatte. Er hatte keine Ahnung, wie er mit den Gefühlen, mit den Ängsten umgehen sollte, die manchmal über ihn hereinbrachen. Er verkroch sich meist, ließ niemanden an sich heran. Selbst Merry schickte er dann weg. Aber darüber sprechen? Es ging nicht. Es war zu schwierig. In gewisser Weise hatte er nicht nur Angst, vor dem, was die anderen dann in ihm sehen könnten, sondern auch, vor dem, was er sagte, würde er erst einmal zu sprechen beginnen. Kannte er all seine Ängste?
"Vielleicht hast du Recht", gestand Frodo schließlich. Er zog die Knie hoch. Seine Augen starrten ins Leere und Tränen sammelten sich darin, als er weiter sprach. "Es tut mir Leid, dass ich dich gestern nicht beachtet habe. Ich sprach mit niemandem über ...", er stockte, "das, was geschehen ist und vielleicht war ich deshalb so ... abwesend." Seine Atmung war beschleunigt, zitterte. "Es war nicht deinetwegen", beeilte er sich hinzuzufügen, "Ich wollte mich mit dir unterhalten, mehr als alles andere, aber es ging nicht. So viele andere Gedanken kreisten in meinem Kopf. Vielleicht kann ich eines Tages über diese Gedanken und alles andere sprechen, aber jetzt", er schüttelte den Kopf, "jetzt kann ich das nicht."
Fast flehend blickte Frodo zu Bilbo auf, hoffte, er würde ihn verstehen und ihm nicht böse sein. Einen langen Augenblick sah ihn sein Onkel nur an und, so sehr Frodo sich auch bemühte, er konnte nicht erkennen, was der alte Hobbit dachte. Eingeschüchtert wollte er schon den Blick abwenden, befürchtend, sich in ihm geirrt zu haben, als Bilbo plötzlich einen Arm um ihn legte und ihn fest an sich drückte. "Ich vermute, das ist schon mehr, als du manch anderem gesagt hast, nicht wahr?", sagte dieser sanft. Frodo nickte, hielt sich erleichtert an seinem Onkel fest und kämpfte gegen Tränen an, die zu fallen drohten. Sein Onkel verstand ihn, er hatte sich nicht getäuscht.
Bilbo atmete erleichtert auf. Was er am vergangenen Tag erfahren hatte, hatte ihn die ganze Nacht wach gehalten. Er hatte Frodos Angst, Frodos Unsicherheit spüren können und Stunden darüber nachgedacht. Viele Dinge hatte er sich zusammenreimen können, doch ohne jegliche Sicherheit. Jetzt hatte er Gewissheit. Auch wenn er immer noch nicht wusste, was genau die Sorgen seines Jungen waren, wusste er doch, wo ihr Ursprung lag. Frodo vertraute ihm und eines Tages würde er alles darüber erfahren. Er musste nur die Geduld haben, so lange zu warten. Dennoch hoffte er, Frodo würde sprechen, ehe seine Angst ihn aufgezehrt hatte.
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Abends hatte Frodo noch eine lange Unterhaltung mit Merry in der es darum ging, wie gemein es war, einfach zu gehen, wenn man Verstecken spielte, während noch immer jemand mit Suchen beschäftigt war. Alles, was Merry zu seiner Verteidigung zu sagen hatte, war, dass es für einen guten Zweck gewesen war. "Und schließlich hat es ausgezeichnet funktioniert", hatte er nicht ohne Stolz hinzugefügt. Frodo hatte darauf keine Antwort mehr gewusst, sondern hatte ihm lachend den ganzen Verlauf des Gesprächs, welches bis in die frühen Abendstunden angedauert hatte, geschildert. Bilbo und er hatten über vieles geredet, nachdem sie Ordnung in die verwirrende Unterhaltung des vergangenen Tages gebracht hatten und zu guter Letzt hatte Bilbo ihm eine Geschichte erzählt. Ein Abenteuer, das Frodo gar nicht oft genug hören konnte, denn Bilbo selbst spielte darin die Hauptrolle.
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Die Tage flogen nur so dahin. Frodo, Merry und Pippin machten eine Dummheit nach der anderen und trieben Saradoc und Paladin damit beinahe zur Verzweiflung. Frodo verbrachte die Zeit allerdings nicht nur mit seinen Vettern, sondern saß auch oft mit Bilbo zusammen, der ihm viele Geschichten erzählte. Manchmal gingen sie auch spazieren und Frodo nutzte diese Gelegenheiten, um seinen Onkel an jeden seiner Lieblingsplätze zu führen.
Doch bald kam der Tag des Abschieds. Pippin und Paladin sollten wieder nach Hause zurückkehren, doch sie gingen nicht alleine, denn Merry hatte Erlaubnis, sie zu begleiten. Mehrere Monate sollte er weg sein. Frodo war betrübt darüber, denn so hatte er niemanden mehr, mit dem er sich die Zeit vertreiben konnte, doch dass Bilbo dafür noch länger hier bleiben sollte, linderte den Abschiedsschmerz. Nichtsdestotrotz lagen sich die Hobbits lange in den Armen, ehe sie sich endgültig trennten.
Kapitel 28: Lass mich nicht allein
Verwundert und voller Staunen blickte Frodo auf die Seiten des Buches, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag und dann wieder auf die Schriftrolle in seiner Hand. Voller Konzentration folgte er den dünnen eingezeichneten Linien. Erneut verglich er die Zeichnungen der Rolle mit denen im Buch. Wie sollte er Ordnung in all diese Namen bringen? Seufzend legte er den Stammbaum der Brandybocks zur Seite. Hier gab es keine Verbindungen. Oder doch? Noch einmal studierte er die Schriftrolle, in der der Stammbaum der Beutlins aufgezeichnet war. Sein eigener Name stand an einem und Bilbos am anderen Ende. Bilbo war also gewiss nicht sein Onkel. Aber was war er dann? Angestrengt blickte er auf die vielen Namen. Bilbo war der Enkel des Bruders seines Urgroßvaters. Soweit war er bisher gekommen. Die Stammbäume waren komplizierter als er gedacht hatte. Gab es für ein Verwandtschaftsverhältnis, wie es zwischen ihm und Bilbo bestand, überhaupt einen Namen? Frodo war der Ansicht, dass das viel zu kompliziert wäre. Belladonna Tuk; Bilbos Mutter war eine Tuk? Seine Großmutter war auch eine Tuk. Ob hier eine weitere Verbindung bestand? Schnell tauschte er die Rolle mit dem Stammbaum der Beutlins gegen die, mit dem der Tuks. Es dauerte nicht lange, da hatte er den Namen seiner Großmutter entdeckt. Belladonna war ihre Schwester gewesen. Bilbo war also sein Vetter dritten Grades. So kompliziert die Stammbäume auch sein mochten, waren sie doch sehr interessant. Sein Blick fiel auf Merrys Namen. Merry und Pippin waren sehr nahe miteinander verwandt, doch sein Name stand ganz woanders, als der von Pip. Und wie sah es mit ihm und Merry aus? Waren sie auch nicht so nahe miteinander verwandt, wie er bisher geglaubt hatte? Wieder griff er nach dem Buch.
Ein Feuer knisterte, verbreitete den wohlriechenden Duft von Pinienholz. Hier und da saßen einige Bewohner des Brandyschlosses unter dem Licht des Leuchters und einiger Wandlampen zusammen, unterhielten sich, rauchten Pfeife und tranken Tee. Frodo nahm das alles kaum wahr, bis er schließlich mit einem ratlosen Seufzen den Kopf in die Hände stützte. "Kommst du zurecht?", fragte Bilbo, der Pfeife rauchend neben ihm auf dem Sofa saß. Frodo streckte sich müde, nickte jedoch. "Es ist nur so, dass alles viel komplizierter ist, als ich bisher gedacht habe", erklärte er und deutete auf die Stammbäume. "Merry ist mein Vetter zweiten Grades, während Saradoc eigentlich mein Vetter ist. Du hingegen bist weit davon entfernt, mein Onkel zu sein und...", er holte tief Luft und seufzte erneut, ehe er die Stammbäume kopfschüttelnd beiseite legte. "Für mich wird sich trotzdem nichts ändern", meinte er schließlich grinsend. Bilbo zerzauste ihm lachend das Haar, als Merimas' hellbrauner Krauskopf neben der Tischkante auftauchte. Der Kleine war zu ihnen herübergekrabbelt und stand nun auf wackeligen Beinen. Er hielt sich an Frodos Knie fest, die dunklen Augen groß und leuchtend und gab sich alle Mühe, Frodos letztes Wort zu wiederholen, hatte allerdings wenig Erfolg dabei. "Und wir beide sind auch verwandt!" sagte Frodo, an den Kleinen gerichtet, und hob das Kind hoch. Merimas griff neugierig nach den Schriftrollen, die neben Frodo lagen, doch dieser nahm sie ihm sofort wieder aus der Hand. Dabei bemerkte er das nasse Hemd des jungen Hobbits und als er ihn näher betrachtete, sah er, dass Speichel unaufhörlich aus dem Mund des Kleinen tropfte. Frodo runzelte die Stirn und sah sich nach einem Tuch um, konnte jedoch keines entdecken. Merimas schien die Feuchtigkeit nichts auszumachen. Fröhlich brabbelnd griff er schließlich nach Frodos Hosenträgern, ein Ersatz für die verwehrten Schriftrollen, und zog daran. Jubelnd beobachtete er wie diese an ihren Platz zurückspickten, als er sie losließ und langte erfreut noch einmal danach, um das Vergnügen zu wiederholen. Frodo, der die Beschäftigung des kleinen Hobbits als wenig angenehm empfand, ermahnte diesen streng, doch stieß er auf taube Ohren. Daraufhin griff er nach den Händen des kleinen Hobbits und hielt sie entschlossen fest, was Merimas gar nicht gefiel. Er protestierte lauthals, bis Frodo ihn schließlich mit einem Seufzen auf den Boden setzte.
Frodo bemerkte nicht, dass Nelke, ein Mädchen, das nur wenige Monate älter war, als er selbst, ihn von der Türe aus beobachtete. Sie hatte die braunen Locken mit einer Spange im Nacken zusammengenommen, spielte jedoch mit einer entkommenen Haarsträhne. Lächelnd kam sie schließlich auf Frodo zugerannt, als dieser Merimas zu Boden setzte. "Kommst du mit nach draußen?", fragte sie fröhlich. Frodo blickte überrascht auf, sah das Mädchen verwirrt an. Hatte er sich auch wirklich nicht verhört? Nelke wollte, dass er mit nach draußen kam? Er war doch sonst so gut wie nie mit ihr oder ihrem fünf Jahre älteren Bruder Reginard zusammen. "Reginard, Marroc und einige andere sind auch da", ließ sie ihn wissen. "Marroc?"; Frodo zog eine Augenbraue hoch. War das wirklich ihr ernst? Gab es immer noch welche, die nicht wussten, dass er auf Marroc alles andere als gut zu sprechen war? Nelke nickte, noch immer lächelnd, sah ihn fragend an, doch Frodo schüttelte den Kopf. "Ich bleibe hier." Ein wenig betrübt ließ sie von ihrer Locke, die sie sich noch immer um den linken Zeigefinger zwirbelte, ab und murmelte ein leises "Schade", bevor sie nach draußen ging.
Frodo sah ihr stirnrunzelnd hinterher. Er hatte früher oft mit Nelke und den anderen gespielt. Manchmal hatte ihnen auch Reginard Gesellschaft geleistet, doch diesen hatte Frodo nie wirklich leiden können, denn er war seinem Vetter Marroc sehr ähnlich. Seit dem Dahinscheiden seiner Eltern jedoch, hatte er seine Zeit selten mit ihr verbracht, nicht zuletzt, weil sich auch viele der anderen Kinder von ihm abgewandt hatten und er meist nur noch mit Merry zusammen war. Es verwunderte ihn sehr, dass sie ausgerechnet jetzt zu ihm kam und ihn bat, ihr Gesellschaft zu leisten. "Warum gehst du nicht mit ihr?", fragte Bilbo und musterte ihn fragend. Die Worte rissen Frodo aus den Gedanken. "Marroc ist bei ihnen und da ich ihm nicht begegnen will, ist es besser für mich, wenn ich hier bleibe. Außerdem verbringe ich auch sonst kaum Zeit mit Nelke und den anderen. Weshalb sollte ich das heute tun?", antwortete er trocken. Bilbo zuckte mit den Schultern. "Wenn sie sich die Mühe macht, dich zu fragen, wird es doch bestimmt einen Grund geben."
Frodo fragte sich, welcher Grund das wohl sein mochte. Er könnte jetzt hinausgehen und es herausfinden, doch so neugierig er auch war, die Tatsache, dass Marroc auch dort draußen war, ließ ihn diesen Gedanken vergessen. Stattdessen machte er sich daran, die Schriftrollen wegzuräumen und ging schließlich auf sein Zimmer. Nachdem Pippin, Paladin und Merry gegangen waren, war Bilbo in das Gästezimmer umgezogen und so konnte Frodo wieder in sein eigenes zurückkehren. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und begann damit, in einem Buch zu blättern, das er zuvor aus der Bibliothek des Brandyschlosses hatte mitgehen lassen. Die Stammbäume hatten sein Interesse an der Vergangenheit der Hobbits geweckt und dieses Buch kam ihm wie gerufen. Es handelte von der Geschichte der Brandybocks und den ersten Jahren des Auenlandes. Frodo konnte sich kaum vorstellen, dass die Hobbits jemals woanders gelebt haben sollten. Wo genau wurde leider auch im Buch nicht erwähnt. Alles, was gesagt wurde war, dass die Hobbits zuvor fern im Osten lebten. Frodo fragte sich, was wohl außerhalb des Auenlandes war, fern im Osten und musste dabei an Bilbo denken. Er war wohl der Einzige, der ihm diese Frage beantworten konnte. Er wollte gerade aufspringen, um nach seinem Onkel zu suchen, als es an der Tür klopfte und eben jener zaghaft ins Zimmer spähte. "Ich dachte mir, wenn du schon nicht zu den anderen Kindern willst, willst du vielleicht mit mir nach draußen gehen", erklärte er lächelnd. "Was hältst du von einem Spaziergang?" Frodo nickte erfreut. Bei einem Spaziergang ließ sich noch viel besser über die Dinge außerhalb des Auenlandes unterhalten, als hier im Brandyschloss.
Sie entschieden sich dazu, auf einen nicht allzu fernen Hügel südöstlich des Brandyschlosses zu klettern. Frodo war immer der Ansicht gewesen, dass es sich bei diesem Hügel um einen Berg handelte, denn er war höher als gewöhnliche Hügel und ab und an ragten Felsen an seinen Hängen empor. Bilbo jedoch, beriet ihn eines Besseren. Sie folgten dem schmalen Pfad, der sich seinen Weg durch die Felsen bahnte. Zu beiden Seiten ragten Bäume in die Höhe und Frodo hatte das Gefühl, als würde er sich in einem tiefen Wald befinden. Er hielt sich dicht hinter Bilbo, doch als der Weg etwas breiter wurde, eilte er voraus. Stumm und voller Erfurcht lauschte er dem Rascheln der Blätter und blickte in die glitzernden Kronen der Bäume. Bilbo beobachtete ihn lächelnd und erzählte ihm von seiner Reise und den Bergen, die er gesehen hatte, während sie stetig nach oben stiegen. "Um vieles höher als dieser Hügel und wesentlich felsiger", hatte er gesagt. Der alte Hobbit wusste noch vieles mehr zu berichten und Frodo wäre am liebsten sofort zu einer Reise in ferne Länder aufgebrochen. Bilbo meinte jedoch, er solle zuerst erfahren, was es im Auenland alles zu sehen gab, bevor er sich in andere Länder aufmachte. "Bist du denn schon überall im Auenland gewesen?", wollte Frodo wissen. Bilbo lächelte. "Ich würde nicht sagen überall, doch ich kenne manch einen verschlungenen Pfad in den vier Vierteln, der kaum benutzt wird." "Sieht man dort auch Elben?", fragte Frodo und seine Augen leuchteten. Bilbo wuschelte ihm durch die Haare. "Elben trifft man meist dann, wenn man es am wenigsten erwartet, Frodo." "Auch hier oben?" Frodos Augen suchten aufgeregt die Umgebung ab, als sie schließlich aus dem waldigen Weg heraus ins Freie traten. Sie hatten den höchsten Punkt erreicht und das Gras, das ihre Füße nun umgab, reichte Frodo fast bist zu den Knien. Das Sonnenlicht, zuvor von einem dichten Blätterdach verdeckt, zeigte hier oben seine ganze Wirkung und es war angenehm warm, auch wenn es den beiden Abenteurern im ersten Augenblick beinahe zu heiß erschien.
Bilbo grinste in sich hinein, während auch er seinen Blick über die Umgebung wandern ließ. Er hielt die Wahrscheinlichkeit hier oben Elben zu sichten für sehr gering, doch wenn er das Leuchten in den Augen seines Neffen sah, wollte er ihm diese Hoffnung keinesfalls nehmen. Er zuckte mit den Schultern: "Wer weiß?" Frodo sah ihn staunend an. Das Funkeln in seinen Augen schien noch heller zu leuchten, als zuvor. "Aber was könnten sie hier oben wollen?", fragte er schließlich. "Wie wäre es mit Vier-Uhr-Tee?", fragte Bilbo zwinkernd. Frodo grinste und griff nach seinem Rucksack. Er ließ sich neben seinem Onkel ins Gras fallen, fischte sich einen Apfel aus der Tasche und kaute nachdenklich daran, während seine Augen weiterhin über die Gräser wanderten. Ihm war warm und Schweiß klebte an seinem Nacken, doch genoss er das Sonnenlicht. "Es gibt hier oben keine Elben, habe ich Recht?", sagte er nach einer langen Stille. Bilbo lächelte. "Dir kann man wohl nichts vormachen." Frodo erwiderte das Lächeln, doch dann nahm sein Gesicht einen traurigen Ausdruck an und er wandte den Blick ab, seufzte leise. "Ich werde niemals Elben sehen." Bilbo sah ihn stirnrunzelnd an, ehe er einen Schluck aus dem Wasserschlauch nahm, um sich zu erfrischen. "Du solltest die Hoffnung nicht so schnell aufgeben", meinte er. "Ich war fünfzig, als ich das erste Mal mit Elben zu tun hatte. Du weißt jetzt schon sehr viel mehr über das Schöne Volk, als manch ein anderer. Du musst den Dingen ihre Zeit lassen, Frodo."
Frodo blickte ihn lange an. Den Dingen ihre Zeit lassen. Zeit. Es war ihm einmal gesagt worden, dass die Zeit alle Wunden heile. Seine Wunde war nicht geheilt. Vielleicht würde sie das auch niemals tun, oder sollte er auch der Zeit mehr Zeit lassen? Verwirrt seufzte er erneut. "Wenn sich die Dinge nur nicht so viel Zeit lassen würden." Bilbo lächelte ihm aufmunternd zu. "Bis es soweit ist, musst du dich wohl damit zufrieden geben, mehr über Elben und ihre Sprache zu erfahren. Kannst du denn noch einige Worte, die ich dir beigebracht habe?" Frodo lächelte erfreut. Seine grüblerischen Gedanken waren mit einem Mal vergessen und er zählte Bilbo stolz alle Wörter auf, die er sich gemerkt hatte.
So verging der Nachmittag recht schnell und während sie ihre Rucksäcke von unnötigem Ballast, wie Äpfeln, Broten und geräucherter Lammwurst befreiten, lehrte Bilbo seinen Neffen viele neue elbische Phrasen. Er war überrascht, wie gelehrig der Junge war. Frodo merkte sich die Worte schnell und auch seine Aussprache ließ kaum zu wünschen übrig.
Frodo liebte den Klang der elbischen Sprache und konnte gar nicht genug davon hören. Wie schön mussten diese Worte erst klingen, wurden sie von Elben gesprochen? Am liebsten wäre er sofort zu irgendeinem Abenteuer aufgebrochen und in Gedanken malte er sich schon eine Geschichte aus, wie er gemeinsam mit Bilbo auf die Suche nach Elben ging. Doch noch während er seinen Gedanken nachhing, ließ Bilbo ihn wissen, dass es Zeit war, die Heimreise anzutreten und so packte Frodo, wenn auch ein wenig missmutig, seine Sachen zusammen und machte sich für einen weiteren Marsch bereit.
Die Sonne stand tief am Himmel, als sie etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten. Unter dem Schatten der hohen Bäume erreichte ihr warmes Licht sie kaum noch und, war Frodo am Nachmittag noch warm gewesen, freute er sich nun auf ein wärmendes Feuer, denn einen Umhang hatte er nicht dabei, ebenso wenig einen Mantel. Gedankenverloren tappte er hinter Bilbo, der eines seiner Wanderlieder sang, her. Der Weg wand sich in Serpentinen den kleinen Berg hinunter. Frodo dachte über eine Abkürzung nach und sein Interesse wanderte immer mehr zu den Bäumen, die sie umgaben. Warum konnten sie nicht einfach den geraden Weg nach unten nehmen? Dieser war vielleicht etwas holpriger, doch sie würden wesentlich früher zu Hause im Warmen sein und zu Abend essen können.
Frodo grinste verschmitzt und eh er sich versah, war er abgebogen und rutschte den Abhang hinunter. Tannennadeln kitzelten seine Füße und immer wieder stolperte er über kleinere Steine. Oft machte er eine Pause, lehnte sich keuchend an einem der mächtigen Stämme, um nicht zu schnell zu werden. Ab und an warf er einen Blick zurück nach oben, doch verlor er den Pfad bald aus den Augen. Der Abhang war steiler, als er geglaubt hatte und er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Mehrere Male wäre er beinahe hingefallen, doch schließlich gelangte er stolpernd auf den Pfad zurück. Etwas außer Atem, aber zufrieden, blickte Frodo nach oben. Er musste ein schönes Stück Weg zurückgelegt haben, denn der gewundene Weg hatte sich nun seinem Blickfeld entzogen und nur mehr die mächtigen, von Moos bewachsenen Stämme der Bäume lagen vor seinen Augen. Jetzt musste er nur noch auf Bilbo warten. Noch immer ein wenig außer Atem, setzte sich Frodo an den Wegrand und blickte ungeduldig in die Richtung, aus der sein Onkel kommen sollte.
Die Zeit verging und Frodo wurde etwas unbehaglich. Wo blieb Bilbo nur so lange? Inzwischen hätte er schon längst hier sein müssen. Frodo entschied, ihm entgegen zu gehen, doch je weiter er ging, umso unruhiger wurde er. Wo war Bilbo? Als er die Biegung erreichte, hatte er einen Großteil des Weges im Auge, doch von Bilbo fehlte jede Spur. "Bilbo?", flüsterte Frodo ängstlich. Er konnte ihn doch nicht verloren haben. Er spürte die Angst, die sich langsam und bedrohlich in ihm ausbreitete. Minutenlang stand er wie erstarrt auf dem Pfad und blickte sich um. Er musste doch hier sein! Wo war er? "Bilbo!" rief er, dieses Mal so laut er konnte. Angestrengt lauschte er auf eine Antwort, doch keine kam. Sein Herz schlug schneller und er begann zu zittern. "Bilbo!" rief er noch einmal, und Tränen traten in seine Augen. Er begann zu laufen, rannte den Weg entlang nach oben, bis zu der Stelle, wo er glaubte, den Pfad verlassen zu haben. Doch noch immer konnte er Bilbo nicht entdecken. "Ich habe ihn verloren!" murmelte er kaum hörbar. Seine Augen suchten verzweifelt die Umgebung ab, doch fanden sie nur Bäume, Sträucher, verdorrte Blätter und längst abgefallene Nadeln. Was, wenn er ihn nicht wieder fand? Eine schreckliche Angst ergriff ihn, die beinahe einer Panik gleichkam. Er musste ihn wieder finden. Er würde diesen Pfad absuchen, und wenn es Tage dauerte, bis er Bilbo gefunden hatte. Aber finden musste er ihn. Er würde es nicht ertragen, Bilbo auch noch zu verlieren. Nicht Bilbo. "Bilbo!" Seine Stimme hallte verzagt zwischen den Bäumen wider und Tränen der Verzweiflung suchten sich ihren Weg über seine Wangen, während er immer wieder nach seinem Onkel rief.
"Frodo?" Frodo glaubte zu träumen, als er die geliebte Stimme hörte, die seinen Namen rief. Überrascht wandte er sich um. "Bist du das, Bilbo?", fragte er zögernd. "Wo bist du?" Doch diese Frage erübrigte sich, da Bilbo bereits um die Biegung auf ihn zugeeilt kam. Frodo rannte ihm entgegen, Tränen der Erleichterung in den Augen. Völlig verzweifelt fiel er ihm in die Arme, vergrub das Gesicht in der Weste seines Onkels. "Wo warst du denn?", fragte Bilbo, als er ihn hochhob und versuchte, den Jungen zu trösten, denn Frodo war völlig außer sich. "Du warst weg. Ich dachte, ich hätte dich verloren!" schluchzte Frodo hilflos und umarmte ihn noch fester. "Ich dachte, ich nehme eine Abkürzung und warte unten auf dich!" "Das habe ich vermutet, als ich bemerkte, dass du nicht mehr hinter mir warst. Ich ging ebenfalls vom Weg ab. Wir müssen aneinander vorbei gelaufen sein", versuchte Bilbo zu erklären, während er seinem Neffen zärtlich durch die Haare strich. "Ich dachte, ich hätte dich verloren!" schluchzte Frodo noch einmal. "Lass mich nicht allein!" Die Verzweiflung, die in diesen Worten lag, machte Bilbos Herz bluten. Er war erschrocken, als Frodo plötzlich weg gewesen war, doch hatte er gewusst, dass der Junge nicht weit sein konnte. Dennoch war er erleichtert, ihn jetzt wieder bei sich zu haben. Bei Frodo schien es sich jedoch um sehr viel mehr, als nur Erleichterung zu handeln. Der Junge zitterte, schien beinahe panisch. "Das werde ich nicht", versicherte er mit sanfter Stimme, strich ihm beruhigend über den Rücken. "Lass mich nicht allein", Frodos Stimme war kaum mehr, als ein Wispern. Bilbo konnte die Angst, die in jenen Worten verborgen lag, deutlich spüren und er wollte sie seinem Jungen nehmen, sollte ihm stattdessen allen Trost geben, den er zu geben hatte. Vorsichtig stellte er das Kind wieder auf den Boden, löste die Umarmung jedoch erst, als Frodos Schluchzen zu einem leisen Schniefen verklang. Er blickte tief in die blauen Augen und als er erkannte, dass alles wieder in Ordnung war, riet er dazu, nach Hause zu gehen. Frodo nickte, rieb sich mit dem Ärmel über die Nase und trocknete seine Tränen. Er nahm Bilbo an der Hand, obwohl der Weg zu schmal war, als dass sie hätten nebeneinander gehen können, doch loslassen wollte er ihn nicht, aus Angst, er könnte ihn erneut verlieren.
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Nach dem Abendessen saß Frodo, gemeinsam mit Bilbo und einigen anderen, in einem der vielen Wohnzimmer. Der Duft von Holz lag ihm in der Nase, als er sich im angenehmen Licht des Zimmers nahe an Bilbo hielt, der sich angeregt mit seinem Großvater unterhielt. Frodo knabberte an einem Keks, als sein Blick plötzlich auf Marroc fiel, der mit seinen Freunden an einem nahe gelegenen Tisch saß und ihn hämisch grinsend beobachtete. Eingeschüchtert wandte Frodo den Blick ab und biss in seinen Keks, als er ihn plötzlich flüstern hörte. "Ich habe ja schon immer gesagt, dass er nicht ganz richtig im Kopf ist! Anstatt mit uns herumzuhängen, verbringt er seine Zeit mit diesem alten Tunichtgut. Der ist sogar noch verrückter, als er selbst. Und das Beste ist, er glaubt an die Geschichten, die er erzählt. Dabei hat er keine Ahnung von wirklich wichtigen Dingen. Ich glaube, wenn er nicht jemand hätte, der ihm das Essen machen würde, würde er verhungern. Frodo ist genau vom selben Schlag. Er bringt alleine nichts zustande." Frodo bemerkte den böswilligen Blick, den Marroc ihm zuwarf. Sadoc, Ilberic und selbst Reginard lachten und sahen verstohlen zu ihm herüber. Einzig Nelke schien zu widersprechen, doch sie wurde von den älteren Jungen nicht ernst genommen und was sie sagte, konnte Frodo nicht verstehen. Er blitzte Marroc wütend an, rückte aber etwas näher an Bilbo, als wolle er sich vor den hinterhältigen Augen seines Peinigers verstecken. Warum konnte er ihn nicht einfach in Ruhe lassen?
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Die Tage vergingen. Frodo und Bilbo unternahmen beinahe täglich eine kleine Wanderung und Bilbo erklärte Frodo alles, was er wissen wollte. Frodo genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit. Es war ganz anders, als wenn er im Brandyschloss, gemeinsam mit den anderen Kindern, Unterricht erhielt. Außerdem schien Bilbo auf jede seiner Fragen eine Antwort zu wissen, doch als er ihm das bei einem ihrer Spaziergänge sagte, lachte Bilbo nur und meinte, er wisse zwar viele Dinge, aber längst nicht alles. "Ich bin nur ein dummer, alter Hobbit, der seine Nase gerne in Dinge steckt, die viel zu groß für ihn sind. Außerdem hast du ja selbst gehört, dass ich von wirklich wichtigen Dingen keine Ahnung habe", meinte Bilbo lächelnd und zwinkerte ihm zu. "Du hast ihn gehört?", rief Frodo, erstaunt und empört zugleich. Bilbo nickte. "Und er hat damit nicht ganz Unrecht. Wenn ich mir Hamfast ansehe, oder auch den jungen Samweis, wird mir oft klar, wie wenig ich über Pflanzen und andere bodenständige Dinge weiß." "Aber das kannst du doch lernen", meinte Frodo, doch Bilbo schüttelte den Kopf. "Ich bin zu alt für solche Dinge, Frodo. Du allerdings, solltest sehen, dass du so viele Dinge wie möglich lernst. Du bist klug und wenn du jetzt fleißig lernst, und davon bin ich überzeugt, wird dir das später viel nutzen."
Frodo sah ihn erstaunt an. Seit dem Tod seiner Eltern hatte ihn niemand mehr als klug bezeichnet. Er war immer nur jemand in einer Gruppe aus vielen gewesen. Er wusste nicht mehr und nicht weniger als andere. Der Einzige, der ab und an ein besonderes Lob erhielt, war Merry, aber das war durchaus berechtigt. Merry war klug und das musste er auch sein, würde er schließlich eines Tages Herr von Bockland werden. Frodo hatte sich selbst nie als klug bezeichnet, doch wenn er jetzt darüber nachdachte, stand er Merry in nichts nach, zumindest nicht in den theoretischen Dingen. Es tat gut, derjenige zu sein, der Lob erhielt und er war Bilbo dankbar dafür. Dennoch kränkte es ihn, zu wissen, dass sein Onkel ihn schon in wenigen Tagen verlassen würde. Alles würde wieder sein wie zuvor. Keine langen Spaziergänge, keine Geschichten über Elben, kein Lob. In gewisser Weise vermisste er Bilbo schon jetzt. Frodo seufzte leise. Er sollte sich Merrys Rat wirklich zu Herzen nehmen, weniger nachdenken und stattdessen die Zeit genießen, die ihm noch blieb.
Doch auch die letzten Tage von Bilbos Besuch vergingen viel zu schnell und eh Frodo sich versah, stand er eines Morgens, in aller Frühe am Haupteingang des Brandyschlosses. Bilbo hatte seinen Rucksack gepackt, einen Umhang um die Schultern geschlungen und seinen Wanderstock, der während seines Besuches in einem Schirmständer geruht hatte, wieder zur Hand genommen. Der alte Hobbit hatte sich bereits bei einem zeitigen Frühstück bei seinen Gastgebern verabschiedet und so war er vor der Tür des Brandyschlosses mit Frodo alleine. Die Sonne war nur ein blasser Streifen am östlichen Horizont und ein frischer Morgenwind wehte kühl in ihre Gesichter. Tränen traten in Frodos Augen, die er tapfer zurückzuhalten versuchte, als Bilbo sich zu ihm herunterbeugte. Auch in seinen Augen lag ein feuchter Schimmer, doch lächelte er, als er ihm zärtlich über die Wange strich. "Kopf hoch, mein Junge. Ich komme bestimmt wieder", sagte er aufmunternd. "Mach dir keine Sorgen über Dinge, die du von anderen hörst. Wichtig ist, was du denkst und nicht, was andere glauben." Frodo wunderte sich nicht einmal mehr, über diese Worte. Er hatte inzwischen erkannt, dass Bilbo nicht nur mehr sah, als er glaubte, sondern auch mehr hörte. Frodo brachte ein gequältes Lächeln zustande. Weshalb musste er gehen? Konnte er nicht einfach hier bleiben? Wie gerne er ihn jetzt begleiten würde. Er wollte ihn nicht mehr verlieren. Nicht noch einmal. Wer wusste, wann sie das nächste Mal aufeinander trafen? Plötzlich hallten seine eigenen Worte in seinem Kopf wider.
"Ich hatte geglaubt, wir könnten miteinander reden." "Wir können reden, Frodo, jederzeit."
Jederzeit. Wenn er jetzt reden würde, würde Bilbo bleiben. Er wäre nicht allein. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er hatte Angst davor, allein zu sein, doch sobald Bilbo aufgebrochen war, wäre dies der Fall. Merry kam frühestens in zwei Monaten zurück. Er musste seinen Onkel davon überzeugen, wie wichtig es für ihn war, dass er hier blieb.
Lass mich nicht allein!
Das Herz klopfte ihm vor Aufregung bis zum Hals. Er würde es ihm sagen müssen. Bilbo hatte versprochen, dass er jederzeit mit ihm reden konnte. Es musste sein, sofort, oder Bilbo würde gehen und ihn alleine zurück lassen. "Bilbo, ich muss...", brachte er hervor, doch weiter kam er nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt, seine Zunge trocken. Er konnte nicht. Bilbo sah ihn forschend an. "Ich muss sichergehen, dass du keine Abkürzungen nimmst", murmelte Frodo schließlich mit gesenktem Kopf. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, entspannten sich dann wieder. Er konnte nicht. Bilbo legte ihm eine Hand unter das Kinn, forderte ihn so dazu auf, ihn anzusehen. Ein Lächeln glitt über die Lippen seines Onkels, während dieser ihn liebevoll musterte und Frodo konnte nicht anders, als dieses zu erwidern. "Bestimmt nicht!" versicherte Bilbo und küsste ihn zum Abschied auf die Stirn.
Traurig sah Frodo ihm hinterher, als sein Onkel von dannen ging. Die ersten rotgoldenen Sonnenstrahlen verfingen sich in den grauen Locken, als die Gestalt in der Ferne verschwand und zu einem Schatten wurde. Frodo hatte ihn verloren, es war zu spät. Bilbo würde nicht noch einmal umkehren. Jetzt war er wieder alleine, aber nicht für immer. Eines Tages würde Bilbo zurückkommen, und vielleicht schaffte er es dann, zu reden, und möglicherweise würde sein Onkel dann bei ihm bleiben.
Kapitel 29: Denk an nichts
An nichts denken, denk an nichts. Ich denke zuviel nach und damit hat er zweifelsohne Recht. Ich denke nach und mache mir auf diese Weise das Leben schwer. Je mehr Gedanken ich mir mache, umso mehr Sorgen habe ich. Oder wäre es auch so, wenn ich nicht nachdenken würde? Nein! Ich soll nicht nachdenken! Nichts. Nichts! Ich denke an nichts. Schwarz. Ein großes, schwarzes Loch. Nichts. Warum schwarz? Warum kann es nicht weiß sein? Male ich alles schwarz, oder ist es immer so, wenn man an nichts denkt? Aber ich denke nicht an nichts! Ich mache mir Gedanken über ein schwarzes Loch! Mein Nichts. Sieht das Nichts bei jedem anders aus? Ist es nur bei mir schwarz? Hör auf zu denken! Kann man das überhaupt? Aufhören zu denken? Nichts in seinem Kopf haben, worüber man sich Gedanken machen könnte? Es geht nicht. Ich will an nichts denken und dann zerbreche ich mir den Kopf über... nichts. Ob Merry auch soviel nachdenkt? Bestimmt nicht! Ich denke nicht einmal nach. Die Gedanken kommen einfach. Ich will gar nicht, dass sie da sind, doch sie sind hier. Ich will an nichts denken, an gar nichts. Und trotzdem... Gedanken sind immer da. Sie lassen mich nicht allein und doch wäre ich froh, auch sie würden gehen. Sie schmerzen. Sie erzeugen Angst. Sie machen alles nur noch schlimmer. Alleine sein. Alleine hier sitzen und an nichts denken. Nichts. Und doch wandern meine Finger schon wieder zu ihrem Bild, berühren es zärtlich. Ich kann nicht aufhören, an sie zu denken. Nicht solange ich alleine bin. Habe ich früher auch soviel nachgedacht? Ich weiß es nicht mehr. Selbst wenn, so glaube ich, dass zumindest die Gedanken andere waren. Glücklichere vielleicht. Bin ich glücklich? Das bin ich und doch bin ich es nicht. Glück. Was ist Glück eigentlich? Heißt glücklich sein für jeden etwas anderes? Ich verlange nicht viel. Nur einen Gutenachtkuss, ein Lob, eine freundliche Berührung. Ich vermisse Bilbo. Er gab mir diese Dinge. All die Dinge, die meine Eltern mir auch gegeben haben. Wie schön wäre es, auch einmal ein Lob von Saradoc zu erhalten, von Esmeralda zu Bett gebracht zu werden. Weiß Merry überhaupt, wie gut er es hat? Nichts. Ich denke an nichts und ende genau da, wo alles anfing. Dieselben Gedanken, die mich erst auf die Idee brachten, an nichts zu denken. Fort. Fort von den Dingen, über die ich schon so lange sprechen sollte, aber es nicht kann. Fort… Nichts. An nichts denken. Marroc hatte Recht. Ich bin verrückt.
Frodo lehnte am Stamm der großen Eiche und kaute an einem Grashalm. Am vergangenen Abend war das Gefühl des Alleinseins wieder besonders stark gewesen. Sein Versuch, nicht daran zu denken, an gar nichts zu denken, war kläglich gescheitert. Heute ging es ihm besser. Am Vormittag hatte er Fredegar Bolger, den alle nur Dick nannten, und seine Schwester Estella getroffen. Die beiden wohnten in Balgfurt und waren diesen Sommer zu Besuch. Frodo mochte Fredegar. Zwar hatte dieser kein Interesse an großen Abenteuern, wie das bei Merry und ihm der Fall war, doch er war ein gemütlicher Junge, der den Sommer am liebsten faul in der Sonne liegend verbrachte. Frodo war das nur recht, denn auch er ließ sich die Sonne gerne ins Gesicht scheinen und unter den Ästen eines Baumes, untermalt mit dem Rascheln der Blätter, dem Plätschern des Brandyweins und den entfernten Rufen spielender Kinder, träumte es sich am besten. Fredegar hatte ihm dabei geholfen, frisches Wasser in die Tränke der Ponys auf der Koppel zu geben und selbst Estella war ihnen dabei behilflich gewesen, auch wenn sie für das junge Mädchen nur einen kleinen Eimer hatten, sehr zu ihrem Verdruss, war sie doch der Ansicht, mindestens genauso kräftig wie ihr Bruder zu sein. Frodo und Dick hatten ihr Gejammer jedoch bald nicht mehr beachtet und so hatte Estella sie irgendwann alleine gelassen. Nach dem Mittagessen war Dick mit seiner Familie nach Bockenburg gegangen. Frodo war zu Hause geblieben, auch wenn er Erlaubnis erhalten hätte, sie zu begleiten. Beinahe den ganzen Nachmittag hatte er auf der Schaukel gesessen und vor sich hin geträumt, während ihm der Wind erfrischend ins Gesicht geblasen hatte. Manchmal gefiel es ihm, alleine zu sein, keine Verpflichtungen zu haben und einfach nur den Tag zu genießen.
Die Schatten wurden länger und Frodo erhob sich schließlich, um zum Brandyschloss zurückzukehren. Dabei ging er an den Gärten vorüber und sein Blick fiel auf das Erdbeerbeet. Rote, süße Beeren leuchteten zwischen den Blättern. Frisch gepflückt schmeckten sie am besten. Frodo überlegte nicht lange, hörte auf seinen Bauch und lief schnurstracks auf das Beet zu, griff nach der erstbesten Beere und schob sie sich in den Mund. Sie schmeckte süß, wie er erwartet hatte und er ließ sich den Geschmack genüsslich auf der Zunge zergehen. Frische Erdbeeren waren beinahe so gut wie Pilze. Er wollte gerade nach einer weiteren Beere greifen, als ihn jemand an der Schulter packte, ihn zurückriss und zu Boden stieß. Erschrocken wandte Frodo sich um, entdeckte Marroc. Er schnappte nach Luft, wich zurück und wollte wieder aufstehen, doch Marroc stieß ihn erneut zu Boden, wo er unsanft auf seinem Hintern landete. "Na, was haben wir denn da?", fragte der Ältere zynisch. "Vertreiben wir uns den Abend damit, Erdbeeren zu stehlen?" Frodo blitzte ihn wütend an. Stehlen? So etwas würde er sich nicht unterstellen lassen. "Ich stehle sie nicht, ich esse sie!" "Was für ein Unterschied!" erwiderte Marroc mit ironischem Tonfall. "Soweit ich weiß, ist es erlaubt, Beeren zu essen", ließ Frodo ihn sachlich wissen und wagte einen weiteren Versuch, auf die Beine zu kommen, doch Marroc stellte seinen rechten Fuß auf seine Brust, drückte ihn kraftvoll zu Boden. "Dann muss ich mir eben etwas anderes einfallen lassen", zischte er zornig und verstärkte den Druck noch.
Die Furcht, die er zuvor zurückhalten konnte, brach mit einem Mal über ihn herein. Frodo wusste, wie ängstlich er war. Er kannte das Gefühl nur zu gut. Es war wie eine Hand, die sich tief in sein Inneres bohrte und alles zusammenzudrücken schien, was sie finden konnte. Sein Atem stockte. "Hör auf damit!" befahl er mit rauer Stimme. "Weshalb sollte ich?" Die Kälte in Marrocs Ton ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Das Herz klopfte ihm wild in der Brust und Frodo zweifelte nicht daran, dass Marroc dies spüren konnte, als der ältere Hobbit seinen Fuß noch fester auf seinen Brustkorb drückte, bis es Frodo schwer fiel zu atmen. Er versuchte, seinen Peiniger von sich zu stoßen, doch Marroc rührte sich nicht. "Du kennst Saradocs Anweisungen!" brachte er mühevoll hervor, während seine Finger sich im Fußhaar seines Peinigers verfingen, mit dem Ziel, einige der krausen Locken auszureißen. "Saradocs Anweisungen?!" Marroc lachte spöttisch und beugte sich zu ihm herunter, verlagerte noch mehr seines Gewichtes auf seinen rechten Fuß. "Es ist mir egal, welche Anweisungen er gegeben hat. Sieh dich an! Dir haben seine Anweisungen nichts genutzt. Du bist noch genauso jämmerlich, wie vor einem Jahr!"
Frodo starrte ihn entgeistert und keuchend an, verharrte einen Augenblick regungslos. Hatte er Recht? Es stimmte, viel hatte sich seit dem letzten Jahr nicht verändert. Er schien noch immer derselbe zu sein, genau wie seine Sorgen. Warum konnte er sie nicht hinter sich lassen, an nichts denken und all seine Ängste vergessen? Warum war das so schwer? Jämmerlich. Frodo schüttelte den Gedanken ab. Es wäre jämmerlich, sich wieder von Marroc unterdrücken zu lassen. Er musste ihm entkommen. Er musste sich gegen ihn zur Wehr setzen.
"Ich bin nicht jämmerlich!" rief er aufgebracht und seine Augen funkelten. "Wenn jemand jämmerlich ist, dann bist du das. Du fühlst dich doch nur stark, wenn du jemanden wie mich unterdrücken kannst." Marrocs Augen verengten sich zu wutentbrannten Schlitzen und seine grobe Hand packte Frodo am Kragen, zog ihn gewaltvoll hoch, sodass Frodo das Gras nur noch mit seinen Zehenspitzen erreichen konnte. Die feinen Grashalme kitzelten seine Sohlen. "Wer glaubst du eigentlich, wer du bist?", zischte er zornig.
Frodo konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören, während er versuchte, wieder Boden unter die Füße zu bekommen und sich aus Marrocs Griff zu winden, doch so sehr er sich auch fürchtete, seine Augen blickten starr in die seines Gegenübers und bald hörte er auf, sich zu wehren. Er hatte einen Weg gefunden, wie er sich seiner entledigen konnte.
"Du weißt, dass ich Recht habe!" sagte er entschlossen. Marroc stieß ihn erneut zu Boden, wo er hart aufschlug. Frodo wollte gerade wieder aufstehen, als er aus den Augenwinkeln, eine Hand erkannte, die blitzschnell auf ihn zuflog. Erschrocken presste er die Augen zusammen und legte schützend die Arme vor den Kopf. "Wenn du mich schlägst, habe ich Beweise und wer weiß, was Saradoc dann mit dir machen wird!" schrie er, noch ehe er wusste, was er überhaupt sagte. Die Hand stoppte, packte ihn erneut am Kragen und hob ihn hoch. Frodo schwindelte bei der raschen Bewegung, doch war er erleichtert, das Gras unter seinen Füßen zu fühlen. Zögernd ließ er seine Arme sinken und öffnete die Augen, nur um zu erkennen, dass er das Ziel von Marrocs hasserfülltem Blick geworden war. Die dunklen Augen blitzten ihn zornig an, doch Frodo wich dem Angst einflößenden Blick nicht aus. Dieses Mal, würde er das nicht tun. "Na los", forderte er, "Worauf wartest du noch? Schlag mich!" Seine Augen blickten starr in die von Marroc. Er wusste nicht, ob sein Plan funktionieren würde und je länger der giftige Blick des Älteren auf ihm ruhte, umso unruhiger wurde er. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis Marroc ihn schlug. War er wahnsinnig geworden, ihn auch noch dazu aufzufordern? Marroc war der Letzte, der eine solche Aufforderung brauchte!
Doch Marroc schlug ihn nicht, stieß ihn stattdessen erneut zu Boden und ging davon. Frodo sah ihm keuchend hinterher. Erleichtert atmete er auf, als der Ältere außer Sicht war. Seine Hand strich über seinen Kragen. Er betrachtete seine Finger. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr er zitterte. Sein Herz pochte, als wolle es ihm aus der Brust springen. Er konnte das Klopfen, das sogar noch lauter zu sein schien, als das Rauschen seines Blutes, in seinen Ohren hören.
Als sich sein Atem langsam wieder beruhigte, kam er wieder auf die Beine. Seine Knie fühlten sich an, als würden sie jeden Moment nachgeben, doch Frodo war nicht gewillt, ihnen das zu erlauben. Stattdessen stand er befriedigt im Licht der untergehenden Sonne und grinste. Seine Augen blickten zufrieden in die Richtung, in die Marroc verschwunden war. Er hatte ihn besiegt. Er hatte es gewagt, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen und er hatte ihn besiegt. Frodo wandte sich ein letztes Mal dem Erdbeerbeet zu, griff nach einer wohlverdienten Beere und schickte sich an, ins Brandyschloss zurückzukehren.
~*~*~
Am nächsten Morgen war Frodo schon früh auf den Beinen. Saradoc hatte ihm angeboten, mit ihm zum Hohen Hag zu reiten. Jedes Jahr im Frühling und im Herbst machte sich der Herr von Bockland auf, die Hecke zu kontrollieren. Wenn er der Ansicht war, dass sie zu wild wucherte, gab er in Auftrag, sie zu stutzen. Außerdem kam er so an Orte, an denen er sonst das ganze Jahr über nur selten war. Die Hobbits aus den Ortschaften weit südlich des Brandyschlosses freuten sich immer sehr, wenn der Herr von Bockland zu ihnen ritt. Frodo war überglücklich, ihn begleiten zu dürfen. Eine Ehre, mit der er nicht gerechnet hatte. Doch während sie stumm an der Hecke entlang ritten, fragte er sich, ob Saradoc ihn nur mitgenommen hatte, weil Merry nicht da war. "Hör auf, darüber nachzudenken!" schalt er sich selbst.
Gegen Mittag legten sie eine Pause ein. Sie saßen auf einer Decke, die sie in einer Wiese unweit der Hecke platziert hatten und aßen Brote, die Esmeralda ihnen eingepackt hatte. Der Himmel war wolkenverhangen, doch sah es nicht so aus, als würde es zu regnen beginnen. "Danke, dass ich dich begleiten durfte", murmelte Frodo schließlich, ohne von seinem Brot aufzusehen. Saradoc lächelte. "Das mache ich doch gerne. Schließlich sollst du wissen, wo du wohnst und wer hier lebt", meinte er und klopfte ihm auf die Schulter. Diese einfache Geste genügte, um Frodo einen Teil seiner Unsicherheit zu nehmen und er sah schließlich, mit einem zaghaften Lächeln im Gesicht, in die freundlichen, grünen Augen des Herrn, ehe sein Blick zum Hohen Hag wanderte, dem Saradoc den Rücken zugewandt hatte. Die dunkelgrüne Farbe der Blätter war angenehm zu betrachten. Frodo glaubte nicht, dass um diese Jahreszeit viel getrimmt werden musste, denn nur hier und da ragten einzelne Äste zwischen den Blättern hervor und suchten ihren Weg zum Sonnenlicht. Sein Blick ruhte jedoch nicht auf der Hecke selbst, sondern lag viel mehr auf dem, was dahinter lag. "Bist du schon einmal drin gewesen?", fragte Frodo schließlich neugierig. "Ich war drinnen, aber nur bei Tageslicht. Nachts ist es zu gefährlich", meinte Saradoc, der seinem Blick gefolgt war. "Opa hat gemeint, dort gingen komische Dinge vor sich." Saradoc nickte. "Es gibt viele Geschichten um den Alten Wald. Das Meiste ist erfunden, doch ich bin davon überzeugt, dass etwas Seltsames in seinem Innern haust. Etwas Unheimliches." Saradoc hatte seine Worte leise gesprochen, doch sein Tonfall ließ keine Zweifel an seiner Überzeugung. Während Frodo den Herrn, der geistesabwesend zur Hecke starrte, betrachtete, fragte er sich, woher Saradoc seine Sicherheit nahm. Natürlich kannte er die Geschichten und, je nach Inbrunst des Erzählers, hatten ihm diese auch schon Angst gemacht, doch schließlich war es nur ein Wald. Dennoch wurde Frodo unbehaglich und ein Schauer lief ihm über den Rücken, als ein kühler Wind aufkam und ihm die Haare ins Gesicht blies. "Wir sollten weiter", meinte Saradoc plötzlich, hatte die Riemen seines Rucksackes in den Händen, noch ehe er sich danach umgedreht hatte. Frodo ließen seine Worte beinahe zusammenschrecken, so überraschend waren sie gekommen, doch erhob er sich rasch und half, die Decke zusammenzulegen.
Bald darauf saßen sie wieder auf ihren Ponys und ritten stetig nach Süden, immer der Hecke entlang. Saradoc ließ seinen Blick prüfend über die dunklen Blätter wandern, während der Tag sich seinem Ende neigte. Frodo war vom langen Ritt müde geworden und, hatte er sich zuvor angeregt mit Saradoc unterhalten, trabte er nun meist schweigend neben ihm her. "Dort vorne siehst du Hagsend", verkündete Saradoc plötzlich und deutete nach Südwesten. "Wir werden die Nacht im dortigen Wirtshaus verbringen." In der Dämmerung erblickte Frodo einige Höhlen und kleine Häuser und war froh, dieses Mal darauf zuzureiten und sie nicht nur aus der Ferne zu betrachten. Am heutigen Tag waren sie schon an einigen Ortschaften vorüber geritten. Vom Brandyschloss aus waren sie erst der Bocklandstraße nach Norden gefolgt, bis sie das Nordtor erreicht hatten, wo die Hecke bis zum Flussufer hinunterzieht. Saradoc hatte sich lange mit dem Wächter über das Kommen und Gehen von Handelsreisenden aus Bree unterhalten, ehe sie sich auf ihren eigentlichen Weg gemacht hatten. Von weitem hatte Frodo die größeren Ortschaften Bocklands erblickt, Neuburg und das, an der Bocklandstraße gelegene Steingrube, und einige einzelne Höfe und Weiden auf denen Schafe, Schweine, Kühe, Ponys oder Ziegen grasten, doch begegnet waren sie keinem. Die Hobbits machten einen Bogen um den Alten Wald und keiner wollte zu nahe an der Hecke leben. Umso einladender wirkten nun die Lichter von Hagsend, jener Ortschaft die sowohl am weitesten im Süden lag, als auch der Hecke am nächsten war. Frodo sehnte sich nach einem vernünftigen Abendessen und einem bequemeren Sitzplatz als dem Sattel.
"Herr Saradoc!" Überrascht wandte Frodo sich um. Ein stämmiger Hobbit in einem nicht wenig verschmutzten Arbeitshemd und bereits ergrautem Haar kam auf sie zu gerannt. Saradoc kannte den Mann offensichtlich, denn er begrüßte den Fremden als Herrn Grabenbuddler und binnen kürzester Zeit waren die beiden in eine rege Unterhaltung vertieft. Frodo schenkte dieser nur wenig Beachtung und kam sich bald vollkommen fehl am Platze vor. Er deutete Saradoc an, dass er ein Stück voraus reiten wolle und auf ein Nicken des Herrn trieb Frodo sein Pony an. Das Tier trabe gemächlich über die Wiesen. Hagsend lag nun zu seiner Rechten, doch Frodo hatte nicht vor, alleine in die Ortschaft zu reiten. Er wollte auf Saradoc warten und sich derweil ein wenig umsehen. Hobbithöhlen gab es hier kaum, stattdessen schienen die Bewohner mit Häusern aus Holz vorlieb zu nehmen. In vielen Fenstern konnte Frodo den warmen Schein von Kerzen und Feuer ausmachen und auch wenn er nicht fror, merkte er plötzlich, wie sehr er sich nach einem gemütlichen, warmen Zimmer sehnte. Er trieb sein Pony an, ließ es in einen sanften Galopp fallen, bis der Lichtschein aus den Häusern auf seinen Rücken fiel und ihm einen langen, dunklen Schatten voraus sandte. Zu seiner Rechten erschien das braune Wasser des Brandyweins, zuvor verdeckt von den Häusern und Gassen der Ortschaft. Im letzten Licht des schwindenden Tages wirkte das Wasser besonders dunkel und Frodo bremste sein Reittier um den Fluss genauer zu betrachten. Hier war die Strömung stärker, als weiter oben beim Brandyschloss und Frodo fragte sich, ob die Hobbits auch hier unten mit Booten hinausfuhren. Seine Frage wurde von einem Jungen beantwortet, der bestimmt gerade erst seinen Tweens entwachsen war und mit einem Boot an einem kleinen Steg anlegte, um es zu vertäuen. Frodo konnte nur den Kopf schütteln. Niemand schien den Fluss zu fürchten.
Plötzlich hörte er ein anderes Rauschen. Frodo ritt dem Geräusch entgegen und entdeckte einen weiteren kleinen Fluss, der in den Brandywein mündete. Neugierig stieg er vom Pony und trat näher an den Bach heran. Frodo schauderte plötzlich, denn erst jetzt bemerkte er, dass er das südliche Ende der Hecke erreicht hatte und der Bach, der seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, aus dem Alten Wald floss. "Es gibt viele Geschichten um den Alten Wald. Das Meiste ist erfunden, doch ich bin davon überzeugt, dass etwas Seltsames in seinem Innern haust. Etwas Unheimliches. Ich war drinnen, aber nur bei Tageslicht. Nachts ist es zu gefährlich." Saradocs Worte hallten in seinem Kopf wider und Frodo begann sich zu fragen, welche der Geschichten wohl wahr waren. Sein Blick war wie gebannt auf jene Stelle gerichtet, wo der Bach aus dem Wald trat. Noch war die Sonne nicht untergegangen. Er könnte es also wagen. Aber Saradoc würde sich Sorgen machen, würde es bestimmt nicht gut heißen, alleine in den Wald zu gehen.
Doch noch während Frodo sich den Kopf darüber zerbrach, setzte er sich in Bewegung und folgte mit langsamen Schritten dem Lauf des Baches. Das sanfte Plätschern klang in seinen Ohren, während der Wind leise durch das Blätterdach des Waldes pfiff. Bald war er von Bäumen umringt und Frodo blickte staunend, und voller Ehrfurcht, nach oben. Wie schön sie waren. Stolz, alt und majestätisch ragten sie in den Himmel. Selbst die Luft, die er atmete, schien Alter, Geschichte in sich zu tragen. Sie erzählte das Leiden unzähliger kleiner Sträucher und junger Bäume, die niemals zu ihrer vollen Größe heranwachsen konnten, da ihnen das Licht der Sonne verwehrt worden war. Sie sprach von feuchtem Moos, das sich gierig jener armen Pflanzen angenommen hatte und sich nun von Steinen, über tote Äste und breite Stämme ausbreitete. Die Luft berichtete von vergangen Jahren, deren Zeugen vom Blitz getroffene und umgeknickte Bäume ebenso geworden waren, wie tote Blätter, auf deren trockenen Überbleibsel Frodo nun zaghaft dahin stapfte. Erneut kam Wind auf und blies dem jungen Hobbit durch die Haare. Er fröstelte unwillkürlich. Saradoc hatte Recht, etwas Seltsames hauste hier. Ein leises Wispern, einem Stöhnen gleich zog sich über das Blätterdach durch den Wald und Frodo hatte plötzlich das Gefühl, beobachtete zu werden. Vorsichtig kletterte er über einige verschlungene Wurzeln und Äste. Er folgte nach wie vor dem Lauf des Baches, der stetig vor sich hin plätscherte, doch je weiter er ging, umso näher schienen ihm die Bäume. Es war, als würden sie sich aufeinander zu bewegen, als würden sie ihn einsperren wollen. Mit plötzlicher Sicherheit wurde ihm klar, dass er hier nicht willkommen war. Unsicher wandte er sich um, doch war er inzwischen schon so tief in den Wald geraten, dass er dessen Rand nur noch als fernen Lichtpunkt erkennen konnte.
Ich sollte umkehren. Vielleicht war es ein Fehler, hierher zu kommen. Wieder laufe ich davon. Wann immer ich etwas fürchte, laufe ich davon. Jämmerlich? Marroc soll nicht Recht behalten. Ich bleibe hier. Ob Papa wohl auch jemals hier war? Oder Mama? Ich habe sie nie gefragt, obwohl mich die Geschichten um diesen Wald schon mein ganzes Leben begleiten. Ein Rascheln. Was war das? Es ist nichts. Es gibt nichts, vor dem ich mich fürchten müsste. Außerdem ist es noch hell. Dies ist kein gewöhnlicher Wald. Der Alte Wald, ein Ort, an dem seltsame Dinge geschehen. Was habe ich Pippin erzählt? Dunkle Schatten, die jeden in Angst und Schrecken versetzen. Mein Herz rast. Meine Finger zittern. Ich fürchte diesen Wald und doch ist mir noch nichts passiert. Noch nicht? Es wird nichts passieren! Hör auf daran zu denken. Denk an nichts! Nichts. Ein schwarzes Loch.
Auf einmal schien sich die Welt zu drehen. Frodos Lider wurden schwer und seine Augen schlossen sich, noch ehe er sich dessen bewusst geworden war. Mit tiefen Zügen atmete er die stickige Luft des Waldes ein. Er fühlte sich wie in einem Traum. Sein Kopf war leer, alle Geräusche, alle Gerüche vergessen, seine Gedanken fort. Er hatte plötzlich das Gefühl, federleicht zu sein, glaubte zu schweben.
Etwas griff nach seiner Schulter, drehte ihn um. Erschrocken riss Frodo die Augen auf, schrie. Mit einem Mal war der Traum fort und alles Gewicht stürzte wieder auf ihn ein, ließ ihn schwindeln, als sich eine kalte Hand auf seinen Mund legte. "Sh! Nicht hier! Nicht in diesem Wald!" flüsterte Saradoc mit aufgebrachter Stimme. Überrascht sah Frodo sich um. Wald? Sein Blick fiel auf den Bach und jetzt konnte er auch das beständige Rauschen wieder hören. Was war geschehen? Wie lange stand er da? Für einen Augenblick schien er alles vergessen zu haben. Alles war von ihm genommen worden. Er hatte an nichts gedacht und das Nichts hatte ihn zu sich geholt. Wie hatte er das gemacht?
"Wir müssen raus hier, sofort!" befahl Saradoc und schob ihn vor sich her. Frodo blickte zum Himmel und, war es zuvor durch die Wolken dunkel gewesen, war es nun Nacht geworden und selbst wenn noch ein verirrter Sonnenstrahl am westlichen Horizont geleuchtet hätte, hätte er sie hier nicht erreichen können. Flink kletterte Frodo über die Wurzeln. Ein Ast brach. Erschrocken blickte er auf den Zeig, der unter seinem Gewicht geknickt war. Ein wütendes Raunen ging durch den Wald. Die Blätter raschelten bedrohlich. Frodo sah sich um, hatte das Gefühl, als würde er von alle Seiten mit zornigen Augen angestarrt werden. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er von Saradoc fordernd vorangetrieben wurde. "Schnell", verlange dieser streng, beinahe furchtsam und Frodo zögerte nicht, seinem Wunsch nachzukommen.
Erleichtert atmete Frodo auf, als er den Brandywein erblickte und schließlich aus dem Wald heraus stolperte. Das ungute Gefühl beobachtet zu werden, war noch immer da, doch nicht mehr so stark. Für kurze Zeit hatte er geglaubt, der Wald hätte sich plötzlich gegen sie gestellt, denn immer wieder war er über Wurzeln gestolpert, die er davor nicht gesehen hatte. Was ihm zuvor noch als ein Ort der Geschichte, der Vergangenheit vorkommen war, hatte sich plötzlich in einen Ort der Angst und der Bosheit verwandelt, der den Zorn vieler Jahrhunderte in sich gesammelt hatte.
"Bist du verrückt geworden?" Saradoc riss ihn aus seinen Gedanken. "Ich lasse dich einen Moment aus den Augen und du rennst geradewegs in den Alten Wald! Und das bei Sonnenuntergang, bei Nacht! Hätte das Pony hier nicht gewartet, hätte ich dich vermutlich niemals gefunden", rief er wütend und doch klang Erleichterung in seiner Stimme mit. Frodo sah ihn entschuldigend an, senkte dann den Kopf. Er hatte Saradoc auf dieser Reise keinen Ärger machen wollen und er war doch auch nur ganz kurz im Wald gewesen, hatte sich nur rasch umsehen wollen. "Welcher Fluss ist das, Frodo?", wollte Saradoc streng wissen. Er zuckte mit den Schultern. "Das ist die Weidenwinde. Du hast schon von ihr gehört, nicht wahr?" Frodo sah ihn mit großen Augen an. Natürlich hatte er das. Man sagte, dass im Tal der Weidenwinde die seltsamsten Dinge geschahen, noch unheimlicher, als alles andere, was im Alten Wald vor sich ging. Voller Staunen wanderte Frodos Blick zum Bach, der nicht weniger bedrohlich schien, als der Stockbach und doch gab es um jenen Fluss sehr viel mehr Geschichten, als über jedes andere Gewässer im ganzen Auenland. "Komm jetzt!" sagte Saradoc und legte eine Hand um seine Schulter, um ihn so mit sich fort zu führen. Das verwunderte Frodo noch mehr und seine Aufmerksamkeit kehrte sofort wieder zum Herrn von Bockland zurück. Keine Bestrafung? Keine lange Rede über das, was er nun schon wieder getan hatte? War Saradoc einfach nur müde, oder hatte es etwas mit dem Alten Wald zu tun? Er wollte sein Glück nicht herausfordern und ging ohne ein Wort zu sagen zu seinem Pony. Als er sich auf den Rücken des Tieres schwang, warf er noch einen letzten Blick zum Hohen Hag und dem Wald, der dahinter lag, ein Wald, der vielleicht doch mehr war, als nur Bäume und Sträucher, ehe er mit Saradoc zurück nach Hagsend ritt, um sich dort ihr Quartier für die Nacht zu suchen.
~*~*~
In der Nacht darauf, der Mond stand schon hoch am Himmel, saß Frodo an seinem Schreibtisch. Eine Kerze tauchte sein Gesicht in ein warmes Licht, als er die Feder in die Tinte tunkte und in sein Tagebuch schrieb.
Ich kann nicht erklären, was geschehen ist. Es ist einfach passiert. Ob es am Wald lag? Er ist unheimlich, der Alte Wald und seltsame Dinge gehen darin vor. Ich denke nicht, dass ich jemals wieder hineingehen werde, außer große Not zwingt mich dazu. Ich hatte schließlich doch noch den Mut, Saradoc zu fragen, weshalb er mich nicht geschimpft hat. Er hat gelacht, doch dann wirkte er nachdenklich. Es hat lange gedauert, bis er mir schließlich erzählte, dass er selbst aus reiner Neugier hinein gegangen war, als er so alt war, wie ich jetzt. Sein Vater hatte ihn wieder herausgeholt, doch, wie auch bei mir, hatte sich der Wald plötzlich gegen sie gestellt. Sein Vater war verletzt worden und behielt sein Leben lang eine Narbe. Seither ist sein Respekt gegenüber dem Wald gewachsen und er betritt ihn nur, wenn er muss. Seine Stimme ließ erahnen, dass er in Sorge gewesen war. Um mich? Wenn dem so war, warum hat er es dann nicht gesagt? Warum kann er das nicht sagen, wie ein Vater das tun würde? Nein! Es fängt wieder an. Gedanken kreisen. Traurigkeit. Denk nicht daran! Ich werde dieses Gefühl beobachtete zu werden, nie vergessen. Es war unheimlich und doch... ob das mit ein Grund war, weshalb es geklappt hat. An nichts denken. Ich habe gesehen, wie schwierig es ist, und auch, wie leicht es sein kann. Ich weiß, dass ich es wieder versuchen werde. Wie immer, wenn meine Sorgen überhand nehmen, wenn Traurigkeit mich überfällt. Doch ob es jemals wieder funktionieren wird? Oder werden in Zukunft meine Gedanken wieder an den Ort zurückehren, vor dem ich eigentlich entfliehen wollte, so, wie es vor drei Nächten der Fall war? Ich weiß es nicht. Es ist schwierig, Gedanken abzuschalten.
Frodo legte die Feder beiseite, räumte sein Tagebuch weg und kroch in sein Bett. Er warf noch einen letzten Blick aus dem Fenster, sah zu den Sternen. ‚Wenn du traurig bist, dann sieh zum Himmel und betrachte die Sterne.' "Hör auf daran zu denken! Denk an nichts!" ließ er sich selbst verärgert wissen und schüttelte gequält den Kopf, bevor er sich in sein Kissen sinken ließ, die Augen schloss und sofort einschlief.
Kapitel 30: Tage, wie dieser
Inzwischen war es Wedmath geworden. Der Sommer war außergewöhnlich heiß und die Sonne brannte erbarmungslos auf die Bewohner Bocklands herab. Saradoc, der jeden Tag bedrückt zum Himmel blickte, machte sich große Sorgen um die Ernte, denn er fürchtete, dass diese verdorren konnte, sollte es nicht bald zu regnen beginnen. Solch heiße Monate waren im Auenland recht ungewöhnlich und nicht einmal die ältesten Großväterchen von Bockland bis zu den Fernen Höhen im Westen erinnerten sich an einen ähnlich heißen Sommer. Die Kinder hatten unter der Hitze am Wenigsten zu leiden und verbrachten ihre Nachmittage am Fluss, wo sie an den Ufern des Brandyweins spielten oder sich im seichten Wasser abkühlten. Auch Frodo war unter ihnen. Er mied es allerdings, weiter, als bis zu den Knien ins Wasser zu gehen, obschon er schwimmen konnte. Die anderen Kinder wussten zwar, dass seine Eltern ertrunken waren, verstanden aber seine Scheu vor dem Wasser nicht. Dennoch ließen sie ihn gewähren.
Am Nachmittag des 24. Wedmath war Frodo damit beschäftig, die Stallungen der Ponys auszumisten. Es gehörte eigentlich nicht zu seinen Aufgaben, sich um die Tiere zu kümmern, doch er tat es gern, vor allem gemeinsam mit Merry, allerdings war dieser noch immer bei Pippin. Erschöpft lehnte Frodo die Heugabel an die Wand und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Lass es gut sein, Frodo", meinte Marmadas. "Du hast mir genug geholfen. Geh ruhig zu den anderen und kühl dich ab." Frodo nickte und rannte aus dem Stall. Draußen hoffte er, frische Luft schnappen zu können, doch er wurde enttäuscht. Die Luft war schwül und stickig und noch immer waren keine Regenwolken in Sicht.
Seufzend leckte er sich die trockenen Lippen und schlug den Weg zum Pumpbrunnen ein. "Frodo, warte!" Überrascht sah er sich um. Fredegar Bolger kam auf ihn zugerannt und machte keuchend vor ihm Halt. Das Hemd war dem jüngeren Hobbit aus der Hose gerutscht und dicke Schweißtropfen liefen über seine Wangen. "Kommst du mit zum Fluss?", fragte er. Frodo brauchte nicht lange zu überlegen. Bei dieser Hitze war selbst er gerne am Brandywein. Er nickte, ließ sich aber nicht davon abbringen, trotzdem zum Brunnen zu gehen und zog Fredegar mit sich.
Dort angekommen bat er Dick am Hebel zu ziehen, während er gierig vom kalten Wasser trank und sich immer wieder eine handvoll davon ins Gesicht spritzte. Als das kühle Nass dann über seinen Hals und seinen Nacken nach unten lief, atmete er erleichtert auf. Fredegar, der ihn grinsend beobachtete, entschied schließlich, dass Frodo nun erfrischt genug war und hörte auf zu pumpen. "Komm schon!" forderte er Frodo auf, packte ihn am Handgelenk und riss ihn blitzschnell vom Brunnen weg. Frodo wäre beinahe gestolpert, schaffte es aber gerade noch, das Gleichgewicht zu halten.
Am Fluss waren schon viele junge Hobbits versammelt. Frodo entdeckte seinen Vetter Marmadoc, die Geschwister Minto und Madoc, Viola und Rubinie Pausbacken und Estella Bolger. Unter ihnen konnte er jedoch auch Marroc erkennen, der den Steg für sich und seine Freunde gewonnen hatte und nun jeden böse anfunkelte, der es wagte, diesen zu betreten oder ihn gar dazu verwendete, ins Wasser zu springen. Zwar wollte Frodo sich nicht von ihm einschüchtern lassen, doch machte er trotzdem einen Bogen um ihn, um sich mit Fredegar unter einem der Bäume niederzulassen. Dick hielt von dieser Idee jedoch wenig, zog sofort sein Hemd aus und sprang in den Fluss. Frodo zog erheitert eine Augenbraue hoch und beobachtete mit einem schiefen Grinsen, wie der jüngere Hobbit kurz untertauchte. "Komm schon, Frodo!" rief Dick ihm zu. "Das Wasser ist herrlich!"
Zögernd öffnete Frodo die Knöpfe seines Hemdes, das er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Er war in den letzten Wochen oft ins Wasser gegangen, allerdings nie tiefer, als bis zu den Knien. Dennoch war es jedes Mal eine Überwindung gewesen und wenn ihn nicht die Hitze dazu getrieben hätte, hätte er wohl nur selten den nötigen Mut dazu aufgebracht. "Wenn ich nahe am Ufer bleibe, kann nichts geschehen", versicherte er sich selbst.
"Lass ihn doch, Dick! Du weißt, dass er Angst vor dem Wasser hat!" meinte Marroc mit einem bösen Grinsen und warf Frodo einen nicht allzu freundlichen Blick zu. Einige der Hobbits lachten, andere warfen Frodo verstohlene Blicke zu und flüsterten miteinander, während wieder andere nicht einmal Notiz davon nahmen. Frodo verharrte einen Augenblick regungslos, die Finger krampfhaft um einen der Knöpfe geschlossen. Schließlich seufzte er. Er hätte wissen müssen, dass Marroc sich eine solche Gelegenheit nicht nehmen ließ. Die Tatsache, dass die anderen das auch noch lustig fanden, schmerzte ihn, doch er war es inzwischen gewohnt, dass ihm die meisten aus dem Weg gingen, oder hinter seinem Rücken tuschelten. Es störte ihn, manchmal mehr, manchmal weniger, doch er versuchte, sie nicht zu beachten. Er warf Marroc einen wütenden Blick zu, während er auch die letzten Knöpfe öffnete. Fest entschlossen, zu zeigen, dass er nicht halb so ängstlich war, wie Marroc vielleicht glauben mochte, stürmte Frodo in den Brandywein, blieb aber dennoch stehen, sobald das Wasser seine Kniekehlen umspielte und tauchte nur die Hände in den Fluss, um so auch seine Arme mit dem kühlen Nass benetzen zu können. Fredegar wusste, dass Frodo nicht ins tiefere Wasser kam, doch sollte das noch lange nicht heißen, dass dieser nicht ebenso viel Spaß haben konnte, wie er. Ohne Vorwarnung klatschte er die Hände in den Fluss und spritzte Frodo nass. Dessen unsicherer Gesichtsausdruck wich sofort einem breiten Grinsen, als er zum Gegenschlag ausholte, nicht ohne das Gesicht von Dick abzuwenden, um kein Wasser in die Augen zu bekommen. Rasch ließ er seine Hände über die nun aufgeschreckte Oberfläche des Flusses sausen, in der Hoffnung, die größeren Tropfen zu erzeugen, als Fredegar. Frodo war so vergnügt und damit beschäftigt, Dick nass zu spritzen, dass er nicht mehr hörte, wie Marroc etwas von "kindischen Spielereien" murmelte.
Es war ein schöner Sommer und Frodo war so ausgelassen, wie schon lange nicht mehr. Alleine die Tatsache, dass er wieder in den Fluss ging, während noch andere dabei waren, war etwas Besonderes. Zwar war Merry noch immer nicht zurückgekehrt, doch Dick Bolger gab ihm genau die Aufmunterung, die er brauchte und Frodo glaubte, in ihm einen beinahe ebenso guten Freund gefunden zu haben, wie in seinem jüngeren Vetter.
Tropfnass, wie sie waren, ließen sich die jungen Hobbits schließlich, unter dem Schatten der Bäume, ins Gras fallen. Frodo legte die Hände hinter den Kopf und sah zum Himmel. Kein Wölkchen trübte das tiefe Blau und selbst die Luft schien stillzustehen. Seit Tagen hatte es nicht einmal gewittert. "Ich wünschte, es würde regnen", sagte er nach einiger Zeit. "Diese Hitze ist kaum auszuhalten." Fredegar grinste, betrachtete ihn verschmitzt aus den Augenwinkeln. "Mir scheint, du brauchst eine weiter Abkühlung." Frodo schüttelte lachend den Kopf und strich sich eine nasse Strähne aus der Stirn. "Ich denke, ich bin noch nass genug."
Frodo wollte gerade müde die Augen schließen, als lautes Gekreische ihn hochfahren ließ. Auch Fredegar setzte sich überrascht auf, sah sich verwundert um. Reginard rannte mit einem Eimer voller Wasser hinter seiner Schwester her, die schreiend vor ihm flüchtete, während Rubinie, Estella und Viola versuchten, ihn davon abzuhalten. "Mädchen!" seufzten Frodo und Fredegar gleichzeitig. Sie tauschten einen kurzen, wissenden Blick, ehe sie schallend zu lachen begannen und sich wieder zurück ins Gras legten. Die Sonne hatte seine Haut inzwischen getrocknet und Frodo überlegte sich, ob er Fredegars Vorschlag nicht doch folgen und erneut ins Wasser springen sollte. Er entschied sich dagegen, denn im Augenblick schien es ihm selbst zu heiß, um bis zum Fluss zu gehen und er blies sich stattdessen, mit geringem Erfolg, Luft ins Gesicht. Als sich ihnen rasche Schritte näherten, öffnete Frodo seine Augen, schirmte sie gegen die Sonne ab und erkannte Estella, die sich wutentbrannt über sie gebeugt hatte. Ihr Schatten verdeckte auch die letzten Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch das dichte Blätterdach des Baumes gebahnt hatten, und Frodo hätte das Mädchen gerne einen Schritt weiter nach rechts gestellt, sodass ihr Schatten sein Gesicht bedeckt hätte. Estella machte jedoch nicht den Eindruck, als würde sie tun, was er vorschlug und so schwieg Frodo, während das Mädchen des Langen und Breiten berichtete, wie sie von Reginard ins Wasser gestoßen worden war. Natürlich war sie alles andere, als glücklich darüber. "Fredegar Bolger, was glaubst du eigentlich, was du da tust?", schimpfte sie aufgebracht, stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn ernst an. Dick blinzelte, sah sie mit hochgezogenen Brauen von oben bis unten an, rührte sich jedoch nicht. "Wenn ich bedenke, dass Mama genau gleich aussieht, wenn sie wütend ist, ist es wohl unmöglich zu leugnen, dass du meine Schwester bist", sagte er trocken. Frodo kicherte in sich hinein und erntete einen wütenden Blick von Estella, der ihn jedoch nicht daran hinderte, weiterzulachen. "Ich beneide dich, Frodo", fuhr Dick fort. "Du hast keine Geschwister, mit denen du dich herumärgern musst."
Frodos Lachen erstarb. Er dachte genau das Gegenteil. Manchmal wäre er froh, wenn er Geschwister hätte. Mit ihnen hätte er seine Gedanken, seine Sorgen teilen können. Doch hätte er sie wirklich daran teilhaben lassen, wo er nicht einmal Merry damit belasten wollte? Er konnte es nicht sagen. "Also sollte ich mir auch nicht unnötig den Kopf darüber zerbrechen", sagte er sich selbst.
"Komm jetzt! Ich verlange, dass du mir hilfst!" forderte Estella und zog ihren Bruder auf die Beine. "Wenn ich jemandem helfe, dann Reginard", meinte Fredegar und hielt die Hände seiner Schwester vor ihrer Brust fest umklammert, während er zu den andern ging. Frodo folgte den beiden mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. Estella regte sich furchtbar auf und beklagte sich immer wieder, wie ungerecht es wäre, ihr nicht zu helfen. Fredegar hingegen meinte, es wäre seine Aufgabe zu den Jungs zu halten, während Frodo sich damit entschuldigte, er müsse seinem Freund beistehen.
Als die drei entdeckt wurden, hallte ein lautes "Helft Estella!" durch die Gruppe von Mädchen und bevor Frodo wusste, wie ihm geschah, wurde er von Nelke und Rubinie zu Boden geworfen, während sich Viola auf Dick stürzte, der durch einen Tritt seiner Schwester, ebenfalls im Gras landete. Frodo versuchte verzweifelt, sich von den beiden zu befreien. Zwei Mädchen waren eindeutig zwei zuviel. Er stieß Rubinie von sich, doch Nelke ließ nicht locker. Sie warf sich mit all ihrem Gewicht auf ihn, hielt ihn so am Boden. "Gibst du auf?", wollte sie wissen, auch wenn sie Mühe hatte, Frodo in ihren Fängen zu behalten. "Was glaubst du denn?", fragte Frodo frech, befreite sich blitzschnell aus ihrem Griff und rollte sie von sich. Erschrocken schnappte er nach Luft, als plötzlich Wasser über seinen Kopf gegossen wurde. Das kalte Nass lief über seinen Nacken und auch Nelke, die durch seinen Körper geschützt worden war, blieb nicht davon verschont. "Mir scheint, es ist höchste Zeit, dass euch jemand eine Abkühlung verpasst", meinte eine wohlbekannte Stimme. Frodos Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, als er mit einem Satz aufsprang und sich mit einem lauten "Merry!" auf selbigen stürzte. Mit einem überraschten Ausruf stolperte Merry rückwärts und fiel zu Boden. Der Eimer, den er für die unerwartete Erfrischung seines Vetters verwendet hatte, flog ihm in hohem Bogen aus den Händen und landete direkt vor Marrocs Füßen. "Ich hatte dich frühestens morgen zurück erwartet!" rief Frodo erfreut. "Ich mich auch", meinte Merry grinsend. "Doch dann dachte ich, dass man dich nicht allzu lange alleine lassen kann und wie sich zeigt, kam ich genau im richtigen Augenblick." "Das kriegst du noch zurück!" meinte Frodo lachend, und bemerkte nicht, wie Nelke, die hinter ihm stand, leicht rot anlief. "Das werden wir noch sehen!" antwortet Merry, sprang auf und stolperte dabei direkt in Marrocs Arme. "Ja, das werden wir noch sehen", meinte dieser und stieß den Jungen grob beiseite. "Warst du es, der mir den Eimer an den Kopf warf?", fragte er barsch, wobei er Frodo den Eimer vors Gesicht hielt.
Frodo erzitterte, die Freude über Merrys Rückkehr mit einem Mal vergessen. Wieder spürte er die Angst, die wie eine Hand nach ihm griff. Nicht heute. Nicht hier. Hier sind zu viele, zu viele Zeugen. Das wird er nicht wagen und selbst wenn, habe ich mich einmal gegen ihn verteidigen können und werde dies auch ein zweites Mal schaffen - hoffe ich. Noch bevor Frodo es gewagt hatte, etwas zu sagen, griff Merry ein. "Ich habe den Eimer fallen lassen, es war keine Absicht." "Das will ich für dich hoffen", entgegnete Marroc knapp und warf den Eimer zu Boden, "für dich und deinen Freund." Er warf Frodo einen abschätzigen Blick zu, dann ging er davon.
Frodo atmete erleichtert auf. Er ignorierte seine Angst und lächelte. Merry sah ihn besorgt an, doch Frodo war fest entschlossen, seinen Vetter nicht gleich am ersten Tag zu beunruhigen. Rasch packte er dessen Handgelenk und zog ihn mit sich zum Fluss. "Für das Auenland!" brüllte er vergnügt und Wasserspritzer, die im Sonnenlicht in allen Farben funkelten, flogen durch die Luft. Merry wusste nicht recht, wie ihm geschah, bis Frodo plötzlich stehen blieb, um ihn nass zu spritzen. Marroc war mit einem Schlag vergessen und die beiden feierten ihr Wiedersehen mit einer ausgelassenen Wasserschlacht, in die Fredegar bald mit einstimmte.
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Die Sonne war schon fast untergegangen und nur die tanzende Flamme einer Kerze auf dem Nachttisch spendete das nötige Licht, während Frodo und Merry unter vielen Unterbrechungen, lauten Lachanfällen und wilden Gestikulationen alle Geschehnisse der vergangenen Monate austauschten. Frodos Bett war zum Ort der Erzählung auserkoren worden und, nachdem sie sowohl die Decke, als auch das Kissen auf den Boden geschmissen hatten, hatte es sich jeder der beiden in einer Ecke gemütlich gemacht und seine Erlebnisse geschildert. Sie waren mit ihren Berichten schon längst am Ende angekommen, erzählten aber immer wieder wichtige Dinge, die zuvor vergessen worden waren, als plötzlich etwas gegen das Fenster klopfte. Frodo wandte sich erschrocken um und seine Augen weiteten sich voller Freude. "Es regnet!" rief er ungläubig. Merry starrte nicht weniger überrascht zum Fenster. "Lass uns nach draußen gehen!" schlug er, mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht, vor. Frodo stimmte erfreut zu und folgte ihm leise aus dem Zimmer. Auf Zehenspitzen schlichen sie durch die Gänge, bevor sie schließlich durch den Hintereingang nach draußen gelangten.
"Für das Auenland!" rief Merry entzückt und griff nach Frodos Hand. Gemeinsam rannten sie über das nasse Gras, während große Regentropfen auf sie nieder prasselten. Jubelnd und lachend sprangen sie über die Wiesen, während über ihnen ein wahrer Wolkenbruch tobte. In der Ferne zuckten Blitze, doch bargen diese für die Hobbits keine Gefahr, denn der darauf folgende Donner war nicht mehr, als ein leises, entferntes Grollen. Plötzlich streckte Frodo die Hände aus, wandte das Gesicht nach oben und wirbelte so schnell im Kreis herum, als hoffe er, jeden Moment abzuheben. "Ich hätte nie gedacht, dass ich mich jemals so sehr über Regen freue!" verkündete er lachend. Merry grinste und ließ sich zu Boden fallen. Sein verschwitztes Hemd sog sogleich die Feuchtigkeit des Grases auf, kühlte so die erhitzte Haut an seinem Rücken. Frodo blieb abrupt stehen, schwankte einen Augenblick und plumpste schließlich auch ins Gras. "Alles dreht sich", meinte er benommen, während er sich auf den Rücken fallen ließ, wobei es ihm nicht anders erging, als seinem Vetter. Merry kicherte. "Das kann ich mir vorstellen."
Die Zeit verging und die beiden kümmerten sich nicht darum, dass sie vollkommen durchnässt und schmutzig waren, sondern genossen das beständige Prasseln der Regentropfen auf ihren Gesichtern, bis sie sich schließlich unter die große Eiche setzten. Ein beständiger Nordwind war aufgekommen, der die Blätter des Baumes zum Säuseln brachte. Frodo war glücklich. In Momenten wie diesen, konnte er alles vergessen, genau wie er es im Alten Wald getan hatte, mit dem Unterschied, dass es hier mehr Vergnügen bereitete. "Ich könnte tanzen!" verkündete er plötzlich freudestrahlend. Merry unterdrückte ein Kichern, schaffte es aber nicht und brach schließlich in lautes Gelächter aus. Die Ideen seines Vetters mochten beizeiten verrückt sein, doch schlecht waren sie keinesfalls. "Dann lass uns tanzen!" meinte er schließlich und kam wieder auf die Beine. Frodo kicherte, als er sich aufrichte. "Wir haben keine Musik", gab er zu bedenken. "Wir brauchen keine", versicherte Merry. Frodo grinste, sprang auf die Beine und hakte sich bei Merry ein. Übermütig wirbelten sie dann herum, hüpften unter der großen Eiche auf und ab, wobei sie mehrere Male beinahe ins Stolpern geraten wären. Mit geschlossenen Augen drehten sie sich im Kreis, tanzten zu einer Melodie, die nur sie hören konnten.
Als das Gewitter schließlich näher kam, brachen die Hobbits ihren ausgelassenen Tanz ab und gingen zurück zum Brandyschloss. Keiner der beiden verschwendete auch nur einen Gedanken daran, dass sie pitschnass und schmutzig waren und überall, wo sie hingingen, Pfützen hinterließen. Lachend liefen sie durch die Gänge, zurück zu Frodos Zimmer, als ihnen Hanna entgegen kam, die sie mit großen Augen anstarrte. Die jungen Hobbits sahen verwundert zu ihr auf. "Du meine Güte", war alles, was Hanna herausbrachte, ehe sie beide am Arm packte und ins östliche Badezimmer führte.
Frodo und Merry verstanden die Welt nicht mehr. Weshalb war sie so aufgeregt? Doch als sie sich umwandten, sahen sie es selbst. Ihre nasse Kleidung hatte eine Spur hinterlassen. So viel Wasser, das es schon beinahe für ein kleines Rinnsal hätte ausreichen können. "Oh", war alles, was sie dazu zu sagen hatten.
Als Hanna sie schließlich losließ und sich zu ihnen umwandte, blickten die Kinder schuldbewusst zu ihr auf, doch die junge Mutter lächelte kopfschüttelnd. Es war dunkel im Badezimmer, denn das große Feuer, das für gewöhnlich in der Mitte des Raumes brannte, war nur noch eine rote Glut, da offensichtlich nicht damit gerechnet wurde, dass jemand die großen Badesäle in den tiefer gelegenen, mittleren Gängen, gegen jenes kleine Badezimmer weit im Osten eintauschen wollte. "Keine Sorge, ich werde euch nicht verraten. Das Wetter war einfach zu einladend, für einen späten Spaziergang im Regen", meinte Hanna und zwinkerte den beiden zu. Merry und Frodo atmeten erleichtert auf. "Ich werde euch frische Kleider holen, während ihr euch hier wascht. Anschließend werdet ihr das Wasser aufwischen, das ihr hinterlassen habt und es wieder dahin zurückbringen, wo es hingehört", verlangte sie und wandte sich um, blieb jedoch in der Tür noch einmal stehen. "Ich hoffe, dass ihr in dieser Zeit nicht erwischt werdet."
"Da hatten wir noch einmal Glück!" seufzte Merry, als er sich seines Hemdes entledigte. "Freu dich nicht zu früh", Frodo sah ihn nervös an. "Wir sprechen hier vom Brandyschloss. Wenn wir nicht entdeckt werden wollen, müssen wir uns beeilen, unseren Dreck wegzumachen." Merry nickte und griff sogleich nach einer der Wasserschüsseln. "Ich hole das Wasser, dafür wirst du den größeren Teil wegputzen." Frodo warf ihm einen missfallenden Blick zu, gab sich jedoch geschlagen. Jede weitere Diskussion würde die Reinigung nur verzögern und die Möglichkeit, entdeckt zu werden, würde steigen.
Frodo suchte einige Tücher aus dem Schrank, während Merry im hinteren Teil des Badezimmers verschwand, wo sich ein Pumpbrunnen befand. Als er schließlich zu Frodo zurückkehrte, wuschen sich die beiden blitzschnell mit dem kalten Wasser. Schritte kamen näher. Die Kinder sahen erschrocken auf, blickten wie gebannt auf den Türknauf, der sich langsam drehte, bis Hanna schließlich eintrat, beladen mit ihren Nachthemden. Frodo und Merry atmeten erleichtert auf und zogen sich um, ehe sich beide eines der Tücher schnappten und aus dem Badezimmer stürmten - direkt in Saradocs Arme. Mit einer schnellen Bewegung ließen sie die Tücher hinter ihren Rücken verschwinden und grinsten unschuldig. "Und was glauben die Herren, was sie zu so später Stunde noch machen?", fragte Saradoc sachlich. "Gar nichts!" versicherte Frodo schnell. "Ja, wir waren gerade auf dem Weg... ins Bett!" stimmte Merry zu. "Gute Nacht, Papa!" "Gute Nacht!" rief Frodo noch, als er schon an Saradoc vorbei gerannt war, dicht gefolgt von Merry.
Saradoc betrachtete Hanna und räusperte sich. Hanna hatte ein nicht weniger unschuldiges Gesicht aufgesetzt, wie Merry und Frodo zuvor. Unverhofft begann er zu lachen. "Du hilfst diesen beiden Halunken?" Hanna zuckte mit den Schultern und lächelte nun ebenfalls. "Sie hatten solchen Spaß." Saradoc nickte. "Solange sie den Schmutz selbst wieder weg machen. Auf dem Weg hierher sind mir ganze drei entsetzte Damen entgegengekommen, die behaupteten, die Höhle wäre undicht." Hanna lachte. "Keine Sorge, sie sind bereits an der Arbeit. Bald wird es keine undichten Stellen mehr geben."
Es dauerte nicht lange, das Wasser wegzuwischen und zu ihrer eigenen Überraschung, wurden Frodo und Merry tatsächlich von niemandem entdeckt, was nicht zuletzt daran lag, dass sie jedes Mal in einem der Gästezimmer, den Abstellkammern oder Speisekammern verschwanden, wann immer sie jemanden kommen hörten. Zögernd schlichen sie schließlich wieder zurück zum Badezimmer, um die Tücher auszuwaschen und zum Trocknen aufzuhängen. "Er ist dein Vater, also gehst du voraus!" bestimmte Frodo, als sie unsicher um eine Biegung schielten. Die Lampen tauchten die Gänge in ein blasses, rotgelbes Licht, das immer schwächer wurde, je weiter sie nach Osten gingen. Merry murrte, konnte ihm allerdings nicht widersprechen. Langsam ging er an Frodo vorüber, lehnte sich nach vor und spähte vorsichtig um die Biegung "Er ist hier!" rief er in einem entsetzten Flüstern und machte einen Satz zurück. Frodo stolperte ebenfalls rückwärts und fiel erschrocken zu Boden. Er wollte gerade die Flucht ergreifen, als Merry losprustete. "Er ist hier im Brandyschloss", verkündete der Jüngere lachend, "doch nicht in der Nähe des Badezimmers. Komm schon!" Frodo warf ihm einen wütenden Blick zu, als sein Vetter ihm wieder auf die Beine half und sich das Kichern nicht verkneifen konnte. "Du lässt dich viel zu leicht für dumm verkaufen", ließ Merry ihn grinsend wissen.
Nachdem sie die Tücher gereinigt hatten, trennten sich die beiden schließlich, doch bevor Frodo zu Bett ging, klopfte er noch einmal an Hannas Tür. Marmadas öffnete ihm, hieß ihn im warmen Schein vieler Kerzen und Lampen willkommen. Frodo schielte hinein, erblickte Hanna und ging zu ihr. Sie saß in einem Sessel mit Merimas in ihren Armen. Das Kind schlief tief und fest und hatte sich zufrieden in den Armen seiner Mutter eingekuschelt. Sie lächelte, als Frodo auf sie zukam. "Ist alles in Ordnung?", wollte sie wissen, als der Junge lange Zeit nur lächelnd auf Merimas blickte. Frodo nickte und löste den Blick von dem schlafenden Kind. "Ich wollte mich nur bedanken", sagte er leise. "Wir hatten ganz schönes Glück." "Weniger, als du glaubst", meinte Hanna und lächelte, als sie den überraschten Ausdruck in seinem Gesicht bemerkte. "Saradocs Augen und Ohren sind überall." Frodo seufzte. "Ich bezweifle, dass es seine Augen und Ohren waren." Hannas Lächeln wurde noch breiter. "Damit hast du nicht Unrecht. Es waren die dreier Damen, die entsetzt über den Bau des Brandyschlosses waren. Nicht einmal einem Gewitter halten die Wände stand." Sie setzte eine empörte Miene auf, die Frodo zum Kichern brachte. Er lachte noch mehr, als er sich ausmalte, wie die drei Frauen mit entrüsteten Gesichtern Saradoc über das Wasser berichteten, doch verstummte er, als sein Blick erneut auf Merimas fiel, der die Stirn gerunzelt hatte und nicht mehr ganz so zufrieden aussah, wie zuvor. Er wollte den Jungen nicht aufwecken. "Ich denke, ich werde jetzt auch schlafen gehen", meinte er schließlich, wünschte Marmadas und Hanna eine gute Nacht und ging dann in sein Zimmer.
Kapitel 31: Beobachtung mit Hindernissen
Mit großen Augen sah Frodo auf die Hobbithöhle vor sich, dann zu Esmeralda. Einerseits freute er sich, anderseits überkam ihn ein mulmiges Gefühl. Er ging von einer überfüllten Hobbithöhle in die nächste. Die Großen Smials, eine der größten Höhlen im ganzen Auenland, wenn nicht sogar die Größte. Sie war seit jeher Sitz des Thains gewesen und nicht selten waren in ihren geräumigen Hallen wichtige Entscheidungen getroffen worden - das hatte er zumindest gelesen. Das letzte Mal war er vor sechs Jahren hier gewesen, vor einer Ewigkeit, wie ihm schien. Er seufzte bei der Erinnerung daran. Ein Wind kam auf, als ein Hobbit aus den Smials nach den Zügeln des Ponywagens, mit dem sie gekommen waren, griff und das Tier sich wiehernd in Bewegung setzte. Frodo fröstelte und wickelte seinen Umhang enger um sich. Der Winter kam, langsam und heimlich. Frodo spürte es. Der Wind wehte selbst am späten Nachmittag so frisch, wie er es an einem tauigen Morgen tat.
Pippin hatte ihn gebeten, ihn besuchen zu kommen. In den letzten Tagen des Halimath war er wieder nach Bockland gekommen und hatte ihn zu sich nach Hause eingeladen, wie er es mit Merry ein halbes Jahr zuvor getan hatte. Frodo hatte erfreut zugesagt. Die Großen Smials, Ferien bei Pippin. Das konnte nur eine viel versprechende Zeit werden. Dennoch schien seine Freude in diesem Moment verflogen. Früh schon war er mit Esmeralda aufgebrochen. Vielleicht war es zu früh gewesen und es war nur die Müdigkeit, die ihn sich unwohl fühlen ließ. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Er fröstelte erneut.
"Kommst du, Frodo, oder begnügst du dich damit, die Höhle anzusehen?" Frodo sah erschrocken auf. Esmeralda war bereits einige Schritte voraus gelaufen. Er rannte ihr nach, ging schließlich neben ihr her. "Du siehst betrübt aus", stellte sie fest, die Augen fragend auf ihm ruhend. Frodo sah zu ihr auf. "Ich bin müde, das ist alles." Sie nickte mitfühlend und legte ihre Hand auf seinen Rücken. Gerade als Esmeralda an die große, runde Türe klopfen wollte, öffnete sich diese und Paladin begrüßte sie voller Freude. Ein warmer Lichtschein drang nach draußen und Frodo wurde vom Duft von Holz und frisch gebackenem Kuchen willkommen geheißen. Er sehnte sich danach, endlich ins Warme zu kommen und hoffte, Paladin würde sich bei seiner Begrüßung kurz fassen, als er erkannte, wie Pippin sich grummelnd zwischen den Beinen seines Vaters hindurchzwängte. "Frodo!" rief er erfreut, als er endlich ins Freie stolperte und fiel ihm um den Hals. "Wie schön, dich zu sehen!" Frodo drückte ihn an sich und lächelte. "Es ist auch schön dich wieder zu sehen, Pip, auch wenn unser letztes Treffen erst einen Monat zurückliegt." Pippin nickte. "Ich kann mich allerdings nur an einen Besuch von dir in Buckelstadt erinnern, und der muss schon so lange zurückliegen, dass ich ihn schon fast vergessen habe. Komm mit, ich zeige dir alles." Mit diesen Worten ergriff Pippin seine Hand und zog ihn, an seinem Vater vorbei, ins Innere der Höhle. Sofort durchströmte ihn die Wärme unzähliger Kerzen, Lampen und Kaminfeuer. Frodo ließ seinen Blick neugierig durch die hell erleuchteten Gänge wandern. Die Großen Smials waren ganz anders aufgebaut, als das Brandyschloss. Von der großen Eingangshalle gingen drei Hauptgänge weg, einer nach Osten, einer nach Westen und einer nach Süden. Von ihnen zweigten weitere, kleinere Gänge ab. Ein Lächeln glitt über Frodos Lippen, als er sich seines Umhangs und des Mantels entledigte. Er wollte gerade nach einem freien Haken sehen, als Pippin ihm die Sachen abnahm, sie seinem Vater in die Hände drückte und ihn dann mit sich in den westlichen Gang zog, sodass Frodo nur noch einen kurzen vergnügten Blick zurückwerfen konnte. Es war bestimmt nur die Müdigkeit. Er würde hier zweifelsohne eine schöne Zeit verbringen.
~*~*~
"Und das ist das Zimmer von Pimpernel und Petunia", verkündete Pippin und öffnete eine weitere Türe. Sie hatten gerade erst begonnen, die westlichen Gänge auszukundschaften, doch Pippin war bereits völlig in seinem Element. Mit einem Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte, öffnete er jede Tür und gewährte Frodo Einblick in so gut wie alle Zimmer. Auf nichts ahnende Bewohner waren sie bisher nicht getroffen, doch als sich die Türe in das Zimmer von Pippins jüngsten Schwestern öffnete, durften sie belauschen, wie Pimpernel der Jüngeren das Geheimnis ihres ersten Kusses anvertraute. Als diese jedoch das Scharnier krächzend protestierten hörte, sprang der frischgebackene Tween entrüstet auf, während Petunia, ein aufgeregtes Glitzern in den Augen, sich verwundert zu ihnen umwandte. "Pippin! Raus hier!" schimpfte sie wutentbrannt und eine Sekunde später war die Tür krachend zurück ins Schloss gefallen. "Sie ist sehr launisch", meinte Pippin knapp und sachlich, ehe er sich von der Türe abwandte. Frodo warf seinem Vetter einen vielsagenden Blick zu, kicherte und folgte dann kopfschüttelnd dem jüngeren Hobbit, der inzwischen zur gegenüberliegenden Tür gegangen war. "Und hier drüben", fuhr Pippin mit völlig ernstem Gesichtsausdruck fort, doch weiter kam er nicht, denn Heiderose, seine Mutter, kam den Gang entlang und unterbrach ihn. "Was machst du da, Peregrin?" "Ich führe Frodo herum", erklärte dieser stolz. "Schließlich muss er sich hier auskennen." "Ich denke nicht, dass die Zimmer deiner Schwestern zu den Bereichen gehören, in denen er sich zurechtfinden muss", entgegnete Heiderose und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, zu den Wohnräumen zu gehen. "Natürlich muss er das", protestierte Pippin. "Er muss wissen, wohin er nicht gehen darf." Er wandte sich ernst an seinen Vetter: "Frodo, die Räume, die ich dir bis jetzt gezeigt habe, darfst du niemals betreten. Es sei denn, du willst Ärger." Frodo versuchte ebenfalls eine ernsthafte Miene zu bewahren, als er zustimmend nickte, hatte aber große Schwierigkeiten damit. Heiderose schüttelte den Kopf und schickte die beiden weg, die, kaum hatten sie ihr den Rücken zugedreht, laut losprusteten.
Bald darauf saßen sie im Esszimmer. An einer langen Tafel versammelten sich die Bewohner der Smials, während fünf Küchenmädchen etliche leckere Speisen auftischten, angefangen von Kartoffeln, bis hin zu Schweinsbraten. Obwohl Frodo von den neuen Eindrücken noch ein wenig überwältigt war, war es doch schon lange her, dass er das letzte Mal hier gewesen war, langte er kräftig zu. Ihm war der Platz neben seinem Vetter zugewiesen worden und von dort aus ließ er seine Augen selbst während des Essens immer wieder über die edlen Wandlampen und Gemälde gleiten. Links und rechts der Tafel waren mit Kohle gemalte Bilder der vergangenen Familienoberhäupter der Tuks angebracht worden. Hier war ein Bild von Ferumbras Tuk, dort eines von seinem Vater Fortinbras und sogar eines von seiner Mutter Lalia Tuk, die die Familie für einige Jahre unter ihrem Regiment geführt hatte. Frodo gegenüber, über dem Kamin, der dem Raum die nötige Wärme schenkte, hing das Bild von Gerontius, dem Alten Tuk. Die dunklen Augen des alten Mannes schienen ihn zu beobachten und Frodo wandte rasch den Blick ab und spießte eine weitere Kartoffel auf.
Seine anfängliche Müdigkeit war verflogen und kehrte erst zurück, als er Stunden später in Pippins Zimmer auf dessen Bett saß. Inzwischen war es Nacht geworden und nur eine Kerze bewahrte ihn und seinen Vetter vor vollkommener Dunkelheit. Erschöpft ließ Frodo den Kopf in Pippins Kissen fallen. Peregrin saß neben ihm auf dem Bett, betrachtete ihn mit einem Lächeln. Nur ein Teil seines Gesichtes wurde von der Flamme erhellt, doch Frodo konnte sehen, dass sein Vetter glücklich war und das erfreute ihn, war er doch nun, da die anfänglichen Zweifel vergessen waren, ebenso froh, hier zu sein. "Du siehst müde aus", ließ ihn der junge Tuk wissen. "Du kannst mein Bett haben und ich warte auf die Matratze, die Papa eigentlich schon vor langer Zeit hier herein hätte bringen sollen." Frodo schüttelte den Kopf. "Nein, Pip. Solange kann ich noch warten." Ein Gähnen, das er verzweifelt zu unterdrücken suchte, nahm seinen Worten die nötige Glaubhaftigkeit. "O nein, du wartest nicht mehr!" meinte Pippin entschlossen und hatte schon die Decke griffbereit, um Frodo damit zuzudecken. "Pippin!" beschwerte sich dieser, doch er war zu müde, um noch länger zu protestieren und erlaubte seinem Vetter schließlich, ihn warm einzupacken, ehe dieser selbst in das Bett kletterte und sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht, hinter ihm hinlegte. "Du schläfst und ich warte", wiederholte er noch einmal und legte eine Hand auf Frodos Augen, die bemüht waren, nicht zuzufallen. Frodo nickte schwach, konnte sich dann, warm eingepackt und mit halbgeschlossenen Lidern, des Schlafes nicht länger erwehren und gab sich ihm hin.
Frodo bemerkte kaum, wie die Tage vergingen, bis Esmeralda schließlich kundtat, dass sie sich am folgenden Morgen verabschieden wollte. Sie war gekommen, um ihren Bruder zu besuchen, doch obwohl sie sich in den Smials Zuhause fühlte, sehnte sie sich doch nach ihrem Gatten und ihrem Sohn. Esmeralda mochte zwar im Herzen eine Tuk bleiben, doch seit sie Saradocs Frau geworden war, hatte sie sich dem Bockland geöffnet und sowohl dessen Bewohner, als auch das Land lieben gelernt und sie war glücklich dort. Frodo machte ihre Abreise wenig aus, denn er sollte noch bis Jul, oder gar länger, in Tukland bleiben. In den zwei Wochen, die er inzwischen hier verbracht hatte, hatte er sich eingelebt. Das Zimmer, das er sich mit Pippin teilte, hatte etwa die Größe seines eigenen und mit der zusätzlichen Matratze konnte es beizeiten recht eng werden. Es war gleich neben jenem von Petunia und Pimpernel gelegen und auch wenn die beiden Mädchen kein Wort darüber verloren hatten, glaube Frodo, dass sie Pippin das nicht ganz ungewollte Eindringen bei seiner Ankunft verziehen hatten. Ebenso, wie sein eigenes Zimmer, verfügte auch das von Pippin über ein kleines, kreisrundes Fenster, das den Raum hell und freundlich wirken ließ. Frodo genoss es, bei seinem Vetter zu sein, hatte sich inzwischen sogar schon an die Streitereien, die beizeiten zwischen den Schwestern und ihrem jüngeren Bruder tobten, gewohnt. Manchmal konnte er die älteren Mädchen nicht verstehen und es schien ihm, als würde einzig Petunia, die so alt war, wie er, Pippins Späße auch als solche begreifen. Pimpernel und Perle waren wohl zu alt dafür, auch wenn letztere häufiger dafür Verständnis aufbrachte, als Nel, die wohl wirklich so launisch war, wie Pippin sie ihm geschildert hatte.
"Aufstehen!" Die Aufforderung drang kaum zu ihm durch und erst als ihn ein Kissen am Kopf traf, wurde ihm klar, dass die Worte nicht nur einem Traum entsprungen waren. Seine Finger tasteten nach der Decke und er stöhnte missmutig, als er sich darin noch einmal zusammenrollte, in der Hoffnung, die fordernde Stimme möge verschwinden. "Komm schon, du Schlafmütze von einem Hobbit!" Blitzschnell wurde er seiner Decke beraubt und die frische Morgenluft, die stattdessen über seinen Körper kroch, machte ihn frösteln und er versuchte, sich noch kleiner zusammenzurollen. Um seinem Missfallen Ausdruck zu verleihen, stöhnte er erneut, doch schien das dem Störenfried nichts auszumachen. Hände legten sich auf seinen Rücken und erst jetzt konnte Frodo sich dazu durchringen, müde zu blinzeln. In eben jenem Moment setzte Pippin all seine Kraft ein, um ihn von der Matratze zu rollen und Frodo war zu langsam, dies zu verhindern. "Muss das am frühen Morgen sein?!" grummelte er verschlafen und rieb sich die Augen, nachdem er sich gemächlich aufgerichtet hatte. Pippin grinste unschuldig, wirkte jedoch ausgesprochen zufrieden mit sich selbst. "Es mag vielleicht Morgen sein, aber früh ist es keineswegs, Vetter." Frodo warf dem jüngeren Hobbit einen vielsagenden Blick zu, kroch zurück auf die Matratze und entriss Pippin seine Decke, um sich wieder in deren wohliger Wärme einzukuscheln. Der junge Tuk sah ihn einen Augenblick betrübt an, legte sich dann jedoch neben die Matratze, sodass er auf Augenhöhe mit Frodo war und grinste zufrieden in sich hinein, als dieser ein Auge öffnete, um ihn zu beobachten. "Hilfst du mir, etwas herauszufinden?", fragte er hoffnungsvoll. "Herausfinden? Was?" Frodo wirkte skeptisch und nicht sonderlich interessiert. Genau auf diese Frage hatte Pippin gewartet und sein Grinsen wurde noch breiter, als er tief Luft holte und dann in einem Atemzug zu sprechen begann. "Ich habe gehört, dass Hildibrand meine Schwester Perle geküsst haben soll. Allerdings heißt es, dass Hildibrand bereits mit Asphodel verlobt ist und ich muss jetzt herausbekommen, welche dieser beiden Aussagen richtig ist. Wären nämlich beide wahr, wäre das ein Skandal, sollte aber..." "Schon gut, schon gut!" bremste Frodo Pippins Redeschwall und richtete sich schließlich auf, noch immer bis über beide Ohren zugedeckt. "Du wirst ohnehin keine Ruhe geben, bevor ich nicht einwillige dir zu helfen, also bleibt mir gar nichts anderes übrig." Er streckte sich, um seine müden Glieder aufzuwecken, als ihm Pippin stürmisch um den Hals fiel. Beinahe wäre er erneut von der Matratze gefallen, doch war er inzwischen wach genug, um dies zu verhindern und schob stattdessen Pippin von sich weg, um an seine Sachen zu kommen und sich anzuziehen. "Beeil dich", hetzte Pippin. "Wir müssen uns sofort auf die Suche nach der Wahrheit begeben." "Und was ist mit dem Frühstück?", begehrte Frodo zu wissen. "Das hatte ich bereits", entgegnete Pippin frech. Frodo sah seinen Vetter entgeistert an. Sein Blick sprach Bände. Für einen Augenblick huschte ein Grinsen über Pippins Gesicht, doch verschwand dieses ebenso schnell, wie es gekommen war, als er schließlich mit ernstem Ton verkündete: "Ich werde eine Ausnahme machen. Ich bin hungrig genug für ein zweites Frühstück, also denke ich, dass ich dir ein erstes erlauben kann." Frodo stimmte dem stirnrunzelnd zu. Sein Vetter konnte nicht erwarten, ihn seines Schlafes und seines Frühstückes berauben zu können. Schweigend knöpfte er sich sein Hemd zu, schlüpfte schließlich in seine Hose, ehe er, für Pippin völlig unerwartet, die Decke nahm, sie um seinen Vetter wickelte und den jüngeren Hobbit, der inzwischen ebenfalls wieder auf die Beine gekommen war, auf die Matratze warf. Pippin kicherte vergnügt, sah ihn aber dann vollkommen entrüstet an und schimpfte: "Was machst du da? Wir haben keine Zeit für Blödeleien! Geh frühstücken!" Frodo schüttelte kichernd den Kopf, ließ sich das aber nicht zwei Mal sagen und, nach einem letzten Blick auf seinen Vetter, der verzweifelt versuchte, wieder unter der Decke hervor zu kriechen, stürmte er aus dem Zimmer.
Perle trat überrascht einen Schritt zur Seite, als der junge Hobbit aus dem Zimmer ihres Bruders gerannt kam. Dieser schien nicht weniger erschrocken, über ihre Anwesenheit, doch begrüßte er sie übermütig, als er sie erkannte und deutete eine kleine Verbeugung an. "Wie geht es Hildibrand?", fragte er mit einem frechen Grinsen. Perle runzelte die Stirn und betrachtete ihn kritisch. "Hildibrand?" Doch Frodo konnte ihr nicht mehr antworten, denn Pippin erschien plötzlich hinter dem Jungen und zerrte ihn mit einem Ruck von ihr weg. Kichernd und stolpernd eilten sie den Gang entlang, wobei beide immer wieder wissende Blicke zurückwarfen. Perle runzelte verwunderte die Stirn und schüttelte den Kopf.
"Du gehst das vollkommen falsch an!" erklärte Pippin, als sie schließlich beim Frühstück saßen. "Du darfst nicht fragen, du musst beobachten. Fragen schöpfen Verdacht, wogegen Beobachtung nicht auffällt, wenn du es geschickt anstellst." Frodo nickte. Er hegte keinen Zweifel daran, dass Pippin sich äußerst geschickt anstellte, wenn es um Beobachtungen ging. All die Gerüchte, die sein Vetter immer bestätigen oder widerlegen konnte, ließen auf nichts anderes schließen. Außerdem hatte er ihn in den vergangenen Wochen oft genug selbst beobachtet und war zu dem Schluss gekommen, dass Pippin in Sachen Heimlichkeiten ein Meister war.
Bald darauf schlich Frodo hinter Pippin auf den Heuboden. Von dort, so meinte zumindest Pippin, hätten sie die perfekte Aussicht. Sie hatten sich ihre Umhänge umgebunden und waren heimlich zu den Ställen geschlichen, wo Hildibrand den ganzen Tag mit der Versorgung der Tiere beschäftigt sein würde. Zumindest Pippin war davon überzeugt und er war der Ansicht, dass sie ihn hier ungestört beobachten und jedes Mädchen sofort erkennen konnten, das in seine Nähe kam. Frodo war Pippins Vorgehensweise ein wenig fragwürdig und er fühlte sich nicht wirklich wohl dabei, einen fremden Hobbit, der noch dazu doppelt so alt war, wie er selbst, zu beobachten, doch Pippin war davon nicht abzubringen und so sagte Frodo nichts, um zu vermeiden, dass sein Vetter ihm den ganzen Tag damit auf die Nerven ging.
Lange Zeit lagen sie schweigend im Heu, ließen ihre Blicke über die Ponyboxen wandern, in denen der ältere Hobbit sein Tagewerk verrichtete, doch nicht ein einziges Mal erhielt Hildibrand Damenbesuch oder verhielt sich auffällig. Staub wirbelte in der Luft herum und kitzelte Frodo in der Nase, bis er ein Niesen nur mehr mit Mühe hatte zurückhalten können. Das Heu stach ihn durch sein Hemd und nicht selten hatte er eine Spinne von seinen oder Pippins Armen wischen müssen. Dem jungen Tuk schien das nichts auszumachen, doch Frodo wurde es bald zu langweilig und ungemütlich. "Pip, es passiert nichts", seufzte er und rollte sich auf den Rücken. "Das wird es aber!" versicherte Pippin und rutschte ein Stückchen weiter nach vor, da Hildibrand in dem kleinen Raum unter ihnen verschwunden war. "Was lässt dich da so sicher sein? Du hast sie ja nicht einmal zusammen gesehen. Vielleicht waren deine Informationen falsch. Früh am Morgen hört man die interessantesten Geschichten. Wer immer es dir gesagt hat, hat es vielleicht nur geträumt", erklärte Frodo genervt. Pippin sah ihn beleidigt an. "Das glaube ich nicht." "Glaub was du willst, aber ich gehe jetzt. Hier draußen ist es mir zu kalt." Mit diesen Worten erhob er sich und ging zur Leiter. Er saß zwar gerne im Heu, doch auch hier oben blieb der nahende Winter nicht unbemerkt und obschon er nicht fror, konnte er sich vorstellen, dass es am Kamin im Gesellschaftszimmer sehr viel gemütlicher war. "Warte!" Pippin sprang zu ihm, griff nach seinem Ärmel. "Nur noch ein Weilchen?" Frodo ließ die Schultern hängen, sah seinen Vetter viel sagend an, fest entschlossen, nicht nachzugeben. Doch Pippins bittende Augen, die kleinen Grübchen an seinem Kinn und die, zu einem Schmollmund verzogenen Lippen, ließen sein Herz weich werden und, trotz geringer Begeisterung, ging er zum Rand des Heubodens zurück, um es sich dort wieder gemütlich zu machen. Pippin lächelte vergnügt und Frodo bereute seine Tat bereits, doch schließlich war es nur noch für ein Weilchen.
Pippin lehnte sich gefährlich weit über den Rand, weiterhin bemüht, einen Blick auf Hildibrand zu erhaschen, der noch nicht wieder aus dem kleinen Raum hervorgekommen war. War vielleicht schon jemand bei ihm, ohne, dass sie es bemerkt hatten? "Willst du die Hälfte?" Überrascht sah er auf. Frodo hatte seinen Umhang um sich geschlungen und einen Keks aus seiner Hosentasche gezaubert, den er zuvor aus der Küche hatte mitgehen lassen. Pippin nickte eifrig, setzte sich auf und nahm die Hälfte des Kekses dankend an. "Was macht ihr beide denn hier oben?" Die Hobbits fuhren erschrocken herum. Plötzlich ging alles ganz schnell. Pippin rutschte mit seiner Hand ab, verlor das Gleichgewicht. Mit einem Aufschrei griff er nach Frodos Umhang, als er zur Seite kippte und vom Heuboden rutschte. Frodo wurde mit ihm gerissen, war aber nicht so nahe an der Kante, als dass er auch hätte hinunterfallen können. Seine Hand schnellte durch die Luft und packte Pippin am Handgelenk. Er rutschte nach vorne, rief ängstlich Pippins Namen. Frodos Griff war kein sicherer und er spürte bereits, wie Pippins Hand abrutschte. Der junge Hobbit drohte zu fallen. Pippins Augen starrten ihn an, groß und furchtsam und für den Bruchteil einer Sekunde fragte Frodo sich, weshalb er nicht schrie, als ihn plötzlich jemand an der Schulter packte und ihn zurückzog, während eine andere starke Hand nach Pippins Arm griff. Frodo wollte seinen Vetter nicht loslassen, doch dann rutschten seine Finger ab, bis sie nur noch mit jenen seines Vetters verfangen waren. "Geh!" donnerte eine tiefe Stimme, die Frodo schließlich davon überzeugte, dass Pippin in guten Händen war. Dennoch kroch er nur widerwillig zur Seite, ohne seine Augen von der kräftigen Gestalt zu nehmen, die Pippin nach oben zog. Zitternd und mit Tränen der Angst in den Augen, kroch Pippin zu ihm und vergrub den Kopf in seinem Schoß. Tröstend strich Frodo durch die braunen Locken, versuchte dadurch nicht nur seinen Vetter, sondern auch sich selbst zu beruhigen. Sein Herz raste und der Schreck saß ihm tief in den Knochen.
"Ist alles in Ordnung?", fragte der Hobbit besorgt, den Frodo erst jetzt als Hildibrand erkannte. Mit großen, erschrockenen Augen sah er zu dem Tween auf, nickte, für den Augenblick unfähig, Worte zu formen. Mit zitternden Fingern strich er über Pippins Hand, die sich an seinem Umhang festgeklammert hatte, während die Finger seiner anderen Hand noch immer durch die weichen Locken kämmten. Nur langsam wurde ihm klar, was soeben geschehen war. Pippin wäre beinahe gefallen und er selbst auch, wäre nicht Hildibrand... Er zuckte zusammen, als Hildibrand ihm eine Hand auf die Schulter legte. "Ihr hattet großes Glück", sagte er. "Was macht ihr überhaupt hier oben?" "Nichts", murmelte Pippin rasch, der sich wieder etwas erholt hatte und zögernd aufblickte. Er schniefte, wischte sich die Tränen aus den Augen, war jedoch noch nicht gewillt, sich aus Frodos Umarmung zu lösen.
Schließlich half Hildibrand ihnen wieder auf die Beine, führte sie durch die Stalltür, die immer in ihrem Blickfeld gewesen war, zurück nach draußen. Kalt wehte ihnen der Wind ins Gesicht, als sie zum Tukhang gingen, in dessen Bauch die Großen Smials eingegraben waren. Als hätte sie ihr Kommen erwartet, stand Heiderose in der Eingangshalle. Pippin fiel sofort in ihre Arme, der Schrecken, für einen Augenblick vergessen, beim Anblick seiner Mutter erneut erwacht. Verwirrt sah Heiderose zu Hildibrand, der ihr in kurzen Worten erklärte, was geschehen war. Mit Entsetzen in den Augen schloss sie ihre Arme fester um ihren Sohn, zog auch Frodo zu sich, um ihn zu trösten. "Was hattet ihr denn dort oben zu suchen?", fragte sie besorgt. Die Kinder tauschten einen kurzen Blick, doch keiner der beiden antwortete. Auch als Paladin Stunden später noch einmal dieselbe Frage stellte, antworteten sie nicht. Beiden erschien ihr Grund viel zu peinlich und vor allem Pippin wollte ihn nicht nennen, nach allem, was Hildibrand für ihn getan hatte. Das Rätsel um ihn und Perle sollte noch länger ungelöst bleiben.
Die Tage vergingen und Pippin wachte jeden Morgen mit einer neuen verrückten Idee auf. Frodo hatte es bald aufgegeben, seinem Vetter diese wieder auszureden, denn auch wenn Pippin jünger war, als er, schaffte es dieser immer wieder, ihn zu überreden, denn schließlich war es um Frodos Sinn für dumme Ideen nicht weniger schlecht bestellt. Nicht selten mussten sie sich lange Vorträge von Paladin anhören, wenn sie erwischt worden waren, oder wurden auf ihr Zimmer geschickt, doch störte sie das wenig. So lange sie zusammen waren, hatten sie ihren Spaß.
Kapitel 32: Schnee
"Schnee!" Frodo sprang auf Pippins Bett und rüttelte seinen Vetter wach. Als dieser sich endlich rührte, kletterte er über ihn hinweg, stellte sich auf den Stuhl, der am Kopfende des Bettes stand und wischte mit dem Ärmel die Eisblumen vom Fenster, ehe er sich daran die Nase platt drückte. "Schnee!" rief er noch einmal aufgeregt und sprang auf dem Stuhl auf und ab, unfähig auch nur einen Augenblick länger stillzustehen. Pippin sah ihn verschlafen an, hatte noch nicht begriffen, was seinen Vetter in solche Verzückung versetzte. Er gähnte herzhaft, als sich Frodo mit einem breiten Grinsen wieder neben ihn ins Bett fallen ließ. "Lass uns gleich nach dem Frühstück nach draußen gehen!" schlug er vor. Pippin sah zum Fenster und ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er den Grund für Frodos Übermut entdeckte. Die Hügel, Häuser und Höhlen um die Großen Smials waren mit einer weißen Schneedecke überzogen und Kristalle aus Eis zierten nun sein Fenster. Langsam verfolg seine Müdigkeit und er wischte auch die letzten Erinnerungen an die vergangene Nacht aus seinen Augen, als er schließlich eifrig nickte und seinem Vetter ein noch breiteres Lächeln schenkte.
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Voller Freude lauschte Frodo dem leisen Knarren, als er durch den Schnee stapfte. Wie lange war es her, dass er das zum letzten Mal gemacht hatte? Er erinnerte sich, dass es im letzten Winter keinen Schnee gegeben hatte, oder war das im Winter davor gewesen? Er war sich nicht mehr sicher. Das war ihm auch vollkommen gleich, denn jetzt genoss er das kühle und doch angenehme Gefühl an seinen Füßen, wenn er in den knietiefen Schnee trat. Nur wenige Fußspuren störten die weiße Pracht und hätte Frodo selbst nicht soviel Gefallen daran gefunden, seine Spuren im Schnee zu hinterlassen, hätte er sich gewünscht, dass niemand das Idyll störte. Überrascht zuckte er zusammen, als ein Schneeball ihn am Nacken traf. "Treffer!" jubelte Pippin, der nur wenige Schritte von ihm entfernt im Schnee versank und formte einen weiteren Ball, um ihn nach seinem Vetter zu werfen. Dieses Mal wich Frodo aus und begann seinerseits damit, Schneebälle zu formen, um sie Pippin um die Ohren zu werfen, während immer wieder welche auf ihn zugeflogen kamen. Er lachte vergnügt, ganz gleich, ob er nun Pippin traf, oder selbst getroffen wurde und als sie ihre ausgelassene Schlacht schließlich beendeten, waren sie beiden von oben bis unten voller Schnee. Frodo keuchte, beobachtete lächelnd die weiße Wolke, die sein Atem in der Luft formte und blickte dann nach oben. Dichte Wolken bedeckten den Himmel und gaben der Sonne keine Möglichkeit, sich der weißen Pracht zu erfreuen und sie in allen Farben erstrahlen zu lassen. Ohne Vorwarnung kam Pippin plötzlich auf ihn zugerannt, warf ihn zu Boden. Er wollte seinen Vetter mit noch mehr Schnee einreiben, doch Frodo war schneller und eh sich der junge Tuk versah, war er derjenige, dem eine handvoll der weißen Pracht in den Kragen gesteckt wurde. Die dicken, roten Wollmützen, die Heiderose ihnen aufgesetzt hatte, waren bald mit Schneeklumpen überzogen und auch die eine oder andere hervorstehende Locke blieb davon nicht verschont. Frodo und Pippin machte das jedoch nichts aus und sie beendeten ihr Gerangel erst, al Pippin seinen Vater entdeckte, der, nicht weit von ihnen entfernt, im Stall beschäftig war. Der junge Tuk eilte zu ihm, ließ es sich dabei nicht nehmen, auch den Thain mit einem Schneeball zu bewerfen, woraufhin dieser ihn packte, ihn hochhob und ihm drohte, ihn mit dem Kopf voraus in den Schnee zu stecken. Frodo beobachte vergnügt, wie Pippin versuchte, sich aus den Armen seines Vaters zu winden und schließlich, auch ohne neuerliches Eintauchen im Schnee, wieder auf den Boden gesetzt wurde. Er konnte nicht hören, worüber sich die beiden unterhielten und verlor sie schließlich aus den Augen, als Vater und Sohn im Stall verschwanden, doch als Pippin kurze Zeit später zurückkehrte, hatte er einen Schlitten in der Hand. Frodo lächelte von einem Ohr zum anderen. Zwar war er sich nicht mehr sicher, wann es das letzte Mal Schnee gegeben hatte, doch an seine letzte Schlittenfahrt erinnerte er sich noch genau.
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"Sobald es aufwärts geht, wird einer von euch beiden absteigen müssen", sagte Drogo, der einen Schlitten, beladen mit Frau und Kind zum höchsten Hügel in der Nähe des Brandyschlosses zog. Jener befand sich südöstlich ihres Zuhauses und ein Pfad, der in Serpentinen verlief, sollte ihnen den Aufstieg erleichtern. "Mama", bestimmte Frodo und lehnte sich grinsend in ihre Arme zurück. "Bist du dir da sicher?", fragte sie. Frodo nickte. Seine Mutter hatte ihn nicht nur in einen Schal und seinen dicksten Mantel eingepackt, sondern ihm auch noch eine blaue Mütze aufgesetzt, die jedoch unter der Kapuze seines Umhanges verschwand. "Ich könnte dich auch ganz einfach vom Schlitten stoßen", ließ Primula ihn wissen. Frodo nickte erneut, und sein Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass er sich sicher war, dass sie so etwas niemals tun würde. Umso überraschter war er, als er plötzlich der Länge nach im Schnee landete. Drogo stoppte und betrachtete die beiden lachend. Frodo klopfte sich den Schnee von seinem Umhang und sah beleidigt zu seiner Mutter, die mit einem Grinsen auf ihn zukam, ihn auf die Nasenspitze küsste und dann zu seinem Vater ging, um sich bei ihm einzuhaken. Frodo blieb noch einen Augenblick stehen, als seine Eltern bereits weiter gegangen waren. Ein eisiger Wind wehte und seine Atemzüge traten als weiße Rauchwölkchen aus seinen Lippen. Frodo formte einen Schneeball, wobei ein schelmisches Grinsen auf sein Gesicht trat. Schließlich rannte er seinen Eltern hinterher, zielte, warf sein Geschoss nach seiner Mutter und traf sie an der rechten Schulter. Primula fuhr erschrocken herum. Frodo sah mit einem unschuldigen Lächeln zu ihr auf, versteckte die Hände hinter dem Rücken. Einen langen Augenblick, sah seine Mutter ihn schweigend an, ehe sie plötzlich auf ihn zugerannt kam. Frodo schrie überrascht auf und ergriff lachend die Flucht, doch Primula holte auf, und als sie ihn erwischte, warf sie ihn in den Schnee und rieb ihn ordentlich damit ein. Drogo beobachtete das Schauspiel lachend, schüttelte schließlich den Kopf, als die beiden keuchend, aber mit zufriedenen Lächeln in den vor Kälte geröteten Gesichtern an seine Seite zurückkehrten.
Endlich erreichten sie den schmalen Pfad, der sie zwischen den Bäumen hindurch führen sollte. Anfangs sprang Frodo aufgeregt voraus, doch je weiter sie gingen, umso mehr verging ihm die Lust zu laufen und schließlich setzte er sich auf den Schlitten, um sich von seinem Vater ziehen zu lassen. Anders als Frodo erwartet hatte, führte seine Mutter sie schon in den Wald, als sie erst die Hälfte des Weges hinter sich gebracht hatten. Sie erklärte ihm, dass die Bäume weiter oben zu dicht standen und es zu gefährlich war, hinunterzurodeln. Hier kannte sie jedoch eine Stelle, die sich perfekt dafür eignete.
Voller Staunen blickte Frodo den schneebedeckten Hügel hinab, als sie den Ausgangspunkt ihrer Schlittenfahrt erreichten. Schlittenspuren deuteten an, dass schon einige Hobbits vor ihnen hinuntergerodelt waren und Frodo konnte es kaum erwarten, es ihnen nachzumachen. Aufgeregt nahm er schließlich ganz vorne auf dem Schlitten Platz. Primula setzte sich in die Mitte, während sein Vater ganz hinten saß. Dieser stellte sicher, dass alle für die Fahrt bereit waren, ehe auch er seine Füße auf dem Schlitten platzierte, sodass dieser zügig den Hügel hinunterbrauste. Frodo konnte den Wind in seinen Ohren rauschen hören und jubelte vergnügt, während sie immer schneller wurden und an Fichten, Tannen und kahlen Laubbäumen vorbeisausten. Plötzlich legten sich die warmen Hände seiner Mutter auf seine eigenen, die sich fest an den Holzgriff klammerten. Lachend und mit leuchtenden Augen drehte er sich kurz zu ihr um und blickte in ihre glücklichen blaugrünen Augen.
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"Frodo? Hörst du mir überhaupt zu?" Überrascht blickte Frodo in die fragenden grünen Augen seines Vetters, als ihm klar wurde, dass dieser aufgeregt vor seinem Gesicht herumfuchtelte. "Ich? Ja...", etwas verwirrt suchte er nach einer Antwort. "Was hast du gesagt?" Pippin seufzte, schüttelte den Kopf. "Geh einfach zu meinem Papa und hol dir den anderen Schlitten."
Frodo eilte zum Stall, ließ sich von Paladin einen zweiten Schlitten geben und trottete dann grinsend zurück zu Pippin, der inzwischen auf den höchsten der vielen Hügel hinter den Smials geklettert war. "Was hältst du von einem Rennen?", wollte Pippin wissen, als er sich auf seinen Schlitten setzte und Frodo, der gerade zu ihm herauf gerannt kam, herausfordernd ansah. Frodo schob sich die Mütze, die ihm etwas zu groß war, aus der Stirn, den zweifelnden Blick auf seinem Vetter ruhend. "Glaubst du wirklich, ein Tuk könne es mit einem Beutlin aufnehmen?" "Das glaube ich nicht nur", erklärte Pippin sehr von seiner Meinung überzeugt, "das weiß ich." Frodo nickte, mit einem Gesichtsausdruck, der seinen Vetter deutlich wissen lassen sollte, dass er ihm kein Wort glaubte. Davon ließ sich Pippin jedoch nicht beirren und, um seiner Sache sicher zu gehen, stieß er sich sofort vom Boden ab, als Frodo endlich auf seinem Schlitten Platz genommen hatte, und sauste den Hang hinunter. Frodo zögerte nicht länger und tat es ihm gleich. Er spürte die kalte Luft, die beißend über seine Wange strich und trotz seiner Mütze, konnte er den Wind in seinen Ohren pfeifen hören, als er Pippins Verfolgung aufnahm. Als sie schließlich wieder zum Stehen kamen, waren sie fast auf gleicher Höhe, doch Pippin stand eine Nasenlänge weiter vorne. "Sieg!" triumphierte der junge Tuk grinsend, ehe er sich wieder an den Aufstieg machte. Frodo murrte, nicht gewillt, die Ehre der Beutlins so leicht an einen Tuk zu verlieren und eilte seinem Vetter hinterher, um Ausgleich zu fordern.
Dieser wurde Frodo gewährt und noch viele weitere danach, bis schließlich beide Hobbits vergaßen, wer nun in Führung lag. Unzählige Male sausten sie den Hügel hinunter, nur um danach wieder hinaufzueilen. Auch der eine oder andere Sturz ließ sich dabei nicht vermeiden, doch wurden diese meist dazu genutzt, um die Schlittenfahrt für eine erneute Schneeballschlacht zu unterbrechen. Bald waren sie auch nicht mehr alleine, denn viele andere Kinder aus den Smials und Buckelstadt versammelten sich mit Schlitten um die Hügeln und tollten im Schnee. Frodo und Pippin verbrachten den ganzen Tag im Freien, kamen nur einmal zurück in die Höhle um zu Mittag zu essen und als sie bei Sonnenuntergang schließlich heimkehrten, waren sie nass bis auf die Knochen und völlig durchgefroren. Heiderose stellte sofort Wasser auf und bald darauf planschten die zwei jungen Hobbits vergnügt in einem Zuber. Anstelle der kleinen Wölkchen, die ihr Atem zuvor gebildet hatte, hingen nun dichte Dampfwolken in der Luft und wo einst Schneeklumpen das krause Kopf- und Fußhaar geziert hatten, war nun nichts als Schaum und warmes Wasser. Doch der anstrengende Tag, so aufregend er auch gewesen sein mochte, forderte seinen Tribut. Beim Abendessen langten die Vettern zwar kräftig zu, doch hatten beide Mühe ihre Augen offen zu halten, und stocherten bald nur mehr in ihren Tellern herum. Gerne wären sie noch an den Kamin gesessen, wo Sigismund eine Geschichte erzählte, doch Heiderose riet ihnen, zu Bett zu gehen. Missmutig befolgten sie ihren Ratschlag und tapsten in ihr Zimmer, um sich umzuziehen, wie sie sagten, doch als Heiderose wenig später zu ihnen kam, schliefen beide bereits tief und fest. Sie lächelte, während sie die jungen Hobbits enger in ihre Decken einwickelte und sie schließlich alleine ließ.
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Als Frodo am nächsten Morgen aufwachte, bemerkte er mit Grauen, dass er Kopfschmerzen hatte. Auch seine Nase lief und er spürte ein leichtes Kratzen im Hals. Missmutig zog er sich die Decke über den Kopf, verärgert, dass er sich ausgerechnet während seines Besuchs in den Großen Smials krank werden musste. Er durfte sich nicht erkälten, denn schließlich wollten Pippin und er den Schnee genießen und einen weiteren Tag mit Schlittenfahrten und Schneeballschlachten verbringen. Seufzend richtete Frodo sich auf. Das Licht, das durch das Fenster hereindrang, sprach von einem neuerlichen Wintermorgen. Am vergangenen Abend hätte Frodo sich noch darüber gefreut, doch nun brachte das Licht seinen Kopf zum Pochen und der Gedanke an Schnee ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen, der seinen Körper zum Zittern brachte. Ein Blick auf Pippins Bett, zeigte ihm, dass sein Vetter noch schlief. Er fragte sich, ob Pippin sich ebenfalls erkältet hatte und ob er ihn aufwecken sollte, doch entschied er sich dagegen. Pippin war am vergangenen Abend sehr viel erschöpfter gewesen, als er selbst und er vermutete, dass es besser war, ihn ausschlafen zu lassen.
So schlich er sich schließlich zur Tür, holte die Wasserschüssel herein, die morgens von den Zimmermädchen dort platziert wurde, sodass jeder Bewohner sich in seinen eigenen Räumlichkeiten waschen konnte. Anders als das Brandyschloss, waren in den Großen Smials alle Badezimmer im tiefer gelegenen südlichen Gang untergebracht. Natürlich wurden im Brandyschloss des Morgens auch Wasserschüsseln mit sauberen Tüchern verteilt, doch nur an jene Bewohner, die fernab der Waschräume wohnten. Hobbits bei denen sich im selben Gang wie das Schlafgemach auch ein Badezimmer befand, nutzten dieses, was wesentlich bequemer war, als sich eine Schüssel bringen zu lassen. Dies war vermutlich auch der Grund, weshalb im Brandyschloss die meisten auf diesen Dienst verzichteten.
Als er schließlich gewaschen und angezogen war, schlurfte er in die Küche, in der Pippins Familie morgens anzutreffen war. Sein Kopf fühlte sich schwerer an, als gewöhnlich und ihm schwindelte ein wenig, doch Frodo dachte sich nichts dabei. Nach dem Frühstück würde es ihm bestimmt besser gehen. "Guten Morgen." Überrascht über seine eigene, krächzende Stimme blieb Frodo in der Türe stehen. Heiderose, die gerade den Teekessel vom Feuer genommen hatte, sah ihn nicht weniger verwundert an. Sofort stellte sie den Kessel ab, wischte sich die Hände an der Schürze sauber und kam zu ihm herüber, um eine prüfende Hand auf seine Stirn zu legen. Genau das war es, was Frodo gefürchtete hatte. Sorgenvoll betrachtete er Pippins Mutter, die Stirn kritisch in Falten gelegt, doch Heiderose lächelte. "Kein Fieber", verkündete sie. "Wie fühlst du dich sonst?" Frodo atmete erleichtert auf, wollte zu einer Antwort ansetzen, doch er wurde von einem Niesen unterbrochen. Stöhnend griff er nach seinem Kopf, der durch beständiges Pochen gegen die ruckartige Bewegung protestierte. Heiderose war dies Antwort genug und sie wollte sofort nach Pippin sehen, um sicher zu gehen, dass es ihm gut ging. Bevor sie jedoch die Küche verließ, wies sie Perle an, Frodo einen heißen Tee zu geben und sich um ihn zu kümmern, bis sie zurück war. Frodo wollte dagegen protestieren, wurde jedoch durch ein erneutes Niesen davon abgehalten. So schlurfte er ohne ein weiteres Wort an den Tisch, wo neben Pippins Schwestern auch noch dessen drei Tanten saßen. Von Paladin fehlte jede Spur, doch an seiner statt saß Adelard Tuk am Tisch, ein dunkelhaariger Hobbit mit wachsamen Augen, der nur wenige Jahre älter war, als der Thain. Frodo bedankte sich, als Perle ihm den Tee brachte, bediente sich dann an den Broten, auch wenn sein Appetit nicht halb so groß war, wie er erwartet hatte.
Als Heiderose nach dem Frühstück noch immer nicht zurückgekehrt war, und auch von Pippin jede Spur fehlte, begann Frodo, sich Sorgen zu machen. Etwas matt schlurfte er zurück in das Zimmer seines Vetters, wo er sie beide vorfand. Pippin lag zitternd unter mehreren Decken, die Stirn schweißnass. Heiderose saß auf dem Stuhl, den sie vor das Bett gestellt hatte und betupfte dessen Wangen mit einem feuchten Tuch. Jemand hatte ihr Tee und ein Stück Brot gebracht, doch Pippin schien von beidem noch nicht gekostet zu haben, denn das Tablett stand unangetastet auf dem Nachttisch. Die Erkältung des jungen Tuks war um einiges schlimmer, als seine eigene, doch Heiderose versicherte ihm, dass es seinem Vetter bald besser gehen würde.
Ohne Pippin verbrachte Frodo die meiste Zeit alleine. Er hätte auch mit anderen Kindern seines Alters spielen können, doch waren viele von ihnen draußen und Frodo fühlte sich nicht dazu in der Lage, im Schnee herumzutollen. Stattdessen hatte er sich ein Buch aus der Bibliothek geholt und es sich, in eine Decke eingewickelt, auf dem Kaminsims bequem gemacht. Dort war es angenehm warm und das leise Knistern des Feuers beruhigte ihn. Perle achtete darauf, dass er genug Tee trank und war auch immer zur Stelle, wenn er ein frisches Taschentuch benötigte. Auch wenn Frodo ihre Führsorge anfangs gar nicht recht war, war er doch davon überzeugt, dies auch alleine tun zu können, war er ihr dankbar dafür, denn es hätte ihm sehr widerstrebt, unter der Decke hervor zu kriechen und sein warmes Plätzchen am Kamin zu verlassen, nur um eine Tasse Tee oder neue Taschentücher zu holen, von denen er mehr benötigte, als ihm lieb war. Seinen Plan zu lesen, musste er jedoch bald aufgeben, denn schon nach den ersten beiden Seiten übermannte ihn die Müdigkeit, die sich seiner schweren Glieder bemächtigt hatte und er schlief für mehrere Stunden. Als er aufwachte, wollte er zwar weiter lesen, doch er merkte bald, dass ihm sowohl die Kraft, als auch die nötige Konzentration dazu fehlte. Im Laufe des Nachmittages ging er zurück in das Zimmer seines Vetters. Heiderose hatte das Fenster geöffnet, um etwas frische Luft hereinzulassen und Frodo fröstelte, als er eintrat. Pippin lag warm eingepackt unter seinen Decken. Sein Fieber war gesunken. Er lächelte zwar, als er Frodo erkannte, doch dieser konnte sehen, dass dem jungen Tuk nicht wirklich danach zumute war. "Wie geht es dir?", fragte Frodo. Seine Stimme war nicht mehr ganz so kratzig, wie am Morgen, doch reichte sie noch immer kaum über ein Flüstern hinaus. Er ging zum Fenster, um die Kälte auszusperren, jedoch nicht ohne einen beinahe sehnsüchtigen Blick auf die weiße Landschaft zu werfen, die ihm von draußen entgegenlachte. An diesem Tag hatte die Sonne ihren Weg durch die Wolken gefunden und der Schnee schimmerte in allen Farben. Er seufzte leise, was ein unangenehmes Kribbeln in seinem Hals hervorrief und er räusperte sich, um sich dessen zu entledigen, doch das gelang ihm nicht und er wurde stattdessen von einem schmerzhaften Hustenreiz heimgesucht, der seinen Kopf erneut zum Pochen brachte. Erschöpft ließ er sich auf seine Matratze sinken, die Heiderose zu seiner Erleichterung nicht weggeräumt hatte. Pippin lächelte mitfühlend, als er sich zu seinem Vetter umwandte und ihn mit feuchten Augen ansah. "Es geht", wisperte er, mit einer piepsigen Stimme, die so rau und leise klang, dass Frodo sie kaum als die seines Vetters erkannte. "Mein armer Pippin", murmelte Frodo, kroch an dessen Seite und strich seinem Vetter zärtlich über die Wange. Sie war noch immer sehr warm, doch Frodo sorgte sich nicht, machte Pippin schließlich einen wesentlich gesünderen Eindruck, als noch in den frühen Morgenstunden. Pippin schloss die Augen, lehnte den Kopf an seine kühlen Finger, ehe er sich plötzlich abwandte und von einem Hustenanfall geschüttelt wurde.
"Frodo, wie fühlst du dich?" Frodo blickte überrascht auf, als er Heideroses Stimme vernahm. Pippins Mutter hatte eine Teekanne bei sich, aus deren Nase kleine Dampfwölkchen emporstiegen, als sie ins Zimmer trat. Er zuckte mit den Schultern. Einerseits fühlte er sich vollkommen matt und erschlagen und sein Kopf schmerzte, doch ansonsten ging es ihm gut. Prüfend fühlte sie seine Stirn und wieder trat der sorgenvolle Ausdruck auf sein Gesicht, mit dem er sie auch schon am Morgen bedacht hatte, doch auch dieses Mal schüttelte Heiderose den Kopf. Stattdessen fragte sie ihn, ob er Halsschmerzen habe und setzte sich derweil an Pippins Bett. Frodo, der zu ihren Füßen saß, strich sich mit den Fingern über den Hals, als könne er es so herausfinden. Er schüttelte den Kopf. "Es kratzt nur manchmal ein wenig." Sie nickte, legte ihre Hand nun auf Pippins Stirn und tauchte dann ein Tuch in die Wasserschüssel, die noch immer auf dem Nachttisch stand, um damit zärtlich über dessen Stirn und Wange zu streichen. Anschließend schenkte sie ihrem Sohn eine Tasse Tee ein und reichte Frodo eine zweite. Dieser nahm sie dankend an und setzte sich mit verschränkten Beinen auf die Matratze. Er nieste und zur selben Zeit lief ihm ein kühler Schauer über den Rücken. Schnell langte er nach seiner Decke, wickelte sich eng in diese ein. "Frodo?" Pippins leise Stimme drang an sein Ohr und er richtete sich auf, um seinen Vetter anzusehen. "Glaubst du, du könntest mir eine Geschichte erzählen?" Frodo lächelte. Selbst wenn er krank war, war Pippin nicht unterzukriegen. Er war zwar nicht in der Stimmung, etwas zu erzählen, doch er wollte es versuchen, Pippin zuliebe. Um sich selbst etwas auszudenken, fühlte er sich zu müde und so begann er ganz einfach, Bilbos Geschichte zu erzählen. Anders als sonst, schmückte er sie nicht sonderlich aus, denn durch das Reden wurde seine Stimme immer rauer und er war beinahe erleichtert, als er erkannte, dass Pippin eingeschlafen war, gerade, als er von den Trollen hatte berichten wollen.
Frodo und Heiderose verließen das Zimmer um zu Abend zu essen. Bei ihrer Rückkehr war Pippin bereits wieder aufgewacht und Heiderose überprüfte erneut seine Temperatur, ehe sie in die Küche ging, um ihm etwas Suppe zu bringen. Derweil kuschelte Frodo sich in seine Decke, zog genervt die Nase hoch, als er erneut nieste. Die Kopfschmerzen, die zuvor nachgelassen hatten, waren mit einem beständigen Pochen zurückgekehrt. Zwar war er froh, dass er nicht so krank war wie Pippin, doch nagte die Erkältung bereits an seinem Gemüt und er hoffte inständig, dass er sich am nächsten Morgen besser fühlen würde. "Du solltest zu Bett gehen. Schlaf ist der beste Weg, gesund zu werden." Frodo blickte überrascht auf. Wie schon am Nachmittag hatte er nicht bemerkt, wie Heiderose zurückgekehrt war und das beunruhigte ihn ein wenig. War sie so leise oder er so unaufmerksam?
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So sehr er es auch versuchte, es klappte nicht. Er drehte sich von einer Seite auf die andere, doch der Schlaf wollte nicht kommen. Pippin hatte nicht viel von der Suppe gegessen und nun lag er jammernd in seinem Bett, was es Frodo noch schwerer machte einzuschlafen. Pippin tat ihm Leid, aber Frodo war müde, so müde... "Wie geht es ihm?" Frodo schlug die Augen auf, war jedoch zu erschöpft, den Kopf zu heben, doch er wusste, dass die Stimme zu seinem Onkel Paladin gehörte, der in das Zimmer gekommen sein musste. "Das Fieber ist wieder gestiegen", ließ Heiderose ihren Gatten besorgt wissen. Frodo konnte hören, wie sie das Tuch auswrang. "Und Frodo?" Er drehte sich auf den Rücken, als er die tiefe Stimme seines Onkels erneut vernahm und konnte den Thain nun sehen. Paladin stand hinter seiner Frau, eine Hand auf ihren Schultern ruhend. Eine Kerze auf dem Nachttisch erleuchtete seine ernsten Züge, als er sich zu ihm herabbeugte und ihm lächelnd durch die Haare strich. Frodo erwiderte das Lächeln, schloss der bei der sanften Berührung der rauen Finger zufrieden die Augen. Ohne seine Lider noch einmal zu öffnen, rollte er sich schließlich zusammen, als Paladin ihm eine gute Nacht wünschte. Doch anstatt zu schlafen, erwischte er sich dabei, wie er der leisen Unterhaltung zwischen dem Thain und seiner Frau lauschte, die immer wieder von einem Jammern Pippins unterbrochen wurde.
Was mache ich hier eigentlich? Ich liege hier und lausche einem Gespräch, dass mich überhaupt nichts angeht. Schlafen, ich sollte einfach nur schlafen.
Frodo wartete ungeduldig auf die sanften Hände des Schlafes, doch Geräusche, vom Bett herkommend, ließen ihn blinzeln. Pippin ruhte nun in Heideroses Schoß und Paladin hatte sich auf der Bettkante niedergelassen. Seine Hände strichen zärtlich über Gesicht und Haare seines Sohnes. Frodo biss sich auf die Lippen.
Das ist ungerecht. Warum nur Pippin? Und was ist mit mir? Aber nein, ihm geht es schlechter, als mir. Er hat es verdient. Aber hätte ich das nicht auch? Warum können sie mich nicht auch in den Arm nehmen? Ich bin auch erkältet, wenn auch nicht so schlimm, wie Pippin. Warum nicht? Mama. Papa. Ich könnte mein Bild holen. Sicher verstaut in meinem Rucksack im Schrank. Wie gerne würde ich es jetzt bei mir haben. Aber nein. Was würden sie denken, wenn ich jetzt aufstehe, nur um mein Bild zu holen? Ob sie es verstehen würden?
"Mama." Pippins heisere Stimme drang an sein Ohr, ließ ihn beinahe schmerzhaft zusammenzucken. "Es tut weh." Heiderose sprach mit beruhigenden Worten auf ihren Sohn ein, was Frodos Sehnsucht nach seinen Eltern noch mehr verstärkte. Möglichst unauffällig zog er sich die Decke über den Kopf, um ihre Stimme nicht länger hören zu müssen, stellte sich weiterhin schlafend.
Warum nur er? Warum werde ich ignoriert? Warum?
Pippin begann zu schluchzen und murmelte etwas Unverständliches in den Schoß seiner Mutter. Frodo konnte sie nicht sehen, doch er wusste, dass Paladin und Heiderose ihren Sohn fest in den Armen hielten, ihn durch zärtliche Berührungen und sanfte Worte zu trösten versuchten, wie es seine Eltern einst getan hatte, wenn er krank gewesen war. Er spürte, wie er sich verkrampfte und schließlich übermannte ihn die Sehnsucht. Seine Finger umklammerten die Bettdecke beinahe krampfhaft. Nicht länger hörte er Heideroses beruhigende Worte, oder seine eigene ruhigen und doch raue Atmung. Er lauschte nur mehr dem stummen Flehen seiner Tränen, die er in aller Heimlichkeit vergoss.
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Die Tage vergingen und bald waren die beiden Hobbits wieder kerngesund. Auf weitere Schlittenfahrten mussten sie dennoch verzichten, denn ein Großteil des Schnees war geschmolzen. Auch wenn er nur zu Besuch war, hatte Paladin beschlossen, dass Frodo sich von Zeit zu Zeit jener Gruppe junger Hobbits anzuschließen hatte, die im Winter unterrichtet wurde. Pippin war noch zu jung dazu, und so beschloss Petunia, ihm zur Seite zu stehen, auch wenn Frodo das nicht immer Recht war. Die Jultage kamen und gingen und fünf Wochen darauf, war Esmeralda erneut zu Besuch in den Großen Smials. Sie blieb nur wenige Tage und auch für Frodo war die Zeit des Abschieds gekommen. Pippin wollte ihn gar nicht wieder gehen lassen und Frodo fiel es sehr schwer, seinen Vetter zurückzulassen. Wie sehr würde er ihn vermissen, wenn er erst wieder im Brandyschloss war. Doch alles Jammern half nichts und am Morgen des 5. Solmath machte er sich, gemeinsam mit Esmeralda, wieder auf den Weg nach Bockland.
Kapitel 33: Stummes Flehen
Ende Solmath 1383 AZ:
Fünf Wochen daheim und schon ist alles wieder wie zuvor. Nun, nicht gar alles. Manche Dinge haben sich geändert. Merry, zum Beispiel, verbringt viel mehr Zeit mit seinem Vater. Er meint, Saradoc zeige ihm, welche Aufgaben man als Herr von Bockland erfüllen muss und er dürfe ihm dabei helfen, manche Dinge zu erledigen. Es scheint ihm sehr viel Spaß zu machen, doch ich bezweifle, dass er Saradoc eine große Hilfe ist. Welche Aufgaben könnte Merry denn übernehmen? Worin bestehen Saradocs Aufgaben überhaupt? Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur, dass er meist sehr beschäftigt ist und trotzdem er über alles Bescheid weiß, was sich im Brandyschloss abspielt, zumindest, wenn es Merry oder mich betrifft. Oder bemerke ich es nur dann und er ist über noch viel mehr Dinge informiert? Im Augenblick passiert hier wenig. Seit über einer Woche regnet es nun schon und es ist furchtbar kalt. Das einzig Gute daran ist, dass die Abende am Kamin verbracht werden, wo Gorbadoc meist eine Geschichte erzählt. Seine Geschichten sind natürlich nicht halb so gut, wie die von Bilbo, aber zumindest Merimas scheinen sie zu begeistern, wenn der Kleine einmal so lange aufbleiben darf, um sie zu hören. In der Zeit in der ich weg war, ist er ein ganzes Stück gewachsen. Er hat mich gar nicht wirklich erkannt, als ich zurückgekommen bin, doch schon nach dem zweiten Nachmittag, an dem ich mit ihm spielte, war wieder alles beim Alten. Hanna ist froh, wenn ich ihr mit Merimas helfe. Sie ist schwanger und erwartet bereits in den nächsten vier Wochen Nachwuchs. Noch ein Baby! Ich frage mich, wie sie das alles schaffen will. Marmadas hilft ihr, wo er kann und ich könnte ja auch weiterhin auf Merimas aufpassen, wenn ihr das Recht ist.
Frodo legte die Feder weg und versteckte das Buch, als er hörte, dass jemand an der Tür war. Es hatte noch keiner geklopft, als die Tür etwas unbeholfen geöffnet wurde. Frodo drehte sich verwundert um und erblickte Merimas, der stolpernd eintrat. Der kleine Hobbit kaute an einem Holzring, den er mit seiner rechten Hand fest umklammert hielt und trat neugierig an ihn heran. "Na, mein Kleiner", Frodo begrüßte ihn und beugte sich zu ihm hinab, "langweilst du dich auch?" Merimas lächelte und murmelte etwas Unverständliches in den Kauring, den er nicht aus dem Mund nehmen wollte. Frodo hob ihn hoch und setzte ihn auf seinen Schoß. Merimas war erfreut darüber, bot ihm sogar einen Holzring an, doch Frodo lehnte dankend ab, als er plötzlich Hanna nach ihrem Sohn rufen hörte. Sofort stellte er den kleinen Hobbit auf den Boden, nahm ihn bei der Hand und führte ihn aus dem Zimmer. "Suchst du diesen kleinen Ausreißer?", fragte er. Hanna stand unter einer Lampe, wandte sich überrascht um. Erleichtert atmete sie auf, als sie Merimas bei ihm erkannte. Der Kleine grinste über das ganze Gesicht, als er zu seiner Mutter lief, die ihn mit offenen Armen empfing. "Da lässt man dich eine Minute aus den Augen und schon bist du wieder in Frodos Zimmer verschwunden", schimpfte sie. Merimas sah sie entschuldigend an, bot ihr zur Wiedergutmachung seinen Holzring an, doch Hanna schüttelte den Kopf und wuschelte ihm mit einem Seufzen durch die Haare. "Das ist schon in Ordnung", meinte Frodo, der die beiden lächelnd beobachtete. "Ich hatte ohnehin nichts zu tun." "Trotzdem darf er nicht einfach in die Zimmer anderer gehen. Wo würde das denn hinführen?" Frodo überlegte einen Augenblick, zuckte schließlich mit den Schultern.
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Stunden später schlurfte Frodo suchend durch die Hallen des Brandyschlosses. Er hatte Merry seit dem Mittagessen nicht mehr gesehen. Ob sein Vetter wohl noch immer damit beschäftigt war, Saradoc zu helfen? Der Herr von Bockland hatte über die Wintermonate mehr Zeit für seine Familie und da war es nur verständlich, dass er diese meist mit seinem Sohn verbrachte. In gewisser Weise beneidete Frodo Merry darum. "Frodo! Da bist du ja! Ich habe dich bereits gesucht. Meine Eltern und einige andere sitzen in der Küche und essen Kuchen. Kommst du mit?" Merry war von hinten auf ihn zugerannt, hatte ihn sogleich bei der Hand genommen und zog ihn nun Richtung Küche, sodass eine Antwort nicht mehr von Nöten war.
Die beiden Hobbits saßen, mehr oder weniger schweigend, am Tisch und aßen ein Kuchenstück nach dem anderen. Der Raum war von Lampen hell erleuchtet und ein knisterndes Feuer schenkte ihm eine behagliche Wärme. Überrascht hob Frodo den Kopf, als der Teekessel pfiff und Mirabella sich anschickte, diesen vom Feuer zu nehmen. Gorbadoc lachte. "Ihr schaufelt, als hätte man euch in den letzten zwei Tagen hungern lassen. Bekommt ihr denn zu wenig zu essen?" Merry nickte fleißig und schob sich den letzten Bissen seines Kuchenstückes in den Mund, während er einen auf Zustimmung bedachten Blick mit Frodo tauschte, der ihn mit einem schiefen Grinsen bedachte, dann jedoch kichernd nickte. Saradoc warf den beiden einen vollkommen verdutzten Blick zu, sorgte er doch dafür, dass niemand unter seinem Dach hungern musste, doch brachte er die Kinder dadurch nur noch mehr zum Kichern. Mit einem resignierenden Seufzen schüttelte er schließlich den Kopf, woraufhin Esmeralda ihm tröstend auf die Schulter klopfte. "Dein Sohn, Saradoc. Er ist dein Sohn", sagte sie mit einem Lächeln. "Ja, dein Sohn", meinte Merry ernst, lehnte den Kopf an Saradocs Arm und sah mit einem dämlichen Grinsen zu seinem Vater auf. Saradoc nickte bitter, setzte das gleiche dumme Grinsen auf und legte seinen Arm um Merry, der sich aus der vermeintlichen Umarmung nicht mehr zu befreien musste.
Frodo lachte, als er die beiden herumalbern sah und doch spürte er, wie sich tiefe Traurigkeit in ihm regte. Er schluckte sie hinunter, versuchte, sie nicht zu beachten. "Hilf mir, Frodo!" keuchte Merry, mit einer Stimme, als wäre er dem Tode nahe. Seine Finger krallten sich an Frodos Ärmel fest während er seinen Vetter mit großen, verzweifelten Augen betrachtete. "Du bist sein Sohn", murmelte Frodo, in dessen Stimme ein Hauch von Melodramatik mitklang. Voll hoffnungslosem Mitleid blickte er in die Hilfe suchenden, grünen Augen. "Ich kann dir nicht helfen." Merry sah ihn entsetzt an. Er schnappte ein letztes Mal nach Luft, ehe er die Augen schloss und sich auf den Schoß seines Vaters sinken ließ. Die Augen aller waren auf Vater und Sohn gerichtet und in manch einem Gesicht zeigte sich ein erheitertes Grinsen. Eine gespannte Stille war ausgebrochen, die nur vom Knistern der Flammen gestört wurde. Saradoc warf sowohl Frodo, als auch seiner Frau einen verschmitzten Blick zu, der Frodo sehr an seinen Vetter erinnerte, dann rutschte er mit seinem Stuhl ein Stück vom Tisch weg. Merry, der sich noch immer nicht rührte, zog er ganz einfach mit sich. "Was könnte ich jetzt nur machen?", murmelte der Herr nachdenklich, während seine Hand zu Merrys Bauch wanderte. Er wartete einige Sekunden, bevor er ihn in die Seite knuffte. Merry zuckte erschrocken zusammen und stieß Saradocs Hand weg. Doch dieser beließ es nicht bei einem leichten Zwicken, sondern kitzelte Merry, der entsetzt aufsprang. Dabei verlor dieser jedoch das Gleichgewicht, stolperte rückwärts und landete schließlich auf dem Boden. Frodo brach in schallendes Gelächter aus, das er sich verzweifelt zu verkneifen versuchte, nachdem sein Vetter ihm einen missbilligenden Blick zu warf. Er war jedoch nicht der Einzige, der lachte, denn alle, der am Tisch sitzenden Hobbits, hatten das Schauspiel beobachtet und fanden es nicht weniger amüsant. Saradoc half seinem Sohn wieder auf die Beine, doch dieser hatte inzwischen andere Pläne und, anstatt sich wieder an den Tisch zu setzen, schnappte er sich Frodo und die beiden gingen in eines der Wohnzimmer, wo sie den Rest des Nachmittags vor dem Kamin verbrachten und Kartenhäuser bauten.
Auch nach dem Abendessen setzten sie sich wieder vor den Kamin eines Wohnzimmers und hofften, dass Gorbadoc eine seiner Geschichten erzählen würde. Der alte Hobbit hatte jedoch keine Lust dazu und vertröstete sie auf den nächsten Tag. So saßen sie alleine zusammen, der warme Schein des Feuers im Rücken, der weiche Duft von Zedernholz in den Nasen, umgeben vom sanften Licht des Leuchters, das dem Wohnzimmer zusätzliche Behaglichkeit verlieh. Merry erzählte, dass er Saradoc am nächsten Tag beim Durchgehen der Post und diversen anderen Kleinigkeiten behilflich sein durfte, nachdem der allmorgendliche Unterricht vorüber war. "Für gewöhnlich erledigt Papa diese Arbeiten morgens", ließ Merry ihn wissen, "doch weil er meine Hilfe braucht, verschiebt er sie auf den Nachmittag." Ein stolzes Grinsen zierte sein Gesicht, doch Frodo wirkte überhaupt nicht begeistert, sah ihn stattdessen entgeistert an. "Aber morgen wollten wir doch gemeinsam nach etwas suchen, um uns die Langeweile zu vertreiben, die hier schon seit über einer Woche herrscht. Wir wollten reiten gehen, wenn es einige Zeit aufhört zu regnen." Merry wirkte überrascht, runzelte verwundert die Stirn. "Das hatte ich vollkommen vergessen", gestand er betrübt, sah ihm dann jedoch hoffnungsvoll in die Augen. "Können wir es auf übermorgen verschieben?" Unsicher und zugleich enttäuscht, sah Frodo seinen Vetter an. "Übermorgen?" Merry nickte eifrig. "Du wirst es nicht vergessen?" "Bestimmt nicht", versicherte der Sohn des Herrn. "In Ordnung", meinte Frodo schließlich, wobei er sich nicht anmerken ließ, wie enttäuscht er eigentlich war. Dennoch senkte er betrübt den Kopf, als Merry ihm voller Freude um den Hals fiel und verkündete, dass er der Beste sei.
~*~*~
Er hat es vergessen. Er vergisst in letzter Zeit viel zu oft, wann wir gemeinsam etwas geplant hatten. Ob es daran liegt, dass ich so lange weg war? Saradoc lässt ihn oft bei der Arbeit helfen. Zu oft. Ich darf dann den Nachmittag alleine verbringen und sehen, womit ich die Zeit am besten totschlage. Er albert mit ihm herum. Wie oft habe auch ich mit meinem Papa, auf genau dieselbe Art und Weise, herum gealbert. Warum vermisse ich sie noch immer so sehr? Ist es, weil ich zuviel nachdenke? Warum sitze ich hier allein? Ich bin dazu verdammt allein zu sein. Allein mit meinen Gedanken. Aber diese sind schrecklich. Ich will es nicht, ich will es wirklich nicht. Ich habe nicht das Recht, so zu denken. Warum mache ich es dennoch? Aufhören, ich muss aufhören, darüber nachzudenken. Es geht nicht, wie so oft. Bin ich undankbar, wenn ich so denke? Ich beneide ihn. Ich beneide ihn sogar sehr. Er hat all das, was ich gerne wieder hätte und ist sich dessen nicht einmal bewusst. Er hat gesagt, ich wäre der Beste. Das würde er nicht mehr, würde er wissen, wie ich denke. Ich habe ihn in den letzten Tagen beobachtet. Er genießt die Zeit mit seinen Eltern, vergisst dann meist alles um sich herum. Ich mache ihm keinen Vorwurf, es ist nur...
Frodo seufzte und klappte das Buch zu. Wie er es am vergangenen Abend befürchtet hatte, hatte er diesen Tag wieder alleine verbracht. Nach dem Unterricht war er in die Bibliothek gegangen und hatte sich ein Buch geholt mit dem er sich auf der Holzbank vor dem einzigen Kachelofen im Brandyschloss niedergelassen hatte. Merry war er nach dem Mittagessen nicht wieder begegnet, doch wann immer er an seinen Vetter gedacht hatte, hatte sich seine Miene verfinstert. Ärgerlich über seine eigenen Gedanken, warf Frodo sich auf das Bett. War es jetzt tatsächlich schon soweit gekommen, dass er Merry die Zeit mit seiner Familie neidig war? Er griff nach seinem Bild. Wie lange war es her, dass ihn jemand so in den Arm genommen hatte, wie es seine Eltern auf der Zeichnung taten? Er musste nicht lange nachdenken. Wirklich in den Arm genommen worden, war er das letzten Mal von Bilbo, vor mehr als einem halben Jahr. Von Bilbo selbst hatte er nichts mehr gehört, seit er ihm geschrieben hatte, dass er zu Pippin gehen würde. Frodo überlegte einen Augenblick. Inzwischen musste sein Brief angekommen sein, in dem er berichtete, dass er nun wieder zurück war.
Es klopfte an der Tür und Esmeralda trat ein, bat ihn, zum Abendessen zu kommen. Frodo nickte stumm, doch anstatt vorauszugehen, während er sein Bild wieder auf den Nachttisch stellte, kam Esmeralda zu ihm, setzte sich neben ihm auf das Bett. "Was ist los, Frodo? Du bist so schweigsam", fragte sie und für einen kurzen Augenblick glaubte Frodo, Sorge aus ihrer Stimme zu hören. Verwundert sah er zu ihr auf, doch weder ihre Augen, in denen sich die Flamme der Kerze spiegelte, noch ihr Ausdruck, ließen ihn erahnen, was sie dachte. Ein wenig enttäuscht, wandte er den Blick ab, zuckte mit den Schultern. Esmeralda lächelte mitfühlend, strich ihm über den Hinterkopf. "Nach dem Abendessen geht es dir bestimmt wieder besser", versuchte sie ihn aufzuheitern. "Du solltest nicht den ganzen Tag allein in deinem Zimmer sitzen." Er nickte schwach, doch verdrehte er genervt die Augen und konnte nur knapp verhindern, dass sich seine Hände zu Fäusten ballten, die seinen Neid auf Merry verraten hätten. Ohne ein Wort zu sagen, ließ er sich schließlich von Esmeralda ins Esszimmer führen.
Später am Abend fand Frodo sich im Wohnzimmer wieder. Gemeinsam mit Merry saß er in einer Ecke, der goldene Schein einer Wandlampe im Gesicht, während sein Vetter ihm aufgeregt von diesem und jenem Erlebnis des vergangenen Tages berichtete. Frodo hörte ihm jedoch nicht wirklich zu, nickte nur gelegentlich, um anzudeuten, dass er noch aufmerksam war. Aufmerksam war er, aber seine Beachtung galt nicht Merry. Er war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, während er seine Augen durch das Zimmer schweifen ließ. Keiner war alleine. Es hatten sich Gruppen gebildet, mit mindestens zwei oder drei Hobbits. Er war auch nicht allein. Merry saß bei ihm, doch dieser schien so vertieft in seine eigenen Worte, dass er nicht einmal bemerkte, dass Frodo nicht zuhörte. Es stimmte ihn traurig, machte ihm das Herz schwer, doch nicht einmal der betrübte Ausdruck in seinen Augen schien seinem Vetter aufzufallen, wie das früher immer der Fall gewesen war. Frodo seufzte leise, ließ seinen Blick wieder über die anwesenden Hobbits wandern und bemerkte, dass Gorbadoc sich in seinen Sessel setzte und seine Pfeife stopfte. "Komm mit!" Anders als seine Traurigkeit, war Gorbadocs leise Vorbereitung, eine Geschichte zu erzählen, nicht unbemerkt an Merry vorüber gegangen. Sein Vetter zupfte an seinem Ärmel und rannte zum Kaminsims, wo Esmeralda und Saradoc saßen. Frodo ließ ihn laufen, blieb alleine in der Ecke sitzen, während er schweigend beobachtete, wie sein Großvater sich räusperte und schließlich mit einer Erzählung begann. Im ganzen Raum war es still geworden. Alle lauschten gespannt, was der alte Hobbit dieses Mal zum Besten geben würde und Gorbadocs Erzählstimme drang laut und deutlich in jede Ecke des Zimmers, wurde nur gelegentlich von einem Husten oder einem Niesen eines erkälteten Bewohners unterbrochen. Die weichen, melodischen Worte klangen in seinen Ohren, doch noch ehe Frodo ihre Bedeutung klar wurde, waren sie ihm wieder entfleucht. Seine Gedanken kreisten und er versuchte verzweifelt, ihnen zu entfliehen. Frodos Blick fiel auf Merry, der es sich zwischen seinen Eltern bequem gemacht hatte und gespannt der Geschichte lauschte, offensichtlich gleichgültig, dass er nicht bei ihm war. Auch Nelke und Reginard saßen neben ihren Eltern. Selbst Merimas war noch auf, hatte sich in die Arme seines Vaters gekuschelt und kämpfte gegen seine schweren Lider. Frodo war umgeben von Familien, von Paaren, die sich verliebte Blicke zuwarfen und von Kindern, deren Eltern einen schützenden Arm um deren Schultern gelegt hatten. Verzweifelt schüttelte Frodo den Kopf und schloss die Augen. Er hatte nicht das Recht, eifersüchtig zu sein. Er sollte so etwas nicht denken. Mit einem Satz sprang er plötzlich auf und ging aus dem Zimmer. Hier hielt er es nicht länger aus, nicht allein. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass Merry ihm fragend hinterher sah, doch sein Vetter blieb sitzen. Frodo bemerkte nicht, dass Hanna sich kurz nach ihm erhob und ihm folgte.
Wie blind eilte er durch die Gänge des Brandyschlosses, verlangsamte seinen raschen Schritt erst, als er in den östlichen Gang trat. Kaum jemand war ihm begegnet, lauschten doch die meisten Gorbadocs Erzählung. Betrübt senkte er den Kopf, hielt einen Augenblick seufzend inne. So sehr er sich auch daran zu gewöhnen versuchte, es schmerzte, alleine zu sein, niemanden zu haben, der einen schützenden Arm um ihn legte und ihn festhielt, wenn er traurig war.
"Leistest du mir ein wenig Gesellschaft?" Frodo fuhr überrascht herum, als er Hannas Stimme vernahm. Ihre liebevollen Augen musterten ihn, während sie an ihm vorüber ging, das helle, braune Haar schimmernd im Licht der Lampen. Nicht jetzt; zu viele Gedanken. Nicht jetzt! Sein Kopf wehrte sich beständig gegen ihre Bitte, doch noch ehe er etwas erwidern konnte, trugen seine Beine ihn in jenes Zimmer, welches einst seinen Eltern gehört hatte. Im Kamin brannte ein Feuer, das bereits am Ausgehen war und sein schwacher Schein tauchte den Raum in ein sanftes Licht. Hanna setzte sich in den Sessel davor und bat Frodo, etwas Holz hinzu zu geben, um das Feuer wieder neu zu entfachen, da sie selbst nicht mehr dazu in der Lage war. Ihr Leib hatte sich gerundet und ihr Bauch war zu einer Belastung geworden. Ihre Hand ruhte auf ihrem ungeborenen Kind, als sie Frodo lächelnd betrachtete, während er ihrer Bitte wortlos nachkam. Nachdem er die Zange, mit der er die Glut neu schürte, wieder in die Halterung gesteckt hatte, trat er einige Schritte zur Seite, sah sie unsicher an, die Stirn leicht in Falten gelegt. Ungeduldig wartete Frodo darauf, ob Hanna noch weitere Aufgaben für ihn hatte, oder ob er nun gehen konnte. Er fühlte sich unwohl, hatte ein nervöses Kribbeln im Magen. Was machte er hier? Weshalb war er her gekommen? Am liebsten hätte er sich entschuldigt und wäre gegangen, doch er blieb. Mit gesenktem Kopf und betrübten Augen stand er neben der Tür, das Gewicht unruhig von einem Bein auf das andere verlagernd. "Komm zu mir, Frodo", bat Hanna mit sanfter Stimme. Zögernd trat Frodo näher. Sie ergriff seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Verwundert sog Frodo die Luft ein, wollte seine Hand wegziehen, doch Hanna bedeutete ihm, sie dort zu lassen. "Fühlst du das?", frage sie, während sie ihn eindringlich betrachtete. Frodo starrte mit gerunzelter Stirn auf ihren Bauch, als könne ihm das helfen, etwas zu spüren, aber er fühlte nichts. Doch, halt! Beinahe erschrocken war er erneut versucht, seine Hand wegzuziehen, doch Hanna hielt ihn sanft zurück. Was war das gewesen? Fragend sah er zu der werden Mutter auf. "Das Kind ist sehr munter. Es strampelt gerne, um auf sich aufmerksam zu machen", meinte sie mit einem Lächeln, das Frodo zaghaft erwiderte. Ungeduldig wartete er darauf, noch mehr zu fühlen, als Hanna sein Handgelenk plötzlich fester umklammerte. "Du strampelst nicht, nicht wahr? Du machst es genau umgekehrt", sagte sie, ohne ihren eindringlichen Blick von ihm zu nehmen. Frodos Augen nahmen einen entsetzten Ausdruck an. Er wollte sich von ihr los reißen, doch sie hielt ihn mit einem Griff fest, der stärker war, als er es ihr zugetraut hätte. Warum war er her gekommen? Er hatte es nicht gewollt und jetzt geriet alles außer Kontrolle. Was war nur los mit ihm? "Du solltest dich nicht verkriechen, Frodo. Wenn du dich verkriechst, wird man dich noch weniger bemerken", ihre Stimme war ruhig. Sie hörte sich an, als würde sie diese Unterhaltung täglich führen und das machte ihm Angst. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch dieser Art. Er hatte schon zuviel nachgedacht. Warum tat sie ihm das an? Weshalb konnte sie ihn nicht einfach gehen lassen? Erschrocken und verwirrt schüttelte Frodo den Kopf, kniff die Augen zusammen. Wurde er nun vollkommen verrückt? Hatte er nicht eben erst Merry um die Aufmerksamkeit beneidet, die ihm zuteil geworden war? Hanna gab ihm nun, wonach er sich zuvor gesehnt hatte und doch wünschte er sich jetzt nichts mehr, als allein zu sein. Er hatte aufgehört, sich zu wehren, starrte noch immer entgeistert in Hannas dunkle Augen, als er spürte, wie er zu zittern begann. Es fing in seinen Beinen an, machte seine Knie weich und arbeitete sich immer weiter nach oben, bis es schließlich auch seine Arme und Hände erreichte. "Bitte nicht", flüsterte er tonlos. Seine Augen glänzten, mit ungeweinten Tränen.
Hanna zögerte einen Augenblick, der Griff um sein Handgelenk wurde lockerer. Hatte sie einen Fehler begangen? Sorge, Furcht und Mitgefühl gleichermaßen regten sich in ihr. Frodo tat ihr unendlich Leid, wie er vor ihr stand, Angst, Verzweiflung und Tränen in den großen, blauen Augen. Und sie hörte auf ihr Herz, zog ihn zu sich und legte seinen Kopf an ihre Brust. Zärtlich strich sie ihm durch die dunklen Locken, während sie beruhigende Worte murmelte.
Frodo konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten. Seine Hand klammerte sich verzweifelt an ihrem Ärmel fest. Warum hatte sie das getan? Er wollte nicht weinen. Er wollte sie nicht beunruhigen. Er wollte... Eigentlich wollte er genau das. Nur hatte er geglaubt, er würde sich dabei besser fühlen. Aber die Umarmung war, wonach er sich gesehnt hatte. Woher hatte sie das gewusst? Es spielte nun keine Rolle mehr, denn sie war da, sie war bei ihm und gewährte ihm, was kein anderer ihm in einer langen Zeit gewährt hatte. Seine Tränen versiegten nach einigen Schluchzern. Mit geschlossenen Augen lauschte er ihrem Herzschlag, genoss die Wärme, die ihre Umarmung ihm schenkte.
Hanna atmete erleichtert auf, als sie spürte, wie Frodo sich entspannte und aufhörte zu weinen. Es war also doch richtig gewesen. Zaghaft ließ sich der Junge auf die Knie sinken und legte seinen Kopf vorsichtig auf ihren Bauch. Hanna lächelte ihn an, als er unsicher aufsah und nickte versichernd. Tröstlich strich sie ihm mit einer Hand über den Rücken, froh um die traute Zweisamkeit, die ihr so unerwartet zuteil geworden war. Plötzlich hob Frodo den Kopf, ließ sie fragend die Stirn in Falten legen. "Ist das der Herzschlag des Kindes?", fragte er voller Verwunderung. Sie nickte lächelnd. Frodo schien einen Augenblick nachzudenken, legte dann den Kopf wieder auf ihren Bauch und schloss die Augen. Zufrieden lauschte Hanna seiner ruhigen Atmung und seufzte leise.
Kapitel 34: Streit
"Du hast es vergessen?!" schimpfte Frodo und die Enttäuschung in seiner Stimme wurde von Wut überschattet. Beinahe entrüstet blickte er auf Merry, der betrübt nickte und den Blick abgewandt hatte. "Mir scheint, du vergisst einiges in letzter Zeit!" Frodo konnte es kaum glauben. Merry hatte schon wieder vergessen, dass sie vorgehabt hatten, reiten zu gehen. Das war bereits das dritte Mal in dieser Woche. "Es tut mir Leid", meinte Merry, der endlich aufblickte und seinen Vetter mehr verwundert, als entschuldigend ansah. "Aber das ist doch noch lange kein Grund, so wütend zu werden." Frodo funkelte ihn verärgert an. "Das wäre es nicht, wäre es das erste Mal. Aber du vergisst in letzter Zeit ständig, wann wir vorhatten, gemeinsam etwas zu unternehmen." Sein Blick ruhte anklagend auf dem jüngeren Hobbit, der ihn nun beinahe beleidigt ansah. Frodo öffnete den Mund, schloss ihn wieder, nur um dann doch auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag. "Unsere Freundschaft scheint dir nichts mehr zu bedeuten." Merrys Mund stand offen. Entgeistert sah er seinen Vetter an, glaubend, er hätte sich verhört, doch Frodos Ausdruck ließ auf das Gegenteil schließen. Für einen Augenblick war Merry unfähig, zu antworten. Wie konnte Frodo ihm so etwas unterstellen? "Das kannst du mir nicht vorwerfen!" entgegnete er, seine Stimme endlich wieder findend und nun ebenfalls wütend geworden. "Und weshalb nicht? Womit hast du denn deine Zeit verbracht, seit ich wieder zurück bin?", fragte Frodo hitzig. Seine Augen funkelten voll zorniger Enttäuschung. Merry überlegte einen Augenblick, bevor er Schulter zuckend antwortete. "Ich half meinem Papa und..." "Ja genau, das hast du getan", unterbrach Frodo ihn wutentbrannt. "Jedes Mal, wenn ich dich fragte, ob wir etwas gemeinsam machen können, hattest du schon etwas mit ihm vor." Merry blickte voller Staunen auf seinen Vetter und seine Miene verfinsterte sich, als ihm klar wurde, worauf dieser hinauswollte. "Das ist es also. Es geht hier gar nicht um uns. Du bist eifersüchtig. Eifersüchtig auf mich und meinen Papa." Frodo zuckte zusammen, als hätte Merry ihm einen Schlag verpasst. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er wandte den Blick ab, biss sich auf die Lippen. Merry nickte wissend, trat nun einen Schritt an ihn heran. "Du bist eifersüchtig. Deshalb bist du so wütend auf mich." Merry umkreiste ihn nun, wie ein Wolf seine Beute. "Gönnst du mir etwa die Zeit mit Papa nicht?" Frodo wandte sich zu ihm um, wollte verneinen, doch Merry ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Weißt du, wie selbstsüchtig das von dir ist?", rief er aufgebracht und nun war er es, der anklagend, beinahe feindselig auf seinen Vetter blickte. Frodos Finger gruben sich in seine Handflächen. Musste er sich das gefallen lassen? Zorn brodelte in seinem Innern, brachte seine Augen zum Funkeln, als sich ihre Blicke trafen. Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Merry ihn erneut anfuhr, doch klang er nun beinahe traurig. "Du bist nicht mehr derselbe, Frodo! Der Frodo, den ich gekannt habe, hätte sich für mich gefreut. Mein Papa ist sehr beschäftigt und du", er wandte den Blick ab, doch als er erneut in Frodos Augen sah, konnte dieser Merrys Verbitterung deutlich darin erkennen, "du wirst verrückt, nur weil er ein bisschen Zeit mit mir verbringt?!" Frodo starrte ihn entgeistert an. Tränen der Wut brannten in seine Augen. Wie konnte sein Vetter es wagen, so mit ihm zu sprechen? Merry wusste nicht, was es hieß, allein zu sein, hatte nicht das Recht, ihn als selbstsüchtig zu bezeichnen und er war es nicht, der verrückt wurde. "Das habe ich niemals gesagt. Es ist..." "Es ist was?", schnitt Merry ab, zu wütend, um Frodo ausreden zu lassen. "Du bist eifersüchtig und deshalb wütend auf mich! Ich brauche keine Erklärungen." Er machte auf dem Absatz kehrt, ging kopfschüttelnd zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte, um Frodo mit einer Mischung aus Enttäuschung, Zorn und Verbitterung anzusehen. "Mir scheint, du bist derjenige, dem unsere Freundschaft nichts mehr bedeutet."
Die Aussage ließ Frodo wie versteinert zurück. Als die Tür krachend ins Schloss fiel, wollte er seinem Vetter hinterher laufen und ihm irgendeine Gemeinheit an den Kopf werfen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Vollkommen entgeistert blickte er auf die Stelle, an der sein Vetter zuvor noch gestanden hatte. Er keuchte, die Hände noch immer zu Fäusten geballt, die Miene weiterhin finster. Zorn loderte in seinen Augen, ließ sie ungewöhnlich dunkel erscheinen. Wie konnte Merry ihm vorwerfen, ihre Freundschaft wäre ihm gleichgültig? Schließlich war Merry es, der seine Zeit lieber mit seinem Vater verbrachte und ihn dabei völlig zu vergessen schien. Nur langsam entkrampften sich seine Finger wieder und er wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen, warf sich auf sein Bett. "Wie kann er nur?", brummte er grimmig, wobei er sein Bild anblickte, als hoffe er, von ihm eine Antwort zu erhalten.
An jenem Abend, vor knapp einer Woche, war Frodo noch lange bei Hanna geblieben. Letzten Endes, war er froh gewesen, dass sie ihn gebeten hatte, mit ihr zu kommen. Sie hatten nicht geredet, doch es hatte gut getan, in die Arme genommen, getröstet zu werden. Er wusste nicht, was an jenem Abend sonst geschehen wäre. Vermutlich hätte er sich in seinem Zimmer verkrochen und sich in den Schlaf geweint. So war er ohne weitere Tränen ausgekommen und am nächsten Tag war es ihm sehr viel besser gegangen. Seine Eifersucht auf Merry schien verschwunden, bis zu jenem Augenblick, an dem sein Vetter ihm verkündete, dass er auch diesen Tag nicht mit ihm würde verbringen können, da Saradoc andere Pläne für ihn habe. Und so war es die ganze folgende Woche gewesen. Das Wetter war zwar wieder besser geworden, doch Frodos Laune nicht. Ohne Merry bereitete ihm selbst der strahlenste Sonnenschein keine Freude. Oft saß er alleine im Wohnzimmer oder unter der großen Eiche und dachte nach, nur um noch betrübter zu werden. Was Frodo jedoch viel schlimmer fand, war die Tatsache, dass er immer wütender auf Merry wurde und noch mehr auf den Herrn von Bockland. Saradoc, der ihm Merry entriss, um sein eigenes, glückliches Leben mit seiner Familie zu führen, während er alleine zurückblieb. Frodo hatte den Neid und die Wut unterdrückt, die sich immer mehr in seinen Gedanken ausgebreitet hatten, bis zu jener Unterhaltung mit Merry. Sie hatten erneut geplant gehabt, reiten zu gehen und wieder war Merry in sein Zimmer gekommen, mit der Entschuldigung, er habe es vergessen. Und bevor Frodo gewusst hatte, wie ihm geschah, war alles aus ihm heraus gebrochen und er hatte Merry angeschrieen.
Während er in seinem Bett lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Augen leer zur Decke starrend, kühlte sich sein Blut wieder ab und sein Ärger ging in Verzweiflung über. Was hatte er getan? Hatte er seinen Zorn denn nicht im Zaun halten können? Nun war Merry erzürnt und, was noch viel schlimmer war, wusste um seine Eifersucht, ein Gefühl, das er hatte verdrängen wollen, seit es das erste Mal aufgekommen war. Frodo wollte nicht undankbar erscheinen, doch wenn er sah, wie viel Zeit Merry mit seinem Vater verbrachte, stimmte ihn das traurig. Er konnte sich noch so sehr wünschen, mit seinem Vater zusammen zu sein, für ihn würde dieser Wunsch niemals in Erfüllung gehen. Die Tatsache, dass er den ganzen Tag alleine war, wenn Merry mit dem Herrn von Bockland zusammen war, verstärkte diese Traurigkeit noch. Er kam sich selbst von Merry verlassen vor und gab Saradoc die Schuld dafür. Frodo wusste, dass Merry wütend war, sehr wütend. Sein Vetter würde vorerst nicht gut auf ihn zu sprechen sein und auch Frodo hatte vor, ihm für eine Weile aus dem Weg zu gehen. Was Merry ihm alles an den Kopf geworfen hatte, war zu viel gewesen, hatte ihn tiefer verletzt, als alles andere, was ihm jemals angetan oder gesagt worden war. Selbstsüchtig? War er selbstsüchtig, nur weil er wollte, dass Merry auch ein wenig Zeit mit ihm verbrachte? Merry war schließlich sein einziger wirklicher Freund im Brandyschloss, sein bester Freund und die Freundschaft zu ihm war ihm alles andere als gleichgültig. Merry schien das jedoch noch immer nicht begriffen zu haben und jetzt, da er seine Zeit lieber mit Saradoc verbrachte, als mit ihm, würde sich daran auch nichts ändern. Sollte sein Vetter doch glauben, was er wollte, ihm war das gleich.
Frodo seufzte und richtete sich schwungvoll auf. Es hatte keinen Sinn, länger darüber nachzudenken. Das würde ihn nur wieder wütend machen. Lustlos schlüpfte er in seinen Mantel, band sich einen Umhang um und stapfte nach draußen, wo er sich unter die kahlen Äste der große Eiche setzte. Er hatte dem Brandyschloss den Rücken zugewandt, in der Hoffnung, niemand würde sehen, dass er hier oben saß, wie so oft in den vergangenen Tagen. Die Sonne lachte vom Himmel und nur einige Wolkenfetzen störten das tiefe Blau. Trotz des schönen Wetters herrschte jedoch noch immer der kalte Wind des Winters und die Luft war kühl und verlieh seinen Wangen ein gesundes Rot. "So allein?", fragte eine nur allzu bekannte, gehässige Stimme. Frodo brauchte nicht aufzuschauen, um zu wissen, um wen es sich handelte. "Lass mich!" "Hast du heute etwa schlechte Laune?", fragt Marroc, obwohl es mehr eine Feststellung, als eine Frage war, ließ sich neben ihm auf den Boden sinken und lehnte sich an den Stamm. Frodo rutschte ein Stück von ihm weg. "Hast du Angst?", fragte Marroc, griff plötzlich nach Frodos Kragen und zog ihn zu sich. Erschrocken riss der jüngere Hobbit die Augen auf und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Zu seiner Überraschung, gelang es ihm tatsächlich, die Hand seines Gegners weg zu schlagen, doch ob Marroc es so gewollt hatte, oder ob er es aus eigener Kraft geschafft hatte, konnte er nicht sagen. Frodo wich zurück, blieb etwas abseits des Baumes im kalten Gras sitzen. "Du hast Angst", stellte Marroc beinahe erheitert fest und lehnte sich wieder an den Stamm. Frodo sah ihn verwirrt an, Misstrauen in seinen Augen. Was hatte der Ältere vor? "Siehst du, du wagst es nicht einmal jetzt, dich neben mich zu setzen", meinte dieser schließlich in sachlichem Ton. "Du warst zuerst hier, hättest das Recht dazu, aber du nutzt es nicht. Du bist feige." Frodo krallte seine Finger ins Gras, seine Miene verfinsterte sich. Suchte Marroc jetzt etwa auch noch Streit? Er spürte die Wut von zuvor erneut in sich aufsteigen, wusste, dass er leicht zu reizen war. Kalte Erde sammelte sich unter seinen Fingernägeln, als er diese fester ins Gras grub. Er spürte, dass es nur weniger Worte bedurfte, um ihn einen weiteren Streit beginnen zu lassen, doch so weit wollte Frodo es nicht kommen lassen, denn ein Streit mit Marroc konnte böse für ihn enden. Trotzdem lehnte er sich wieder an den Stamm, allerdings auf der gegenüberliegenden Seite, den Blick starr auf den Bockberg gerichtet, angespannt darauf wartend, was Marroc als nächstes tun würde. "Ich habe noch eine Rechnung zu begleichen", fuhr dieser schließlich fort. Frodo wurde plötzlich hellhörig und, war er zuvor wachsam gewesen, waren seine Nerven nun zum Zerreißen gespannt. Ohne den Kopf zu bewegen, versuchte er beinahe angstvoll, einen Blick auf Marroc zu werfen. "Du hast mich jämmerlich genannt", die Stimme behielt ihren erklärenden Tonfall. Frodos Atmung setzte für einen Augenblick aus. Mit einem Mal erinnerte er sich an jenen Abend im Erdbeerbeet. Der Abend, an dem er es gewagt hatte, sich gegen Marroc zur Wehr zu setzen. Plötzlich konnte er spüren, wie nackte Angst ihre Klauen nach ihm ausstreckte und ihn packte. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, ließ seine Nackenhaare sich sträuben. Er musste sofort weg, hätte schon viel früher gehen sollen.
Frodo sprang auf, doch es war bereits zu spät. Marroc packte seinen Knöchel, woraufhin Frodo der Länge nach zu Boden stürzte. Nun ergriff die Angst ganz Besitz von ihm, schnürte ihm die Luft ab. Oder war das Marroc, der sich auf ihn gestürzt hatte und ihn zu Boden drückte? "Was hast du vor?", keuchte Frodo, während er verzweifelt versuchte, sich zu befreien. "Das willst du gar nicht wissen, Kleiner!" gab Marroc zurück, wobei er das Gesicht bedrohlich nahe an das Seine brachte. Frodos Furcht breitete sich noch weiter aus, wenn dies überhaupt möglich war. Wie eine eiserne Kette legte sie sich um seinen Körper und für einen Augenblick schien ihn alle Kraft zu verlassen, sodass er hilflos zitternd zurückblieb. Er wusste, dass Marroc keinen Wert auf Saradocs Anweisungen legte. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen, und das schnell. Völlige Verzweiflung übermannte ihn, denn sein Verstand schien leer. Seine Angst hatte ihn vollkommen ausgefüllt, ließ ihn selbst seine Wut vergessen. Marroc würde ihn schlagen, wie er es schon im Erdbeerbeet hatte tun wollen. Warum er es an jenem Abend nicht getan hatte, war Frodo ein Rätsel geblieben, doch nun würde Marroc nachholen, was er damals versäumt hatte, darin bestand kein Zweifel. "Wenn du glaubst, du könntest nach Saradoc rufen, muss ich dich enttäuschen", ließ Marroc ihn wissen und drückte ihn fester zu Boden, als wieder Kraft in Frodos Arme zurückgekehrte und er erneut versuchte, sich zu befreien. "Dein kleiner Freund ist auch nicht da. Er ging gemeinsam mit dem Herrn reiten."
Frodo starrte ihn entgeistert an, hörte für einen Augenblick auf, sich zu wehren. Merry war mit Saradoc reiten gegangen? War das von Anfang an geplant gewesen, oder war Merry aus purem Trotz mit seinem Vater ausgeritten? Die Wut von zuvor kehrte, gemischt mit Enttäuschung, zu ihm zurück und vermengte sich mit der Angst vor Marroc, die ihn in diesem Augenblick erfüllte. All seine Kraft zusammennehmend, schlug er erneut um sich und schaffte es schließlich, sich durch einen Tritt in den Bauch von Marroc zu befreien. Sofort sprang er auf und stürzte davon. Sein Herz schlug in wilder Verzweiflung. Seine Knie waren weich, doch er schenkte dem keine Beachtung und stürzte den Hügel hinunter, zurück zum Brandyschloss. Marroc setzte ihm hinterher.
Seine Angst verlieh Frodo eine ungeahnte Geschwindigkeit und bald war er Marroc ein ganzes Stück voraus. Seine Lungen brannten wie Feuer und Frodo schnappte verzweifelt nach Luft. Er konnte nicht mehr weiter laufen. Sein Blick fiel auf die Holzscheite, die nicht weit von ihm entfernt unter wasserdichten Planen aufgestapelt waren. Es waren nicht mehr viele, schließlich war der Winter beinahe vorüber, dennoch musste es genügen, um sich vor Marroc zu verstecken. Mit einem Satz verkroch er sich zwischen einer der vielen Reihen. Seine Knie gaben nach und er sank keuchend zu Boden. Sein Herz raste und Frodo fürchtete, dass selbst Marroc das laute Pochen hören konnte.
"Wo bist du?" Erschrocken presste Frodo sich gegen das Holz an seinem Rücken, als er Marrocs wütende Stimme hörte. Er lauschte, vermutete, dass Marroc nicht mehr weit von der Reihe, in der er sich befand, entfernt war und schlich ans andere Ende. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Nichts. "Da bist du ja!" Marroc erschien mit einem hämischen Grinsen am anderen Ende des Holzstapels. Frodo sprang mit einem entsetzten Aufschrei zurück, wobei er gegen die untersten Holzscheite stieß und sie zu Boden warf. Ein Raunen ging durch das aufgeschichtete Holz und eh der junge Hobbit wusste, wie ihm geschah, rutschten die oben liegenden Scheite herunter. Beinahe hätten sie ihn unter sich begraben, doch Frodo war in letzter Sekunde zur Seite gesprungen und starrte nun voller Entsetzen auf die herunterfallenden Scheite. Er wartete förmlich darauf, dass der Holzstapel in sich zusammenfiel, doch nichts dergleichen geschah und auch wenn das Holz gefährlich ins Wanken geraten war, beruhigte sich der Stapel wieder, nachdem er sich jener Scheite entledigt hatte, denen Frodo nur knapp entkommen war. Ein Seufzer der Erleichterung entwich seinen Lungen und er ließ sich mit geschlossenen Augen auf den Rücken fallen, ohne auf das kalte, nasse Gras zu achten. Für heute hatte er eindeutig genug Aufregung gehabt. Ein heimliches Zittern hatte sich seines Körpers bemächtigt, doch ließ dieses bereits nach, ebenso, wie das ungute Gefühl der Angst, das ihn von den Zehen bis zu den Haarspitzen erfüllte.
Zu früh, denn Marroc stand plötzlich vor ihm und blickte auf ihn herab. Ihn hatte Frodo für einen Augenblick ganz vergessen, war umso erschrockener, als dieser plötzlich in einem beinahe spöttisch erheiterten Tonfall kundtat, dass er ein ordentliches Durcheinander angerichtet hatte. "Daran bist du nicht unbeteiligt!" ließ Frodo verlauten, verärgert, dass Marroc alle Schuld auf ihn schieben wollte, doch bereute er seine kleinlauten Worte sofort, denn Marroc verpasste ihm einen schmerzhaften Tritt in die Seite. Frodo sog scharf die Luft ein, biss sich dann auf die Lippen, um ein Stöhnen zu verhindern, als er sich zur Seite drehte und sich den Bauch hielt. Marroc grinste triumphierend. "Du solltest das besser aufräumen, bevor der Herr nach Hause kommt oder es jemandem auffällt", seine beinahe erheiterte Stimme nahm einen drohenden Unterton an, "und wehe dir, du verlierst ein Wort über das, was vorgefallen ist."
Frodo, der noch immer gekrümmt am Boden lag, nickte schwach. Marroc grinste zufrieden, stieß ihm dann erneut in den Bauch, um sicher zu gehen, dass der junge Hobbit seine Worte auch nicht vergaß und ging davon. Frodo fiel es für einen Augenblick schwer zu atmen und er hätte am liebsten angefangen zu weinen. Weshalb ließ er das mit sich machen? Alles ging wieder von vorne los. Es war genau, wie vor zwei Jahren, nur, dass er dieses Mal bereits mit Saradoc gesprochen hatte, und wusste, dass dies nichts ändern würde. Was konnte der Herr denn schon machen? Marroc aus dem Brandyschloss werfen? Das würde er niemals tun und Marroc wusste das.
Seine Furcht hatte von ihm abgelassen und auch der Schmerz ließ langsam nach, als Frodo sich vorsichtig erhob. Missmutig machte er sich daran, die heruntergefallenen Scheite wieder aufzuschichten. Es war eine mühselige Arbeit und auch wenn nur ein kleiner Teil des Stapels eingestürzt war, dauerte es lange, bis er alle Scheite wieder unter die Plane geschichtete hatte, die zu seiner Erleichterung nicht ebenfalls heruntergefallen war. Frodo war wütend. Wütend auf sich selbst, dass er Marroc so mit sich umgehen ließ. Wütend auf Marroc, der ihn grundlos so schlecht behandelte. Wütend auf Merry, der mit Saradoc ausgeritten war und wütend auf Saradoc, weil er soviel Zeit hatte, die er mit Merry verbringen konnte.
Frodo hatte gerade das letzte Stück unter der Plane aufgestapelt, als er Stimmen hörte, die sich ihm näherten. Er konnte sofort sagen, dass es sich um Merry und Saradoc handelte. Sie lachten und tauschten Dinge aus, die sie vermutlich während ihres Rittes erlebt hatten. Grimmig dachte Frodo daran, dass er es eigentlich war, der mit Merry hatte ausreiten wollen und ballte die Hände zu Fäusten. Er entschied, hier zu warten, bis sie an ihm vorüber gegangen waren, denn er glaubte nicht, dass er den Zorn, den er während seiner unfreiwilligen Beschäftigung geschürt hatte, länger zurückhalten konnte, sollte er eben jenen beiden begegnen, die an seiner misslichen Lage schuld waren.
An diesem Tag schien jedoch nichts so zu verlaufen, wie Frodo es sich wünschte, denn Saradoc entdeckte ihn und begrüßte ihn freundlich. "Was machst du denn hier?", fragte der Herr neugierig, wobei er einen etwas verwunderten Blick auf die schmutzigen Hände des Jungen warf. "Das geht dich nichts an!" fuhr Frodo ihn an, ein wütendes Funkeln in den Augen, und stürmte davon. Saradoc ließ der Tonfall dieser Aussage beinahe überrascht zurückschrecken und er tauschte einen fragenden Blick mit seinem Sohn, doch dieser zuckte mit den Schultern. Dennoch entging dem Herrn von Bockland nicht, dass Merry seinem Vetter einen nicht allzu freundlichen Blick hinterher warf und für einen kurzen Augenblick legte er nachdenklich die Stirn in Falten.
Frodo war durch den Hintereingang geradewegs in sein Zimmer gerannt. Auf halbem Weg war er allerdings auf Esmeralda gestoßen, die ihn daran erinnert hatte, dass das Abendessen bald aufgetischt wurde. Frodo hatte nur genickt, war jedoch sofort weiter durch die Gänge gerannt, bis er sein Zimmer erreicht hatte. Dort angekommen ließ er die Tür krachend ins Schloss fallen, entledigte sich seines Umhangs und des Mantels und warf sich auf sein Bett, um sich unter seiner Decke zu verkriechen. Er hasste diesen Tag, konnte kaum erwarten, dass er vorüber ging. Er würde hier liegen bleiben und auf den Morgen warten.
Es dauerte jedoch nicht lange, da klopfte es an der Tür. Frodo verharrte regungslos unter seiner Decke, biss sich verzürnt auf die Lippen. Wenn er sich einsam fühlte, kam niemand, doch jetzt, wo er in Ruhe gelassen werden wollte, schien sich plötzlich jeder für ihn zu interessieren. Weshalb mussten sie ihn ausgerechnet jetzt beachten wollen? Er stellte sich schlafend, als die Tür geöffnet wurde und jemand eintrat. Der Stuhl an seinem Schreibtisch wurde vorgezogen und neben das Bett gestellt. "Ich weiß, dass du nicht schläfst, Frodo", es war Saradocs Stimme. "Du schläfst niemals um diese Zeit, außer wenn du krank bist und krank hast du zuvor nicht ausgesehen." Frodo rührte nicht, also sprach Saradoc weiter. "Weshalb bist du wütend, Frodo? Hattest du Streit mit Merry? Streit mit Merry! Was geht ihn das an? Er ist schließlich der Grund dafür! Er wollte nicht antworten, stellte sich weiterhin schlafend, obwohl ihm klar war, dass Saradoc wusste, dass dem nicht so war. "Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest", sagte dieser nach einer langen Pause. Als Frodo noch immer nicht gewillt war, etwas zu entgegnen, seufzte Saradoc resignierend, erhob sich schließlich und stellte den Stuhl zurück an seinen Platz. In der Tür wandte er sich noch einmal um. "Wasch dir wenigstens Füße und Hände, bevor du dich schlafen legst."
Frodo blinzelte und setzte sich auf, als er sicher war, dass Saradoc gegangen war und nicht hinter der Türe darauf wartete, dass er sich rührte, um noch einmal herein zu kommen. Er blickte auf seine Hände. Sie waren tatsächlich schmutzig, ebenso, wie seine Füße. Er wollte niemandem mehr begegnen, also entschied er sich zu warten, bis er sicher sein konnte, dass alle beim Essen waren, um sich dann ins Badezimmer zu schleichen.
Auf Zehenspitzen tapste er schließlich hinaus und ging in den östlichen Waschraum, als plötzlich Merry vor ihm stand. Überrascht sahen sie einander an, doch mit einem Schlag veränderten sich ihre Mienen und sie warfen einander grimmige Blicke zu, ehe sie schließlich, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, aneinander vorüber gingen.
Frodo beeilte sich mit seiner Wäsche, um rasch in sein Zimmer zurückkehren zu können. Als er schließlich wieder in seinem Bett lag, in völliger Dunkelheit zur Decke blickte und auf den nächsten Morgen wartete, traten plötzlich Tränen in seine Augen. Grundlos, wie er sich selbst glauben machen wollte. In Wahrheit wusste er jedoch, was ihn so traurig stimmte. Es schmerzte ihn, an Merry vorbeizugehen, ohne ihm auch nur einen freundlichen Blick oder ein Lächeln zu schenken. Alles, was sie noch füreinander übrig hatten, waren grimmige Blicke und er war schuld daran. Er hatte den Streit begonnen, obwohl es eigentlich Merrys Benehmen gewesen war, das erst dazu geführt hatte. Oder war es sein eigenes Verhalten gewesen? Frodo seufzte, drehte sich auf den Bauch und legte das Kissen auf seinen Kopf. Er wollte nicht darüber nachdenken, nicht heute. Dies war kein Tag für vernünftige Gedanken. Es würde alles wieder in Zorn und Verbitterung enden, wie es in den vergangenen Stunden schon zu oft der Fall gewesen war.
Kapitel 35: Leichter, als man denkt
Zwei Wochen vergingen, ohne dass Merry und Frodo ein Wort miteinander wechselten, es selbst vermieden, dem anderen über den Weg zu laufen. Für Frodo waren es zwei harte Wochen gewesen. Oft hatte er nicht gewusst, was er mit sich selbst und der vielen Zeit anfangen sollte, die ihm gegeben war. Viele Stunden hatte er in der Bibliothek verbracht und ein Buch nach dem anderen verschlungen. Er hatte sich vermehrt um Merimas gekümmert. Dabei hatte er auch auf Berilac, den Sohn von Saradocs Bruder Merimac, und auf Gormadoc Bolger, den jüngsten Sohn seiner Cousine Drida, aufgepasst. Die drei jungen Hobbits verstanden sich prächtig und Frodo musste bald nur noch darauf achten, dass sie nichts anstellten. Spielgefährten brauchten sie keinen mehr. Er war einsam und das wurde ihm nun, ohne Merry, nur noch schmerzlicher bewusst. Er schrieb viel in sein Tagebuch und verkroch sich oft stundenlang in seinem Zimmer, nicht selten, um heimlich zu weinen, wenn Einsamkeit, Angst oder Verzweiflung ihn übermannten. Einmal hatte Frodo versucht, mit Merry zu reden und sich wieder mit ihm zu versöhnen, doch der Versuch scheiterte und die Unterhaltung endete in einer weiteren Auseinandersetzung. Bei ihrem letzten Streit hatte er seinen Vetter sehr gekränkt und Merry war nicht gewillt, ihm das so schnell zu verzeihen, stattdessen bezeichnete er ihn erneut als selbstsüchtig, ohne zu wissen, dass er damit einen wunden Punkt bei Frodo traf. Saradoc war eines Abends mit besorgter Miene zu ihm gekommen und hatte gefragt, was mit ihm los sei. Frodo hatte geantwortet, dass es ihm gut ginge, doch der Herr von Bockland hatte nicht locker gelassen. Er hatte berichtet, dass auch Merry in letzter Zeit betrübt war und wollte wissen, um was es denn bei dem Streit gegangen wäre, denn er war sich sicher, dass sie gestritten haben mussten, sonst würden sie einander nicht stur aus dem Weg gehen. Frodo hatte nichts darauf geantwortet. Wenn Merry darüber schwieg, würde er das auch tun. Auf Saradocs Wunsch hin, wenigstens ein bisschen Zeit mit den anderen Kindern zu verbringen, hatte er den Kopf geschüttelt und gemeint, er wäre lieber alleine. Damit hatte er nicht Unrecht, zumindest wenn es um die Kinder in seinem Alter ging. Die meisten mochten ihn nicht, meinten er wäre seltsam und gingen ihm aus dem Weg. Die anderen mochte er nicht. Es waren Kinder wie Marroc, oder solche, die sich mit ihm verstanden. Diesen ging er aus dem Weg. Der Vorfall an jenem Tag vor zwei Wochen, hatte ihn wieder vorsichtiger werden lassen. Saradoc war schließlich seufzend gegangen und Frodo hatte geglaubt, er hätte es hinter sich gebracht, doch von da an war der Herr jeden Abend in sein Zimmer gekommen und jeden Abend hatte Frodo ihm dieselben Antworten gegeben. Er wollte nicht mit ihm sprechen. Hanna hatte inzwischen ihr zweites Kind zur Welt gebracht. Ein Mädchen. Ihr Name war Minze. Frodo hatte sie nur einmal gesehen, bei einem kurzen Besuch in Hannas Zimmer. Esmeralda hatte ihm gesagt, dass sowohl Minze, als auch Hanna nun viel Ruhe bräuchten und Marmadas achtete sehr darauf, dass Frau und Tochter diese Ruhe auch erhielten.
Der Frühling hatte Einzug in das Auenland gehalten. Es war ein Frühling, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Die dichte Wolkendecke, die die Sonne über die Wintermonate ausgesperrt hatte, hatte sich verzogen. Die Luft war warm und duftete nach Blumen. Die Tulpen hatten bereits zu blühen begonnen und wunderschöne Orchideen zierten die Blumenbeete des Brandyschlosses, die Rosamunde mit Liebe pflegte. Immer häufiger fand man die Gärtnerin mit schmutziger Schürze und hochgekrempelter Bluse in den Beeten vor, wo sie die Erde umgrub, oder mit Hühnermist, den sie von einem Bauer in Bockenburg erhalten hatte, den Boden düngte. Bäume und Sträucher hatten begonnen, ihre Knospen auszubilden, würden bald in voller Blüte stehen und die Luft mit ihrem Duft erfüllen. Frodo genoss das angenehme Wetter, saß noch häufiger unter der großen Eiche, als zuvor. So auch an diesem Tag. Er hatte sich ein Buch aus der Bibliothek geholt und lehnte nun, völlig vertieft in die Geschichte, am Baumstamm. Überrascht sah er sich um, als ihm das Buch mit einem Ruck aus den Händen gerissen wurde. "Du liest viel in letzter Zeit", gab Nelke zu bedenken, die das Buch in den Händen hielt und es interessiert betrachtete. Viola und Rubinie standen neben ihr und grinsten auf ihn herab. Frodo sprang sofort auf und entriss ihr das Buch wieder. "Woher willst du das wissen?", fragte er. Als Nelke mit den Schultern zuckte, zog Frodo eine Augenbraue hoch und ging schließlich davon. Mädchen, was für eine Plage! "Bücherwurm!" rief ihm Rubinie kichernd hinterher. Frodo machte auf dem Absatz kehrt und stürmte mit einem Angst einflößenden Aufschrei die wenigen Schritte, die er sich bereits von ihnen entfernt hatte, zurück. Die Mädchen kreischten und rannten in alle Richtungen davon. Frodo grinste in sich hinein. Mädchen, so leicht in Angst und Schrecken zu versetzen! Den Platz unter dem Baum hatte er vorerst zurückerobert, doch lange wollte er ohnehin nicht mehr bleiben, denn bald würde die Sonne untergehen.
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Nach dem Abendessen war Frodo in sein Zimmer gegangen. Er und Merry hatten gelegentliche Blicke ausgetauscht, doch wann immer ihnen das aufgefallen war, waren sie ihnen ausgewichen. Frodo fragte sich, wie lange das wohl so weiter gehen würde, als es an der Tür klopfte und Saradoc eintrat. Er seufzte und legte das Buch wieder hin, das er gerade mit sich ins Bett hatte nehmen wollen. Saradoc griff danach, sah es an. "Du liest viel in letzter Zeit."
Hatte er das heute nicht schon einmal gehört? War das der klägliche Versuch, dieselbe Unterhaltung in Gange zu bringen, die sie nun schon seit über einer Woche jeden Abend führten? Frodo zuckte mit den Schultern, setzte sich auf sein Bett und schaute zu Boden, hoffend, dass Saradoc wieder gehen würde. Doch er ging nicht. Der Herr von Bockland setzte sich auf den Stuhl am Schreibtisch, beunruhigte dabei die Flamme der Kerze auf dem Nachttisch, und stellte ihm dieselben Fragen, wie jeden Abend und wieder gab Frodo dieselben Antworten. Saradoc seufzte und ließ resignierend den Kopf hängen. Er fasste sich mit den Fingern zwischen die Augen, ehe der den Jungen eingehend betrachtete. "Wenn du mir immer dasselbe antwortest, kommen wir nicht weiter, Frodo." "Dann stell andere Fragen", gab Frodo kleinlaut zurück, sah den Herrn dabei nicht an, sondern ließ den Blick auf dem Bild seiner Eltern ruhen. "Und was sollte ich deiner Meinung nach fragen?", wollte Saradoc mit sanfter Stimme wissen, in der Hoffnung, so zu jenem Jungen durchzudringen, der sich immer mehr vor ihm verschloss. Frodo zuckte mit den Schultern. "Gar nichts." Das Licht der Kerze tauchte das junge Gesicht in einen sanften Feuerschein und Saradoc legte den Kopf schief, um es eingehend zu betrachten. Er erkannte die Unzufriedenheit, die Anspannung und doch wollte Frodo ihn nicht an seinen Sorgen teilhaben lassen, schien beinahe verärgert, dass er abends zu ihm kam. Auf Esmeralda reagierte er nicht anders. In den vergangenen Wochen war der Junge immer schweigsamer geworden, hatte sich immer mehr zurückgezogen. Der Zwist zwischen Frodo und seinem Sohn war schlimmer, als jeder andere, den er bisher erlebt hatte, denn nie zuvor waren die Vettern so sehr entzweit gewesen. Saradoc selbst hätte es nicht für möglich gehalten, dass sich die beiden so uneins sein konnten und er hätte alles dafür gegeben, die Kinder wieder vereint zu sehen, doch ganz gleich, zu welchem der beiden er sprach, sie waren nicht gewillt, ihm etwas darüber zu erzählen. Frodo war jedoch noch verbissener, als sein Sohn, denn während Merry wenigstens zu ihm sprach, war Frodo nicht einmal gewillt, ihm vernünftige Antworten zu geben, sondern zuckte nur mit den Schultern oder erklärte ihm, dass dies seine Sache wäre und ihn das nichts anginge. "Warum willst du nicht mit mir reden, Frodo?" Frodo sah ihm einen Augenblick in die Augen, wich seinem Blick dann aber aus und zuckte erneut mit den Schultern. Saradoc schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn. Frodo würde niemals mit ihm sprechen. Er konnte ebenso gut ein Gespräch mit einer Mauer führen und würde selbst dann noch mehr in Erfahrung bringen, als bei diesem Jungen. Vor drei Jahren hatte er sich seiner angenommen, ihn lieb gewonnen, doch wie sollte er sich um ihn kümmern, wenn Frodo nicht gewillt war, sich ihm zu öffnen und sich stattdessen immer mehr von ihm zurückzog. Saradoc seufzte leise, als er dem Jungen eine gute Nacht wünschte und schließlich das Zimmer verließ.
Frodo atmete erleichtert auf, fühlte sich dennoch nicht besser. Gespräche mit Saradoc mochte er nicht. Er konnte nicht genau sagen, weshalb, doch er mochte sie nicht. Ob das ein Grund war, weshalb er den Fragen auswich? Er wusste, dass er Saradoc belog, wenn er sagte, dass es ihm gut ging. Er wollte ihn nicht belügen, doch er tat es. Es war wesentlich einfacher, zu sagen, dass es ihm gut ging, als Saradoc die Wahrheit zu erzählen. Hatte er denn nicht schon genug Gewissensbisse? Waren nicht auch sie ein Grund dafür, dass es ihm eben nicht gut ging? Sollte er das schlechte Gefühl auch noch verstärken, indem er dem Herrn davon berichtete, ihn dadurch vielleicht ebenso verärgerte, wie er Merry verärgert hatte? Frodo seufzte und ließ den Kopf auf das Kissen sinken.
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Der nächste Morgen war verlaufen, wie jeder andere in den vergangen zwei Wochen auch. Nach dem Mittagessen geschah jedoch etwas, womit Frodo nicht gerechnet hatte. Er saß in einem Sessel im Wohnzimmer, war gerade in die letzte Seite seines Buches vertieft, als Merry ihm auf die Schulter tippte. Überrascht sah er auf, Hoffnung in den blauen Augen, denn er glaubte, Merry würde sich bei ihm entschuldigen und sie würden sich wieder vertragen, doch Merrys Ausdruck ließ ihn diesen Gedanken verwerfen. In den Augen seines Vetters konnte er sehen, dass dieser nicht freiwillig hier war. Merry sagte jedoch nichts und so fragte Frodo, was er im Blick seines Vetters zu lesen glaubte. "Hat Saradoc dich geschickt?" Merry nickte. Frodos Hoffnungen schwanden. Merry würde sich also nicht dafür entschuldigen, dass er ihn selbstsüchtig genannt hatte. Er war nicht selbstsüchtig und das würde er sich von niemandem vorwerfen lassen, auch nicht von seinem Vetter. "Wir machen einen Familienausflug, ein Picknick", sagte Merry knapp. "Er sagt, ich solle fragen, ob du uns begleitest. Kommst du mit?" Ein Picknick wäre wundervoll, doch die Kälte in Merrys Stimme ließ ihn anders denken. "Nein", antwortete er trocken. "Warum nicht?", fragte Merry, doch es klang nicht danach, als würde ihn die Antwort wirklich interessieren. Frodo war sich sicher, dass er das nur tat, weil Saradoc es von ihm verlangt hatte. "Erstens habe ich keine Lust...", seine Stimme klang noch immer sachlich und uninteressiert. Lügner! Schon beinahe so überzeugend wie Marroc! "... und zweitens..." Ich bin nicht so selbstsüchtig, wie du vielleicht glaubst. Ich mache euch euren Familienausflug nicht zunichte. Ich bleibe zu Hause, gehe in mein Zimmer, dort wo ich hingehöre. Alleine. Ich bin nicht selbstsüchtig. Ich brauche dich und deine Familie nicht, nicht wenn du so über mich denkst. Frodos verbitterter Gesichtsausdruck entspannte sich, nachdem er einmal tief Luft holte. "... einfach nur nein", schloss er. Merry nickte und, ohne ein Wort zu sagen, stürmte er davon.
Frodo ließ sich tiefer in den Sessel sinken. Seine Gedanken kreisten. Lügner! Du bist ein Lügner! Du weißt genau, dass du sie brauchst. Sie und vor allem Merry. Du hast es in den letzten Wochen selbst gesehen. Warum dieser Streit? Er ist dumm und führt zu nichts, außer, dass du dich schlecht fühlst. Du, und Merry vermutlich auch. Aber warum sagt er so etwas? Warum lässt auch er mich alleine? Ist es, weil ich so lange weg war? Habe ich mich wirklich verändert, wie er sagte? War ich früher anders? Ich darf ihn nicht verlieren! Ich will nicht mit ihm streiten! Ich brauche ihn doch!
Mit einem Schlag wurde ihm das bewusst und ehe er wusste, was er tat, hatte er das Buch fallen gelassen, war aus dem Sessel gesprungen und stürmte aus dem Zimmer hinaus, den Gang entlang. Frodo rannte aus der Höhle, in der Hoffnung, Merry noch irgendwo anzutreffen, doch sein Vetter war fort. Er hatte zu lange gewartet. Betrübt und mit gesenktem Kopf stolperte Frodo in die Höhle zurück, wobei er beinahe mit seiner Großmutter zusammengestoßen wäre. Besorgt beugte sich Mirabella zu ihm herab, legte einen Finger unter sein Kinn, sodass sie in seine traurigen Augen sehen konnte. Tröstend strich sie ihm durch die Haare, ehe sie ihn bat, mit ihr in die Küche zu kommen. Frodo wusste nicht, was er sonst hätte machen sollen, also folgte er ihr schlurfenden Schrittes.
Mirabella setzte sich an den Tisch und ergriff die Hand ihres Enkels, der mit gesenktem Kopf vor ihr stehen blieb. Zärtlich ließ sie ihren Daumen über die weiche Haut seiner Finger streichen, sah ihn lange an. "Was ist los, Frodo?", fragte sie besorgt. Frodo schüttelte den Kopf. "Nichts." Sie seufzte, ließ ihre Finger einmal durch seine dunklen Locken kämmen. Er würde nicht sprechen, dennoch wollte sie ihn im Auge behalten. Zuviel war in den letzten Wochen heimlich geschehen, wie sie an seinem Verhalten erkennen konnte. "Ich wollte für heute Abend Kümmelkuchen backen. Hättest du Lust, mir dabei behilflich zu sein? Ich kann jede helfende Hand gebrauchen", meinte sie und hoffte, Frodo würde einwilligen.
Das tat er, wenn auch nur mit einem schwachen Nicken und ohne sie anzusehen. Nichtsdestotrotz machte Mirabella sich sogleich daran, ihm zu erklären, wie er den Speck zu schneiden hatte. Sie selbst wollte die Zwiebeln zerkleinern. Frodo stand stumm neben ihr, darum bemüht, den Speck in kleine Würfel zu schneiden. Mirabella hatte jedoch bald den Eindruck, dass er mit den Gedanken nicht bei der Sache war, denn sie musste ihn des Öfteren ermahnen, auf seine Finger Acht zu geben. Immer wieder ließ sie ihre Augen zu ihrem Enkel wandern, während ihre Finger geschickt die Zwiebeln zerkleinerten. Mit zunehmendem Alter war sie immer seltener in der Küche tätig gewesen, doch hatte sie schon immer gerne gekocht und war nicht selten den Küchenmädchen zur Hand gegangen, hatte ihnen nützliche Ratschläge gegeben und ihnen den einen oder anderen Trick verraten. Wie alle jungen Mädchen, war auch sie in der Kochkunst unterrichtet worden, auch wenn ihr selten die Ehre zu Teil geworden war, für ihren Gatten kochen zu dürfen. Als einstige Herrin von Bockland hatte sie andere Pflichten zu erfüllen gehabt und die Mahlzeiten, die es zuzubereiten galt, waren nicht nur für ihren Ehemann sondern für alle Bewohner des Brandyschlosses und derer waren es schon immer weit über hundert gewesen. Nichtsdestotrotz hatte Mirabella beizeiten gerne in der Küche ausgeholfen. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, einige der jungen Mädchen zu sich zu holen, um mit ihnen zu kochen, doch als sie Frodo gesehen hatte, war ihr klar geworden, dass sie ihn an diesem Nachmittag nicht alleine lassen durfte und so hatte sie sich früher als geplant an die Arbeit gemacht, denn zu zweit würden sie wesentlich langsamer vorankommen. Sie wollte keinen anderen dazu holen, denn sie hoffte, Frodo würde sich ihr öffnen, wenn sie alleine waren, nahm dafür sogar in Kauf, sehr viel mehr Arbeit auf sich zu nehmen, als sie eigentlich musste. Wieder wanderte ihr Blick zu ihrem Enkel, als sie plötzlich Tränen in dessen Augen bemerkte. Rasch legte sie das Messer weg, wischte sich die Hände an der Schürze sauber und beugte sich zu ihm hinunter. "Frodo?", fragte sie besorgt und legte die Hände auf seine Schultern, als auch er das Messer sinken ließ. "Was ist mit dir?" "Es ist nichts", antwortete Frodo schnell und wischte die Tränen weg. "Die Zwiebeln brennen in den Augen." Mirabella sah ihn lange an. Sie hatte in ihrem Leben schon mit vielen Kindern zu tun gehabt, hatte nicht wenigen selbst auf diese Welt geholfen. Frodo war ihr jüngster Enkelsohn und sie selbst war ihrer Tochter bei seiner Geburt zur Seite gestanden. Primula hatte viele Jahre vergebens auf ein Kind gehofft, hatte nicht mehr daran geglaubt, jemals Mutter zu werden, bis Frodo ihr zu diesem Glück verholfen hatte. Er war ihr ganzer Stolz gewesen, hatte ihre Familie vollkommen werden lassen. Frodo war ein Kind gewesen, wie Mirabella kein zweites gekannt hatte. Vom Tage seiner Geburt an, schien ein unsichtbares Leuchten, dem Licht der Sonne gleich, von ihm auszugehen und der aufgeweckte Junge mit den strahlenden Augen und dem fröhlichen, zahnlosen Lächeln im Gesicht, hatte nicht nur die Liebe seiner Eltern für sich gewonnen, sondern die Herzen aller berührt. Primula hatte das gespürt, hatte oft mit ihr darüber gesprochen. Manchmal, so hatte sie gesagt, fände sie es beunruhigend, dass nur sie zu sehen schien, was von ihrem Sohn ausging. Mirabella hatte ihre Tochter jedoch beruhigen können, denn beizeiten hatte auch sie gesehen, gespürt, wovon ihre Tochter gesprochen hatte und, hätte es sie nicht mit einer tiefen Liebe und Wärme erfüllt, hätte sie es gefürchtet. Mit den Jahren hatte Mirabella jedoch nicht mehr darauf geachtet, auch wenn Primula manchmal noch immer davon gesprochen hatte. Sie hatte es bald als die Liebe einer Mutter zu ihrem einzigen Sohn abgetan und erst lange nach Primulas Tod hatte sie sich dessen wieder erinnert, denn es schien ihr, dass das Leuchten in Frodos Augen nun ein anderes war und selbst dieses schien ihn beizeiten zu verlassen. Frodo mochte auf die eine oder andere Weise etwas Besonderes sein, doch was immer es war, er hatte es in sich eingeschlossen und ließ niemanden mehr daran teilhaben.
Mirabella schüttelte den Kopf. "Es sind nicht die Zwiebeln. Was ist los?" "Es sind die Zwiebeln!" beharrte Frodo sturköpfig und wandte den Blick von ihr ab. "Belüg mich nicht, Frodo! Du wirst mir jetzt sagen, was los ist!" Frodo hatte sie noch niemals wütend erlebt und fürchtete den scharfen Ton, der in ihrer Stimme mitklang. Beinahe verschreckt sah er ihr in die Augen, ehe er den Blick erneut abwandte. Er schluckte die Tränen, die in ihm aufstiegen, wollte sich wieder seiner Arbeit widmen, doch Mirabella ließ ihn nicht, hielt seine Schultern fest und drehte ihn so zu sich. "Nein, Frodo", sagte sie ruhig, aber bestimmt. "Erst wirst du mir sagen, was mit dir los ist." "Ich dachte, ich sollte dir helfen", ließ Frodo sie wissen, sah aber nicht auf. "Das sollst du auch, sobald du mit mir gesprochen hast." "Du hast nie gesagt, dass ich reden soll", entgegnete Frodo scharf, wollte sich wieder von ihr abwenden, doch auch jetzt hielt Mirabella ihn fest. Sie war überrascht über den Ton, den ihr Enkel anschlug. Sie spürte den schnellen Herzschlag, spürte das Beben, das er zu unterdrücken suchte. "Das habe ich nicht, doch jetzt bitte ich dich darum", sagte sie und sah ihn mit traurigen, besorgten Augen an. Frodo sah erneut auf und dieses Mal griff sie nach seinem Kinn, sodass er den Blick nicht wieder abwenden konnte. Tränen traten in seine Augen. "Das kannst du nicht von mir verlangen", rief er plötzlich mit einer Mischung aus Schmerz, Angst und Zorn, ehe er sich aus ihren Armen riss und zur Tür eilte. Einen Augenblick lang zog er es in Erwägung, davon zu laufen, doch er wusste, dass er diesem Gespräch nicht entgehen konnte. Er konnte es nur verzögern. Wieder wischte er sich die Tränen aus den Augen, zog die Nase hoch, ehe er sich trotzig zu ihr umwandte. Ihr weißes Haar, das sie zu einem Knoten hochgesteckt hatte, schimmerte golden im Licht des Feuers und der Lampen und ihre dunklen Augen musterten ihn eingehend, als sie sich schließlich erhob, sich auf einen Stuhl setzte und ihn zu sich winkte. Widerwillig ließ Frodo sich neben ihr auf einen Stuhl sinken und starrte ins Leere. Er wollte mit Merry sprechen, nicht mit ihr.
"Warum bist du traurig, Frodo?", fragte sie mit sanfter Stimme, wobei sie, wie schon zuvor, seine Hand ergriffen hatte und zärtlich über seine Finger strich. Lange Zeit antwortete er nicht, sah sie nicht einmal an, doch ließ er ihre Hand in der ihren ruhen. Seine Großmutter hatte das schon früher getan, hatte ihn sein Leben lang auf diese Weise getröstet, wenn er mit Tränen in den Augen zu ihr gekommen war, um sie wissen zu lassen, wie gemein sein drei Jahre älterer Vetter Marmadoc war, der damals immer der Ansicht gewesen war, das alles ihm gehörte, was sich in seiner Reichweite befand, ganz gleich, ob jener Gegenstand auf dem Boden gelegen, oder sich in Frodos Händen befunden hatte. Als er schließlich beinahe zaghaft Merrys Namen flüsterte, nickte Mirabella wissend. Jeder im Brandyschloss wusste inzwischen vom Zwist der Vettern, auch wenn keiner den Grund dafür kannte. "Worum ging es denn bei dem Streit?" "Das ist nicht wichtig", erwiderte er knapp und schluckte schwer. "Wirklich nicht?" Frodo schüttelte vehement den Kopf. Seine Finger umschlossen die ihren und Mirabella konnte seine Anspannung deutlich spüren, doch Frodo schien davon nichts zu bemerken, hob nicht einmal den Kopf. "Warum bist du traurig?", fragte sie noch einmal. Frodo sah sie mit einem Ausdruck an, als wolle er ihr sagen, dass sie sich wiederholte, doch ihr Anblick ließ einen betrübt überraschten Ausdruck über sein Gesicht huschen und für einen kurzen Augenblick, schien er die Stirn zu runzeln. Das Mitgefühl in den dunklen Augen Mirabellas, ließ Frodo innehalten. Sie hielt seinen Blick fest und für einen Augenblick glaubte der Junge, nicht in die Augen seiner Großmutter, sondern in die seiner Mutter zu sehen, die von derselben dunklen Farbe waren. Ein Knoten formte sich in seinem Hals. Er schluckte noch einmal, doch es half nichts. Seine Tränen hatten ihn besiegt. Mirabella legte einen Arm um seine Schultern, zog ihn in eine zärtliche Umarmung und Frodo ließ sie gewähren, legte schließlich den Kopf auf ihre Brust und erlaubte sich, getröstet zu werden, während heiße Tränen über seine Wangen liefen und auf ihre Bluse tropften. "Ich habe zu lange gewartet", brachte er schließlich unter unendlichen Schluchzern hervor. "Ich habe zu lange gewartet und jetzt ist er fort." Mirabella blutete das Herz, als er schließlich in Tränen ausbrach und zitternd in ihre Arme sank. Sie wusste sofort, von wem er sprach, doch konnte sie kaum glauben, was sie hörte. "Aber Kind, er kommt doch heute Abend wieder", sagte sie und strich ihm durch die Haare. Frodo sah zu ihr auf. "Aber heute Abend, heute Abend...", stammelte er und schnappte verzweifelt nach Luft. "Heute Abend wirst du ihn um Verzeihung bitten und auch er wird sich bei dir entschuldigen und dann ist alles wieder beim Alten", versicherte sie ihm und wischte ihm mit dem Daumen eine Träne von der Wange. Frodo sah sie fragend an und seine Unterlippe zitterte, als er gegen weitere Tränen ankämpfte. Er war sich nicht sicher, ob das wirklich so einfach war, wie es sich bei seiner Großmutter anhörte, doch diese nickte ihm aufmunternd zu, sodass Frodo entschied, es zumindest zu versuchen. Er blieb noch einen Augenblick länger in ihren Armen liegen, bis seine Tränen getrocknet waren. Mirabella hielt ihn fest, wie sie es getan hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war und Frodo sog den Duft von Kamille in sich ein, denn Mirabella liebte es, ihre Haut mit jener Salbe zu pflegen.
Mirabella lächelte zufrieden, als Frodo sich schließlich wieder erhob und sich daran machte, den Speck weiter zu schneiden. Der Junge war schwierig, sehr schwierig. Er ließ niemanden an sich heran und das bereitete ihr Kummer. Doch zumindest für den Moment, schien sie seine Sorgen gelindert zu haben und das war gut so.
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Die Kümmelkuchen waren schon lange im Backofen, als Frodo wieder unter der großen Eiche saß. Zwar war es schon bald Zeit für das Abendessen, doch die Tage waren wieder länger geworden und die Sonne stand noch immer hoch am westlichen Horizont. Erwartungsvoll blickte Frodo in alle Richtungen. Wann würde Merry endlich zurückkehren? Er war aufgeregt und das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er wusste, dass er sich bei seinem Vetter entschuldigen musste, doch er zweifelte daran, dass dies wirklich so leicht war, wie es bei seiner Großmutter geklungen hatte. Er seufzte, als das Wiehern eines Ponys ihn plötzlich hochschrecken ließ. Er sprang auf die Beine und erblickte Merry, der gerade den schmalen Weg vom Fluss heran geritten kam, dicht gefolgt von Saradoc und Esmeralda, die sich ein Reittier teilten. Mit einer Mischung aus Unbehagen und Aufregung beobachtete er, wie sie zu den Ställen ritten und hineingingen. Allen Mut zusammennehmend, atmete Frodo einmal tief durch und sprang den Hügel hinunter. Keuchend erreichte er den Stall, spähte vorsichtig hinein. Merry war damit beschäftigt, sein Pony abzusatteln, während er sich mit seinem Vater unterhielt, der sein Reittier in eine der leeren Boxen führte. Esmeralda war bereits in das Brandyschloss zurückgekehrt. Saradoc bemerkte ihn, nickte ihm zu, ehe er noch ein letztes Wort mit Merry wechselte, um dann den Stall zu verlassen. Frodo sah ihm verwundert hinterher. Wusste Saradoc, was er vorhatte? Er schüttelte den Gedanken ab. Erst musste er mit Merry sprechen, oder er würde den Mut dazu nicht wieder aufbringen, danach konnte er sich über Saradoc Gedanken machen.
Merry hatte ihn noch nicht bemerkt, als er schließlich zaghaft in den Stall trat. Der Duft von Heu, Stroh und Ponys erfüllte die Luft, denn die Ställe für die Schafe, Schweine und Kühen waren von dem der Ponys abgetrennt worden. Unsicher blieb Frodo einige Schritte vor seinem Vetter stehen. "Merry?", seine Stimme zitterte. Überrascht blickte der jüngere Hobbit auf, sah ihm in die Augen. Die Kälte, die er noch am Morgen in ihnen hatte erkennen können, war verschwunden. Traurigkeit stand nun in ihnen. Traurigkeit und Angst. Hatte Merry etwa dieselben Sorgen, wie er? Lange Zeit standen sie einfach nur da und sahen sich an. Frodo wollte etwas sagen, doch seine Stimme versagte. Plötzlich konnte er eine Träne in Merrys Augen glitzern sehen und seine Verwunderung darüber, ließ ihn endlich wieder Worte finden. "Merry, du..." Weiter kam er nicht, denn Merry stolperte nach vor und fiel ihm um den Hals. Frodo blieb wie versteinert stehen, so überrascht war er. Es fiel ihm gar nicht auf, dass auch ihm Tränen über die Wangen liefen, als er seinen Freund schließlich erleichtert in die Arme schloss. "Es tut mir Leid", sagten beide gleichzeitig und begannen daraufhin zaghaft zu kichern. Frodo fiel ein Stein vom Herzen. Seine Großmutter hatte Recht gehabt. Es war so einfach. Weshalb hatte er sich nicht schon viel früher dazu durchgerungen? Merry meinte noch einmal, dass es ihm Leid täte und begann plötzlich aufzulisten, was er niemals hätte sagen dürfen. Frodo wollte ihn stoppen, doch Merry brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. "Nein, Frodo. Du musst wissen, dass ich nicht glaube, dass du selbstsüchtig bist. Es war nur, dass in diesem Moment...", er stotterte. Frodo nickte traurig. "Ich weiß. Ich hätte auch nicht so überreagieren dürfen, nur weil du mehr Zeit mit deinem Papa verbringst. Ich war so traurig und wütend, weil mein Papa nicht mehr da ist und ich..." Frodo holte einmal tief Luft und sah Merry, der einen Arm um ihn gelegt hatte, traurig an.
Wie dumm kam ihnen ihr Streit in diesem Moment vor. Sie fragten sich, wie es jemals dazu hatte kommen können und weshalb sie sich nicht schon früher entschuldigt hatten, wo es doch so einfach war. Beide waren sich sicher, dass so etwas nie wieder geschehen würde.
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Als sie schließlich alle Probleme aus der Welt geschafft hatten, gingen sie gemeinsam zurück in die Höhle. Frodo berichtete stolz, dass er bei der Zubereitung des Kümmelkuchens behilflich gewesen war. Merry kicherte, woraufhin Frodo ihn entgeistert ansah. "Probier ihn, und das Lachen wird dir vergehen!" meinte er ernst. Merry zog eine Augenbraue hoch. "Hast du denn bereits gekostet?" Frodo schüttelte den Kopf und grinste. "Das sollte ich dringend nachholen!" Mit einem Lächeln eilte er durch den Gang zum Esszimmer, doch Merry blieb noch einen Augenblick stehen. Frodo stoppte, drehte sich verwundert zu ihm um. "Merry?", rief er und sah seinen Vetter auffordernd an. "Komm Kuchen essen!" Merry grinste und stürmte an ihm vorbei an den Tisch, während Frodo ihm lachend hinterher rannte.
Keiner der beiden bemerkte die erleichterten Blicke, die Saradoc, Esmeralda, Mirabella und Gorbadoc einander zuwarfen, als die beiden glücklich vereint an ihre Plätze saßen und beinahe gleichzeitig nach dem Wasserkrug langten.
Kapitel 36: Mäusejagd
Die Monate waren schnell vergangen. Auf den Frühling folgte erneut ein heißer Sommer. Merry und Frodo verbrachten die meiste Zeit gemeinsam am Fluss oder gingen zum Bruch, wo sie es sich auf den Ästen eines Apfelbaumes gemütlich machten. Es war derselbe Baum, auf den sie an jenem traurigen Septembertag vor drei Jahren geklettert waren. Merry war auch nach jenem Tag oft mit Frodo hierher zurückgekehrt. Anfangs war Frodo betrübt gewesen, doch inzwischen hatte er den Baum wieder lieb gewonnen. Es war nicht irgendein Baum, es war ihr Apfelbaum. So oft waren sie hinaufgeklettert oder hatten, an den Stamm gelehnt, irgendeine Dummheit ausgeheckt. Viele Stunden waren sie dösend im Schatten der Äste gelegen oder hatten sich lange unterhalten. Es war ihr Baum und an jedem Blatt, das von einem der Äste flatterte, hing auch eine Erinnerung. Oft schlug Merry auch vor, Maggots Hof einen Besuch abzustatten und nach frischen Pilzen zu sehen, doch dieser Vorschlag stieß bei Frodo auf taube Ohren. Zu gut erinnerte er sich noch an die Schläge, die er erhalten hatte, als der Bauer ihn erwischt hatte. Doch was ihm noch viel besser in Erinnerung geblieben war, waren die Hunde, die kläffend und knurrend hinter ihm her gehetzt waren. So verging der Sommer ohne Raubzüge durch Maggots Felder und als der Herbst kam und die Blätter bunt färbte, wurden die beiden Hobbits nur mehr selten im Bruch gesehen, denn nun nahmen sie vorlieb mit der großen Eiche hinter dem Brandyschloss, auch wenn sie diese mit vielen anderen jungen Hobbits teilen mussten.
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"Und beim Runterklettern bin ich hängen geblieben und dabei ist sie zerrissen", beendete Frodo seinen Bericht vom Nachmittag, der den Riss in seiner Hose erklären sollte. Mit großen, unschuldigen Augen und einem Lächeln im Gesicht sah er zu Esmeralda auf, die ernst drein blickte und eine Augenbraue hochgezogen hatte. Sie waren in seinem Zimmer. Esmeralda stand neben dem Schrank, war gerade dabei gewesen, die saubere Wäsche zu verräumen, als ihr Blick auf die Hose gefallen war, die Frodo am Nachmittag getragen hatte und nun über dem Fußende des Bettes hing. Frodo lag in seinem Bett, stützte sich mit den Armen auf und zupfte am zerrissenen Kleidungsstück herum. Esmeralda schüttelte den Kopf: "Gib mir die Hose, du kleiner Tunichtgut! In fünf Minuten gibt es Abendessen. Schau, ob du noch etwas helfen kannst." Frodo nickte grinsend und sprang davon.
Im Esszimmer war schon alles vorbereitet. Der Tisch war gedeckt, die Lampen entzündet und die ersten Bewohner waren bereits eingetroffen, reichten nun die Wasserkrüge herum und unterhielten sich über die Geschehnisse des Tages. Auch Merry saß bereits an seinem Platz und nachdem Frodo sich zu ihm gesetzt hatte, dauerte es nicht lange, bis auch die jungen Hobbits in eine rege Unterhaltung vertieft waren, die jedoch nichts mit den ernsten Diskussionen ihrer Verwandten zu tun hatte, sondern viel mehr davon handelte, welchen Unsinn sie am nächsten Tag anstellen konnten.
Ein entsetzter Schrei, aus der Küche kommend, ließ die Gespräche am Tisch verstummen. Merry und Frodo tauschten einen fragenden Blick, ehe sie beide in die Küche stürmten, um den Grund für die Aufregung in Erfahrung zu bringen. Frodos Tanten, Berylla und Asphodel, kamen an Mirabellas Seite gerannt, denn die alte Frau stand aufgebracht in einer Ecke, das Messer, mit dem sie das Fleisch aufgeschnitten hatte, noch in der Hand. "Eine Maus! Eine Maus!" japste sie immer wieder und starrte an die Stelle, an der die Maus an ihr vorbei gehuscht war. Die Küchen-Mimi und ihre Mädchen sahen verwirrt um sich, einige aufgeregt und beinahe ängstlich, andere mit einem neugierigen Lächeln in den Gesichtern. Offensichtlich war Mirabella die Einzige, die die Maus gesehen hatte, denn während ihr Blick starr auf einen Punkt gerichtet war, ließen alle anderen ihre Augen suchend durch die Küche wandern. "Eine Maus?" Frodo und Merry tauschten einen vielsagenden Blick und grinsten über beide Ohren. "Wir fangen sie!" riefen sie erfreut und wollten schon davon stürmen, als Saradoc, der eben erst hereingekommen war, um nach dem Rechten zu sehen, sie an den Schultern packte. "Erst wird gegessen und danach werdet ihr zu Bett gehen", bestimmte er. "Meinetwegen könnt ihr morgen auf Mäusejagd gehen, aber heute nicht mehr." Die jungen Hobbits seufzten missmutig, schlurften aber zurück ins Esszimmer und setzten sich wieder an den Tisch.
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Nach dem Frühstück am nächsten Morgen setzten sich Merry und Frodo in eines der Wohnzimmer, um ihre Vorgehensweise bei der Suche nach der Maus zu besprechen. Sie hatten sich gleich neben dem Kamin niedergelassen und das Knistern des Feuers untermalte ihre Diskussion. "Erst müssen wir die Löcher finden", meinte Frodo. "Irgendwo muss sie schließlich hergekommen sein." Merry schüttelte den Kopf. "Woher wollen wir wissen, wie viele Löcher es gibt und ob wir auch wirklich alle gefunden haben? Ich sage, wir stellen Fallen auf. Wir lehnen Kisten an einen Stock, an dem wiederum eine Schnur befestigt ist. Anschließend locken wir sie mit einem Stück Speck unter die Kiste und sobald sie darunter sitzt, ziehen wir den Stock weg und sie ist gefangen." In seinen Gedanken hatte Merry die Maus bereits eingefangen und er lächelte, sehr zufrieden mit seinem Plan. Frodo schien davon jedoch weniger angetan, denn er zog kritisch eine Augenbraue hoch. "Und wie viele Fallen willst du aufstellen? Eine? Zwei?", wollte er wissen und schüttelte den Kopf. "Was glaubst du, wie lange es dauern wird, bis wir sie da erwischen?" Merry brummte etwas Unverständliches, verschränkte die Arme und blickte nachdenklich ins Feuer. Leise seufzend stütze Frodo den Kopf in die Hände und so zerbrachen sich schließlich beide weiterhin die Köpfe darüber, wie die Maus am besten zu fangen wäre.
Nach langem Hin und Her einigten sie sich schließlich auf die einzige Lösung, die ihnen den gewünschten Erfolg versprach, ohne dabei die Pläne des anderen außer Acht zu lassen. Erst wollten sie ein Mauseloch finden, vor dem sie die Falle platzieren konnten. Anschließend brauchten sie nur noch abzuwarten, bis die Maus herauskam. Sofort machten sie sich an die Arbeit. Merry ging nach draußen, suchte nach passenden Ästen, während Frodo in einer jener Speisekammern verschwand, in der zum größten Teil Obst und Gemüse gelagert wurde, um geeignete Kisten aufzutreiben. Lange brauchte er nicht zu suchen, ehe er welche ohne Risse und Löcher gefunden hatte, denn er wusste, dass Marmadas erst im letzten Sommer neue Kisten gemacht hatte und hielt nach ebendiesen Ausschau. So schüttete er schließlich die Zwiebeln zu den Kartoffeln und die Karotten zu den Gurken um seine beiden Mausefallen ihrer nun unnützen Last zu entledigen. Sofort ging Frodo zurück in das Wohnzimmer, wo er auf Merry warten wollte, als Mirabella ihm plötzlich entgegen kam. Ihr Blick ruhte auf den zukünftigen Mausefallen. "Woher hast du diese Kisten, Frodo?", wollte sie mit in Falten gelegter Stirn wissen. "Speisekammer", war seine knappe Antwort, denn in eben jenem Moment erschien Merry hinter ihm, packte seinen Ärmel und zog ihn mit sich fort. "Seid vorsichtig damit und bringt sie wieder dorthin zurück, wo ihr sie her habt!" rief Mirabella ihnen noch nach, doch die beiden Kinder beachteten ihre Worte nicht weiter, während sie eiligst in die große Hauptküche rannten.
Zu ihrer Enttäuschung waren sie nicht die Einzigen in der Küche, denn die Vorbereitungen für das Mittagessen waren bereits in vollem Gange und, während an einem Ende des Raumes einige Mädchen mit dem Schälen unzähliger Kartoffeln beschäftigt waren, wogen andere an einem völlig anderen Ort die Zutaten für einen Kuchen, der offensichtlich zum Vier-Uhr-Tee serviert werden sollte, aus. Einige der Mädchen begannen zu kichern und warfen ihnen verstohlene Blicke zu, als sie in die Küche traten und die Lage untersuchten. "Hier wurde sie zum letzten Mal gesehen. Hier muss sie zu finden sein", meinte Merry, der seinen Blick prüfend durch den Raum wandern ließ. "Du meinst, sie wurde hier zum ersten Mal gesichtet", gab Frodo zu bedenken. "Wer weiß, wo sie sich sonst herumtreibt." Merry ließ sich von einem der Mädchen eine kleine Scheibe Speck geben, ehe er sich zu Frodo gesellte, der sich bereits an einer Ecke auf die Knie hatte sinken lassen und die Wand entlang krabbelte, in der Hoffnung, ein Mauseloch zu entdecken. "Was macht ihr denn da?" Ihr Aufenthalt in der Küche war nicht unbemerkt geblieben und Frodos Tante Berylla, die dunklen Locken mit den grauen Strähnen zu einem strengen Knoten zusammengebunden, blickte mit in die Hüften gestemmten Händen auf sie herab. Merry ließen ihre Worte beinahe zusammenzucken, denn keine der Damen, die in der Küche tätig waren, duldete für gewöhnlich ihre Anwesenheit, es sei denn, sie waren zur Küchenarbeit eingeteilt worden. Dies war bei den Jungen seltener der Fall, als bei den Mädchen, doch auch sie mussten ihren Dienst in der Küche leisten, auch wenn dieser bei manch einem nur strafhalber verrichtet wurde. Frodo schien jedoch auf dieses Zusammentreffen vorbereitet und erklärte mit knappen Worten ihre Absichten. Zu Merrys Überraschung erlaubte Berylla ihnen, nach der Maus zu suchen, so lange sie sich ruhig verhielten und die Mädchen nicht bei ihrer Arbeit störten. Frodo grinste zufrieden, als Merry ihm einen etwas verwunderten Blick zuwarf, nachdem Berylla wieder gegangen war.
Bis sie zum Mittagessen gerufen wurden, hatten Frodo und Merry die ganze Küche und das Esszimmer durchsucht, doch weder im einen, noch im anderen Raum fanden sie ein Mausloch oder gar die dazugehörige Maus. Dennoch wollten sie nicht aufgeben und planten während dem Mittagessen bereits, in welchem Raum sie als nächstes nachschauen würden. "Habt ihr schon etwas gefunden?", wollte Saradoc wissen, als er etwas verspätet an den Esstisch saß. Er war von einem Boten aufgehalten worden, der Auftrag hatte, auf einen gebrachten Brief eine sofortige, schriftliche Antwort zurückzubringen. Merry und Frodo schüttelten die Köpfe. "Noch nicht, aber bald." "Bald?", Saradoc zog eine Augenbraue hoch, als er nach der Schale mit dem Kartoffelpüree langte. "Was macht euch so sicher?" "Wir werden die ganze Höhle auf den Kopf stellen, bis wir sie gefunden haben", meinte Merry zwischen zwei Bissen und Frodo nickte zustimmend, ehe er ein Stück Selchfleisch mit einem Schluck Wasser hinunterspülte. "Das werdet ihr nicht!" ließ Saradoc sie mit einem strengen Blick wissen. "Heute Abend wird es hier noch genau so aussehen, wie es das heute Morgen getan hat." "Natürlich wird es das", schaltete Frodo sich ein, als er sein Wasserglas abgestellt hatte. Merry nickte zustimmend. "Es hat keiner etwas von Unordnung gesagt. Ich habe von ‚auf den Kopf stellen' geredet", ließ er seinen Vater in sachlichem Tonfall wissen, "das ist etwas ganz anderes." Saradoc sah sie mahnend an, doch die beiden Hobbits schenkten seinem Blick keine Beachtung, kicherten stattdessen in sich hinein, ehe sie den Tisch verließen, um sich erneut auf die Suche nach der Maus zu machen.
Inzwischen waren sie im siebten Raum angekommen, den es zu untersuchen galt. Die Hobbits saßen in einer der Obst und Gemüse Speisekammern und widmeten sich mehr der Plünderung selbiger, als ihrer Mäusejagd. Merry hatte sich an eine der Kisten gelehnt und kaute genüsslich an einer Karotte, während Frodo auf seiner mitgebrachten Kiste saß und sich einen Apfel gönnte. Eine Lampe, die sie entzündet hatten, um sich im dunklen Raum zurechtzufinden, stand neben ihnen auf dem Boden, tauchte ihre Gesichter in einen gelbgoldenen Schimmer. "Ich könnte täglich Mäuse jagen", ließ Merry verlauten und biss geräuschvoll von seiner Karotte ab. Frodo warf ihm einen kurzen Blick zu, nickte dann lächelnd. "Mir würde es schon genügen, einen Tag lang hier drinnen eingesperrt zu sein." "Einen Tag?", Merry sah ihn mit beinahe geschockter Verwunderung an. "Warum so bescheiden, werter Vetter? Eine Woche!" Die beiden Hobbits kicherten vergnügt in sich hinein und Frodo griff nach einem weiteren Apfel. Ein leises Rascheln ließ ihn jedoch in der Bewegung innehalten. "Hast du das auch gehört?", wollte er flüsternd wissend und sah seinen Vetter fragend an. Merry nickte, hob die Lampe auf, in der Hoffnung, so in die dunkle Ecke leuchten zu können, aus der das Geräusch gekommen war. "Denkst du, es ist die Maus?", fragte er. Frodo zuckte mit den Schultern, bedeutete seinem Vetter aber, die Lampe sinken zu lassen. Wenn es die Maus war, würde das Licht sie womöglich vertreiben. "Ich weiß nicht", sagte er dann mit gedämpfter Stimme, "aber wir sollten die Falle aufbauen."
So leise es ihnen möglich war, bauten sie ihre Falle auf. Sie bewegten sich langsam, spähten immer wieder in die dunkle Ecke, in der Hoffnung, die Maus dort entdecken zu können. Und plötzlich sahen sie sie. Im schwachen Schein ihrer Lampe, saß ein kleiner grauer Nager, die Nase neugierig schnuppernd in die Luft gestreckt. "Der Speck!" flüsterte Frodo und winkte mit den Fingern, ohne die Maus aus den Augen zu lassen. Merry runzelte die Stirn und sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. "Ich glaube nicht, dass ich den noch habe", murmelte er. Frodo wandte sich entgeistert zu ihm um. "Was meinst du damit? Du hast ihn doch nicht etwa gegessen?!" Merry sagte nichts, wandte jedoch den Blick ab und sah schuldbewusst zu Boden. "Du hast", seufzte Frodo und verdrehte die Augen. Merry nickte betroffen, sah schließlich entschuldigend zu ihm auf. Frodo schielte zur Maus, die neugierig, doch mit zögernden Schritten näher tapste. "Du musst in die andere Speisekammer. Wir brauchen den Speck. Du musst dich langsam bewegen, nicht, dass du sie erschreckst", erklärte er leise, wobei er immer wieder zwischen der Maus und seinem Vetter hin und her sah. Merry nickte erneut, erhob sich dann vorsichtig und schlich sich langsam zur Tür. Er warf noch einen letzten Blick auf die Maus, die regungslos im Schein der Lampe saß und prüfend schnupperte, ehe er die Tür öffnete. Die Scharniere quietschten entsetzlich und ließen sowohl ihn, als auch die Maus zusammenschrecken. "Mach sie zu!" brüllte Frodo, der gerade noch sehen konnte, wie die Maus in Richtung Türe davon sprang. Mit einem Satz kam er auf die Beine, griff nach einer der leeren Kisten und eilte der Maus hinterher.
Merry war hinaus gesprungen, hatte die Tür hinter sich zugeschlagen, doch er war zu langsam gewesen. Die Maus war gerade noch hindurch geschlüpft. "Sie ist hier!" rief er aufgeregt und rannte dem verschreckten Tier nach.
Frodo wäre beinahe in die verschlossene Tür hineingerannt, so ruckartig hatte Merry sie geschlossen. Blitzschnell stürmte er in den Gang hinaus und eilte Merry hinterher. "Lass sie nicht entkommen, Merry!" rief er aufgeregt. "Du musst sie in eine Ecke drängen. Wir müssen ihr den Weg abschneiden!"
Eine wilde Verfolgungsjagd begann. Die Maus suchte so schnell sie konnte das Weite, rannte von einer Ecke zur nächsten, dicht gefolgt von Merry und Frodo. Jeder, der die Maus sah, wich zur Seite und das war ihr großes Glück. Hätten sie das nicht getan, wären sie von Merry und Frodo, die mit vielem "Entschuldigung!" und "Achtung!" die Gänge entlang hetzten, über den Haufen gerannt worden.
"Gleich habe ich sie!" verkündete Merry und stürmte um die nächste Biegung. Saradoc wich erschrocken zurück, als sein Sohn ihm geradewegs in die Arme stolperte. Merry schreckte ebenfalls zusammen, als er ihn an den Oberarmen packte, um ihn vor dem Hinfallen zu retten, blickte beinahe entsetzt zu ihm auf. "Vorsicht", mahnte Saradoc, doch sein Sohn schenkte ihm keine Beachtung. Die Augen des Jungen folgten Frodo, der soeben schwungvoll an ihnen vorbeistürmte. Die Kiste, die dieser in der Hand hielt, hätte Merry beinahe am Kopf getroffen. "Schneller Frodo! Du musst sie erwischen!" feuerte Merry seinen Vetter an, sich offensichtlich der Gefahr, der er soeben ausgesetzt gewesen war, nicht bewusst. Er befreite sich aus Saradocs Griff und eilte mit einem kurzen "Keine Sorge, Papa!" hinter Frodo her, um ihn bei seiner Jagd zu unterstützen. Saradoc riet erneut zur Vorsicht, wurde aber auch dieses Mal nicht beachtet. Er seufzte schwer, blickte in die Richtung, in die die Kinder verschwunden waren. Ihm blieb nichts weiter übrig, als zu hoffen, dass die beiden wussten, was sie taten.
Die Maus war in einer Ecke stehen geblieben, hatte sich auf die Hinterpfoten gestellt und blickte ängstlich um sich. "Wir versperren ihr den Fluchtweg", rief Frodo seinem Vetter zu, während er seine Geschwindigkeit verlangsamte und schließlich stehen blieb. "Wir haben sie!" jauchzte Merry vergnügt, als er ihn keuchend erreichte. "Noch nicht", gab Frodo zu bedenken und schritt langsam auf das verschreckte Tier zu. Die Kiste hielt er mit beiden Händen fest umklammert, bereit, sich auf die ahnungslose Maus zu stürzen. Auch Merry trat vorsichtig näher.
Die arme Maus wusste weder aus noch ein. Ängstlich wich sie zurück, sah von einem Hobbit zum anderen, bis sie plötzlich wie vom Blitz getroffen nach vorne schoss. Dieses Mal reagierte Merry schnell genug. Geschwind hatte er zugepackt und erwischte den Schwanz des Tieres. Er wollte gerade kundtun, dass er die Maus gefangen hatte, als diese ihn in den Finger biss. Anstelle der Jubelrufe stieß Merry einen Schmerzensschrei aus und ließ das Tier wieder fallen, doch Frodo war sofort zur Stelle, um sich mitsamt der Kiste auf den frechen Nager zu stürzen. "Sie ist gefangen", keuchte er schließlich und lehnte den Kopf an die Kante der Kiste. "Endlich", seufzte Merry, der an seinem verwundeten Finger lutschte und sich nun ebenfalls zu Boden sinken ließ.
Eine lange Zeit saßen sie einfach nur da und lauschten dem verzweifelten Knabbern und Kratzen aus dem Inneren der Kiste. "Was machen wir jetzt mit ihr?", fragte Frodo plötzlich und setzte sich auf. Merry zuckte mit den Schultern. Sie hatten die Maus gefangen, doch keiner der beiden wusste, wie sie sie wieder unter der Kiste hervor holen konnten, ohne, dass sie erneut entwischte. Außerdem hatten die jungen Hobbits keine Ahnung, wohin sie die Maus bringen konnten, ohne befürchten zu müssen, sie würde zurückkehren. "Papa weiß bestimmt, was zu tun ist", meinte Merry schließlich und machte sich sogleich auf, seinen Vater zu suchen, während Frodo bei der Kiste sitzen blieb und auf die Maus Acht gab.
Es dauerte nicht lange bis Merry mit Saradoc zurückkehrte. Dieser hatte eine Holzplatte dabei, die er vorsichtig unter die Kiste schob. Die jungen Hobbits sahen ihm erstaunt zu, immer befürchtend, die Maus würde wieder entkommen. Doch dem war nicht so und schließlich trug Saradoc die Holzplatte mitsamt Kiste und darin befindlichem Nager nach draußen, schlug vor, das Tier im Wald südlich der Straße nach Bockenburg frei zu lassen. Merry und Frodo waren einverstanden und machten sich sogleich auf den Weg.
Die Sonne war schon weit nach Westen gezogen, als sie der Straße nach Bockenburg folgten und schließlich nach Süden abbogen. Sie hatten ihre Umhänge umgebunden, doch es war ein milder Tag, wohl einer der letzten, den es dieses Jahr geben würde. Als sie schließlich den Waldrand erreichten, setzte Frodo, der die Maus die zweite Hälfte des Weges hatte tragen dürfen, die Kiste ab. Lange Zeit sahen sich die Vettern an, lauschten dem verzweifelten Kratzen des kleinen Nagers, bevor sie das Tier betrübt wieder frei ließen, war es doch ein wahres Abenteuer gewesen, die Maus einzufangen. Frodo kam jedoch zu dem Entschluss, sie wäre im Wald besser aufgehoben, als im Brandyschloss und Merry musste dem zustimmen.
Es war Abend geworden, als sie wieder zu Hause ankamen. Die beiden Hobbits berichteten stolz von ihrer Mäusejagd, als sie nach dem Essen in einem der Wohnzimmer saßen. Selbst nachts träumte Frodo noch, wie er durch das Brandyschloss stürmte, um Mäuse zu fangen und seinem Vetter erging es nicht anders.
Kapitel 37: Drachenhöhlen
Schlotternd betrat Frodo die Höhle. Kleine Tautröpfchen glitzerten in seinen Haaren, als er aus seinem Mantel schlüpfte und ihn an einen Haken hängte. Er hauchte in seine Hände und rieb sie verzweifelt, in der Hoffnung, das kalte, taube Gefühl würde nachlassen. "Kalt", klapperte er, seine Stimme kaum mehr, als ein Flüstern. Merry nickte und schüttelte sich die Wassertröpfchen von den Haaren. Es gab mehrere Wohnzimmer im Brandyschloss, doch die beiden jungen Hobbits mussten sich nicht erst absprechen, um zu klären, in welches sie nun gehen wollten. Nur eines dieser Wohnzimmer hatte einen Kachelofen und im Winter saß Frodo dort am liebsten. Auch heute sicherte er sich sofort einen Platz auf der Holzbank vor dem Ofen, schnappte sich ein Kissen, platzierte es an den Kacheln und lehnte den Kopf daran. Zufrieden seufzend schloss er die Augen. So würde ihm schnell wieder warm werden. Ohne nachzudenken legte er auch seine Hand auf die Kacheln, nur um sie kurz darauf mit einem Aufschrei wieder zurückzureißen. "Heiß!" zischte er und umklammerte mit der anderen Hand seine verbrannten Finger. Merry kicherte schadenfroh in sich hinein, erntete dafür einen scharfen Blick von seinem Vetter.
Nachdem er sich aufgewärmt hatte, ließ Frodo seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Ungewöhnlich wenige Hobbits waren im Raum. Merimac, Dodinas und Seredic saßen zusammen und schienen sich angeregt zu unterhalten. Adamanta, Merimacs Frau und Hanna hatten es sich ebenfalls in einem der Sessel gemütlich gemacht, beide eifrig damit beschäftigt, Jacken für ihre Söhne zu stricken. Neben Hanna stand ein Kinderwagen. Frodo vermutete, dass Minze darin lag und schlief. Mit einem leisen Seufzen schielte er schließlich zu Merry, der gelangweilt neben ihm auf der Bank saß und ins Leere starrte. "Langweilig", hörte er ihn jammern und konnte nur zustimmend nicken. Merry blickte auf. "Wie wäre es mit einem Kartenspiel?" Frodo verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Murrend ließ Merry die Schultern hängen, rutschte auf seinem Platz hin und her, ehe er aufsprang und davon ging, Frodo zurufend, dass er gleich zurück wäre. Etwas verwundert blickte Frodo ihm hinterher, fragte sich, was sein Vetter nun wohl wieder vorhatte.
Ungeduldig wartete er auf die Rückkehr des jüngeren Hobbits. Merry ließ sich Zeit. Frodo wollte schon aufstehen und nach ihm suchen, doch wusste er nicht, wo er hätte beginnen sollen, also blieb er sitzen. Mit dem Rücken an den warmen Kacheln zu lehnen, die leisen Stimmen der anderen Bewohnern zu hören und den Duft von frisch eingelegten Holzscheiten in der Nase zu haben, war ohnehin viel gemütlicher, als durch die Gänge zu streifen. Dennoch ließ Frodo seinen Blick immer wieder zur Türe wandern, hatte ihn das plötzliche Verschwinden seines Vetters doch sehr neugierig gemacht. Endlich erschien Merrys hellbrauner Lockenkopf im Türrahmen. Ein breites Grinsen zierte sein Gesicht und in der Hand hielt er einen etwas verschrumpelten Apfel. "Wo warst du?", wollte Frodo wissen. Merry setzte sich neben ihn und biss in seinen Apfel. "In der Speisekammer", nuschelte er, zufrieden kauend. Frodo zog eine Augenbraue hoch und legte den Kopf schief. "Das sehe ich." Merrys Grinsen wurde noch breiter, als er ihn mit unschuldigen Augen ansah doch plötzlich wurde sein Ausdruck ernst und er blickte vergewissernd nach allen Seiten, beugte sich schließlich verschwörerisch zu ihm herüber. "Es gibt einen Gang", flüsterte er. "In der Speisekammer", fügte er hinzu, als er Frodos verwirrten Blick bemerkte. Die Verwirrung wich trotzdem nicht aus Frodos Gesicht. "In der Speisekammer?", fragte er, die Stirn verwundert in Falten gelegt. Merry blickte noch einmal nach allen Seiten, ehe er nickte und weiter sprach. "Ich wollte mir einen Apfel holen und da fiel mir die Kiste hinunter. Die Kiste stieß allerdings zuvor gegen die Wand und dort klang es hohl", bemühte er zu erklären. "Die Äpfel sind davon gerollt und als ich sie wieder aufgesammelt und nach dem letzten von ihnen gegriffen haben, war da ein Luftzug. Ich habe unter das Regal mit den Marmeladengläsern gesehen und da war ein Loch in der Wand", berichtete er heimlichtuerisch und seine Augen weiteten sich, als könne er seine Aussage dadurch untermauern. "Ich sage dir, da ist ein Gang." Frodo schien jedoch nicht überzeugt. Er beäugte seinen Vetter mit einem Blick, der ihm klar zu verstehen gab, dass er das für unmöglich und ihn für verrückt hielt. "Da ist ein Gang!" beharrte Merry, stand auf und zog auch Frodo auf die Beine. "Wenn du mir nicht glaubst, sieh es dir selbst an."
Frodo seufzte, warf einen sehnsüchtigen Blick auf die warmen Kacheln, als ihn die wohltuende Wärme, die ihn zuvor umschlossen hatte, langsam verließ, folgte Merry, der es ausgesprochen eilig hatte, aber dennoch. "Wohin so dringlich?", fragte Saradoc, der gerade ins Wohnzimmer kam, als sie dieses verlassen wollten. "In die Speiskammer", antwortete Merry schnell und fügte dann noch hinzu, dass Frodo sehr hungrig wäre. Frodo warf seinem Vetter einen kurzen, verdutzten Blick zu, nickte dann aber rasch und lächelte Saradoc an. "Haltet eure Mahlzeit aber gering, wir essen bald zu Abend", meinte dieser. Merry nickte. "Das werden wir. Das heißt, Frodo wird das. Aber jetzt müssen wir in die Speisekammer. Frodo ist hungrig, und wenn Frodo Hunger hat, dann braucht er was zu essen." Frodo nickte bestätigend, hatte jedoch Mühe, sich das Lachen zu verkneifen, als Merry ihn am Herrn von Bockland vorbeilotste. "Deine Ausreden waren auch schon besser", gab er kichernd zu bedenken, als sie hinter der nächsten Biegung verschwunden waren. Sein Vetter warf ihm einen vielsagenden Blick zu, erwiderte jedoch nichts.
Verstohlen blickte Merry nach allen Seiten und erst als er sicher war, dass niemand sie beobachtete, trat er in die Speisekammer, schloss die Tür, nachdem auch Frodo eingetreten war. Es war dunkel und Merry zündete mit einem Streichholz eine Lampe an. Das Licht flackerte. Frodo ging sogleich auf die Kiste mit den letzten Äpfeln zu. "Da du ohnehin der Meinung warst, ich wäre so hungrig, wird es niemanden stören, wenn ich mich bediene", meinte er mit einem Schmunzeln und warf Merry ebenfalls einen Apfel zu, den dieser mit seiner freien Hand auffing. Genüsslich kauend trat Frodo wieder an ihn heran und wollte wissen, wo sich dieser geheime Gang denn nun befinde. Ein schelmisches Grinsen konnte er sich dabei nicht verkneifen. "Das Lachen wird dir noch vergehen", meinte Merry und bedachte ihn mit einem missmutigen Blick. Frodo schüttelte den Kopf und biss erneut in seinen Apfel, ehe er von seinem Vetter beiseite geschoben wurde. Dieser marschierte zu den Regalen mit den Marmeladengläsern, die auf der linken Seite des Raumes platziert waren, nicht weit von der Kiste mit den Äpfeln entfernt, und klopfte prüfend die Wand ab.
Frodo kicherte in sich hinein. Er stellte sich Merry als einen der Zwerge vor, der mit Bilbo zum Einsamen Berg gewandert war und nun die Mauern des Berges nach dem geheimen Eingang absuchte. Er fragte sich, wie Merry wohl mit einem langen Bart und einer Kapuze aussehen würde.
Die Augen seines Vetters leuchteten plötzlich auf und er klopfte noch einmal an dieselbe Stelle. "Hörst du das?", wollte er aufgeregt wissen und grinste siegreich. Frodo trat in den Lichtschein von Merrys Lampe und lauschte, als sein Vetter ein drittes Mal klopfte. "Die Wand ist hohl", sagte er schließlich verblüfft, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. "Sag ich doch! Hier ist ein Gang", beharrte Merry und verdrehte die Augen, als er den verwunderten Ausdruck in Frodos Gesicht bemerkte. "Sieh her!"
Merry kniete sich nieder und kroch unter das Regal, die Lampe vorsichtig vor sich her schiebend. Frodo ließ sich ebenfalls zu Boden sinken und kroch neben ihn. Die Vorstellung eines geheimen Ganges in der Speisekammer schien ihm nun gar nicht mehr so unwahrscheinlich zu sein und er war sehr neugierig geworden. Das Licht flackerte, ließ dunkle Schatten an der Wand tanzen. Ein rötlichgoldener Schimmer lag auf den Gesichtern der jungen Hobbits. "Da", flüsterte Merry und deutete auf ein kleines Loch in der Wand. Ein kühler Luftzug wehte ihnen entgegen, ließ die Flamme in der Lampe wütend auflodern. Frodos Augen funkelten geheimnisvoll, als er mit den Fingern über das Loch strich und etwas Lehm abbröckelte. Seine Stimme hatte einen unheimlichen Unterton angenommen, als er sich zu seinem Vetter umwandte. Das Licht spiegelte sich in seinen Augen wider. "Smaugs Höhle, ein Drachenhort!" Merrys Augen wurden groß und er schluckte schwer, ehe er beinahe zaghaft antwortete: "Glaubst du wirklich?"
Frodo lächelte. Die Abenteuerlust hatte ihn gepackt. Er musste wissen, was sich hinter dieser Wand verbarg. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich ausmalte, was all die Jahre in den Wänden des Brandyschlosses gehaust haben könnte, im Verborgenen, ohne dass jemals jemand davon wusste.
"Frodo?" Furcht und große Aufregung lagen in Merrys Stimme und auch in seinem Blick. "Erinnerst du dich an die Maus?", fragte Frodo leise flüsternd. "Wir haben sie hier drinnen gefunden. So ist sie wahrscheinlich herein gekommen. Möglicherweise kam sie von draußen, aber vielleicht", seine Stimme wurde noch unheimlicher, als zuvor, "vielleicht kam sie auch von etwas Schlimmerem, etwas Näherem." Merrys Augenbrauen hatten sich angstvoll zusammengezogen, während er gespannt Frodos Worten gefolgt war und ihn erwartungsvoll angeblickt hatte. "Die Wand ist weiter oben auch hohl", stellte Frodo fest. "Wer weiß, welches Untier sich heimlich dahinter eingenistet hat?" Furchtsam und mit in Falten gelegten Stirnen sahen sich die beiden Hobbits an. Erneut kam ein kühler Luftzug aus dem Loch und erzeugte ein leises, wehklagendes Pfeifen. Erschrocken fuhren die Hobbits herum und starrten auf die Öffnung, als erwarteten sie, dass ihnen jeden Augenblick ein Drache entgegen springe. "Smaug", flüsterte Frodo, der sich nun, mehr denn je, wie Bilbo auf seinem Abenteuer vorkam. "Das ist der geheime Eingang zu seiner Höhle."
Merry kroch zurück, einen etwas verschreckten Ausdruck im Gesicht. Er kannte Bilbos Geschichte gut und der Teil mit dem Drachen hatte ihm schon immer Angst gemacht. Mehr noch als Pippin, der ihn deshalb immer aufgezogen und gemeint hatte, dass Tuks eben doch mutiger waren als Brandybocks. "Es gibt keine Drachen im Brandyschloss", sagte er bestimmt, einerseits zu Frodo, andererseits um sich selbst zu beruhigen. Frodo kam nun ebenfalls wieder unter dem Regal hervor gekrochen. "Wenn es kein Drache ist, was ist es dann?" Merry warf Frodo einen scharfen Blick zu, in dem sein Vetter noch immer ein wenig Angst erkennen konnte. Der junge Hobbit trat einen Schritt von der Wand zurück. Sie war ihm nicht mehr geheuer. Er hielt die Lampe hoch, um Frodos Gesicht im fahlen Licht besser erkennen zu können und vielleicht zu erraten, worauf er mit dieser Aussage hinaus wollte. Frodos Augen leuchteten geheimnisvoll und ein Grinsen zierte sein Gesicht, das Merry nicht zu deuten wusste. "Ich weiß es nicht", sagte Merry und versuchte möglichst uninteressiert zu klingen, doch sein Blick wanderte heimlich und mit einem neugierigen Schimmern zurück zu der Stelle des Regals, an der er die Öffnung vermutete.
Einen Augenblick herrschte Stille, die nur vom nervösen Zischen der flackernden Flamme unterbrochen wurde. Frodos Blick wanderte von Merry zu der Lampe, die dieser in der Hand hielt, dann kurz zum Regal und schließlich wieder zurück zu seinem Vetter. Für einen kurzen Moment huschte ein verschmitztes Grinsen über sein Gesicht. Merry war sein innerer Kampf förmlich anzusehen und Frodo fragte sich, was diesen Kampf wohl gewinnen würde: Merrys Furcht vor Drachen, oder seine Neugierde. Bei ihm selbst hatte die Neugier gesiegt, allerdings nicht gegen irgendeine Angst, sondern gegen den Unglauben etwas Geheimnisvolles in der Speisekammer zu entdecken. Das hohle Geräusch, als Merry gegen die Wand geklopft hatte und der seltsame Luftzug hatten ihn vom Gegenteil überzeugt. Etwas war hinter dieser Wand und er wollte herausfinden, was es war.
"Wir müssen erfahren, was mit dieser Wand nicht stimmt", sagten sie plötzlich gleichzeitig und schmunzelten. Zugleich ließen sie sich wieder zu Boden sinken. Frodo kroch voraus, als Merry plötzlich inne hielt und nach seinem Arm griff. "Wenn dort wirklich ein Drache sitzt", murmelte er etwas verlegen, "dann darfst du ihn töten." Frodo nickte. "In Ordnung", meinte er lächelnd, "ich werde ihn töten."
Er dachte an Bard, den Bogenschützen von Esgaroth, der Smaug getötet hatte. Ein mulmiges Gefühl überkam ihn plötzlich. Bard war ein kräftiger Mann gewesen, er hingegen war nur ein Hobbit. Noch dazu war er unbewaffnet, hatte nichts, womit er den Drachen hätte bezwingen können. Nun, im Notfall konnte er immer noch Merrys Lampe nach ihm werfen. Dennoch war er etwas unsicher geworden und blickte sich nun fragend nach seinem Vetter um. Merrys Gesicht leuchtete im Schein der Lampe und er bedeutete ihm, durch das Loch zu sehen. Frodo nickte und holte tief Luft. "Ich komme, Smaug", dachte er sich, als er sich langsam nach vor beugte, um durch die kleine Öffnung zu spähen. "Frodo, der Furchtlose, der Drachentöter! Nimm dich in Acht, Lindwurm!" Dass ihm bei seiner Herausforderung das Herz bis zum Hals schlug, ignorierte er tapfer. Er blinzelte, sah durch das Loch und erblickte nichts als Dunkelheit. "Gib mir die Lampe", verlangte er im Flüsterton und ließ sich von Merry das spärliche Licht reichen. Doch auch das half nicht wirklich. "Ich sehe nichts, außer der Wand." Merry seufzte entmutigt. "Ich könnte ver--" Der Rest der Aussage wurde von einem angeekelten Laut verschluckt. Frodo hatte seinen Arm in die Öffnung gestreckt, in der Hoffnung, vielleicht etwas ertasten zu können. Seine Hand landete allerdings in einem dichten Netz von Spinnenfäden, einer dicken Staubschicht und etwas weichem, das er nicht zuordnen konnte und von dem es besser war, sich nicht vorzustellen, was es gewesen sein könnte.
Merry wollte nun selbst sein Glück versuchen und drängte sich an Frodo vorbei. "Fass nicht hinein", riet dieser verzweifelt und mit einem angewiderten Ausdruck, angestrengt damit beschäftigt, sich die Hand an der Hose sauber zu reiben. Merry nickte, spähte in das Loch hinein, doch auch er konnte nur Dunkelheit dahinter erkennen. "Und was jetzt?", wollte er wissen, die Augen fragend auf Frodo gerichtet. Dieser zuckte mit den Schultern, seufzte entmutigt, doch noch wollte er sich nicht geschlagen geben. Die Hand ein letztes Mal an der Hose reibend, kroch er schließlich an Merry vorbei und kam wieder unter dem Regal hervor. Suchend blickte er sich um, obschon er selbst nicht wusste, was er eigentlich zu finden hoffte. Plötzlich hellte sich seine Miene auf, er grinste Merry, der unter dem Regal hervorspähte, an und huschte davon.
Leise und vorsichtig öffnete er die Tür zur Speisekammer, streckte den Kopf nach draußen. Niemand war zu sehen. Schnell rannte er in den Gang hinaus und schlich auf Zehenspitzen in die Abstellkammer, immer darauf bedacht, möglichst unauffällig auszusehen, sollte er jemandem über den Weg laufen. Nur drei ältere Frauen kamen ihm schnatternd entgegen, doch schienen sie ihn nicht einmal zu bemerken, was Frodo nur Recht war. Endlich in der Abstellkammer angekommen, schnappte er sich einen Besen und eilte damit zurück in jene Speisekammer, in der nun ein Drache hauste. Frodo griff nach dem Türknauf als plötzlich Marroc um die Biegung kam. Entsetzt sog er die Luft ein und verschwand blitzschnell in der Kammer, hoffend, dass Marroc ihn nicht gesehen hatte. Er lehnte den Kopf an die Tür und horchte. Marroc schien vorüber zu gehen.
Er wollte gerade aufatmen, als ihn plötzlich jemand an der Schulter packte. Erschrocken fuhr er herum, einen Schrei gerade noch unterdrückend. "Was hast du damit vor?", fragte Merry und deutete auf den Besen. "Merry", keuchte Frodo und ein Seufzer der Erleichterung entwich ihm. Sein Griff um den Besenstil, der sich zuvor verstärkt hatte, lockerte sich nun wieder. Er sah seinen Vetter einen langen Augenblick an, lächelte schließlich, ging ohne ein Wort zu sagen an Merry vorüber und verschwand unter dem Regal. Merry eilte seinem Vetter hinterher und fragte sich, was dieser nun wieder vorhatte.
"Also gut, Smaug. Du wolltest es nicht anders!" Mit diesem Gedanken schob Frodo den Besenstil soweit in die Öffnung, bis dieser hinten anstieß. Etwas Lehm bröckelte von der Wand, doch das störte Frodo nicht weiter. Merry schlug sich mit der Hand auf die Stirn. Weshalb hatte er nicht selbst daran gedacht? Beinahe der gesamte Besen war in der vermeintlichen Drachenhöhle verschwunden. "Und?", wollte Merry wissen, der beobachtete, wie Frodo prüfend in der Öffnung herumstocherte und dabei immer mehr Lehm von der Wand bröckeln ließ. "Ich weiß es nicht", antwortete dieser und verlagerte das Gewicht so, dass der Besenstil nun an die rechte Seite des Loches drückte. "Es könnte sein, dass es hier weiter geht, ich bin mir aber nicht sicher."
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Der Tisch für das Abendessen war bereits gedeckt und Saradoc fragte sich, wo Merry und Frodo geblieben waren. Er hatte sie nicht mehr gesehen, seit Merry ihm verkündet hatte, dass sie etwas aus der Speisekammer holen wollten. Seine Augen schweiften noch einmal durch das Zimmer, in dem sich immer mehr Hobbits versammelten, doch von den beiden Jungen war noch immer nichts zu sehen und so beschloss er, nach ihnen zu suchen. Sein Weg führte ihn zuerst in die Speisekammer. Zwar glaubte er nicht, dass sie noch dort waren, denn was sollten sie so lange dort machen, doch immerhin war dies der Ort, an den sie zuletzt hinwollten. Zumindest soweit er informiert worden war. Er öffnete die Tür. Der Raum war dunkel. Saradoc wollte schon wieder hinausgehen, als er leise Stimmen vernahm und inne hielt.
"Ich weiß nicht, wie groß der Eingang zu einer Drachenhöhle ist." Das war eindeutig Frodos Stimme. "Meinst du nicht, er müsste etwas größer sein?", fragte Merry. Drachenhöhle? Saradoc zog verwundert eine Augenbraue hoch. Noch immer konnte er die Hobbits nicht sehen, auch wenn er ihre leisen Stimmen deutlich hören konnte. "Ich weiß es nicht", erwiderte Frodo. "Die Höhle, durch die Bilbo zu Smaug gekommen ist, war auch klein." Der fahle Lichtschein einer Lampe machte Saradoc auf das Regal aufmerksam. "Aber nicht so klein", gab Merry zu bedenken, nahm den Besen und schob ihn unter dem Regal hervor, ohne sich umzudrehen. Saradoc blieb verblüfft stehen, als der Besenstil vor seinen Füßen auftauchte. "Dann gibt es noch einen anderen Eingang", meinte Frodo stur. "Denkst du, dass die Maus diesen Gang benutzt hat?", fragte Merry mit aufgeregter Stimme. Es gab eine kurze Pause und Saradoc vermutete, dass Frodo genickt hatte, denn als Merry weiter sprach, sagte er: "Dann müssen wir ihn sofort finden, ehe der Drache bemerkt, dass wir wissen, dass er hier ist."
Als wäre das ein Stichwort gewesen, kamen die beiden Hobbits rückwärts unter dem Regal hervor gekrochen. Der Herr von Bockland stand mit verschränkten Armen hinter ihnen, als sie aufstanden und sich den Staub von den Hosen klopften. Saradoc grinste. "Drachen im Brandyschloss", dachte er und schüttelte den Kopf. "Nun, wenn sie unbedingt wollten…" "Ich habe es bereits bemerkt", sagte er dann, wobei er seine Stimme tief und bedrohlich klingen ließ.
Frodo und Merry schrieen auf und fuhren erschrocken herum. "Wenn dort wirklich ein Drache sitzt, dann darfst du ihn töten." Frodo schossen Merrys Worte durch den Kopf und er dachte verzweifelt daran, was er sich damit nur eingebrockt hatte. Er wusste natürlich, dass Smaug tot war und er glaubte, sich nun auch daran erinnern zu können, wie Bilbo einmal gesagt hatte, Smaug wäre der letzte Drache gewesen. Doch sein Onkel hatte sich geirrt. Es gab noch einen Drachen. Hier im Brandyschloss. Und er, Frodo Beutlin, musste ihn ganz ohne Waffen bezwingen. Ein Drache, geschützt durch einen Panzer von Gold und Juwelen und er sah aus wie… Saradoc.
Frodo hielt die Luft an und starrte mit großen Augen auf den Herrn von Bockland. Merry hatte seinen Arm umklammert und sich hinter ihm versteckt, als auch er bemerkte, dass es kein Drache war, der ihnen aufgelauert hatte, dies aber noch nicht wirklich glauben zu wollen schien.
Saradoc lachte laut auf. "Drachen im Brandyschloss!" rief er und lachte noch mehr. Frodo und Merry blieben noch immer wie erstarrt stehen, unsicher ob sie nun auch lachen sollten, oder nicht. Der Herr von Bockland kniete sich nieder, nahm die Lampe, die nun auf dem Boden stand, in die Hand, und streckte den Kopf unter das Regal. Als er wieder aufstand, lächelte er. "Ihr habt nicht nur die Maus gefangen, sondern auch das Schlupfloch gefunden, durch das sie hereingekommen ist." "Also kein Drache?", fragte Merry verunsichert. Saradoc wuschelte ihm durch die Haare. "Nein, kein Drache." Merry atmete erleichtert auf, doch Frodo ließ enttäuscht den Kopf hängen. Kein Drache, kein Abenteuer, nur ein Mauseloch. Er seufzte. Saradoc legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Ein Abenteuer", sagte er, als hätte er seine Gedanken gelesen. "Jedes große Abenteuer besteht aus mehreren kleinen. Das Erste davon könnte das Verschließen eines Mauselochs sein." Frodo sah wenig begeistert in das lächelnde Gesicht Saradocs, als dieser auch ihm durch die Haare strich. "Kann ich dieses Abenteuer nicht einem anderen überlassen?", fragte er. Saradoc lächelte und schickte Frodo mit einem Kopfnicken zu Merry, der bereits vorausgeeilt war, um nicht der Letzte am Esstisch zu sein. In der Tür blieb Frodo noch einmal stehen und wandte sich um. "Ein gewöhnliches Mauseloch?", fragte er etwas enttäuscht. Saradoc nickte. Frodo zuckte mit den Schultern. "Aber es war eine besonders große Maus, und wir haben sie gefangen." Ein Lächeln huschte über Saradocs Lippen. "Das habt ihr." Frodo grinste und huschte schließlich auch davon.
Kapitel 38: Vom Beeren naschen und Schweine hüten
Frodo saß im saftig grünen Gras, den Kopf an den unteren von zwei Balken gelehnt, welche als Zaun für die Schweine dienten, und kaute an einem Grashalm. Ein sanfter Wind wehte ihm ins Gesicht und für einen Augenblick schloss er die Augen. Verschreckt wandte er sich um, als ihn ein Fuß am Ohr streifte. Er erblickte Merry, der mit einem verschmitzen Grinsen neben ihm auf dem Zaun saß und die Füße baumeln ließ. "Träumst du schon wieder?"
Frodo schüttelte lächelnd den Kopf und lehnte sich wieder zurück. Der Wind rauschte in den Blättern der Bäume. Der Frühling hatte nicht lange auf sich warten lassen, nachdem sich die beiden Hobbits schließlich doch noch dazu entschieden hatten, sich um das vermeintliche Mauseloch zu kümmern. Frodo hatte es sich allerdings nicht nehmen lassen, Merry weiterhin mit seiner Geschichte von einem Drachen zu verunsichern, auch wenn Saradoc diesem Abenteuer seinen Reiz größtenteils geraubt hatte. Kaum waren die Tage wieder wärmer geworden, waren die beiden jungen Hobbits nur mehr selten in der Höhle angetroffen worden. Meist fand man sie unter der großen Eiche oder in den Ställen und Weiden nicht weit vom Brandyschloss, wo sie die Tiere hüteten. So war es auch an diesem Sommertag. Noch vor Sonnenaufgang hatten sich die beiden mit einer Herde von Schweinen und Rucksäcken voller Proviant nach Süden aufgemacht.
Merry sprang vom Zaun, griff nach einem Stock und vertrieb damit einige Schweine, die gefährlich nah an ihre Rucksäcke gekommen waren. "Und du träumst doch!" gab er zu bedenken, als er seine Tasche nach einem Stück Brot und Käse durchsuchte. Frodo glaubte ein verschmitztes Grinsen aus Merrys Stimme herauszuhören, wandte sich um und blinzelte kurz, während er mit der Zunge den Grashalm in seinem Mund herum drehte. Ein neugieriges Grunzen dicht an seinem Ohr ließ ihn zusammenzucken. Eines der zuvor von Merry vertriebenen Schweine, schnüffelte neugierig an seinem Hemdkragen und schnappte schließlich danach. "Was fällt dir ein!" rief Frodo aufgebracht und stieß den Kopf des Tieres von sich weg. Merry kicherte in sich hinein, während sein Vetter das Schwein durch diverse Ausrufe und in die Hände klatschen vertrieb. Er räusperte sich, um sich nicht zu verschlucken, als Frodo mit einem missmutigen Ausdruck und einem wissenden Blick an ihn herantrat. Bemüht um eine möglichst unschuldige Miene biss Merry in sein Brot und begutachtete die Tiere. "Du mieser, kleiner…" Weiter kam Frodo nicht, denn Merry brach, wider seiner Vorsätze, in schallendes Gelächter aus. "Na warte…!" rief Frodo und setzte Merry hinterher, der mit einem Satz davongeeilt war.
Die Schweine stoben quiekend auseinander, als die beiden Hobbits mitten durch die Herde stürmten. Frodo stürzte sich von hinten auf Merry und warf ihn zu Boden. "Dieser Gesichtsausdruck!" brüllte Merry lachend und verschluckte sich beinahe. Frodo sah ihn empört an und verzog das Gesicht. "Weißt du, wie abscheulich es ist, wenn dir ein Schein seine nasse, dreckige Nase an den Hals hält?" Er erschauderte, was seinen Worten noch mehr Ausdruck verlieh. "Du hättest ruhig etwas sagen können." Merry grinste und rappelte sich wieder auf, als Frodo von ihm abgelassen hatte. "Ich wollte nur testen, ob du träumst." "Ich habe nicht geträumt!" "Natürlich nicht", kicherte Merry und nahm einen Bissen von dem Käse, den er noch immer in der Hand hielt. Frodo schüttelte den Kopf, machte eine abwinkende Geste und eilte zurück zum Zaun, wo er sich seinen wohlverdienten Elf-Uhr-Imbiss aus dem Rucksack kramte.
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Die letzten Strahlen der Sonne erleuchteten ihren Weg, als die Hobbits über die Felder stapften. Beide waren mit einem Stock bewaffnet und bemüht, die Schweine zusammenzuhalten, was ihnen keine großen Schwierigkeiten bereitete.
Frodo seufzte erleichtert, als er das Stalltor hinter dem letzten Ferkel geschlossen hatte. Merry stützte sich schwer auf seine Stock und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "So geht ein langer, harter Arbeitstag zu Ende", verkündete er. Frodo zog eine Augenbraue hoch. "Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass du das, was du den ganzen Tag machst, als Arbeit bezeichnest? Das sieht für mich viel mehr nach faulem Herumliegen aus." Merry sah ihn mit einem überraschten Ausdruck an und schüttelte den Kopf. "Mein lieber Vetter! Wenn hier jemand faul herumliegt, dann bist du das." "Wie dem auch sei", meinte Frodo und verkniff sich das Grinsen. "Du bist es jedenfalls, der den meisten Proviant verspeist." "Eine Verleugnung!" "Eine Tatsache!" widersprach Frodo in sachlichem Tonfall. Merrys Stock schwang gefährlich nah an Frodo durch die Luft. Dieser wich ihm geschickt aus und stürmte dann durch die Hintertür ins Brandyschloss. Blitzschnell eilte er durch die Gänge, während er sich immer wieder nach Merry umblickte, der nicht weit hinter ihm her gerannt kam.
Frodo schnappte erschrocken nach Luft, als plötzlich Saradoc vor ihm auftauchte. Es war zu spät, als dass er noch hätte bremsen können und so rannte er ihn geradewegs über den Haufen. "Frodo!" schimpfte dieser wütend. "Wenn du rennen willst, geh nach draußen!" "Entschuldige", murmelte Frodo und rieb sich die Stirn, die gerade schmerzhafte Bekanntschaft mit Saradocs Ellbogen gemacht hatte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, half er dem Herrn von Bockland dabei, die Papiere zusammenzusammeln, die bei dem Zusammenstoß zu Boden geflattert waren. "Hallo Papa!" rief Merry fröhlich, als er endlich auch um die Biegung gerannt kam. "Langsam!" murrte dieser zur Antwort, nahm Frodo die Papiere ab und stapfte ohne ein Wort des Grußes davon. "Was hat er denn?", fragte Merry und blickte fragend zu seinem Vetter, der sich noch immer die Stirn rieb und Saradoc Schulter zuckend hinterher sah.
Die Frage bezüglich Saradocs Laune wurde beim Abendessen geklärt. Milo Lochner, Frodos Vetter, bestätigte die Gerüchte, die seit einiger Zeit im Umlauf waren. In nicht allzu ferner Zukunft wollte er Päonie Beutlin heiraten. Frodo staunte nicht schlecht, obschon er dies bereits vermutet hatte. Päonie war in den letzten Monaten sehr oft (und außergewöhnlich lange) zu Besuch gewesen. Saradoc hatte also eine Hochzeit zu planen, allerdings konnte Frodo nicht verstehen, warum dieser deshalb so gereizt war. Es war doch ein freudiges Ereignis, wenn die beiden heirateten, oder etwa nicht?
"Fodo!" Merimas' aufgeregte Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Der junge Hobbit griff nach seinem Arm. "Mitkommen!" verlangte er. Frodo blickte sich fragend zu Hanna um, die gerade damit beschäftigt war, ihre inzwischen einjährige Tochter Minze zu füttern. Sie nickte, erklärte aber, dass der Kleine nicht mehr allzu lange aufbleiben dürfe.
Frodo ließ sich von Merimas nach draußen führen, wo er sogleich zum Sandkasten geleitet wurde. Voller stolz präsentierte der kleine Hobbit eine Sandhöhle, die er am Nachmittag gemeinsam mit Berilac gebaut hatte. Für Frodo sah die Höhle jedoch mehr nach einem Haufen Sand aus, der aber liebevoll mit Gänseblümchen und anderen Blumen verziert worden war. Kaum hatte er die Arbeit des Kindes gelobt, drückte ihm Merimas eine Schaufel in die Hand und verlangte, dass er ihm beim Bau einer weiteren Sandhöhle behilflich war. Frodo verzog das Gesicht. So gern er sich auch mit Merimas beschäftigte, sich in den Sandkasten zu setzen und Höhlen zu bauen, sagte ihm überhaupt nicht zu. Das hatte er zuletzt vor vielen Jahren gemacht, und dabei sollte es auch bleiben. Hanna rettete ihn aus dieser misslichen Lage. Für Merimas war es Zeit zu Bett zu gehen, was dem Kleinen natürlich gar nicht zusagte. Er protestierte lauthals, bis Hanna ihn schließlich auf den Arm nahm und hinein trug.
Frodo blickte den beiden lächelnd hinterher, als er sich auf die niedrige Holzbank setzte, die den Sandkasten umgab. Kopfschüttelnd betrachtete er die Schaufel, die er in seinen Händen herumdrehte. "Ich? Eine Sandhöhle bauen?" "Warum nicht? Das ist lange her." "Zu lange", sagte er und warf Merry einen vielsagenden Blick zu. "Nichts und niemand wird mich dazu bringen, jemals wieder in diesen Sandkasten zu steigen." Ein schelmisches Grinsen trat auf Merrys Gesicht, was Frodo sofort aufspringen ließ. Drohend hielt er seinem Vetter die Schaufel an die Brust. "Wage es ja nicht!" Merry setzte eine Unschuldsmine auf. "Ich? Natürlich nicht! Was denkst du von mir? Ich bin nicht wie Pippin." Frodo warf ihm einen misstrauischen Blick zu, ließ die Schaufel aber wieder in den Sandkasten fallen und stapfte in Richtung Garten davon. "Man kann euch beiden nicht trauen! Aber wo wir gerade bei Pippin sind: sollte der nicht bald wieder zu Besuch kommen?" "Und wieder unterstellst du mir etwas", meinte Merry, als er neben Frodo hertrottete. "Ich bin nicht halb so schlimm, wie Pip. Aber ja, er sollte kommen. Papa hat gesagt ‚im Sommer' und das ist es jetzt. Lange kann es also nicht mehr dauern."
"Sehr gut", murmelte Frodo, blieb abrupt stehen und streckte die Hand aus, um auch Merry aufzuhalten. Merry sah ihn verwirrt an, als Frodo eine leicht gebückte Haltung einnahm und sich prüfend umsah. "Was ist los?", fragte er mit gesenkter Stimme und tat es seinem Vetter gleich. "Das wirst du gleich sehen", flüsterte Frodo, in dessen Stimme ein geheimnisvoller Unterton mitklang. So leise wie möglich, schlichen sie am Gemüsebeet vorbei nach Westen. Merry dämmerte es plötzlich. Frodo hatte es auf die Beeren abgesehen. Zu dieser Zeit waren die Erdbeeren bereits abgeerntet, die Himbeeren und Johannisbeeren reiften. "Wir haben gerade erst zu Abend gegessen!" erinnerte ihn Merry. Frodo warf ihm ein verschmitztes Grinsen zu. "Das heißt noch lange nicht, dass ich auf meinen abendlichen Beerengenuss verzichte." "Du machst das jeden Abend?!" Merrys Überraschung machte sich auch in der Lautstärke seiner Stimme bemerkbar. Frodo duckte sich noch mehr und sah sich erschrocken um. Niemand war zu sehen, und auch von Rosamunde, der Gärtnerin des Brandyschlosses, fehlte jede Spur. "Seit Thrimidge, als die Erdbeeren reif waren", gestand Frodo beiläufig im Flüsterton und schlich sich näher an die Beerensträucher heran.
Merry blieb einen Augenblick stehen und starrte seinen Vetter ungläubig und mit offenem Mund an. Wie konnte es sein, dass er davon erst jetzt erfuhr und nicht schon längst darüber Bescheid wusste? Mit einem Satz war er wieder an Frodos Seite. "Und du beschwerst dich, dass ich mehr von unserem Proviant esse?!"
Frodo warf ihm ein schelmisches Grinsen zu und tat sich dann an den Himbeeren gütlich. Merry schüttelte den Kopf, bediente sich dann aber ebenfalls. Dennoch wollte ihm die Sache keine Ruhe lassen. "Du bedienst dich hier seit fast einem Monat, ohne dass ich oder sonst jemand das bemerkt?", fragte er noch einmal und blickte beinahe beschämt zu Boden. "Wie konnte es soweit kommen?" Frodo grinste in sich hinein. "Du wirst unaufmerksam, werter Vetter. Sehr unaufmerksam."
Im Gegensatz zu Merry war Frodo ganz und gar nicht unachtsam, denn kaum hatte er zu Ende gesprochen, hörte er eine Stimme. Vorsichtig hob er den Kopf und erblickte Rosamunde, die ihren abendlichen Rundgang um die Gärten des Brandyschlosses machte und die Blumen goss. Frodo erstarrte. "Wir sind heute spät dran, wenn Rosamunde schon hier ist. Mehr Beeren dürften wir ohnehin nicht nehmen, sonst würde es morgen auffallen, sollte jemand welche für die Küche brauchen." Er packte Merry am Arm und die beiden schlichen unbemerkt zu dem Hügel hinter dem Brandyschloss, hinauf zur großen Eiche.
Merry wurde immer erstaunter. Frodo musste sich lange Gedanken darüber gemacht haben, wie er am besten zu den Beeren kam. Er wusste, dass Frodo in solchen Dingen geschickt war, doch dass er selbst ihn austricksen würde, hätte er sich nicht erträumen lassen. Er hatte seinen Vetter wohl doch unterschätzt. "Seit Thrimidge", murmelte er noch einmal und schüttelte den Kopf, während Frodo am Stamm der Eiche lehnte und zufrieden in sich hineingrinste.
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Pünktlich zum zweiten Frühstück fanden sich die beiden Hobbits am nächsten Morgen wieder auf der Weide ein. Die Schweine grunzten zufrieden, während es sich Frodo und Merry mit einem Stück Kuchen auf dem Zaun gemütlich machten. "Gibt es eigentlich noch mehr solche Dinge, von denen ich nichts weiß?", wollte Merry plötzlich wissen. Frodo zog fragend eine Augenbraue hoch, lachte aber dann laut auf. "Die Beeren lassen dir wohl keine Ruhe?" Er legte einen Arm um Merrys Schulter und setzte ein breites Grinsen auf. "Aber keine Sorge, ich denke nicht, dass du in naher Zukunft irgendwelche bösen Überraschungen erleben wirst." Merry sah nicht sehr beruhigt aus, sagte jedoch nichts mehr.
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"Wie kann ihnen das nur gefallen?", fragte Merry kopfschüttelnd, die Augen auf einige der Schweine gerichtet, die sich genüsslich in einer künstlich angelegten Schlammgrube am anderen Ende der Wiese suhlten. Frodo wandte seine Aufmerksamkeit von der Sonne ab, die inzwischen ihren Höchststand erreicht hatte, und folgte Merrys Blick. "Du könntest es selbst einmal versuchen", meinte er, mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. Merry warf ihm einen frechen Blick zu. "Ich könnte auch dich hineinstoßen und du sagst mir, ob es dir gefällt oder nicht."
Frodo zog eine Augenbraue hoch, schüttelte den Kopf und ging wieder seiner Arbeit nach. Wie jeden Tag, mussten sie auch heute den Zaun kontrollieren, schließlich wollten sie nicht, dass ihnen die Schweine ausrissen. Während er an einem der Pfähle ruckelte, ließ er seinen Blick über die Weide gleiten. Sie würde bald abgegrast sein und er und Merry würden sich entweder einen neuen Weideplatz für die Schweine suchen, oder diesen vergrößern müssen. Er wollte sich gerade zu Merry umwenden, um ihn darauf hinzuweisen, als ihm auffiel, dass dieser gar nicht mehr hinter ihm war. Verdutzt blickte er sich um. Als Merry auch nach mehrmaligem Rufen nicht reagierte, ging er den Weg zurück, den er gekommen war, wobei er immer dem Verlauf des Zaunes folgte. In der Nähe des Schlammlochs entdeckte Frodo seinen Vetter schließlich, wie er auf dem Boden saß und angestrengt eines der Schweine beobachtete. "Was machst du denn da?", wollte er wissen. "Ich schmiede Pläne", erklärte Merry, ohne den Blick auch nur ein einziges Mal von dem Schwein abzuwenden. Das Schwein sah zu den beiden Hobbits herüber, grunzte und zupfte dann einen Grashalm ab.
Auf Frodos Frage, was für Pläne er denn schmieden würde, erklärte Merry, dass er vorhabe, dem alltäglichen Trott, dem sie nun schon seit einigen Wochen nachgingen, ein Ende zu setzen. Er brauchte Abwechslung und seiner Meinung nach, die Schweine ebenfalls. Fragend zog Frodo eine Augenbraue hoch und beobachtete weiterhin das Schwein, auf dem Merrys Blick noch immer ruhte. Er ließ sich neben seinem Vetter zu Boden sinken, während dieser erklärte, dass er noch nie versucht hatte, auf Schweinen zu reiten. "Reiten?", rief Frodo aus und erschreckte dadurch einige der Tiere in ihrer Nähe, die aufgeregt zu Quieken begannen. "Merry, das hier sind Schweine, keine Ponys!" "Weshalb sollte es nicht gehen?", meinte Merry trotzig. "Hast du es schon einmal versucht?" Frodo schüttelte den Kopf. "Na also, und ich werde es versuchen! Also hör auf, mein Reitschwein zu erschrecken, sonst wird es sich nicht reiten lassen." "Das wird es auch nicht, wenn ich es nicht erschrecke", antwortete Frodo kopfschüttelnd. "Das wird nicht funktionieren. Schweine sind nicht zum Reiten da." "Wir werden sehen!" entgegnete Merry trotzig, während er wieder auf die Beine kam und entschlossen einige Schritte näher an sein auserwähltes Reitschwein ging. "Sei vorsichtig!" rief Frodo und sprang ebenfalls auf.
Ganz langsam ging Merry auf das Schwein zu, das er zuvor die ganze Zeit beobachtete hatte. Frodo verharrte auf seinem Platz und begutachtete das Geschehen stumm. Erschrocken zuckte das Schwein zusammen, als Merry es vorsichtig berührte. Quiekend rannte das Tier davon, gefolgt von allen anderen Schweinen, die ebenfalls quiekend und grunzend auseinander stoben. Frodo kicherte in sich hinein und erntete einen wütenden Blick von Merry. Auf ein ‚was habe ich dir gesagt?' wollte er noch eine Weile warten, denn er wusste, dass sein Vetter nicht so leicht von seinem Vorhaben ablassen würde. Also wartete er und beobachtete, nicht ohne sich ein gelegentliches Grinsen zu verkneifen.
Merry ließ sich von Frodos Gekicher nicht unterkriegen und versuchte es erneut, dieses Mal noch langsamer und behutsamer. Wieder quiekte das Schwein auf und wollte davon laufen, doch Merry legte seinen Arm um den Hals des Tieres, um es aufzuhalten. Leise sprach er auf das Schwein ein, bis dieses sich wieder beruhigte. Er wandte sich kurz zu Frodo um und grinste siegreich. Frodo sagte nichts. Merry würde es niemals schaffen auf einem Schwein zu reiten, das war unmöglich. Er brauchte nur abzuwarten.
Mit einem Ruck schwang sich Merry plötzlich auf den Rücken des Tieres. Das Schwein schrie auf, nahm einen Satz und warf Merry ab, der mit einem überraschten Ausruf der Länge nach auf dem Boden landete. Frodo prustete los und konnte sich aus lauter Lachen kaum auf den Beinen halten. Merry grummelte in sich hinein, als er wieder aufstand und sich den schmerzenden Hintern rieb. "Ich werde es schaffen! Du wirst schon noch sehen!" meinte er missmutig und stapfte dem Schwein hinterher. Frodo nickte nur, während er versuchte wieder zu Atem zu kommen, dabei aber kläglich versagte.
Wieder schlich sich der junge Hobbit an sein auserkorenes Reitschwein heran, und wieder schaffte er es, dass Tier soweit zu beruhigen, dass es neben ihm stehen blieb. Es dauerte nicht lange, da versuchte er erneut, sich auf den Rücken des Schweins zu schwingen und wieder landete er kopfüber im Gras, als dieses ausschlug und davon stürmte. Hinter sich hörte er Frodo lachen, der inzwischen auch im Gras lag und sich den Bauch hielt. "Gib es auf, Merry! Es ist ein Schwein, kein Pony!" rief er.
Merry antwortete nicht. Er sah sich bereits nach einem neuen Reitschwein um. Das andere war eindeutig zu nervös, er brauchte ein ruhiges Tier. Bald hatten seine Augen gefunden, was er suchte. Eines der Schweine lag dösend im Schatten einer Buche. Mit ihm würde er erneut sein Glück versuchen. Frodo würde noch sein blaues Wunder erleben. Er blickte sich kurz nach seinem Vetter um, der sich inzwischen aufgerichtete hatte und ihn erwartungsvoll, aber mit einem schadenfrohen Grinsen im Gesicht, ansah. Entschlossen stapfte er auf das Schwein zu, doch seine Schritte waren leise, wie es nur die eines Hobbits sein konnten. Leise flüsternd trat er an das Schwein heran, das sich bisher noch nicht gerührt hatte. Vorsichtig legte er einen Arm um den Hals des Tieres. Die Borsten kratzten ihn, doch das beachtete er nicht. Er würde Frodo zeigen, dass es möglich war, auf Schweinen zu reiten. Ganz langsam schwang er sich zum dritten Mal auf den Rücken des Tieres. Ein Fehler, denn dieses Schwein reagierte keineswegs ruhiger, als es das andere getan hatte. Mit einem Satz und einem entsetzten Quieken sprang es auf die Beine. Merry schwankte, konnte sich aber an den kurzen Borsten ein wenig festhalten.
Das Schwein, panisch ob der ungewohnten Last, rannte geradewegs auf Frodo zu, der das Geschehen amüsiert beobachtet hatte. Erschrocken sprang dieser zur Seite. Das nervöse Schreien des Tieres, auf dessen Rücken sich nun Merry festklammerte, schreckte auch andere Schweine auf, die nun aufgeregt quiekend und grunzend in alle Seiten auseinander stoben. "Merry!" rief Frodo aufgebracht, dessen Grinsen einem sorgenvollen Ausdruck gewichen war, als das Schwein und Merry an ihm vorbei stürmten.
Merry wankte gefährlich auf dem Rücken des Tieres und noch bevor es weiter als zwölf große Schritte gekommen war, rutschte er von den Borsten ab. Dummerweise machte das Schwein in eben diesem Augenblick vor der Schlammgrube Halt und Merry wurde in hohem Bogen und mit einem entsetzten Aufschrei in selbige hineingeschleudert.
Frodo kam sofort herbei geeilt. Für den Augenblick wollte er sich nicht um die aufgebrachten Tiere kümmern. Erst musste er wissen, ob mit Merry alles in Ordnung war. Als er in die Schlammgrube spähte, kehrte das Lachen auf sein Gesicht zurück. Merry saß zwischen drei schmutzigen Schweinen in der Grube. Das Gesicht und die Hände waren mit Schlamm bedeckt. Man hätte ihn beinahe auch für ein Schwein halten können, denn nur die haarigen Füße verrieten, dass er ein Hobbit war. Frodo prustete los, während er einen missmutigen Blick nach dem anderen von Merry erntete, der verzweifelt versuchte, aus dem Dreck aufzustehen, doch immer wieder ausrutschte und erneut im Schlamm landete. Dies führte nur dazu, dass Frodo noch heftiger lachte. "Und? Wie gefällt es dir?", wollte Frodo lachend wissen, der damit auf ihr Gespräch vor weniger als einer Stunde anspielte. "Du könntest mir auch helfen!" rief Merry missgestimmt, formte einen Klumpen aus Erde und Schlamm und warf diesen nach Frodo. Er verfehlte ihn nur knapp.
Ein Schwein schnüffelt an Merry und grunzte neugierig. Merry stieß es von sich weg und rappelte sich erneut auf, nur um wieder auszurutschen und im Schlamm zu landen. Frodo lag auf dem Boden vor Lachen. "Hör auf, mein Reitschwein zu erschrecken! Ich werde versuchen es zu reiten!" äffte Frodo ihn nach und schnappte verzweifelt nach Luft. Der nächste Schlammklumpen flog durch die Luft und dieses Mal verpasste er sein Ziel nicht.
Frodo beruhigte sich nur langsam, doch schließlich half er Merry aus der Schlammgrube zu klettern, konnte sich aber ein "Siehst du, ich brauchte es nicht zu erschrecken!" nicht verkneifen. "Aber ich bin geritten!" erklärte Merry trotzig und stand auf. Er war von oben bis unten voller Schlamm und die schmutzige Erde tropfte von seinen Kleidern, seinen Händen und seinen Haaren. "Ein echter Schlammit!" meinte Frodo, der ihn grinsend betrachtete. Auf Merrys fragenden Ausdruck, erklärte er dann, dass ein ‚Schlammit' ein ‚Schlamm-Hobbit' wäre, oder ein Hobbit der unfreiwillig ein Schlammbad genommen hatte. Daraufhin wollte Merry ihn ebenfalls zum Schlammit machen. Frodo wehrte sich allerdings so heftig, dass es Merry nicht gelangt, ihn in die Schlammgrube zu werfen und stattdessen beinahe selbst noch einmal darin gelandet wäre.
Merry ging schließlich davon. Das Schlammloch würde er in nächster Zeit meiden. Frodo hatte Mühe, sich das Grinsen zu verkneifen, als sein Vetter versuchte, sich den Schlamm vom Gesicht zu wischen. Da er dazu nur seine schlammigen Hände hatte, machte er damit das Ganze nur noch schlimmer. Doch schließlich hatte er Mitleid mit ihm und gemeinsam gingen sie dann zum Brandywein hinunter. Der Fluss war nicht weit entfernt, wenn man genau hinhörte konnte man ihn sogar plätschern hören. Dort konnte Merry sich zumindest das Gesicht, seine Arme und seine Beine waschen. Der Schlamm an seiner Kleidung allerdings, war recht schnell getrocknet und hatte sie steif und unbequem werden lassen.
Merry war erleichtert, als er abends nach Hause kam, auch wenn der Empfang kein freundlicher war. Esmeralda war alles andere als begeistert, als sie ihren Sohn sah. Auf ihre Frage, weshalb er so aussah, sagte er nur, er wäre in das Schlammloch der Schweine gefallen. Wie es dazu kam, ließ er wohlweißlich ungeklärt. Frodo stand neben ihm und verkniff sich das Lachen, weshalb er skeptische Blicke von Esmeralda und einen schmerzhaften Stoß in die Seite von Merry einfing.
Während Merry ins Badezimmer geschickt wurde, ging Frodo wieder nach draußen und schlich sich zu den Beeren. "Schweine reiten", kicherte er kopfschüttelnd und schob sich eine Himbeere in den Mund.
Kapitel 39: Verbotene Feste
"Bitte!" Zwei Paar blaue Augen waren flehend auf Saradoc gerichtet. Dieser saß zurückgelehnt auf seinem großen Ledersessel und paffte an seiner Pfeife. Das große Fenster hinter ihm gab den Blick auf die ersten funkelnden Sterne frei. Vor seinem Schreibtisch standen Frodo und Merry in ihren Nachtgewändern, beide mit dem süßesten Lächeln in den Gesichtern, das sie auf ihre Lippen zaubern konnten. Das Licht einer Lampe auf dem Schreibtisch, ließ die großen, bittenden Augen der jungen Hobbits glitzern. "Bitte!" flehten sie noch einmal und das Licht warf dunkle Schatten auf ihre Gesichter. Saradoc richtete sich langsam gerade auf, nahm die Pfeife aus dem Mund und stieß den Rauch in einem langen Atemzug aus. Er legte die Pfeife auf eine Halterung auf seinem Schreibtisch und sah die beiden jungen Hobbits ernst an. "Nein", sagte er dann in einem ruhigen, aber bestimmten Tonfall.
"Aber Papa", begann Merry von neuem, "jeder wird da sein." Saradoc schüttelte den Kopf: "Nicht jeder. Nur einige Hobbits im Alter zwischen zwanzig und dreiunddreißig. Hobbits, die bereits in ihren Tweens sind." "Das bin ich auch bald", warf Frodo ein. "Bald?" Der Herr von Bockland zog fragend eine Augenbraue hoch. "Mehr als vier Jahre würde ich nicht gerade als bald bezeichnen." "Aber…", begann Frodo, machte dann aber eine kurze Pause, in der er seine Worte noch einmal überdachte. "Bockenburg ist nicht weit. Wir könnten jederzeit zurückkommen." "Nein", Saradoc schüttelte den Kopf, "ihr seid zu jung um auf ein Fest im Springenden Hecht zu gehen. Ihr werdet zu Hause bleiben." "Bitte!" bat Merry noch einmal und versuchte es wieder mit dem flehenden Blick und dem süßen Lächeln. Seine Mutter hätte spätestens jetzt Ja gesagt, doch sein Vater machte nicht den Eindruck, als würde er sich umstimmen lassen. Sein Ausdruck war noch immer ernst und bestimmt.
Saradocs Entschluss stand fest. Er würde die Kinder nicht gehen lassen, und wenn sie noch so sehr bettelten. "Es bleibt dabei. Ihr werdet nicht in den Springenden Hecht gehen", sagte er trocken, erhob sich dann, ging auf die Kinder zu und legte jedem einen Arm auf die Schulter. "Geht jetzt schlafen."
Die Hobbits verabschiedeten sich mit einem missmutigen "Gute Nacht" und stapften zur Tür. Dort angekommen, wandte sich Frodo noch einmal um. Saradoc stützte sich mit einer Hand am Schreibtisch ab und sah den Jungen erwartungsvoll an. "Ich finde das ungerecht", sagte er mit einem trotzigen Ausdruck. Saradoc konnte seine Augen förmlich blitzen sehen. "Was ist daran ungerecht?", wollte er wissen. "Nur weil wir noch nicht zwanzig sind, müssen wir zu Hause bleiben, während alle anderen ihren Spaß haben", murrte Frodo starrköpfig. "Daran ist nichts Ungerechtes", erklärte Saradoc ruhig und trat näher an die Hobbits heran. "Ich bin für euch beide verantwortlich und ich will nicht, dass ihr alleine dorthin geht. In vier bis fünf Jahren werde ich es euch erlauben, aber nicht heute und dabei bleibt es." Saradoc hatte die letzten Worte besonders stark betont und hoffte, die beiden Hobbits würden nun begreifen, dass er es ernst meinte und seine Entscheidung nicht ändern würde.
Merry blickte traurig drein, öffnete die Tür und trat in den Gang. Frodo folgte ihm, die Augen auf den Fußboden gerichtet. Dann drehte er sich noch einmal um, sah Saradoc wütend an und murrte: "Was nützt mir die Erlaubnis in fünf Jahren, wenn ich jetzt gehen will?"
Saradoc holte einmal tief Luft. Langsam verlor er die Geduld und außerdem gefiel ihm dieser Blick von Frodo nicht. "Du wirst mit dieser Erlaubnis vorlieb nehmen müssen, denn mein Entschluss steht fest!" sagte er ein wenig gereizt. Frodo blickte ihn noch einen Augenblick länger an, stapfte dann aber beleidigt davon. Merry folgte ihm. Saradoc seufzte leise und ging zurück in sein Arbeitszimmer. Müde setzte er sich in seinen Sessel. Unrecht hatte Frodo nicht gehabt. Bis zum Springenden Hecht war es kein weiter Weg. Doch nein, er hatte richtig gehandelt. Die beiden waren zu jung und die Hobbits in ihren Tweens zu verantwortungslos, als dass er sie hätte mitgehen lassen können. Es war besser so.
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Die beiden Hobbits stapften missmutig in Merrys Zimmer, wo Merry sogleich eine Kerze entzündete und sich dann auf sein Bett fallen ließ. Frodo sank sich stumm auf einen Stuhl am Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. In zwei Tagen war ein großes Fest im Gasthaus Zum Springenden Hecht in Bockenburg und er und Merry wären gerne dabei gewesen. Das Problem dabei war, dass das Fest in erster Linie für Hobbits in ihren Tweens (das hieß im Alter zwischen zwanzig und dreiunddreißig) war. Frodo und Merry hatten gehofft, Saradoc würde sie auch gehen lassen, denn sie hatten gehört, dass Nelke ebenfalls dabei sein dürfe und sie war nur ein knappes Jahr älter, als Frodo. Saradoc sah das allerdings ganz anders. "Was Nelke darf oder nicht darf, habe nicht ich zu entscheiden, sondern ihre Eltern", war alles, was er ihnen darauf entgegnet hatte.
"Ich bin sicher, es liegt an ihrem Bruder", schimpfte Merry und setzte sich wieder auf. "Ich wünschte, ich hätte auch einen älteren Bruder, der mich mitnehmen könnte." Frodo wandte sich zu ihm um. Sein Ausdruck war noch immer trotzig. "Warum lässt er uns nicht einfach gehen? Wir können schließlich auf uns selbst aufpassen, wir sind keine Kinder!" "Genau!" bestätigte Merry und schlug mit der Faust auf sein Bett. "Was macht es für einen Unterschied, ob ich nun zwanzig oder zwölf bin?" "Keinen", sagte Frodo und stand entschlossen von seinem Sitzplatz auf. "Also warum sollten wir nicht gehen?" Merry zog eine Augenbraue ein wenig hoch und sah ihn verwundert an, als Frodo an seine Seite trat. Ein arglistiges Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. "Ja, warum eigentlich nicht?" Die Schatten der Kerze tanzten auf den Gesichtern der jungen Hobbits, ließen ihre Augen geheimnisvoll im Dunkeln glimmen.
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Zwei Tage darauf schien es Saradoc, als wäre das Fest der Tweens schon lange wieder vergessen. Als er von seiner Arbeit auf den Feldern aufblickte, sah er, wie die zwei jungen Hobbits fröhlich hinter einigen Schweinen her sprangen, die sie von der Weide nach Hause trieben. Er lächelte zufrieden, wischte sich den Schweiß von der Stirn und machte sich wieder daran, das Heu zu wenden. Er konnte nicht ahnen, dass in den Köpfen der jungen Hobbits schon lange Pläne geschmiedet worden waren, wie sie den Herrn von Bockland in eben diesem Glauben lassen konnten.
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"Denkst du, sie ahnen etwas?", wollte Merry wissen und tauchte in seiner Wanne unter, noch ehe Frodo antworten konnte. Dampfschwaden stiegen vom Badewasser der Hobbits empor und breiteten sich im Badezimmer aus. Frodo tastete nach der Seife, die ihm aus den Fingern geglitten und in seinem Zuber verschwunden war. Esmeralda hatte die beiden gleich nach ihrer Rückkehr ins Badezimmer geschickt, mit der Behauptung, sie würden selbst wie ein ganzer Schweinestall riechen. Frodo und Merry war das nur Recht gewesen, obwohl Merrys letztes Bad, jenes nach seinem unfreiwilligen Schlammvergnügen, erst vier Tage zurücklag. Schnaufend tauchte Merry wieder auf und wischte sich das Wasser aus den Augen. Frodo grinste, als er die Seife mit seiner Hand ertastet hatte, hob sie auf und verlor sie wieder. Ein Seufzen entwich seinen Lippen, als er sich erneut auf die Suche danach machte. "Ich glaube nicht, dass sie etwas wissen." "Das ist gut", entgegnete Merry, griff nach einer Bürste und schrubbte sich mit Hilfe einer umständlichen Verrenkung den Rücken. Ein leises Platschen ertönte, als Frodo die wieder gefundene Seife erneut aus den Fingern glitt. Dieser grummelte etwas Unverständliches. Merry kicherte in sich hinein und fuhr dann fort. "Wir gehen genau nach Plan vor. Nach dem Abendessen werden wir so tun, als würden wir uns schlafen legen. Sobald alles ruhig ist, schleichen wir uns zum Hintereingang raus. Wir treffen uns hinter den Ställen und gehen von dort aus nach Bockenburg." Frodo hatte nur halbherzig zugehört, nickte aber trotzdem, schließlich kannte er den Plan. Seine Aufmerksamkeit war auf die Seife in seinen Händen gerichtet, die er nun ganz vorsichtig hochhob um sich damit einzuschäumen. Merry beobachtete Frodos vorsichtigen Bewegungen mit einem schiefen Lächeln. Ihm war bereits der Gedanke gekommen seine Bürste in Frodos Wanne zu werfen. Dieser würde sich dabei bestimmt erschrecken und die Seife würde ihm ein weiteres Mal aus den Fingern rutschen. Doch er entschied sich dagegen.
Frodo hatte sich indes tiefer ins Wasser gleiten lassen und für einen Moment die Augen geschlossen. War er vor zwei Tagen noch fest entschlossen gewesen, auf das Fest zu gehen, hatten sich nun einige Zweifel eingeschlichen. Sie waren keine Unbekannten hier in der Gegend. Jeder würde sie erkennen. Natürlich würde sich keiner etwas dabei denken, sollten sie auch im Springenden Hecht auftauchen, außer jemand wusste, dass sie nicht dort sein durften. Aber andererseits, wer wusste das, abgesehen von Saradoc? Niemand; und Saradoc selbst war nicht dort. Es konnte gar nichts schief gehen. Weshalb also, hatte er dennoch dieses ungute Kribbeln in der Magengegend?
Erschrocken richtete er sich auf und griff nach dem Rand der Wanne, als Wasser in sein Gesicht spritzte. Merry lachte und schickte sogleich eine zweite Ladung seines Badewassers hinterher. "Merry!" wies Frodo ihn zurecht, tauchte dann aber kurz ganz unter. Er musste ohnehin noch seine Haare waschen. Als er wieder auftauchte, schnappte er nach Luft, rieb sich mit den Händen das Wasser vom Gesicht und schob sich einige Haarsträhnen aus der Stirn. Im Badewasser unterzutauchen, fand er inzwischen schon beinahe angenehm, doch in den Fluss wagte er sich noch immer nicht tiefer, als bis zu den Knien und er vermutete, dass er das auch niemals tun würde. Das störte ihn allerdings wenig. Einen Augenblick blieb er regungslos sitzen und starrte auf sein Badewasser, das sich mit langsamen, regelmäßigen Bewegungen wieder beruhigte, bis es schließlich vollkommen stillstand, nachdem es zuvor beinahe übergeschwappt wäre, als er untergetaucht war. Frodo holte tief Luft und sah dann seinen Vetter an. "Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es wirklich so eine gute Idee ist, dorthin zu gehen", gestand er.
Merry, der gerade damit beschäftigt war, sich die Zehen zu schrubben, hielt innen. "Was meinst du damit?" "Ich meine, dass die Gefahr, erwischt zu werden, recht hoch ist." "Frodo, du willst genauso gerne auf diese Feier gehen, wie ich. Die Gefahr, erwischt zu werden, ist heute genau gleich hoch, wie sie das vor zwei Tagen gewesen ist, als wir das alles besprochen haben. Du wirst doch jetzt keine kalten Füße bekommen?" Merry sah ihn ernst an. Frodo schwieg und holte einmal tief Luft. "Das ist es nicht. Es ist nur…", wieder verfiel er in Schweigen, während Merrys Augen erwartungsvoll auf ihm ruhten. "Wir sollten aufpassen." "Das werden wir!" beruhigte Merry. "Wir werden so vorsichtig sein, wie wir es noch nie zuvor gewesen sind." Gedankenverloren legte Frodo den Kopf schief und Merry fürchtete schon fast, sein Vetter würde ihre Pläne außer Acht lassen und Zuhause bleiben, doch dann zeichnete sich ein Lächeln auf dessen Zügen ab. "Das wird unser großer Abend und niemand wird es jemals erfahren!" verkündete Frodo freudig. Merry grinste. "So ist es, werter Vetter. Unser großer Abend!"
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Frodo lag hellwach in seinem Bett und lauschte auf jedes Geräusch von draußen. Im Augenblick war nichts zu hören. Ob er schon lange genug gewartete hatte? Viel Zeit war noch nicht vergangen, seit er sich nach dem Abendessen von Merry getrennt hatte und in sein Zimmer gegangen war. Sollte er sich jetzt bereits aus der Höhle schleichen? Frodo setzte sich auf und spähte erwartungsvoll zur Tür. Nichts, nur das Pochen seines Herzens, das schneller schlug, als für gewöhnlich.
Das mulmige Gefühl im Bauch war nach dem Gespräch mit Merry nicht verschwunden. Wenn überhaupt, dann war es stärker geworden, je später der Abend geworden war. Die Gefahr, erwischt zu werden, schien ihm beinahe zu groß. Alleine um ungesehen aus dem Brandyschloss zu entwischen, bedurfte es großer Vorsicht und bestimmt auch ein wenig Glück. Er wollte auf dieses Fest und fand es ungerecht, dass Saradoc sie nicht hatte gehen lassen. Was war so besonders daran, dass er es ihnen verbot? Dies war etwas, was er noch im Laufe der Nacht erfahren würde, doch ohne Saradocs Erlaubnis war es ein großes Risiko. Auf alle Fälle durften sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, denn dann würde man sich an sie erinnern und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis Saradoc erfahren würde, dass sie ihm nicht gehorcht hatten.
Sein Herz schien plötzlich noch schneller zu schlagen, als zuvor. Er durfte sich nicht so viele Gedanken machen, oder er würde wirklich den Mut verlieren und zu Hause bleiben. Noch immer waren keine Geräusche an sein Ohr gedrungen. Leise schob er seine Decke zurück und setzte sich auf die Bettkante. Stille, nichts war zu hören. "Also los", flüsterte er und holte einmal tief Luft. Auf Zehenspitzen schlich er zum Schrank, holte sich frische Kleider heraus und zog sich an, immer wieder kurz innehaltend, um auf mögliche Geräusche zu achten. Wäre jemand in die Nähe seines Zimmers gekommen, wäre er jederzeit bereit gewesen, in sein Bett zu springen und sich schlafend zu stellen. Doch niemand kam, und Frodo war sehr froh darüber.
Als er sich angezogen hatte, ging er noch einmal zum Schrank, stellte sich auf die Zehenspitzen und holte eine Decke von der obersten Ablage. Diese rollte er zusammen und legte sie sorgfältig unter seine Bettdecke, um den Eindruck zu erwecken, er würde noch immer darunter liegen. Er betrachtete sein Bett und lächelte, zufrieden mit seiner Arbeit.
Dann schlich er zur Tür, wobei er die letzten Zweifel aus seinen Gedanken schüttelte. Noch immer war alles ruhig. Frodo warf einen letzten Blick auf das Bild seiner Eltern, als könne er sich dadurch ihr Einverständnis sichern, öffnete dann leise die Tür und spähte hinaus.
Ein kurzer Blick in beide Richtungen und schon war er aus dem Zimmer getreten. Er hielt sich dicht an der Wand, während er dem östlichsten Gang folgte und blieb schließlich stehen, als er einen der Hauptgänge erreichte. Er schluckte und legte eine Hand auf sein Herz, als könne er dadurch die Lautstärke seines Pochens dämmen, was ihm im Augenblick unwahrscheinlich lauter vorkam, als gewöhnlich. Wieder blickte er sich um, ehe er dem Hauptgang folgte. Es war ein gefährlicher Weg, denn er würde ihn in die Nähe des Esszimmers führen, doch Frodo hoffte, dass dort bereits niemand mehr anzutreffen war. Er schluckte, als er den letzten und weitaus gefährlichsten Gang auf dem Weg zur Hintertür erreichte. Dieser führte an einem der Wohnzimmer vorüber und Frodo konnte schon jetzt das Lachen einiger Hobbits hören. Er presste sich an die Wand. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als laute Stimmen an sein Ohr drangen.
Ich darf jetzt nicht den Mut verlieren. Es sind nur Stimmen. Stimmen sind ein gutes Zeichen. Stimmen und Gelächter weisen darauf hin, dass sie im Wohnzimmer ihren Spaß haben und vermutlich noch eine Weile dort drinnen bleiben werden, also kann mir hier draußen nichts passieren. Nur nicht den Mut verlieren.
Frodo holte tief Luft, wobei er einen Augenblick die Augen schloss und spürte, wie ein leichtes Zittern ihn durchlief. Dann schlich er, so leise, wie es seine Hobbifüße zuließen, den Gang hinab. Bei jedem seiner Schritte zuckte er kaum merklich zusammen. War er sonst der Ansicht, die leisesten Sohlen im ganzen Brandyschloss zu besitzen, hatte er nun das Gefühl, als wären seine Schritte die schweren Schritte eines Zwerges aus Bilbos Geschichten.
So leise und so schnell er konnte, schlich er an der Wohnzimmertür vorüber. Hatte er sich in im fahlen der Gänge noch halbwegs sicher gefühlt, überkam ihn ein seltsames Gefühl der Sichtbarkeit, je näher er dem hellen Schein kam, welcher aus dem Wohnzimmer in den Gang drang. Halb fürchtete er, jeder würde sich plötzlich nach ihm umdrehen, sobald er in den Lichtschein trat und war beinahe überrascht, als dem nicht so war.
"Nein, nein, ich werde nur kurz nach den Kindern sehen!" Das war Hannas Stimme. Frodo erstarrte. Sie würde ihn sehen und alles wäre umsonst gewesen. Er würde nicht erfahren, was an dem Fest so besonders war und Merry würde vergeblich bei den Ställen auf ihn warten, wenn sie ihn nicht auch schon erwischt hatten, oder noch erwischen würden. Saradoc würde sehr wütend sein und ihnen eine lange Rede darüber halten, dass sie falsch gehandelt und seine Entscheidung missachtet hatten. Danach würde er sie vermutlich in ihre Zimmer schicken, wo sie darüber nachdenken mussten, was sie getan hatten und anschließend würde er ihnen ihre Strafe verkünden.
Noch bevor Frodo diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, war er los gerannt so schnell ihn seine Beine trugen. Blitzschnell war er um die Biegung gestolpert, zur Hintertür geeilt, hatte sie aufgeschlossen und war hinaus gestürmt. Er besaß gerade noch genug Geistesgegenwart, die Tür nicht zufallen zu lassen.
Er keuchte und lehnte sich schwer an die Tür, während seine Hände den Knauf mit zittrigen Fingern umklammerten. Doch hier war er nicht sicher. Erst hinter den Ställen konnte er sich ausruhen, in der Hoffnung, dass ihn niemand bemerkt hatte. Er sah sich kurz um, stürmte dann an den aufgestapelten Holzscheiten vorbei auf die Ställe zu. Schnell war er hinter deren Schatten verschwunden. Keuchend lehnte er sich an die Wand und legte eine Hand auf sein Herz, das pochte, als wolle es ihm aus der Brust springen.
Als er sich wieder beruhigt hatte, blickte er sich um. Merry war noch nicht da. Er schielte zurück zum Brandyschloss und hoffte, dass sie seinen Vetter nicht erwischt hatten, ebenso, wie er hoffte, dass er nicht erwischt worden war, schließlich konnte er nicht sagen, ob Hanna ihn gesehen hatte, oder nicht. Er lehnte sich an die Holzwand, blickte zum Himmel und beobachtete die Sterne. Grillen zirpten und in der Ferne schrie eine Eule ihren nächtlichen Ruf. An der Dachrinne des Stalles konnte er eine Spinne erkennen, die gerade eine Fliege in ihrem Netz einwickelte. Wo blieb nur Merry? Im innern des Stalles schnaubte ein Pony. Frodo wurde immer unruhiger. Wieder schielte er zum Brandyschloss zurück. Niemand, weder Merry, noch sonst jemand.
Beinahe hätte er aufgeschrieen, als ihn plötzlich jemand von hinten an die Schulter tippte. Erschrocken fuhr er herum. "Sh", wies Merry, der ungesehen aus der Dunkelheit getreten war, ihn zurecht. Erleichtert stieß Frodo die Luft aus, die er angehalten hatte. "Bist du bereit?", wollte sein Vetter wissen und wartete eine Antwort gar nicht erst ab, sondern stapfte in Richtung Straße davon.
"Wo warst du denn so lange?", fragte Frodo, als er neben seinem Vetter hereilte. Merry sah kritisch zurück zum Bockberg, wo aus einigen der Fenster des Brandyschlosses, ein warmer Lichtschein nach draußen drang. Zügig folgten sie der Straße nach Bockenburg. "Es hätte beinahe nicht geklappt. Erst war Papa in meinem Zimmer und hat mir erzählt, dass er einen Brief aus den Smials bekommen hat. Pippin wird frühestens in einem Monat kommen." Frodo nickte, ein wenig betrübt über diese Nachricht. "Es dauerte einige Zeit, bis er wieder ging und bis ich sicher sein konnte, dass er nicht zurückkommen würde", fuhr Merry fort. "Danach bin ich aber sofort raus geschlichen, nur um noch mehr Problemen entgegen zu laufen." Nun war es an Frodo sich umzublicken. Merrys Worte beruhigten ihn nicht sonderlich. Noch ehe er fragen konnte, was geschehen war, sprach Merry weiter. "Ich schlich durch die Gänge und ein Hobbit nach dem anderen kam mir entgegen. Haben die denn nach Einbruch der Dunkelheit nichts Besseres zu tun, als durch das Brandyschloss zu schleichen? Ich konnte mich aber verstecken. Ich bin in der Speisekammer verschwunden und habe gewartet, bis alles still war. Ich glaube nicht, dass mich jemand gesehen hat."
Frodo spürte, wie das ungute Gefühl in seiner Magengegend wieder die Oberhand gewann. Erneut wandte er sich um. Das Brandyschloss war nur noch ein dunkler Schatten in der Ferne. Es war bei ihm schon sehr knapp gewesen, doch das, was Merry ihm soeben berichtet hatte, ließ ihn noch unruhiger werden. Mit einem leisen Seufzen, zwang er sich dazu, seinen Blick wieder nach vorne zu richten. Um umzudrehen, war es bereits zu spät.
Es dauerte nicht lange, da tauchten die Lichter Bockenburgs vor ihnen auf. Merry grinste von einem Ohr zum anderen und rannte schließlich den Rest des Weges. Frodo folgte ihm. Vor dem Gasthaus angekommen, blieben sie stehen und warteten, bis sie wieder zu Atem gekommen waren. Fast andächtig blickten die jungen Hobbits auf das Schild, das an der Tür des alten, großen Holzhauses hing. "Zum Springenden Hecht", las Merry und das Grinsen in seinem Gesicht wurde noch breiter. "Wir haben es also geschafft." Frodo lächelte ebenfalls, als er die freudigen Stimmen aus dem inneren des Hauses vernahm und wechselte einen kurzen Blick mit seinem Vetter. Ja, sie hatten es geschafft. Dies war ihr Abend und niemand würde es jemals erfahren. Alle Zweifel beiseite werfend, drückt er die Klinke der Tür, die sich leise knarrend öffnete.
Laute Stimmen und Gelächter begrüßten sie. Die Hobbits blinzelten kurz. Ihre Augen mussten sich erst an das Licht im Gasthaus gewöhnen. Frodo und Merry blickten sich verwundert um, als hätten sie noch nie zuvor ein Gasthaus von innen gesehen. In gewisser Weise war es auch so, denn bisher waren sie immer mit einem Erwachsenen da gewesen, nie aber alleine und das ließ den Springenden Hecht zu einem ganz besonderen Gasthaus werden.
Frodo sah sich um. Er erkannte viele der Hobbits, unter ihnen leider auch Marroc. Seine Miene verfinsterte sich kurz, doch wollte er sich diesen Abend auch von Marroc nicht trüben lassen. Der Geruch von Bier, Pfeifenkraut, Käse und Lammwurst stieg ihm in die Nase, während er seinen Blick weiterhin durch das ganze Gasthaus schweifen ließ.
"Auf unser Wohl!" hörte Frodo eine Stimme sagen, die alle anderen übertönte. "Auf unser Wohl!" bestätigten mindestens sechs weitere Hobbits und schlugen die Bierkrüge aneinander. "Ich glaube hier gefällt es mir", sagte Merry mit leuchtenden Augen. Frodo nickte begeistert.
"Frodo?" Erschrocken fuhr er herum. Nelke stand mit einem verwunderten Ausdruck vor ihm. "Ich hätte nicht gedacht, dass noch jemand in meinem Alter hier sein wird." "Wir sind aber hier", erklärte Merry, "und bereit alles über das Fest der Tweens herauszufinden." "Es ist eigentlich gar nichts Besonderes", sagte Nelke und ein wenig Enttäuschung klang in ihrer Stimme mit. "Mein Bruder hat gesagt, der einzige Unterschied zu einem normalen Abend im Gasthaus, ist die Musik." Sie deutete in eine Ecke am anderen Ende des Raumes, wo einige junge Hobbits gerade dabei waren, ihre Instrumente auszupacken. "Allerdings läuft es jedes Jahr ein wenig anders ab, da in jedem Jahr andere Hobbits die Organisation übernehmen. Ihr müsst wissen, die Tweens kümmern sich selbst um den Ablauf ihres Festes."
An einem der Tische wurde ein Trinklied angestimmt. Frodo und Merry wandten sich um, um den Ursprung dieser schiefen Töne zu erkennen. "Keine Singstimme", erklärte Frodo trocken und verschränkte die Arme vor der Brust. "Alles andere hätte mich bei ihm auch gewundert." Merry kicherte in sich hinein, während er einen betrunkenen Marroc beim Singen und Tanzen beobachtete. "Gerade nett ist das nicht", meinte Nelke. "Warum?", wollte Merry wissen. "Er ist nicht nett zu uns, also sind wir auch nicht nett zu ihm. Außerdem hat Frodo Recht: wirklich gut singt er nicht." Nelke lächelte. Dem hatte sie nichts entgegenzusetzen.
"Nelke!" Das Hobbitmädchen erstarrte. "Das ist mein Bruder", erklärte sie dann. "Ich muss zu ihm. Er hat gesagt, da ich schon mit darf, müsse ich den ganzen Abend in seiner Nähe bleiben und dürfe nichts anstellen, sonst schickt er mich heim." Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, war sie auch schon in der Menge von Hobbits verschwunden.
"Da Lob ich mir doch unsere Freiheit", meinte Merry und wandte sich um, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Frodo kicherte, während sein Blick noch immer auf Marroc ruhte, der sich inzwischen unbeholfen wieder an den Tisch setzte. Neben ihm hörte er Merry scharf die Luft einziehen. Verwundert sah er seinen Vetter an, der aschfahl dastand und nach oben blickte. Er runzelte die Stirn und folgte seinem Blick. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
"Soweit ich weiß gibt es zumindest zwei Hobbits, die euch jetzt friedlich schlummernd in euren Betten vermuten", sagte Merimac. "Was habt ihr um diese Zeit noch hier verloren, wo euch mein Bruder doch ausdrücklich verboten hat, hierher zu kommen? Ich denke, es wird das Beste sein, wir drei gehen jetzt einfach nach Hause, und ihr werdet ihm das persönlich erklären." Merry schluckte schwer, als sein Onkel ihn nicht gerade vorsichtig am Arm packte und mit der anderen Hand nach Frodo griff. Kopfschüttelnd führte er die beiden Hobbits zur Tür und verließ mit ihnen das Gasthaus.
Frodo und Merry tauschten panische Blicke, während sie hinter Merimac herstolperten, der sie immer noch am Arm festhielt. "Onkel Merimac, es ist nicht wie du denkst", begann Merry. "Ach nein?", entgegnete Merimac und sah den Jungen scharf an. "Spart euch eure Erklärungen lieber für Saradoc."
Alleine bei der Nennung dieses Namens gefror Frodo das Blut in den Adern. Eine panische Angst beschlich ihn, Saradoc jetzt entgegen zu treten. Er versuchte, sich aus dem Griff Merimacs zu befreien, was nur dazu führte, dass dieser ihn fester packte. Frodo blickte zu ihm auf und fürchtete den wütenden Ausdruck auf seinem Gesicht. Selbst er war zornig. Wie würde dann erst Saradoc reagieren? Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Warum hatte er nicht auf sein schlechtes Gefühl gehört?
Merry hatte einen ängstlichen Ausdruck in den Augen, als er mit in Falten gelegter Stirn zu ihm herüber blickte. Hatte er sich überhaupt jemals Gedanken darüber gemacht, dass sie erwischt werden könnten, egal wie gut ihr Plan auch war? Frodo glaubte, in seinen Augen erkennen zu können, dass er das nicht hatte. Er selbst hatte es schließlich auch nicht getan, nicht wirklich. Sie waren sich ihrer Sache zu sicher gewesen.
Groß und dunkel tauchte das Brandyschloss vor ihnen auf. Frodo schluckte schwer. Nur mehr wenige Lichter brannten, doch eine der Lampen stach Frodo ins Auge. Sie bewegte sich. Jemand ging den schmalen Pfad entlang, erreichte die Straße und schlug den Weg nach Bockenburg ein. "Saradoc", flüsterte Frodo tonlos, als er die Konturen der Person erkannte. Er erstarrte und wäre am liebsten sofort umgedreht und davon gelaufen. Merry ging es nicht anders.
Saradoc hob die Lampe in seiner Hand hoch, sodass das Licht auf die drei Gestalten fiel, die auf ihn zukamen. Er wollte zum Fest der Tweens, wo er seinen Sohn und Frodo vermutete. Als Esmeralda spät abends noch einmal in Merrys Zimmer gegangen war, hatte sie entdecken müssen, dass das Bett leer war. Wut brachte in jenem Augenblick, da sie ihm davon berichtet hatte, sein Blut zum kochen, konnte er doch vermuten, dass Merry ihn für dumm verkauft hatte und trotz seines Verbots nach Bockenburg gegangen war.
Genau diese Wut konnte Frodo jetzt in den Augen des Herrn funkeln sehen und noch stärker als zuvor, verspürte er den Drang wegzulaufen. "Merry! Frodo!" alle Freundlichkeit schien aus seiner Stimme gewichen zu sein, als er sie erkannte. Frodo zuckte unmerklich zusammen. "Was fällt euch eigentlich ein?!" Saradoc brauchte keine Erklärung, um zu wissen, wo sie gewesen waren. Merimac, sein Bruder, war im Springenden Hecht gewesen, und wenn er mit den Jungen zurückkam, so waren sie das auch.
"Papa, es…", begann Merry, doch Saradoc stoppte ihn mit einer raschen Handbewegung. "Ich will kein Wort hören!" Er griff nach Merrys Arm und führte ihn zurück zum Brandyschloss, während Merimac ihm mit Frodo folgte.
Frodo fühlte sich undenkbar schlecht, als sie durch die Haupteingangstür ins Schloss zurückkehrten und ebenjene Gänge durchschritten, die er zu vor vermieden hatte. Mit gesenktem Kopf wich er den neugierigen Augen der Bewohner aus, während er in einen der westlichen Gänge geführt wurde, in das Arbeitszimmer des Herrn. Merimac verabschiedete sich von seinem Bruder und ließ ihn dann mit den Jungen alleine. Frodo blickte dem älteren Hobbit hinterher, als dieser die Tür schloss und wünschte sich sehnlichst, er wäre an seiner Stelle.
Merry und Frodo standen Seite an Seite, ihre Augen starr auf den Fußboden gerichtet, während Saradoc ungeduldig vor ihnen auf und ab ging. "Was fällt euch eigentlich ein?!" fragte Saradoc noch einmal mit einer Stimme, die alles andere, als freundlich war. Die Kinder zuckten zusammen. Saradoc stand nun vor ihnen und blickte auf sie herab. "Denkt ihr nicht, es hat einen Grund, weshalb ich euch etwas verbiete?" Merry sammelte all seinen Mut zusammen und antwortete: "Aber es war doch gar nicht so schlimm. Es war…" "Wie alt bist du, Meriadoc?", unterbrach Saradoc. Meriadoc. Der junge Hobbit schluckte. Wenn sein Vater ihn so nannte, war die Lage sehr ernst. "Zwölf", antwortete er leise und verzichtete darauf, hinzuzufügen, dass er in zwei Monaten dreizehn werden sollte. "Zwölf, genau", schlussfolgerte der Herr und seine Stimme klang ruhig, doch konnte er seinen Zorn nur schwer verbergen. "Und was haben deiner Meinung nach zwölfjährige Hobbits alleine im Gasthaus verloren?" Merry senkte den Kopf, schien förmlich zu schrumpfen, doch dann, mit dem letzten Bisschen, was von meinem Mut noch übrig war, sagte er: "Aber ich wollte doch nur…" Wieder ließ ihn Saradoc nicht ausreden, sondern fuhr ihn an. "Es ist mir egal was du… was ihr beide wolltet. Ich habe nein gesagt und ich verlange von euch, dass ihr diese Entscheidung akzeptiert." Er blickte die beiden Hobbits ernst an, begann dann wieder auf und ab zu schreiten, wobei er die Hände hinter dem Rücken verschränkte. "Wie kommt ihr überhaupt dazu, euch nach Sonnenuntergang aus der Höhle zu schleichen? Es ist nicht nur der Besuch im Gasthaus, den ich euch verbiete, es ist alles, was so ein Besuch mit sich bringt. Stellt euch vor, euch wäre auf dem Weg nach Bockenburg etwas geschehen? Wer hätte euch helfen können? Wer hätte überhaupt gewusst, wo ihr seid? Wäre deine Mutter nicht noch einmal in dein Zimmer gegangen, würden wir nicht einmal wissen, dass du weg bist!" Saradoc holte einmal tief Luft und blieb dann wieder vor den Jungen stehen. Beide vermieden es noch immer, vom Fußboden hochzusehen. Saradoc wandte sich um, setzte sich in seinen Sessel und legte die Hände auf den Schreibtisch. "Sagt mir, wie soll ich euch bestrafen?" Frodo und Merry hoben gleichzeitig die Köpfe und blickten ihn verwundert an. Saradoc kämpfte gegen seine Wut an und fuhr mit ruhiger Stimme fort. "Ihr wisst, weshalb ich euch nicht gehen ließ und ihr wisst auch, vermutlich noch besser, als ich, was ihr getan habt. Also würde ich nun gerne wissen, wie ihr handeln würdet, wäret ihr an meiner Stelle. Wie würdet ihr euch selbst bestrafen?" Die jungen Hobbits tauschten einen überraschten Blick, senkten dann aber wieder die Köpfe und antworteten nicht. Saradoc erhob sich. "Da euch scheinbar nichts einfällt, werde ich euch nun meine Strafe verkünden, denn ich denke, ihr werdet beide einsehen, dass ich euch bestrafen muss." Es folgte eine kurze Pause und Frodo fragte sich, ob Saradoc darauf wartete, dass sie ihm darauf antworteten. Doch dann fuhr er fort. "In vier Tagen beginnen die Lithe-Feiertage. Drei Tage voller Fröhlichkeit, Feierlichkeiten und Vergnügen. Für euch werden es drei Tage voller Arbeit sein. Auf solchen Feierlichkeiten wird bekanntlich eine Menge gegessen, und wo etwas gegessen wird, gibt es auch Geschirr. Und genau dafür werdet ihr verantwortlich sein. Jeder Teller, jeder Becher, jedes Besteckstück wird nach diesen drei Tagen blitzblank wieder in den Kästen liegen. Habt ihr mich verstanden?" Keine Antwort. Merry hatte zwar den Mund geöffnet, um zu protestieren, doch kein Ton verließ seine Lippen, als er das wütende Funkeln in den Augen seines Vaters sah. In seiner Stimme mochte Saradoc seine Wut vielleicht unterdrücken können, doch nicht in seinem Blick. "Habt ihr mich verstanden?", fragte der Herr von Bockland noch einmal streng. Die Hobbits nickten schwach und warteten darauf, dass er sie gehen ließ, warteten darauf, dass diese Qual ein Ende nahm. Saradoc trat wieder vor die Kinder, doch noch immer wollte keiner der Hobbits den Kopf heben oder ihm irgendetwas sagen. "Geht jetzt in eure Zimmer. Vor dem Frühstück will ich euch nicht mehr sehen!" Merry und Frodo machten auf dem Absatz kehrt und verließen das Zimmer, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Frodo wollte gerade die Türe hinter sich schließen, als er erneut die Stimme des Herrn vernahm. "Frodo!" der Tonfall war noch immer kühl, keineswegs freundlicher als bisher. Der junge Hobbit erstarrte und schnappte nach Luft. Vorsichtig öffnete er die Tür wieder ganz, blickte aber nicht auf. Er konnte Saradoc jetzt nicht in die Augen sehen. "Deine Decke fühlt sich während der Sommermonate im Schrank sehr viel wohler, als in deinem Bett!" Frodo nickte zögernd, rührte sich aber nicht, sondern wartete darauf, dass Saradoc ihn gehen ließ.
Als er schließlich die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er erleichtert auf. Merry sah ihn mit traurigen Augen an. Er erwiderte seinen Blick, senkte dann aber erneut den Kopf. Stumm trennten sich die beiden Hobbits voneinander und gingen in ihre Zimmer.
Wortlos nahm Frodo die Decke, die er zuvor unter seiner Bettdecke platziert hatte, wieder hervor und verstaute sie im Schrank. Traurig ließ er sich dann auf sein Bett sinken und blickte auf das Bild seiner Eltern. Dieses Mal war es kein Blick mit dem er hoffte, ihr Einverständnis zu erlangen, dieses Mal bat er sie um Verzeihung. Er schloss für einen Moment die Augen, ehe er sich sein Hemd aufknöpfte und in sein Nachthemd schlüpfte. Auf Zehenspitzen, genau wie er es verlassen hatte, schlich er zurück in sein Bett, warf sich die Decke über den Kopf und dachte noch lange über den vergangenen Abend und Saradocs Worte nach.
Kapitel 40: Pilze am Spieß
Lithe-Feiertage 1384 AZ
Frodo verzog das Gesicht, als er nach einem weiteren Teller griff und ihn in das seifige Wasser tauchte. Er würde dieses Gefühl nie wieder loswerden. Seine Finger würden für den Rest seines Lebens aufgeweicht bleiben. Missmutig krempelte er seinen rechten Ärmel, der heruntergerutscht war, wieder hoch. Er warf einen wütenden Blick in Saradocs Richtung. Der Herr von Bockland unterhielt sich gerade mit einigen Hobbits, wobei er einen Bierkrug in der rechten Hand hielt. Er selbst stand unter dem Dach eines kleinen Zeltes, vor einer großen Holzwanne voller Wasser. Zu seiner Rechten stapelte sich das schmutzige Geschirr, angefangen von Tellern und Bierkrügen, bis hin zu Kochtöpfen und Pfannen. Links neben ihm war ein Tisch platziert worden, wo er das abgewaschene Geschirr hinstellte, welches Merry dann abtrocknete, um es auf einen weiteren Tisch zu legen, wo es gelegentlich von Esmeralda oder einem anderen Hobbit abgeholt wurde. Frodo vermutete, dass die Pfannen und Töpfe auf einen kleinen Wagen geladen und später zurück zum Brandyschloss gebracht wurden, während man Teller und Gläser wieder hinunter zum Fluss trug, dort wo sich auch das ganze Essen befand. Während der Feiertage verbrachte man die Zeit immer am Fluss, nahe der Fähre. Von da aus war es kein weiter Weg zurück zum Brandyschloss oder nach Bockenburg und wenn es besonders heiß werden sollte, konnte man in den Fluss springen und sich eine Abkühlung verschaffen. Letzteres war vor allem für die Kinder gedacht.
Für alle Kinder, außer für Frodo und Merry. Sie waren inzwischen den dritten Tag in Folge damit beschäftig, das schmutzige Geschirr wieder zu sauberem zu machen und waren nur am Mittjahrstag für einen Nachmittag von ihrer Arbeit befreit worden. Es war keine leichte Arbeit und noch dazu eine, die mit der Zeit unerträglich langweilig wurde. Außerdem hatte Frodo inzwischen das Gefühl, seine Finger nicht mehr spüren zu können, so schrumpelig und aufgeweicht waren sie geworden.
"Können wir nicht tauschen?", fragte er und wandte sich Merry zu, der gerade einen der Krüge mit einem Tuch trockenrieb. Merry schüttelte den Kopf. "Mir gefällt dieser Teil der Arbeit besser." "Ich würde aber auch gerne einmal den angenehmeren Teil der Arbeit erledigen." Mit diesen Worten ging Frodo um den Tisch herum und entriss Merry das Tuch. "Du spülst!" verkündete er dann und griff nach einem nassen Teller. Merry grummelte in sich hinein, krempelte sich dann aber ebenfalls die Ärmel hoch und wendete sich missmutig einer Pfanne zu.
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Stunden vergingen. Inzwischen war es früher Nachmittag geworden und Saradoc hatte den jungen Hobbits eine Pause gegönnt. Diese nutzten sie, um eine Mahlzeit einzunehmen. Dösend saßen sie in der Sonne am Flussufer; hinter ihnen die lauten Unterhaltungen der Hobbits auf den Festbänken, vor ihnen das friedliche Plätschern des Flusses. Frodo stocherte in seinem Teller mit Kartoffeln und Hühnerflügeln herum. Warum konnten die Feiertage nicht schon vorüber sein? Missmutig rieb er mit dem Daumen über die restlichen Finger. Nach diesen drei Tagen würde er nie wieder spülen. Nicht so lange er noch im Brandyschloss lebte und erst recht nicht, wenn er ausgezogen war und eine eigene Familie gegründet hatte. Seine Frau konnte spülen, er nicht. Merry hatte seinen Teller inzwischen zur Seite gestellt und sich ins Gras gelegt. Frodo aß noch eine Kartoffel und tat es ihm dann gleich. "Denkst du, wir bekämen noch mehr Ärger, wenn wir uns jetzt wegschlichen?", wollte Merry wissen, dem das Spülen von Geschirr nicht mehr zusagte, als Frodo. Dieser sah ihn entgeistert an. "So hat das Ganze angefangen. Ich denke nicht, dass es sehr hilfreich sein würde, wenn es darum geht dieser Sache ein Ende zu setzen."
Merry seufzte und beobachtet die Wolken, die über ihnen vorbei zogen. Inzwischen war er ziemlich wütend auf seinen Vater. Hätte er sich nicht eine bessere Strafe ausdenken können? Er wandte sich um, als freudiges Gelächter an sein Ohr drang. Nicht weit von ihnen entfernt, sprangen gerade einige der Kinder aus dem Brandyschloss in den Fluss. Wie gern wäre er jetzt unter ihnen.
"Merry? Frodo? Wo bleibt ihr denn?", es war Saradoc, der nach ihnen rief. "Hier gibt es eine Menge Geschirr, das noch auf euch wartet." Merry sah wütend den Hang hinauf, wo er seinen Vater im Licht der Sonne stehen sah, ehe er grummelnd wieder auf die Beine kam. Sein Vetter klopfte sich einige Grashalme von der Hose. "Wenn das Geschirr wartet, soll er doch selbst zu ihm gehen!" murrte Merry, griff nach seinem Teller und lief zurück nach oben.
Wieder ging alles von vorne los. Frodo spülte die Teller und Merry trocknete sie, bis sie, irgendwann im Laufe des Nachmittages, ihre Plätze tauschten. "Ich hasse das!" murrte Merry und warf den Lappen, mit dem er die Teller abwusch schwungvoll ins Wasser. "Das hättest du dir vorher überlegen müssen", erklärte Saradoc, der plötzlich vor den Hobbits aufgetaucht war. Merry entgegnete nichts, sah seinen Vater aber wütend an. Frodo griff nach einem Teller und rieb ihn geistesabwesend trocken, während seine Augen ebenfalls auf dem Herrn von Bockland ruhten. "Hört auf, mich so anzusehen!" verlangte dieser streng. "Ihr wusstet genau, dass es falsch war und seid trotzdem nach Bockenburg gegangen. Nun müsst ihr euch zusammenreißen und für die Konsequenzen gerade stehen." "Und was, wenn mir die Konsequenzen nicht gefallen?", wollte Merry starrköpfig wissen. Frodo sah ihn mit erschrockenen Augen an. Er war auch wütend, doch Saradoc jetzt auch noch zu reizen, konnte zu einem schlimmen Ende führen. Saradoc sah seinen Sohn ernst an, ließ aber seinen Blick auch kurz zu Frodo gleiten. "Dann wirst du in Zukunft meine Entscheidungen respektieren müssen." Merry sagte nichts, sah seinen Vater aber weiterhin zornig an. Dieser erwiderte seinen Blick. Frodo glaubte, er könne Funken erkennen, die zwischen Vater und Sohn hin und her flogen. Konnte Merry nicht einfach nachgeben? Er würde alles nur noch schlimmer machen. "Hör auf, mich so anzusehen, Meriadoc, oder ich werde euch einen weiteren Tag spülen lassen", drohte Saradoc und deutete mit einer Handbewegung auf das Geschirr, "denn ich denke nicht, dass heute Abend alles sauber sein wird." "Merry!" Frodo konnte sich nicht zurück halten. Sein Vetter musste wieder zur Vernunft kommen. Sofort! Merry wandte den Blick ab und grummelte in sich hinein. Saradoc sah Frodo an: "Immerhin einer scheint mich verstanden zu haben."
"Bist du wahnsinnig geworden?", fuhr Frodo ihn an, als Saradoc gegangen war. Den Teller hatte er inzwischen zur Seite gelegt, doch das Tuch hielt er noch immer in der Hand. "Ich konnte nicht anders", entgegnete Merry angefressen und blickte seinem Vater hinterher. "Ich hasse diese Arbeit!" "Ich auch", meinte Frodo, "aber deswegen lasse ich mich nicht auf solch eine Diskussion ein. Du weißt genauso gut, wie ich, dass er, wenn es um Bestrafungen geht, nicht locker lässt." Merry nickte und griff missmutig wieder nach dem Lappen. "Ich hasse sie trotzdem", murrte er und tastete nach einer Pfanne. Frodo schüttelte den Kopf. Sein Vetter brauchte dringend eine Ablenkung. Für einen Augenblick zeigte sich ein schelmisches Grinsen in seinem Gesicht. Mit einer schnellen Bewegung ließ er das Tuch fallen, rannte um den Tisch, huschte an Merry vorbei, tauchte die Hände in das Spülwasser und spritzte seinen Vetter damit nass. Merry starrte ihn entgeistert an. Frodo grinste von einem Ohr zum anderen, und ging bereits wieder um den Tisch herum, wo er nach seinem Tuch griff und nach einem weiteren Teller tastete, den es abzutrocknen galt. Doch dazu kam er nicht. Merry hatte inzwischen seinen Lappen in das Wasser getaucht und schleuderte diesen nun nach seinem Vetter. Frodo hatte nichts anderes erwartet und warf den Lappen zurück. Unter einigem Gelächter und Gekicher wurden nasse Tücher hin und her geworfen, bis beide Hobbits, in nun recht feuchten Kleidern, wieder an die Arbeit gingen, da sie Saradoc entdeckten, der nicht sehr erfreut zu ihnen herüberschielte.
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Es wurde Abend in Bockland. Fast zwei Monate waren seit den Lithe-Feiertagen vergangen. Frodo und Merry hatten in diesem Sommer viel zu arbeiten. Viele Wochen lang hatten sie sich um die Schweine gekümmert und auf den Feldern geholfen. Doch gab es auch Tage ohne Arbeit; Tage an denen sie zum Fluss hinunter gingen, ausritten oder es sich unter ihrem Apfelbaum im Bruch gemütlich machten. Selten waren sie dann vor Sonnenuntergang im Brandyschloss anzutreffen. An diesem Tag aber, war das anders. Viele der Hobbits arbeiteten noch auf den Feldern, als Merry und Frodo das Flussufer verließen und den Heimweg antraten. Pippin sollte zu Besuch kommen und seine Ankunft wollten sie auf keinem Fall verpassen.
Rasch eilten sie über die frisch abgemähten Wiesen, vorbei an einigen der letzten Heumahden, die noch eingesammelt werden mussten. Marmadas hatte sich dieser Arbeit angenommen und Frodo grüßte ihn freundlich, als er an ihm vorüber ging.
Von weitem schon, sahen sie, dass ein Wagen vor dem Brandyschloss stand. Merry war nicht mehr zu bremsen und stürmte voraus. "Merry!" rief Pippin freudig, sprang vom Wagen herunter und seinem Vetter entgegen. Er umarmte ihn stürmisch und fiel schließlich auch Frodo um den Hals.
Paladin war mit seinem Sohn gereist und hatte gerade Saradoc begrüßt, als Pippin davon gerannt war. Er lächelte und warf seinem Schwager einen vielsagenden Blick zu. "So sind sie also wieder vereint, die drei Quälgeister!" Saradoc lachte laut, klopfte dem Thain auf die Schulter und führte ihn in die Höhle, während sich Merimac um das Pony kümmerte.
Wie jedes Mal, wenn sie sich trafen, gab es einen riesigen Tumult beim Abendessen, da keiner der drei Vettern still sein konnte, doch Saradoc und Paladin ließen sie ausnahmsweise gewähren. Gleich nachdem sie gegessen hatten, trafen sich die jungen Hobbits in Merrys Zimmer. Er hatte das größere Zimmer als Frodo und musste es, im Gegensatz zu Pippin, nicht mit seinem Vater teilen. Merry hatte eine Lampe angezündet und außerdem einige Kerzen auf das Regal gestellt, als Frodo hereinlugte. Er hatte, genau wie seine Vettern, nur sein Nachtgewand an und kletterte sogleich in Merrys Bett, um es sich zwischen seinen Vettern, die bereits in eine übermütige Unterhaltung vertieft waren, gemütlich zu machen. Aus Pippin sprudelten die Worte nur so heraus. "… und…", er wandte sich an Frodo, "erinnerst du dich noch an Hildibrand?" Frodo nickte. "Er und Asphodel haben jetzt geheiratet. Er hat Perle niemals geküsst", Pippins Stimme klang ein wenig enttäuscht. Frodo lächelte kopfschüttelnd. "Ich wusste es doch! Du hast mich ganz umsonst einen halben Tag lang auf dem Heuboden sitzen lassen, nur um mich anschließend auch noch zu Tode zu erschrecken." Pippin senkte beschämt den Blick, bei der Erinnerung daran, wie er vor anderthalb Jahren beinahe vom Heuboden gefallen wäre, während er gemeinsam mit Frodo Hildibrand beobachtet hatte. Merry sah fragend von einem zum anderen und wollte sofort über die Ereignisse aufgeklärt werden.
Während Pippin und Frodo ihm davon berichteten, fiel Merry plötzlich ein, dass er Pippin sein Geschenk noch immer nicht gegeben hatte. Erst vor wenigen Tagen hatte er seinen dreizehnten Geburtstag gefeiert und dabei auch ein Geschenk für Pippin zur Seite gelegt, wohl wissend, dass sein Vetter bald zu Besuch kommen würde. Schnell sprang er von seinem Bett und kramte, unter den verwunderten Blicken seiner Vettern, in seinem Schrank eine Schreibfeder hervor, die er Pippin stolz präsentierte. "Ich habe mir gedacht, das wäre das richtige Geburtstagsgeschenk für dich", erklärte er, als er die Feder seinem Vetter reichte. "Jetzt, wo du alle Buchstaben schreiben kannst, kannst du sie bestimmt gebrauchen." Frodo lächelte in sich hinein, als Pippin Merry freudig um den Hals fiel und versprach, ihm ganz viele Briefe zu schreiben, sobald er seine Buchstaben besser beherrschte.
Es war schon spät in der Nacht, als Paladin an die Tür klopfte und nach seinem Sohn verlangte. Missmutig trennte sich Pippin von seinen Vettern und wünschte ihnen eine gute Nacht. Er wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als Saradoc auf ihn zukam, um seinen Gästen ebenfalls einen angenehmen Schlaf zu wünschen. Frodo wurde in sein Zimmer geschickt und so kehrte langsam Ruhe ein im Brandyschloss, während die nächtlichen Schatten länger wurden.
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Am nächsten Morgen hatten sich die drei jungen Hobbits gleich nach dem Frühstück verabschiedet. Sie wollten zum Bruch. Frodo und Merry verbrachten über die Sommermonate viele Stunden auf der anderen Seite des Flusses und dachten, es wurde Zeit Pippin auf ihre Erkundungstouren mitzunehmen. Pippin war überglücklich. Alleine die Tatsache, dass er die Bockenburger Fähre benutzen durfte, ließ ihn übermütig werden. Bisher war er immer nur über die Brandyweinbrücke nach Bockland gekommen und die Fähre schien ihm eine willkommene Abwechslung. Als es dann allerdings soweit war, er auf dem Steg stand und die Fähre hätte besteigen sollen, schien er doch etwas unruhig zu werden. "Und ihr seid sicher, dass ihr uns heil ans andere Ufer bringen werdet?", fragte er unsicher, blickte seine Vettern an und kniff dann die Augen zusammen, um die Entfernung zum anderen Ufer besser abschätzen zu können. Der Fluss war breiter, als er gedacht hatte. Frodo und Merry nickten ihm aufmunternd zu und sprangen auf die Fähre, wo Frodo sich sogleich daran machte, die Taue zu lösen. "Komm schon, Pip! Wir passen auf dich auf", meinte er mit einem Lächeln und hielt ihm die Hand hin. Pippin sah ihn kritisch an. "Ich habe keine Angst, Vetter Frodo, solltest du mit diesem Grinsen darauf anspielen." Frodo schüttelte den Kopf. Pippin beäugte ihn noch einen Augenblick und betonte noch einmal, dass er keine Angst habe, ehe er nach Frodos Hand griff und zögernd auf die Fähre trat. Kaum war er oben, stieß Merry mit einem langen Bootshaken ab.
Obschon die Fähre gemächlich über das Wasser zog, war Pippin froh, als er das andere Ufer erreichte und wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Verwundert sah er sich um, während Frodo und Merry das Fährenboot vertäuten. Neben dem Holzsteg auf dem sie sich befanden, dicht am Flussufer, standen weiße Posten an denen Lampen hingen. Vor ihnen lag ein breiter, gerader Weg, der mit weiß angestrichenen Steinen gesäumt war. "Das ist der Fährweg", erklärte Frodo und hielt Pippin seinen Rucksack hin, den er auf dem Fährenboot hatte liegen lassen. "Er führt hinauf zur Landstraße." "Und genau dahin werden wir jetzt gehen!" fuhr Merry fort, schulterte seinen Rucksack, der mit belegten Broten gefüllt war, und ging voraus.
Es dauerte nicht lange, da waren sie auf der Landstraße angekommen und wandten sich nach Süden. Bald darauf hatten sie den Apfelbaum erreicht, unter dessen dicken Ästen Frodo und Merry so oft saßen. Frodo lehnte seinen Rucksack an den Stamm und kletterte sogleich hinauf. Merry folgte ihm. Pippin zögerte einen Augenblick, tat es seinen Vettern dann aber gleich. "Und was macht ihr hier oben?", wollte Pippin wissen, der sich nach einiger Zeit gelangweilt auf einen Ast setzte und die Füße baumeln ließ. "Wir sehen den Leuten bei der Arbeit zu", erklärte Merry, kletterte zu seinem Vetter und setzte sich neben ihn auf den Ast. Frodo pflückte sich einen Apfel, setzte sich auf der gegenüberliegenden Seite hin und lachte. "Entweder das, oder Merry heckt irgendeine Dummheit aus." "Ich?", rief Merry entgeistert. "Soweit ich mich erinnern kann, kommst du mindestens genauso oft auf dumme Ideen." Pippin kicherte in sich hinein, woraufhin seine Vettern ihn verwirrt ansahen. "Ich bin sicher, keiner von euch kann es mit mir aufnehmen, wenn es um Dummheiten geht!" verkündete er dann stolz. Frodo zog eine Augenbraue hoch und biss in seinen Apfel. "Meinst du?", wollte Merry wissen. "Dann nenne uns doch deine nächste Dummheit, Peregrin Tuk, und wir werden bestimmen, ob sie dumm genug ist, dass sich auch ein Brandybock und ein Beutlin daran beteiligen können, ohne sich schämen zu müssen." Pippin nickte zufrieden, griff nach dem Ast über sich und zog sich wieder auf die Beine. Neugierig blickte er in alle Richtungen und deutete schließlich nach Süden. "Was ist das für ein Hof?" Frodo brauchte gar nicht erst aufzustehen und nachzusehen, um zu wissen, wessen Hof das war. "Bauer Maggots", sagte er finster. "Maggot?", wiederholte Pippin und zog fragend eine Augenbraue hoch. "Ich denke, auf seinen Feldern wächst bestimmt etwas Leckeres, etwas wie…", er überlegte einen Augenblick, "… Pilze!" "Die Besten im ganzen Auenland!" rief Merry sogleich und rieb sich den Bauch. Ein schelmisches Grinsen erschien auf Pippins Gesicht. "Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich hätte großen Appetit auf Pilze." Merry grinste, wurde dann aber ernst. "Deine Ideen sind gut, werter Vetter. Gut genug für einen Brandybock um sich dir anzuschließen." Pippin grinste zufrieden und wollte sich schon daran machen, wieder vom Baum hinunter zu klettern, als sich Frodo einschaltete, der ungewöhnlich still geworden war. "Ein Brandybock mag das vielleicht tun, aber ein Beutlin nicht." "Komm schon, Frodo, du liebst Pilze!" drängte Pippin. Frodo schüttelte den Kopf. "Nicht die von Bauer Maggot." Pippin sah ihn verwundert an und Merry erklärt knapp, dass Frodo einmal erwischt worden war. "Das ist Jahre her!" sagte der junge Brandybock dann. "Maggot wird es inzwischen längst vergessen haben."
Jahre. Frodo schluckte. "In wenigen Tagen werden es vier Jahre sein", sagte er dann leise und ein Zittern durchlief ihn, bei der Erinnerung daran. War es tatsächlich schon vier Jahre her, dass er das letzte Mal mit Merry zu Maggots Hof gegangen war? War er bereits vor so langer Zeit von dem Bauer verprügelt und von den Hunden gejagt worden, bis er geglaubt hatte, keine Luft mehr zu bekommen? War es so lange her, dass er auf das Ufer das Brandywein zugelaufen war, als sein Blick…
Seine Finger klammerten sich an dem Ast fest auf dem er saß und er zuckte zusammen, als Merry ihm eine Hand auf die Schulter legte. Sein Vetter war zu ihm herüber geklettert und sah ihn aus besorgten Augen an. Frodo senkte den Kopf und umklammerte den Ast nun mit beiden Händen. Der angebissene Apfel war ihm wohl aus den Fingern geglitten, denn nun lag er im Gras unter ihm. Er holte tief Luft und schluckte erneut, als er Tränen in sich aufsteigen spürte.
Blitzschnell kletterte er dann vom Baum herunter, griff nach dem Apfel, den er lange betrachtete, ehe er sagte: "Es ist mir gleich, wie lange es her ist, oder ob Maggot oder seine Hunde es bereits vergessen haben. Ich habe es nicht vergessen und ich werde euch nicht begleiten. Meinetwegen kann ich hier, oder bei der Fähre, auf euch warten, aber zu Maggots Hof komme ich nicht mit."
Merry und Pippin warfen sich fragende Blicke zu, ehe auch sie herunter kletterten. Merry überlegte einen Augenblick, wobei er zum Himmel blickte. Es war kurz nach Mittag. "Also gut", sagte er dann. "Pippin und ich kümmern uns um die Pilze. Du wirst Feuerholz sammeln. Anschließend treffen wir uns wieder hier und nehmen ein zünftiges Mahl zu uns." Frodo nickte. "In Ordnung. Ich werde sehen, ob ich sonst noch etwas Brauchbares finden kann."
Kurz darauf trennten sich die Hobbits. Merry und Pippin gingen nach Süden, während Frodo nach Westen ging. "Vier Jahre", wisperte er, während er durch die Wiesen stapfte. Er schüttelte den Gedanken ab. Jetzt war nicht die Zeit darüber nachzudenken. Er wollte nicht traurig sein. Fieberhaft überlegte er, was ihn von den Gedanken an seine Eltern abbringen konnte. Pippin! Pippin war hier und dieser sah es gar nicht gerne, wenn jemand traurig war. Außerdem schaffte es Pippin immer wieder ihn aufzumuntern, ganz gleich wie betrübt er war. Es war eigentlich ganz leicht. Wenn er sich jetzt beeilte, war er bald wieder unter dem Apfelbaum und konnte mit seinen Vettern gemütlich Pilze grillen. Kaum hatte er diesen Entschluss gefasst, begann er zu rennen. Frodo brauchte nicht lange zu laufen, da tauchte vor ihm ein Hof auf. Ein Hof ohne Hunde, wie Frodo ganz genau wusste, denn Maggot war der einzige Hobbit, der Hunde hielt. Vor dem Holzhaus, das einer Hobbithöhle sehr ähnlich sah, waren Holzscheite aufgestapelt. Genau das, was er suchte.
Er duckte sich, versteckte sich so im hohen Gras und sah sich verstohlen um. Niemand war zu sehen, was ihn doch ein wenig verwunderte. Dennoch schlich er blitzschnell zu den Holzscheiten und packte einige davon in seinen Rucksack. Er keuchte, als er diesen wieder schulterte, da er nun um einiges schwerer geworden war, und rannte davon. Als er wieder ein wenig Abstand zwischen sich und das Haus gebracht hatte, hielt er inne und versteckte sich erneut im Gras. Wo ein Haus war, da musste auch ein Garten sein und schließlich wollte er nicht mit leeren Händen zurückkehren. Er sah sich um und schlich dann, mit einigem Abstand, wieder an das Gebäude heran. Dieses Mal wollte er jedoch die hintere Seite des Hauses begutachten. Auch dort wurde er schnell fündig. Nicht weit der Hintertüre war ein kleiner Gemüsegarten angelegt worden und auch dieser schien zurzeit unbewacht. Nichtsdestotrotz sah Frodo sich noch einmal um, ehe er auf den Garten zu schlich und drei Karotten herauszupfte. Auch zwei Tomaten fanden Platz in seinem Rucksack und… "Was machst du da?!" die wütende Stimme der Bäuerin ließ Frodo hochfahren und auf der Stelle davon laufen. "Verschwinde aus meinem Garten, du kleiner Halunke!" Die Bäuerin stapfte aus der Hintertür und rannte, mit dem Kochlöffel in der rechten Hand, schimpfend hinter Frodo her, erreichte ihn jedoch nicht, denn er war zu schnell.
Keuchend ließ sich Frodo schließlich ins Gras fallen, als er das Schimpfen der Bäuerin, die schon lange wieder umgedreht hatte, nicht mehr hören konnte. Das war knapp gewesen. Ein Glück, dass Maggot der einzige Bauer mit Hunden war. Maggot. Dieser Name erinnerte ihn wieder an Merry und Pippin. Wie es den beiden wohl ergangen war? Schnell schulterte er seinen Rucksack, denn dazu war er bei seiner plötzlichen Flucht nicht mehr gekommen, und eilte zurück zum Apfelbaum.
Merry und Pippin kamen gerade angerannt, als er sich an den Stamm des Baumes lehnte, seinen Rucksack öffnete und seine Beute begutachtete. "Wie ist es euch ergangen?", wollte er wissen. Pippin lachte, noch immer begeistert von dem, was er gerade erlebt hatte. "Einen gefährlichen Bauer habt ihr hier! Und erst die Hunde! Aber wir sind ungesehen entkommen." "Auch wenn ich glaube, dass die Hunde ganz genau wussten, dass wir hier waren", erklärte Merry. "Das war ein Gekläff!" "Das hatte ich vermutet", meinte Frodo mit einem Lächeln, ließ seinen Blick aber dennoch unsicher nach Süden wandern, ehe er zu wissen begehrte, ob sein Vettern dennoch hatten Pilze sammeln können. Als die beiden nickten, fuhr er zufrieden fort. "Ich habe uns auch noch eine Kleinigkeit mitbringen können. Drei Karotten und zwei Tomaten." Er setzte einen entschuldigenden Blick auf. "Es wären drei geworden, aber die Bäuerin kam etwas zu früh aus der Hintertür gerannt. Also muss einer von uns wohl auf Tomaten verzichten." "Ich denke, dass wirst du sein", entschied Pippin. "Ja genau", stimmte Merry zu. "Du hast eine Tomate zu wenig gebracht, also wird es für dich nur Pilze und Karotten geben." Frodo sah seine Vettern ernst an. "Ich denke, da ich alleine unterwegs war, steht es mir durchaus zu, eine Tomate zu essen. Ihr wart schließlich zu zweit bei Maggot und habt nur ein paar Pilze mitgebracht, wogegen ich mich um Karotten, Tomaten und Feuerholz gekümmert habe!" "Können wir das bitte beim Essen klären?", unterbrach Pippin die Diskussion mit einem flehenden Gesichtsaudruck. "Ich habe Hunger!"
Das genügte um die anderen beiden daran zu erinnern, dass sie seit dem zweiten Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatten und das, obwohl es inzwischen schon bald Zeit für den Vier-Uhr-Tee gewesen wäre. Schnell hatte Frodo mit dem Holz, das er gesammelt hatte, und Merrys Zündhölzern ein Feuer entfacht. Merry war zum Fluss hinunter geeilt, wo er das Gemüse gewaschen hatte, während Pippin auf den Apfelbaum geklettert war und einige dünne Zweige abgerissen hatte, auf denen sie nun die Pilze aufspießten und über das Feuer hielten. Jeder gönnte sich als Beilage eine Karotte und auch die Tomaten wurden brüderlich geteilt. Es war ein köstlicher Schmaus!
Den Rest des Nachmittages verbrachten die Hobbits lachend und dösend unter dem Apfelbaum, wobei sie immer wieder einen der Pilze über dem Feuer grillten. "Du hast Recht, Merry!" meinte Pippin schließlich, noch immer genüsslich kauend. "Ich glaube, das hier sind wirklich die besten Pilze im ganzen Auenland." Merry grinste zufrieden und schob sich den letzten Bissen seiner Karotte in den Mund, während Frodo nach dem letzten Pilz griff. Pippin entriss ihm den Leckerbissen wieder und stieß seinen Ast hindurch, um ihn in die Glut zu halten. "Was soll das?!" wollte Frodo wissen. Pippin sah ihn ernst an. "Dir schmecken Maggots Pilze nicht." Frodo sah ihn entgeistert an. "Du hast es selbst gesagt", verteidigte sich sein Vetter. "Also solltest du den letzten Pilz mir überlassen, denn ich weiß ihn zu schätzen. Aus dem Besten Anbau im ganzen Auenland!" Während Pippin noch lobpreiste, kam Merry an ihn herangeschlichen und nahm ihm den Ast mitsamt Pilz weg. "Ich wusste das allerdings schon vor dem heutigen Tag, also gebührt der letzte Pilz mir!" Mit diesen Worten nahm Merry den Pilz vom Ast und verspeiste ihn. Frodo und Pippin sahen ihn entgeistert an. "Gieriger Brandybock!" brüllte Pippin plötzlich und warf sich auf seinen Vetter. Frodo, der auf der anderen Seite der Glut saß, sah den beiden kopfschüttelnd zu, zog heimlich einen weiteren Pilz aus seiner Hosentasche und hielt diesen ungesehen in die Glut.
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Pünktlich zum Abendessen waren die jungen Hobbits wieder im Brandyschloss. Ihr eigenes kleines Mahl am Nachmittag behielten sie für sich und, um sicher zu gehen, dass keine Zweifel bei ihren Eltern aufkamen, langten sie kräftig zu, als Esmeralda ihnen Kümmelkuchen servierte.
Kapitel 41: Erinnerungen
"Kalt!" Die Stimme des sechsjährigen Jungen war kaum mehr, als ein Wispern. Er schlotterte am ganzen Körper und kuschelte sich enger in seinen dunkelblauen Umhang. Drogos rechte Hand strich sanft über die dunklen Locken seines Sohnes, als er ihm die Kapuze über den Kopf zog. Gleichzeitig schwang er seinen eigenen Umhang nach vorne und wickelte den Jungen darin ein, ehe er erneut nach den Zügeln griff, sie jetzt jedoch etwas lockerer ließ, schnalzte und sein Pony zur Eile trieb. Frodo lehnte sich in die kräftigen Arme seines Vaters zurück, als der Wind ihm eisig ins Gesicht peitschte und seinen Wangen ein gesundes Rot verlieh. Das gefrorene Gras unter den Hufen des Ponys knisterte, während es an den Ufern des Brandyweins entlang trabte. Frodo blickte staunend zu den Bäumen, die den Weg zu ihrer Rechten säumten. Kahl und dunkel waren sie, wirkten beinahe bedrohlich. Das Kind kauerte sich ängstlich an seinen Vater, wandte dann den Blick ab und ließ seine Augen auf dem plätschernden Fluss zu ihrer Linken ruhen. "Milo hat gesagt, dass das Wasser zu Eis wird, wenn es noch lange so kalt ist", erklärte er dann und wandte sich zu seinem Vater um. Drogo war mit seinen Gedanken noch immer bei Rufus Hornbläser, den sie eben erst besucht hatten. Der alte Hobbit lebte nicht weit vom Brandywein, südlich des Brandyschlosses alleine in einem kleinen Haus. Drogo war auf Bitten von Gorbadoc zu ihm geritten, um nach dem Rechten zu sehen und Frodo hatte ihn begleitet. "Papa?", Frodo blickte erwartungsvoll zu ihm auf. "Hat er damit Recht? Wie wird Wasser zu Eis?" Drogo wandte sich ihm lächelnd zu. "Es kann durchaus sein, dass der Fluss gefriert, aber sollte das tatsächlich passieren, wird die Eisschicht nur sehr dünn sein und leicht brechen." Erschrocken wandte sich Frodo um, als ein Ast knarrte und ein dumpfer Aufschlag darauf hinwies, dass etwas zu Boden gefallen war. Ein Eichhörnchen huschte über den Boden, verschwand blitzschnell auf dem nächsten Baum. "Hast du das gesehen?", rief der Junge vergnügt und strahlte von einem Ohr zum anderen, während seine Augen den Baum nach dem neugierigen Nager absuchten.
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"Frodo?", Merry sah seinen Vetter erwartungsvoll an. "Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir es nicht vor Einbruch der Dunkelheit schaffen." Frodo sah überrascht zu ihm auf, dann glitt sein Blick wieder zu den Bäumen, die den Weg zu ihrer Rechten begrenzten. Sie waren kahl und dunkel, wirkten fast bedrohlich im fahlen Licht der untergehenden Sonne. Er fröstelte, zog sich die Kapuze seines moosgrünen Umhangs über den Kopf und trieb sein Pony an, um wieder neben Merry her zu reiten, der sein Reittier wenige Schritte von ihm entfernt zum Stehen gebracht hatte.
Wenige Wochen nachdem sich Pippin und sein Vater wieder auf den Heimweg gemacht hatten, war der Herbst mit all seiner Kraft ins Land gezogen. Frodo und Merry waren wieder öfter zu Hause geblieben, verbrachten ihre Zeit ab und an mit Marmadoc Brandybock und Madoc und Minto Platschfuß, die, wie Merry sie nannte, wenigen Hobbits mit Verstand in ihrem Alter. Gelegentlich gesellten sich auch Nelke, Viola und Rubinie zu ihnen, auch wenn die Jungen davon nicht immer angetan waren. Frodo achtete auch wieder öfter auf Merimas und Berilac, erhielt dabei meist Unterstützung von Merry, bemerkte aber auch, dass Marroc sich scheinbar darüber lustig zu machen schien. Er versuchte, das so wenig wie möglich zu beachten, doch immer wieder spürte er die belächelnden Blicke seines Peinigers, hörte das leise Getuschel hinter seinem Rücken und ärgerte sich darüber.
Auf die kühlen und oft auch feuchten Herbsttage folgte ein kalter Winter. Es war ein kalter, sonniger Winternachmittag im Vorjul gewesen, an dem sich Merry und Frodo auf einen Ausritt begeben hatten, als Frodo sein Pony plötzlich zum Stehen brachte und stumm auf die Bäume starrte, die ihren Weg säumten. Seine Augen hatten einen fernen Ausdruck angenommen. Merry hatte ihn einige Zeit nachdenklich beobachtet, während der Brandywein wütend hinter ihm dahin plätscherte und der Wind in seinen Ohren pfiff.
Mit gesenktem Kopf ritt Frodo schließlich neben ihm her. Merry betrachtete ihn mit einem sorgenvollen Ausdruck. "Es ist die Jahreszeit, nicht wahr?", stellte er dann fest. Frodo hob überrascht den Kopf und runzelte die Stirn. Merry wandte kurz den Blick ab, sah ihn dann aber unverhohlen an. "Es ist jedes Jahr dasselbe. Kaum werden die Tage kälter, verkriechst du dich, ziehst dich zurück und wirst so…", er überlegte einen Augenblick, "… so still. Was hast du da eben gemacht, Frodo? Ich…", wieder machte er eine kurze Pause, in der er den Blick abwandte, nur um Frodo sofort wieder anzusehen. "… ich mache mir Sorgen um dich. Ich bin nicht nur dein Vetter, ich bin auch dein Freund. Was ist los, Frodo? Warum habe ich das Gefühl, dass du nicht mehr so glücklich bist, wie das noch vor wenigen Wochen der Fall gewesen ist?"
Frodo sah ihn entgeistert an. Er fröstelte und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Einen Augenblick lang fühlte er sich ertappt. Er verspürte den Drang, Merrys Frage auszuweichen und nicht nur seiner Frage, sondern auch Merry selbst. Er senkte den Kopf, starrte stur auf die Mähne seines Ponys. Fieberhaft überlegte er nach einer Antwort. Beißend wehte der Wind in sein Gesicht, blies ihm die Kapuze vom Kopf. Frodo schluckte. Beinahe zögernd hob er dann den Kopf, suchte den Blick seines Freundes, hielt ihn einen Augenblick fest, doch dann ruhten seine Augen auf dem Fluss, der hinter Merry zügig nach Süden floss. Das plätschernde Wasser hallte in seinen Ohren und Frodo wandte erneut den Blick ab, sah schließlich wieder zu den Bäumen zu seiner Rechten. Einige Zeit herrschte Schweigen, bis Frodo schließlich zu einer Antwort ansetzte. "Hast du das Eichhörnchen gesehen?", fragte er, ohne sich umzublicken. Die Ponys schritten gemächlich dahin, als Merry die Bäume begutachtete, jedoch kein Nagetier entdecken konnte. Er schüttelte den Kopf, als sein Freund ihn erwartungsvoll ansah. "Das Eichhörnchen hat mich an meinen Vater erinnert", erklärte Frodo dann. "Als ich noch sehr klein war, ritt ich mit ihm auf genau dieser Strecke. Es war ein kalter Tag, genau wie heute, und ich habe zwischen diesen Bäumen ein Eichhorn entdeckt." Es folgte eine lange Pause. Merry wusste nicht, was er darauf hätte erwidern sollen und hoffte, Frodo würde weiter sprechen. Es dauerte nicht lange, da wurde diese Hoffnung schließlich auch erfüllt. "Ich weiß nicht, ob es an der Jahreszeit liegt, aber wenn es so kalt ist, habe ich mehr Zeit, mich an sie zu erinnern. Ich denke gerne an meine Eltern, aber oft stimmen mich die Erinnerungen traurig. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst, aber ich vermisse sie, ich vermisse sie sogar sehr."
Merry sah ihn traurig an. "Ich weiß", sagte er dann leise. "Aber es sind schöne Erinnerungen, Frodo, oder etwa nicht?" Frodo nickte. "Dann solltest du dich von ihnen nicht traurig stimmen lassen." Ein Lächeln glitt über Frodos Lippen und Merry zog verwundert die Augenbrauen zusammen. "Weißt du, dass Sam mir genau dasselbe sagte, als ich das letzte Mal bei Bilbo war?", sagte er lächelnd. "Hat er das?", meinte Merry und grinste nun ebenfalls. "Nun, dann würde ich sagen, du solltest auf Sam und mich hören." Frodo nickte schwach, lächelte aber noch immer. "Sehr gut. Dann würde ich vorschlagen, wir machen ein Wettreiten bis zum Brandyschloss. Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich friere mir hier alle Zehen ab!" Frodos Lachen übertönte selbst das Plätschern des Brandyweins. Merry runzelte die Stirn, sah sich verwundert um, blickte an sich hinab und zuckte dann mit den Schultern. "Was ist los?" Kichernd schüttelte Frodo den Kopf, drückte seinem Pony die Fersen in die Seiten und galoppierte davon. "Frodo!" protestierte Merry, der nur knapp hinter ihm folgte. "Du schummelst!" Das schien Frodo jedoch wenig zu kümmern. Er trieb sein Pony nur noch mehr an und so dauerte es nicht lange, bis die heimeligen Lichter des Brandyschlosses vor ihnen auftauchten und ihre frierenden Körper sich an die wohlige Wärme des Kachelofens erinnerten. Selbst die Ponys schienen den heimischen Stall zu wittern und drängten nach Hause, was den jungen Hobbits sehr Recht war.
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Als Frodo am nächsten Morgen die Augen aufschlug, schien sich alles um ihn herum zu drehen. Sein Kopf fühlte sich schwer an und im ersten Augenblick fiel es ihm nicht leicht, sich in seinem Bett aufzusetzen. "Nein", jammerte er leise und ließ sich zurück in sein Kissen sinken, als ihm schwindlig wurde. Eine Tat, die er schnell bereuen sollte, denn ein unangenehmer Schmerz durchzuckte seinen ganzen Körper. Gequält schloss er die Augen, als ihn ein Kratzen im Hals husten ließ. Zu seinem Missfallen führte das Husten zu einem pochenden Schmerz in seinem Kopf. Ein leises Jammern entwich seiner Kehle, als er nach der Decke tastete und sie sich über den Kopf zog. Vielleicht würde es dadurch besser werden?
Hoffnung keimte in seinem Herzen, als das Pochen schwächer wurde. Nur sein Kopf fühlte sich noch immer unangenehm schwer an. Dennoch wagte Frodo einen zweiten Versuch, setzte sich langsam auf und ließ seine Beine von der Bettkante baumeln. Seine Hände hatten sich in der Matratze festgeklammert, den Kopf hielt er gesenkt, die Augen geschlossen. Das Schwindelgefühl, das ihn überkommen hatte, verging nur langsam. Zögernd blickte er schließlich auf, sah zum Bild seiner Eltern. Für ihn war es bereits zur Gewohnheit geworden, morgens zu ihrem Bild zu sehen, ehe er aufstand. Dennoch hatten seine Augen an diesem Tag einen bittenden Ausdruck angenommen, da er nicht krank sein wollte, denn dann würde er den ganzen Tag in seinem Bett verbringen müssen und das war langweilig. Schließlich zwang er sich dazu aufzustehen, hielt sich aber noch einige Sekunden an seinem Nachttisch fest, ehe er mit zittrigen Fingern nach seinem Hemd tastete. Sein ganzer Körper schien zu schmerzen, doch Frodo wollte sich nichts anmerken lassen. Erst gestern hatte Merry die Idee gehabt, etwas zu schnitzen und dieser Tätigkeit wollten sie heute nachgehen. Dazu wollten sie es sich im Heuboden gemütlich machen, denn dort war es trotz der winterlichen Kälte noch ein wenig warm und außerdem waren sie dort ungestört und es roch gut. Das wollte er sich auf keinem Fall entgehen lassen.
Als er sich endlich umgezogen hatte, schlurfte er in die Küche, wobei er sich immer wieder kurz an die Wand lehnte und sich ausruhte. Nur schwer konnte er ein erleichtertes Seufzen unterdrücken, als er schließlich die Küche erreichte, sich auf seinen Platz setzte und sich sichtlich erschöpft im Stuhl zurücklehnte. Esmeralda, die ihm gegenüber saß, beäugte ihn kritisch. "Du siehst nicht gut aus", sagte sie, statt ihm einen guten Morgen zu wünschen. "Fühlst du dich nicht wohl?" "Doch", sagte Frodo rasch, doch seine eigene Stimme verriet ihn. "Du bist blass", meinte Merry, der neben ihm saß und ihn nicht weniger kritisch ansah, wie Esmeralda das tat. Frodo warf ihm einen mahnenden Blick zu und versuchte zu verbergen, dass sich plötzlich wieder alles zu drehen begann, da er den Kopf wohl etwas zu schnell umgewandt hatte. Esmeralda war um den Tisch gegangen und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Frodo vergaß alle Vorsätze, zu verbergen, dass er sich nicht wohl fühlte, schloss die Augen und legte sein Gesicht gerne in die kühle Hand seiner Tante. "Kind, du glühst förmlich!" rief sie aus. "Komm, ich bringe dich wieder in dein Bett!" Frodo schüttelte den Kopf, jammerte aber leise, als sie ihre Hand wieder von seiner Stirn nahm und die Stelle, die eben noch kühl gewesen war, sich wieder erwärmte.
Er schwankte ein wenig, als er vor Esmeralda zurück in sein Zimmer tapste. Die Hand, die sie ihm dabei auf die Schulter gelegt hatte, fühlte sich schwer an, doch Frodo hatte Mühe damit, sich auf den Beinen zu halten, er konnte nicht auch noch ihre Hand wegstoßen. Er war noch immer nicht glücklich darüber, wieder in sein Bett zu müssen und doch war er froh, als er wieder in seinem Zimmer war. In seinem Kopf hatte es wieder zu Pochen begonnen und die Welt um ihn herum schien zu tanzen. Esmeralda stützte ihn, als er taumelte. "Du hättest gleich im Bett bleiben sollen", tadelte sie, als sie ihn sanft auf sein Bett drückte, sich vor ihm niederkniete und sein Hemd aufknöpfte. "Ich frage mich, wie du es überhaupt bis in die Küche geschafft hast." "Es geht mir gut", beharrte Frodo noch immer, doch seine Stimme klang wenig überzeugend. Esmeralda schüttelte den Kopf und reichte ihm sein Nachthemd. "Belüge dich nicht selbst, Frodo. Zieh dir dein Nachthemd an und die Hose wieder aus. Ich werde dir Tee und etwas zu Essen bringen."
Frodo seufzte, sah schließlich ein, dass es keinen Sinn hatte, sich weiterhin etwas vorzumachen, ließ sich langsam in seine Kissen sinken und schloss die Augen. Das Nachthemd hielt er zwar noch immer in der Hand, doch machte er keine Anstalten, dieses auch wieder anzuziehen, denn jede seiner Bewegungen schmerzte.
Merry beobachtete Frodo einige Zeit von der Tür aus, als seine Mutter das Zimmer verlassen hatte, ging dann aber zu ihm und setzte sich auf die Bettkante. Frodo blinzelte kurz, als Merry ihm über die Stirn strich. "Du solltest mich anstecken", meinte er grinsend. "Dann könnten wir gemeinsam krank sein und ich müsste mich nicht langweilen." Schuldbewusst blickte Frodo zu ihm auf. "Keine Sorge", winkte Merry ab. "Schnitzen können wir auch noch, wenn du wieder gesund bist."
Frodo fröstelte. Mit einem Mal war ihm kalt. Merry riet ihm sogleich, sich das Nachthemd überzuziehen, wollte ihm sogar dabei behilflich sein, doch diese Peinlichkeit wollte Frodo sich ersparen. Er rappelte sich auf und zog sich schließlich um, auch wenn er das Gefühl hatte, dass ihm das noch nie so schwer gefallen war. Für jede Bewegung schien er Stunden zu benötigen und ständig durchfuhr ihn dieser unangenehme, pochende Schmerz.
Esmeralda kam mit einem Tablett in das Zimmer, gerade als er sich wieder unter seiner Decke zusammenrollte. Prüfend legte sie erneut eine Hand auf seine Stirn und wollte wissen, ob er Schmerzen hatte. Frodo nickte stumm. Die Augen hatte er wieder geschlossen und es dauerte einen Augenblick, bis er sie wieder öffnete und berichtete, dass ihm im Grunde alles wehtat. Sie nickte besorgt, schenkte ihm ein wenig von dem Tee ein, den sie mitgebracht hatte und hielt ihm die Tasse mit der dampfenden Flüssigkeit hin. Frodo runzelte die Stirn, rutschte ein wenig tiefer unter die Decke. Der Gedanke daran, sich erneut aufzusetzen und etwas zu trinken, behagte ihm gar nicht. Esmeralda beharrte aber darauf, dass er zumindest ein wenig von dem Tee trank und so setzte sich Frodo schließlich auf. Wieder wurde ihm schwindlig und die Hand, mit der er sich auf der Matratze abstützte zitterte und schmerzte. Widerwillig nahm er einige Schlucke des Tees, der alles andere als gut schmeckte, ehe er sich wieder hinlegte. Esmeralda deckte ihn ordentlich zu und ließ ihn wissen, dass es das Beste wäre, wenn er versuchte, ein wenig zu schlafen. Frodo hatte darauf nicht geantwortet, ihm waren die Augen bereits wieder zu gefallen. Merry wollte noch ein wenig bei seinem Vetter bleiben, musste aber versprechen, ihn nicht wach zu halten, sollte er schlafen wollen.
Kaum war seine Mutter gegangen, wandte er sich an seinen Vetter. "Der Tee schmeckt grauenhaft, nicht wahr? Ich musste ihn auch trinken, damals, als du bei Pippin warst und es mir nicht gut ging. Mama hat gesagt, dass Dinge, die gesund machen, selten gut schmecken würden. Gesund hat mich der Tee zwar gemacht, aber ein besserer Geschmack hätte ihm dennoch nicht geschadet." Frodo konnte nicht anders, als leise zu lächeln, als Merry mit einem angeekelten Tonfall von seinem vermeintlichen Teegenuss berichtete. Doch das Lächeln verschwand langsam aus Frodos Gesicht und Merry hörte auf zu erzählen, betrachtete ihn einige Zeit stumm, unsicher, ob er bereits eingeschlafen oder noch wach war. "Ich werde später wieder kommen", flüsterte er. "Ich hoffe, du bist bald wieder gesund." Leise sprang er vom Bett und ging zur Tür, als Frodo beinahe tonlos antwortete: "Bis später!" Merry wandte sich noch einmal lächelnd zu ihm um, ehe er dann das Zimmer verließ und die Türe hinter sich schloss.
Regungslos lag Frodo in seinem Bett. Seine Atmung war tief und ruhig und ein jeder hätte ihn für schlafend gehalten, doch Frodo schlief nicht. So erschöpft und müde er sich auch fühlte, der Schlaf wollte ihn nicht übermannen. Er war bei ihm, legte sich schwer auf seine Lider, nur um wieder wegzuhuschen. Dann kehrte er schleichend zu ihm zurück, beglückte ihn mit einem kurzen Traum, ehe er ihn ruckartig zurück in die Wirklichkeit riss. Nicht selten zuckte Frodo dabei zusammen, stöhnte leise, denn mit der Bewegung kam auch der Schmerz.
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Die Kerze auf dem Nachttisch war schon weit herunter gebrannt, als Frodo spät abends zufrieden in seinem Bett lag und seiner Mutter lauschte. Primula saß auf der Bettkante und las aus einem Buch vor, wobei sie immer wieder ihre Stimme verstellte, um ihren Sohn zu erfreuen. Gelegentlich drang ein leises Kichern an ihr Ohr, das ihr eigenes Herz zum Lachen brachte. Die Zeit verging und das Kichern wurde immer seltener, bis es schließlich ganz erstarb. Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht unterbrach Primula ihre Lektüre und blickte auf ihren Sohn hinab, dem die Augen zugefallen waren. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Leise legte sie das Buch auf den Nachtisch und erhob sich. Zärtlich strichen ihre Finger durch die dunklen Locken ihres Sohnes, als sie ihn ordentlich zudeckte. Sie hauchte einen Kuss auf seine Stirn, wandte sich dann von dem Bett ab und griff nach dem Kerzenhalter auf dem Nachttisch. "Willst du denn nicht zu Ende lesen?", fragte eine leise Stimme, als sie bereits zur Tür gehen wollte. Primula drehte sich um, blickte in die strahlenden, blauen Augen ihres Sohnes, die fragend zu ihr aufsahen. "Du schläfst noch gar nicht?", fragte sie leise und trat wieder an das Bett heran. Frodo grinste und schüttelte den Kopf. "Lausebengel!" tadelte sie, setzte sich wieder auf die Bettkante und wuschelte ihm durch die Haare. Frodo kicherte, legte seinen Kopf auf ihren Schoß und umarmte sie. Primula lächelte, griff erneut nach dem Buch und las daraus vor. Frodo blickte verträumt zu ihr auf, während ihre Worte ihn in ihren Bann zogen. Bald jedoch spürte er, wie sich die Müdigkeit langsam über ihn hereinsenkte und er schloss die Augen, hatte sie jedoch schnell wieder geöffnet, als seine Mutter aufhörte zu lesen. "Du bist müde", flüsterte sie, als sie das Buch auf den Nachttisch legte. "Wenn ich jetzt weiter läse, würdest du die Hälfte der Geschichte verschlafen." Frodo blickte zu ihr auf. "Kannst du nicht trotzdem hier bleiben?" Er schmiegte sich noch enger an sie und schloss einen Augenblick die Augen, als er den Duft von Lavendel einatmete. Seine Mutter liebte die Blumen und vor allem diesen Duft. Primula legte einen Arm um ihn, strich ihm zärtlich über den Rücken. Er genoss ihre Nähe, genoss es, ihre Wärme zu spüren, ihre Zuneigung, ihre Liebe. Primula antwortete nicht auf seine Frage, doch Frodo wusste, dass sie blieb. Mit ihrer linken Hand streichelte sie noch immer über seinen Rücken, während sie mit der Anderen einige Strähnen aus seiner Stirn strich.
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Esmeralda strich vorsichtig einige dunkle Locken aus der glühenden Stirn des Jungen, ehe sie ein feuchtes Tuch darauf legte. Frodo blinzelte, wirkte beinahe erstaunt, als er Esmeralda erkannte. "Ist alles in Ordnung?", fragte sie sanft. "Wie fühlst du dich?" Er hatte die Stirn gerunzelt und sah sie mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. Hatte er geschlafen? War es nur ein Traum gewesen? Es musste so sein, denn seine Mutter lebte nicht mehr. Dennoch waren Erinnerungen an Abende wie diesen noch klar in seinem Gedächtnis. Er schloss die Augen. Die Bilder, die eben erst in seinem Kopf gewesen waren, schienen sehr lebendig. Er konnte ihre Stimme hören, und ihre Finger schienen selbst jetzt noch über seinen Rücken zu streicheln. Ein plötzlicher Schauer durchlief ihn, als Esmeralda seine Wange berührte. Erschrocken riss er die Augen auf, entspannte sich dann aber. "Ich habe wohl geträumt", flüsterte er betrübt und blickte aus dem Fenster. Esmeralda betrachtete ihn mit einem besorgten Ausdruck. "Ich hoffe, es war ein schöner Traum. Du hast gemurmelt im Schlaf." Frodo wandte sich zu ihr um, blickte dann aber wieder aus dem Fenster. "Es war kein Traum", sagte er nach einer langen Pause, ehe er von neuem in Schweigen verfiel. Esmeralda betrachtete ihn lange, die Stirn sorgenvoll in Falten gelegt, ehe sie sich schließlich erhob. "Merry hat bereits nach dir gefragt. Wenn du willst, kann ich ihn etwas später zu dir schicken." Frodo nickte. Sie wandte sich zum Gehen, erinnerte ihn aber noch einmal daran, dass er von dem Tee trinken solle und schloss dann die Tür hinter sich.
Frodo seufzte. Seine Kopfschmerzen waren nicht besser geworden und auch der Rest seines Körpers fühlte sich noch immer an, als wäre er einen Abhang hinunter gestürzt. Mit traurigen Augen schielte er zum Bild seiner Eltern. Die Erinnerungen lasteten schwer auf seinem Herzen. Was würde er dafür geben, könnte er noch einmal ihre Wärme, ihre Nähe spüren, wie er sie an jenem Abend vor so vielen Jahren gespürt hatte. Er schluckte, als seine Traurigkeit, eine unstillbare Sehnsucht, ihn zu übermannen drohte. Wieder schloss er die Augen, ließ seinen Kopf tief in das Kissen sinken.
Zaghaft wurde der Türgriff hinuntergedrückt. Frodo hörte das leise Klicken, hielt seine Augen aber geschlossen, denn seine Lider schienen noch immer zu schwer. Er vermutete, dass sich Merry gleich zu ihm aufs das Bett setzen würde, oder vielleicht hatte Esmeralda etwas vergessen. Er lauschte, konnte jedoch nichts hören. Wenn es Merry war, so gab er sich alle Mühe, leise zu sein. Frodo grinste innerlich, bei dem Gedanken daran, wie sehr er seinen Vetter nun erschrecken könnte, wenn er sich besser fühlen würde. Nichts in dem Zimmer schien sich zu rühren und schließlich siegte Frodos Neugier über seine Erschöpfung. Er blinzelte, öffnete seine Augen schließlich ganz. Ein pochender Schmerz durchfuhr seinen Körper, als er erschrocken zurückwich. Sein Herz begann zu rasen, als er mit weit aufgerissenen Augen auf die Gestalt vor sich starrte. "Marroc", presste er leise hervor.
Kapitel 42: Alles, was blieb
Marroc Boffin konnte nur immer wieder den Kopf schütteln, wenn er Frodo sah. Er konnte ihn nicht leiden, hatte ihn nie gemocht. Seit dem Tod der Eltern war seine Abneigung gegen den Jungen noch größer geworden und das ließ er ihn auch deutlich spüren. Für seinen Geschmack hing das Kind viel zu sehr an seinen Eltern, ein Muttersöhnchen, wie er ihn gerne genannt hatte, und selbst das schien nach dem Tod der beiden noch schlimmer geworden zu sein. Seither schleppte er dieses Bild mit sich herum und was noch viel schlimmer war, er führte Tagebuch! Er hatte darin gelesen, auch wenn es schon sehr lange her war. Alleine was der Junge dort hinein schrieb, hätte für Marroc genügt, ihn nicht zu mögen. Er jammerte. Ständig jammerte er, wie schlecht es ihm doch ginge und wie grausam die Welt zu ihm sei. Dabei hatte er alles, was er sich nur wünschen konnte. Er lebte in einer großen Höhle, war der Ziehsohn des Herrn persönlich und noch dazu hatte er ein eigenes Zimmer. Marroc selbst musste sein Zimmer, dank des kleinen Jammerlappens, noch immer mit seinen Eltern teilen. Wie konnte Frodo in seinem Tagebuch dennoch jammern? Wie naiv war der Junge eigentlich? Er hatte alles und beklagte sich trotzdem! Natürlich waren seine Eltern tot, doch das war noch lange keine Entschuldigung für sein Verhalten. Nein, er mochte ihn nicht und das würde er ihn auch weiterhin spüren lassen. Er würde ihm noch zeigen, wie dumm und naiv er war. In gewisser Weise bereitete es ihm sogar Freude, ihm Leid zuzufügen. Für ihn war es kein Leid zufügen, nein, er konfrontierte den Jungen mit der Wirklichkeit, aus der er scheinbar nur allzu gern zu flüchten schien. Er wollte ihn brechen, wollte ihm zeigen, wie überflüssig er war. Wozu war er denn schon nutze? Er taugte nichts, träumte nur vor sich hin und jammerte. Und diese Kinder, auf die er aufpasste, weshalb tat er das? Die Kinder brauchten ihn nicht, niemand brauchte ihn. Es war lächerlich!
Marroc lachte in sich hinein, ließ seine beobachtenden Augen erneut durch das Wohnzimmer schweifen. Weder das Muttersöhnchen noch der Sohn des Herrn hatte er heute gesehen. Er hatte sie am Vorabend belauscht. Sie hatten geplant, auf den Heuboden zu gehen, was immer sie dort oben auch machen wollten. Vermutlich waren sie in eben jenem Moment bereits in den Ställen. Ein hämisches Grinsen glitt über seine Züge. Die Zeit war gekommen, seinen neusten Plan auszuführen.
So sehr Marroc es auch hasste, dass jemand Tagebuch führte, Frodo hing an seinem Buch und genau dieses wollte er ihm nehmen. Er wollte die Traurigkeit in seinen Augen sehen, wenn er danach suchte, die Verzweiflung, wenn er sich darüber Gedanken machte, wer nun in seinen lächerlichen Eintragungen stöberte.
Noch immer grinsend, erhob er sich schließlich von seinem Platz im Wohnzimmer und schlich durch die spärlich beleuchteten Gänge des Brandyschlosses. Kaum jemand begegnete ihm und wenn er doch einem Hobbit über den Weg lief, dachte sich dieser nichts dabei. Was sollte er denn auch denken? Niemand konnte von seinem Plan wissen, denn nicht einmal Ilberic und Sadoc hatte er darin eingeweiht. Vielleicht würde er sie später daran teilhaben lassen, wenn er das kostbare Buch in seinen Besitz gebracht hatte.
Ein letztes Mal blickte er in beide Richtungen, als er vor Frodos Zimmertüre stehen blieb. Er war alleine. Vorsichtig drückte er den Türgriff hinunter, öffnete leise die Türe und schlich auf Zehenspitzen in das Zimmer, ehe er diese geräuschlos wieder schloss. Nun musste er das Tagebuch nur noch finden. Er ließ seinen Blick durch das kleine Zimmer schweifen, als seine Augen auf dem Nachttisch haften blieben. Neben dem Bild, stand dort auch ein Tablett mit einer Tasse, einer Kanne Tee und einem Teller mit einem Stück Brot, das nicht angerührt worden war. Er verharrte regungslos. Konnte es etwa sein, dass Frodo im Zimmer war? Ungehört schlich er an das Bett heran und tatsächlich: dort lag er, scheinbar schlafend. Ein Grinsen glitt über sein Gesicht. Der kleine Junge, der so sehr an seinen Eltern hing, war also krank geworden. Er musste sehr vorsichtig sein, wenn er dennoch an seinem Plan festhalten wollte, oder er musste gehen. Doch gehen wollte er nicht. Die Tatsache, dass Frodo schlafend vor ihm lag, gab ihm ein Gefühl der Überlegenheit, welches er gänzlich genießen wollte, während sich in seinen Gedanken bereits neue Ideen spannen.
In eben diesem Augenblick schlug Frodo die Augen auf. Er schlief also doch nicht. Marroc erfreute sich am Schrecken in den Augen des Jungen. Sein Grinsen wurde noch breiter, als dieser im Bett zurückwich, dabei scheinbar unter Schmerzen zusammenzuckte. Ja, das Muttersöhnchen hatte allen Grund, sich zu fürchten. Er wusste noch nicht genau, was er aus dieser Lage machen würde, doch seine Pläne hatten sich geändert. Das Tagebuch konnte warten.
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"Marroc", Frodos Stimme war kaum mehr, als ein Wispern. Frodo schwindelte, stützte sich schwer auf seine linke Hand, als er sich an der Wand zurücklehnte. Sogleich ergriff der Schmerz wieder Besitz von ihm. Er spürte den rasenden Schlag seines Herzens, konnte das Pochen dröhnend in seinen Ohren hören. Seine Gedanken überschlugen sich. Wie war Marroc hierher gekommen? Was wollte er hier?
Marroc setzte sich, noch immer grinsend, auf das Bett. Frodo folgte seiner Bewegung mit den Augen, auch wenn er noch immer nicht klar sah. "Du siehst krank aus", sagte der Junge, wobei falsche Sorge in seiner Stimme mitklang. Frodo wich zurück, als er die Hand nach ihm ausstreckte. Vor seinen Augen drehte sich alles plötzlich noch schneller, als zuvor und er spürte, wie ihm übel wurde. Er wollte die Augen schließen, um seiner Sinne Herr zu werden, doch wagte er es nicht. Wer wusste, ob Marroc diese Situation nicht ausnützen würde? Andererseits war es im Augenblick ganz gleich, was er tat, er war Marroc unterlegen, jetzt noch mehr, als für gewöhnlich und so schloss er seine Augen, bis das Schwindelgefühl vorüber war. Als er sie wieder öffnete, war Marrocs Gesicht direkt vor dem seinen. Erschrocken wich Frodo zurück, vergessend, dass er bereits mit dem Rücken an der Wand lehnte und schlug hart mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Ein Zischen entwich seinen Lippen. Einen Augenblick sah er schwarze Punkte vor seinen Augen tanzen. Sein Kopf dröhnte und ein seltsames Pfeifen klang in seinen Ohren. "Du musst vorsichtiger sein", mahnte Marroc. "Du wirst dich noch verletzen." Frodos glasige Augen funkelten vor Wut. "Was willst du hier?" Marroc setzte sich bequemer hin, betrachtete den Jungen mit einem höhnischen Grinsen im Gesicht. "Ich hatte meine Pläne, als ich hier herein gekommen bin, doch diese haben sich nun geändert." Frodo beobachtete ihn argwöhnisch. Sein Blick glitt zur Tür. Ob seine Tante Merry bereits Bescheid gegeben hatte? Entsetzt fuhr er herum, als er aus den Augenwinkeln erkannte, wie Marroc nach dem Bild seiner Eltern griff. Wieder wurde ihm schwindelig, doch dieses Mal versuchte er, dies nicht zu beachten. "Stell das wieder hin!" verlangte er mit einer Stimme ,die lauter klang, als er es für möglich gehalten hätte und doch lag ein angstvoller Unterton in ihr. Marroc durfte es nicht haben! Er hatte kein Recht dazu! Es war sein Bild und niemand durfte es ihm nehmen. Niemand durfte es so in die Hand nehmen, wie Marroc dies gerade tat, dessen grobe Finger den Rahmen gepackt hatten, während seine Augen es abschätzig betrachteten. Marroc schien ihn nicht zu hören, nicht hören zu wollen. Nervöse Unruhe breitete sich in ihm aus. Alles, nur nicht das Bild! Wie hatte er zulassen können, dass Marroc an das Bild kam? Er musste es wieder bekommen. Seine Augen hatten einen sturen, verbissenen Ausdruck angenommen. "Gib es mir zurück!" forderte er. Marroc wandte sich kurz zu ihm um. Frodo glaubte, ein böses Funkeln in seinen Augen zu erkennen. Angst ergriff sein Herz. Er würde es ihm wegnehmen. Das durfte nicht passieren, nicht sein Bild, nicht das Bild seiner Eltern. Das Schwindelgefühl und auch den Schmerz ignorierend, stützte er sich auf seine Hand und tastete mit zittrigen Fingern nach Marrocs Arm. "Gib es mir!" verlangte Frodo noch einmal verzweifelt und zog ihn am Ärmel, während er seine andere Hand nach dem Bild ausstreckte. Ruckartig hob Marroc seinen rechten Arm und stieß ihn weg. Frodo schlug mit dem Rücken gegen das Fußende des Bettes. Zischend entwich die Luft aus seinen Lungen, als sich die Welt erneut zu drehen begann und ein beständiges Pochen Besitz von seinem Körper ergriff. Seine Augen waren verzweifelt auf das Bild in Marrocs Händen gerichtet. Dieser sah ihn nun herablassend an, seine Hände noch immer grob den Rahmen umschließend. Er durfte es nicht verlieren, nicht an Marroc. Seine Augen waren wässrig geworden, als der Schmerz ihm den Atem raubte. Seine Stimme war kaum mehr, als ein Flüstern, als er verzweifelt zu ihm aufsah. "Bitte, bitte gibt es mir zurück!" Er schwindelte, als er sich aufrichtete und von neuem einen Versuch wagte, sein Bild zurückzuerhalten. Doch Marroc war aufgestanden, noch ehe Frodo die Kraft gefunden hatte, sich vollständig aufzurichten. "Bitte!" flehte er ein letztes Mal und Tränen sammelten sich in seinen Augen. "Nicht das Bild!"
Marroc grinste höhnisch. Ein Jammerlappen, ein Muttersöhnchen, ein Schwächling. Er saß vor ihm, zitternd, weinend und flehte ihn an, um ein dämliches Bild. Er schüttelte den Kopf. "Da hast du dein Bild!" Mit all seiner Kraft schleuderte er die eingerahmte Zeichnung auf den Fußboden. Ein Klirren, ein erstickter Schrei von Frodo, Stille. Leise lachend stapfte Marroc aus dem Zimmer. Er hatte etwas Besseres gefunden, als das Tagebuch.
Vor Frodos Augen war Marrocs Bewegung langsam gewesen. Er wollte das Bild retten, doch seine Arme und Beine gehorchten ihm nicht. Er konnte sich selbst schreien hören, als es zu Boden fiel. Einen Moment lang vergaß er zu atmen, starrte regungslos auf die Scherben auf dem Fußboden. Es durfte nicht sein. Das Einzige, was ihm von seinen Eltern noch geblieben war und nun war es zerstört. Stumme Tränen rannen über seine Wangen, während seine Augen noch immer stur auf die Scherben blickten. Beinahe so, als würde er zu ersticken drohen, schnappte er nach Luft. All sein Schmerz schien vergessen, als er sich langsam vom Bett gleiten ließ und mit zittrigen Händen nach dem Bild tastete. Zärtlich berührten seine Finger den Rahmen, strichen sanft über das glatte Holz. Der Rahmen war gebrochen, das Glas zersplittert. Sein ganzer Körper zitterte, als er vorsichtig die Scherben vom Bild nahm. Eine Scherbe schnitt sich dabei tief in das Fleisch seiner linken Hand, doch Frodo spürte den Schmerz nicht, als er das Bild aus dem Rahmen löste. Dennoch nahm er es nur noch in die rechte Hand, um es nicht mit Blut zu beschmieren. "Es tut mir Leid", wisperte er tonlos, drückte das Bild an seine Brust und schluchzte bitterlich. Der Schmerz, den er zuvor ignorieren konnte, kehrte nun noch stärker zurück und Frodo legte sich vollkommen erschöpft und zitternd neben den Bilderrahmen und die Scherben, die auf dem Fußboden lagen. Ihm war, als würde sein Körper glühen, doch zugleich fröstelte er. Der Schmerz schien sich von seinen Zehen bis zu den Haarspitzen auszubreiten und mit jedem Pochen, schien er stärker zu werden. Blut tropfte von seiner linken Hand auf den Fußboden, während seine Rechte noch immer das Bild umklammerte. Nie wieder würde er es aus der Hand legen.
Als Merry wenig später in das Zimmer kam, fand er seinen Vetter regungslos auf dem Boden liegend. Frodos Körper war schweißnass und er zitterte. Furchtsam blickte er auf die Scherben auf dem Fußboden und auf die blutverschmierte Hand seines Vetters. Ängstlich stürmte er aus dem Raum, auf der verzweifelten Suche nach seiner Mutter. Esmeralda war entsetzt, als sie Frodo sah. Eiligst hob sie ihn wieder in sein Bett, während sie Merry davon abhielt, in die Scherben zu treten, deckte ihn ordentlich zu und holte dann noch eine zweite Decke aus dem Schrank, die sie über den zitternden Körper legte. Verwundert nahm sie das Bild aus Frodos Hand, betrachtete es einen Moment nachdenklich und legte es dann auf den Nachttisch. Sie wies Merry an, ihr eine Schüssel mit kaltem Wasser und zwei Tücher zu bringen und nahm sich anschließend der Scherben auf dem Fußboden an. Schließlich setzte sie sich wieder auf den Stuhl, den sie vor Frodos Bett geschoben hatte, strich zärtlich durch die dunklen Locken des Kindes. Frodo jammerte im Schlaf, murmelte etwas Unverständliches. Traurig und besorgt war ihr Blick, als sie sich flüsternd fragte, was hier geschehen sein mochte. "Ich weiß es nicht, Mama", entgegnete Merry betrübt, der mit dem Wasser und den Tüchern in das Zimmer kam. "Was hat er denn? Warum war er nicht in seinem Bett?" Esmeralda zuckte mit den Schultern, tauchte eines der Tücher in das Wasser, wrang es aus und betupfte dann Frodos Stirn und Wangen. "Ich weiß es nicht, Merry. Vermutlich war er zu erschöpft, um wieder hineinzuklettern, doch was ihn überhaupt dazu bewegt hat, aufzustehen, kann ich dir nicht sagen." Sie schielte zum Bild von Drogo und Primula, welches auf dem Nachttisch lag. Merry sagte sie nichts davon, doch sie vermutete, dass Frodo deshalb aufgestanden war. Allerdings glaubte sie nicht, dass das Bild von alleine herunter gefallen war. Frodo hütete das Bild wie einen Schatz und außerdem waren die Scherben zu weit vom Nachttisch entfernt gewesen, als dass es hätte heruntergefallen sein können. Jemand musste hier gewesen sein, mit der Absicht, das Bild zu vernichten und Frodo traurig zu stimmen. Wut entflammte in ihrem Herzen. Wenn sie denjenigen in die Finger bekam, der dafür verantwortlich war, …
"Er wacht auf!" Merrys Stimme erinnerte sie wieder an ihre Aufgabe. Frodo sah sie aus müden, geschwollenen Augen an. Doch plötzlich veränderte sich sein Blick und ein panischer Ausdruck lag in seinem Gesicht. "Wo ist es?", rief er aufgebracht. "Wo ist mein Bild?" Esmeralda beruhigte ihn, reichte ihm schließlich das Bild seiner Eltern und Frodo entspannte sich sichtlich. Sie machte sich Sorgen. Nie hatte sie erlebt, dass er wegen des Bildes so aufgewühlt war. "Was ist geschehen, Frodo?", wollte sie wissen. Frodo antwortete lange Zeit nicht, ehe ein leises "Er wollte es mir wegnehmen", über seine spröden Lippen kam. "Wer?" "Marroc", sagte Merry düster und seine Miene verfinsterte sich. Esmeralda blickte zu ihrem Sohn, dann zu Frodo, der zaghaft nickte. Unwillkürlich ballten sich ihre Hände zu Fäusten, doch ließ sie sich ihre Wut nicht anmerken. Erst musste sie dafür sorgen, dass es Frodo besser ging, anschließend konnte sie sich Marrocs annehmen.
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Inzwischen war es später Abend geworden. Esmeralda hatte Merry zu seinem Vater geschickt, während sie bei Frodo geblieben war. Sie war den ganzen Nachmittag bei ihm gewesen, hatte darauf geachtet, dass er genügend Tee trank und sein Gesicht immer wieder mit einem kühlen Tuch betupft. Im Augenblick schien es ihm ein wenig besser zu gehen, auch wenn sie betrübt feststellen musste, dass er nicht ein einziges Wort gesprochen hatte, seit Merry ihn gefunden hatte. Auch das Bild seiner Eltern hielt er noch immer krampfhaft in den Händen, als fürchte er, es könnte ihm genommen werden. Sanft strich sie mit dem Handrücken über die Wange des Jungen. Erschrocken hätte sie ihre Hand beinahe wieder zurückgezogen, als Frodo vor Schreck über die plötzliche Berührung zusammenzuckte. "Sh", flüsterte sie beruhigend und Frodo schloss einen Moment die Augen, ehe er sie geradewegs ansah. Esmeralda hatte das Gefühl, er wolle ihr etwas sagen, doch kein Wort verließ seine Lippen. Lange sah sie in seine traurigen, blauen Augen, bis ihre Aufmerksamkeit von neuem auf das Bild in seinen Händen gelenkt wurde. Augenblicklich entzog er es ihrem Blick, während seine Augen sie forschend musterten. "Ich will es dir nicht wegnehmen", sagte sie und senkte einen Augenblick den Kopf. "Es ist dein Bild und niemand hat das Recht, es dir zu nehmen." Frodo rührte sich nicht, sah sie weiterhin starr an. "Dürfte ich es mir ansehen?", fragte sie, ohne viel Hoffnung. Er erschien ihr plötzlich wie ein kleines Kind, dem sein liebstes Spielzeug genommen worden war und nun, da er es wieder hatte, wollte er es mit niemandem mehr teilen. Einerseits erschien ihr sein Verhalten albern, andererseits jedoch, konnte sie ihn verstehen. Alles, was ihm von seinen Eltern geblieben war, war dieses Bild und heute hätte er es beinahe verloren. Marroc würde diese Tat noch bereuen.
Frodo hatte den Blick noch immer nicht von seiner Tante genommen, als er ihr schließlich erlaubte, sein Bild anzusehen. Lange Zeit saß sie stumm neben ihm, betrachtete die Abbildungen ebenso gedankenverloren, wie Frodo, bis sich schließlich ein Lächeln auf ihren Lippen zeigte. "Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als das Bild entstanden ist." "Ich war damals acht", entgegnete Frodo leise. Sie lächelte. Es tat gut, seine Stimme wieder zu hören. "Ja, acht Jahre alt und sehr viel aufgeweckter, als es auf diesem Bild den Anschein hat." Frodo runzelte bei diesen Worten die Stirn, versuchte, sich zurückzuerinnern, doch so sehr er es auch versuchte, es klappte nicht. "Es war ein warmer Sommertag", begann Esmeralda zu erzählen. "Die Vögel zwitscherten und die Sonne lachte vom Himmel. Du hattest nichts Besseres zu tun, als dich mit Viola zu streiten, während Merry dir den ganzen Tag hinterher tapste. Rufus Hornbläser war an jenem Tag zum Tee gekommen. Er war schon sehr alt, doch seine Hände wussten Pinsel und Stift noch genauso gut zu führen, wie in seinen jungen Jahren. Wusstest du, dass es seine Idee gewesen ist, das Bild zu malen?" Frodo schüttelte den Kopf. "Der Kuchen hat dich und Viola schließlich zum Tisch gelockt. Du saßest auf dem Schoß deiner Mutter, da auf der Bank zu wenig Platz war. Rufus hat euch lange lächelnd angesehen. Er hatte zu jener Zeit schon lange nicht mehr gemalt und keiner hatte geglaubt, er würde jemals wieder damit beginnen. Umso überraschter waren wir dann, als er meinte, wenn du und Primula ihm Modell stehen würdet, würde er ein letztes Mal einen Pinsel, oder besser gesagt, einen Kohlestift zur Hand nehmen. So geschah es dann auch. Deine Mutter ließ sich dabei helfen eine Bank vor das Blumenbeet zu schieben und machte es sich darauf gemütlich. Währendessen hatte dein Vater Mühe, dich wieder zu finden, denn du warst in der Zwischenzeit mit Merry, Nelke, Minto und Viola verschwunden. Selbst als er dich dann gefunden hatte, warst du gar nicht begeistert, so lange still sitzen zu müssen, hast dich ständig beklagt und wolltest unbedingt wieder zu den anderen." Frodo hatte gedankenverloren zu seiner Tante aufgesehen, während ihre Worte jenen Tag wieder in sein Gedächtnis zurückriefen. Nun glitt sein Blick wieder auf das Bild in seinen Händen.
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"Du schummelst!" brüllte Frodo und baute sich vor Nelke auf. "Gar nicht wahr!" fuhr sie ihn an, stemmte die Hände in die Hüften und stellte sich auf die Zehenspitzen, um größer zu sein als er. "Du hast geblinzelt! Ich habe es genau gesehen!" beharrte er. "Warum beobachtest du mich eigentlich?", wollte sie wissen. "Du solltest dich versteckten!" Frodo grinste siegreich. "Dann gibst du es also zu?" "Gar nichts gebe ich zu!" sagte sie stur und wandte sich von ihm ab. "Frodo, dein Vater ruft nach dir", ließ Merry ihn wissen, der etwas abseits stand und sah, wie Drogo zu ihnen heraufkam. Frodo, der neben Nelke unter der großen Eiche stand, wandte sich um und blickte fragend zu seinem Vater, der hinter Merry aufgetaucht war. "Rufus will uns malen", erklärte er knapp. "Deine Freunde werden eine Weile auf dich verzichten müssen." Frodo runzelte die Stirn. "Wie lange?" "Ich weiß es nicht, aber je früher wir anfangen, desto früher bist du zurück." "Aber ich…", begann Frodo, doch sein Vater schüttelte den Kopf. "Du würdest deiner Mutter eine große Freude machen." Missmutig blickte Frodo zu ihm auf. "Kann ich ihr die nicht auch machen, wenn es regnet?" Drogo lachte, schüttelte aber den Kopf und wuschelte seinem Sohn durch die Haare. Grummelnd folgte Frodo seinem Vater, setzte sich neben seine Mutter auf die Bank und lehnte den Kopf an ihre Schulter, als sie einen Arm um ihn legte. Sein Vater setzte sich neben ihn, legte einen Arm um seine Frau und grinste auf seinen Sohn hinab. Rufus hatte sich inzwischen hinter einem kleinen Gestell verkrochen, auf dem er eine kleine Leinwand platziert hatte. Er strahlte über das ganze Gesicht. "Das wird ein wundervolles Bild werden." Sogleich griff er nach dem Kohlestift und begann zu malen. Frodo schielte zu seiner Mutter hinauf, die ihm erklärt hatte, dass er für einige Zeit ruhig sitzen bleiben müsse. "Wie lange werde ich mich nicht bewegen dürfen?" "Bis Rufus es sagt", antwortete sie. Er runzelte die Stirn. "Und wann wird das sein?" "Ich weiß es nicht, mein Kleiner", sie lächelte leise und strich ihm über den Arm. "Du hast dich bewegt!" rief er aus. Primula erstarrte in der Bewegung. Er grinste. "Heißt das, ich darf mich auch bewegen?" "Nur wenn es unbedingt sein muss", erklärte sie. "Zum Beispiel dann, wenn mein Fuß einschläft?", wollte er wissen. "Dann schon, aber es wäre besser, wenn dein Fuß nicht einschlafen würde", ließ Primula ihn wissen. "Was, wenn er schon eingeschlafen ist?" "Das ist er aber nicht, oder etwa doch?", Primula schielte fragend zu ihrem Sohn. "Nein", sagte er knapp, "Aber was wäre wenn?" Drogo schaltete sich in das Gespräch ein. "Ich denke, das überlegen wir uns, wenn es soweit ist." Frodo seufzte, ließ seinen Blick zu der großen Eiche wandern, wo er Merry, Madoc und den anderen beim Spielen zusah. "Wann wird Rufus fertig sein?", fragte er jammernd. Primula lächelte, schüttelte kaum merklich den Kopf, als sie ihn leicht in die Seite zwickte. Frodo zuckte zusammen. "Du sollst dich nicht bewegen!" ließ er seine Mutter wissen. "Ich bewege mich nicht", flüsterte sie und zwickte ihn erneut. Frodo zuckte kichernd zusammen. "Mama! Du sollst…", er schreckte erneut zusammen. "Hör auf damit! Du musst ruhig sitzen bleiben." Drogo lachte leise. "Sie sitzt ruhig, im Gegensatz zu einem ganz anderen jungen Hobbit." "Aber das ist ihre Schuld!" meinte Frodo trotzig, konnte sich aber ein Kichern nicht verkneifen, als Primula ihn erneut kniff. Kaum hatte er sich wieder beruhigt, und seine Mutter aufgehört, ihn zu kitzeln, seufzte er leise: "Wird Rufus bald fertig sein?"
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Frodo schluckte schwer, als Esmeraldas Worte ihm die Bilder jenes Tages wieder in Erinnerung riefen. Wenn er damals gewusst hätte, wie viel ihm dieses Bild eines Tages bedeuten würde, hätte er sich von Anfang an ruhig verhalten. Rufus hätte den ganzen Nachmittag daran arbeiten können, es hätte ihm nichts ausgemacht. Erschrocken wich er zurück, als er Esmeraldas Hand auf seiner Wange spürte. Sie hielt einen Augenblick in ihrer Bewegung inne, blickte forschend in die feuchten Augen Frodos, legte dann ihren Arm um seine Schultern. Seine Stirn hatte sich in Falten gelegt, während sein Blick fragend auf ihr ruhte. Er war froh um die Erinnerung, die sie ihm zurückgegeben hatte und doch stimmte es ihn traurig. Ohne zu zögern würde er das Bild zurückgeben, könnte er dafür seine Eltern wieder haben. Traurig blickte er auf das Bild hinab, sah in die Augen des kleinen Jungen, der den Kopf an die Schulter seiner Mutter gelehnt hatte, während sein Vater einen Arm um Mutter und Kind gelegt hatte. Er spürte Esmeraldas Hand auf seiner Schulter. Wie gerne wäre er wieder der kleine Junge auf dem Bild, der den Kopf an die Schulter seiner Mutter lehnte. Er könnte den Kopf an Esmeraldas Schulter lehnen, aber sie war nicht seine Mutter und dennoch war sie nun da und kümmerte sich um ihn. Einige Augenblicke zögerte er, doch dann ließ er seinen Körper langsam zur Seite sinken, bis sein Kopf auf ihrer Schulter ruhte. Ihre Hand fühlte sich angenehm kühl an, auf seiner noch immer erhitzten Stirn. Es war nicht dasselbe, doch es genügte, um sich besser, um sich getröstet zu fühlen. Erleichtert schloss er die Augen.
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Drei Tage darauf saß Frodo an seinem Schreibtisch. Das einzige Licht, das den Raum erhellte, kam von einer Kerze, die neben ihm stand und schon beinahe herunter gebrannt war. Das Bild seiner Eltern hatte er behutsam auf sein Nachtkästchen gelegt, wo es nun darauf wartete, einen neuen Rahmen zu erhalten. Frodo wandte den Blick davon ab, tauchte die Feder in die Tinte und begann in sein Tagebuch zu schreiben.
Marroc wird es nicht mehr in die Finger bekommen können, dafür werde ich sorgen. Saradoc und Esmeralda haben angewiesen, dass er einen neuen Rahmen machen soll, doch ich will ihn nicht. Nichts, was aus seinen Händen stammt, soll ihr Bild beschmutzen. Ich werde ihn selber machen und all die Liebe, die sie mir gegeben haben, in meine Arbeit stecken. Das Bild ist alles, was mir von ihnen geblieben ist, das Bild und die Erinnerung. Erinnerungen… sie sind etwas Wundervolles und doch sind sie schmerzhaft, denn es kann nie wieder so sein, wie in der Erinnerung. Nicht für mich. Ich vermisse meine Eltern. Manchmal vermisse ich sie so sehr, dass ich glaube, zerfressen zu werden von einer Sehnsucht, die immer da sein wird und doch niemals erfüllt werden kann. Ein Hunger, der nicht gestillt werden kann. Eine Wunde, die nie gänzlich verheilen wird. Doch Wunden heilen, ganz gleich wie tief sie sind, auch wenn manchmal Narben bleiben. Esmeralda will diese Narben so gering wie möglich halten. Ich brauchte lange, um das zu begreifen, doch nun weiß ich es. Sie sorgt sich um mich, auch wenn sie das nicht immer zeigt. Die letzten Tage war sie ständig an meiner Seite, hat mich getröstet und mich von meinen Schmerzen abgelenkt. Sie war für mich da und ich glaube, sie wird auch in Zukunft immer für mich da sein. Warum aber, war sie es bisher nicht? Oder, hat sie sich schon immer so um mich gesorgt und ich habe es nur nicht gesehen? Das Wichtigste aber ist, dass sie jetzt hier ist und das genügt mir. Es beruhigt, dies zu wissen.
Frodo runzelte die Stirn, als er das Geschriebene noch einmal durchlas. Manchmal wusste er selbst nicht mehr, was er schrieb, nachdem er die Feder zur Hand genommen hatte. Die Worte schienen von seinen Gedanken selbst, direkt auf das Papier zu springen. Und doch waren es oft Gedanken, die er noch nicht einmal gedacht hatte, ehe er sie in seinem Tagebuch wieder fand. Eine Tatsache, die ihn gleichermaßen verwirrte, wie sie ihn beruhigte. Mit einem leisen Zischen erlosch die Kerze. Erschrocken hob Frodo den Kopf. Sie war nun vollends heruntergebrannt und er würde sich eine neue holen müssen, doch nicht mehr heute. Es war an der Zeit, sich wieder hinzulegen, zu schlafen. Mit einem leisen Seufzen steckte er die Feder in die Halterung, stand dann auf und ließ sich auf sein Bett sinken. Ein angenehmer Duft ging von seinem Kissen aus. Esmeralda hatte das Bett erst am Abend frisch bezogen. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, bei dem Gedanken an Merrys Mutter. Er war nicht mehr ganz allein und vielleicht war er das auch nie gewesen.
Kapitel 43: Rahmen und Sandhöhlen
Astron 1385 AZ
Die warmen Strahlen der Sonne waren kräftiger geworden und hatten die Kälte des Winters vertrieben. Ein angenehmer Duft lag in der Luft, während die Welt in neuer Frische erstrahlte. Die ersten Blumen sprossen aus dem saftigen Grün der Wiesen und von allen Seiten konnte man das fröhliche Gezwitscher der Vögel hören, die in den Bäumen ihre Nester bauten. Der Frühling hatte Einzug genommen in das Auenland. Auch das Leben um das Brandyschloss war geschäftiger. Die Gartenarbeit war wieder aufgenommen worden und nun konnte man viele Hobbits beim Unkrautzupfen, Sträucherstutzen und beim Anpflanzen von Blumen und Gemüse beobachten.
Frodo war vor einigen Tagen früh morgens zu Marmadas gegangen und hatte ihn gebeten, ihm bei der Suche nach einem passenden Holzstück für seinen Bilderrahmen behilflich zu sein. Er hatte ihn schon öfter danach gefragt, doch bisher hatte Marmadas ihm nie zusagen können, da sie warten mussten, bis das Holz wieder trockener war. Doch nun, im Astron, half er ihm gerne dabei. Schon vormittags waren sie aufgebrochen und in das kleine Waldstück gegangen, welches südlich der Straße nach Bockenburg gelegen war, wo sie nach einem passenden Ast Ausschau hielten. Es dauerte einige Zeit, bis sie das richtige Holz entdeckt hatten, denn Frodo war sehr wählerisch. Doch schließlich hatten sie gefunden, wonach sie suchten und waren freudig zum Brandyschloss zurückgekehrt. Dort angekommen hatte Marmadas den etwas dickeren Ast in vier gleich große Teile geteilt. Seither war Frodo jeden Nachmittag damit beschäftigt gewesen, die Rinde von den Aststücken zu entfernen und das übrig bleibende Holz dünner zu schnitzen, ehe er es letzten Endes noch glatt schleifen wollte.
So auch an diesem Nachmittag. Er hatte sich zurückgezogen, war heimlich auf den Heuboden geklettert, denn dort wusste er sich ungestört, und schnitzte in aller Ruhe an seinem letzten Rahmenstück. Sobald er damit fertig war, würde er beginnen könne, die Stücke glatt zu schleifen und dann war er bereits so gut wie fertig. Vollkommen vertieft in seine Arbeit saß Frodo in einem der letzten Heuhaufen. Sein linkes Bein hatte er leicht angewinkelt, sein Arm ruhte dabei bequem an der Innenseite seines Knies, während er bedacht mit dem Messer über das helle Holzstück fuhr.
Eines der Ponys wieherte. Frodo hob überrascht den Kopf. Hier oben war es recht dunkel, denn nur durch kleine Spalte in der Holzwand drang das Sonnenlicht herein und ließ die kleinen, tanzenden Staubkörnchen sichtbar werden. Er lauschte, doch konnte er keine Geräusche ausmachen, außer dem leisen Schnauben eines Ponys. Er rieb sich die Nase, als ein Staubkorn ihn kitzelte. Der Duft von Heu hing schwer in der Luft. Kurz wartete er, aufmerksam den Geräuschen unter sich lauschend, widmete sich dann aber wieder seiner Arbeit. Mit einer raschen Bewegung zog er das Messer über das Holz, trennte es dadurch von einem weiteren Stück Späne, das lautlos im Heu landete.
Leise Schritte ließen Frodo erneut aufblicken. Die Leiter am anderen Ende des Heubodens wackelte ein wenig und schließlich tauchte Merrys Krauskopf auf. Kurz nickte Frodo ihm zu, konzentrierte sich dann aber auf die letzten Unebenheiten, die noch weggeschnitzt werden mussten. Merry strahlte über das ganze Gesicht, als er seinen Vetter erkannte. "Wusste ich doch, dass ich dich hier oben finde!" verkündete er erfreut. Er rümpfte die Nase, als ihn einige Staubkörnchen kitzelten. Übermütig, ließ er sich dann neben Frodo ins Heu fallen und sog tief dessen würzigen Geruch ein, nieste schließlich und blickte dann einige Zeit stumm in die im Sonnenlicht tanzenden Staubkörnchen. Er war ein wenig erschöpft, denn schon seit den frühen Morgenstunden war er mit seinem Vater unterwegs gewesen, hatte ihm dabei geholfen, die Boote am Fluss zu kontrollieren und Löcher zu stopfen oder lockere Balken zu reparieren.
Neben ihm atmete Frodo plötzlich erleichtert auf, hielt das Holzstück von sich weg und betrachtete es zufrieden. "Fertig!" meinte er dann erfreut, griff nach den anderen drei Holzstücken und legte alle vor sich in das Heu. Merry wollte schon vorschlagen, den Nachmittag auf dem Rücken der Ponys zu verbringen, doch Frodo hielt ihn zurück, erklärte, dass er erst noch alles glatt schleifen wollte, in der Hoffnung abends den Rahmen bereits fixieren zu können. Ein missmutiges Seufzen entwich Merrys Lippen, doch meinte er dann, er würde sich auch ein Holzstück und ein Messer holen und Frodo Gesellschaft leisten.
Auf diese Weise verging der Nachmittag recht schnell und rechtzeitig zum Abendessen war Frodo mit seiner Arbeit fertig. Sogleich war er zu Marmadas geeilt, der versprach, noch im Laufe des Abends einen Bilderrahmen aus den vier ordentlich verarbeiteten Holzstücken zu machen.
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Grübelnd saß Frodo an einem der Tische im Wohnzimmer und stierte auf die Karten, die er in der Hand hielt. In den letzten Monaten war unter den Kindern des Brandyschlosses mehr und mehr das Interesse an Kartenspielen aufgekommen, und auch Frodo war davon nicht verschont geblieben. Während den kalten Wintertagen war er oft viele Stunden im Wohnzimmer gesessen und den Karten verfallen. Merry ging es nicht anders, denn auch er war stets zur Stelle, verlangte jemand nach einem Kartenspiel. Heute Abend war ihre Runde besonders groß, denn neben Marmadoc, Minto und Madoc hatten sich auch Viola, Rubinie und Nelke zu ihnen gesellt. Frodo blickte auf den Stapel Karten, auf dem er nun eine weitere platzieren sollte. Er zögerte. Im Kamin war ein leises Knistern zu hören, als ein Holzscheit gierig von den züngelnden Flammen verspeist wurde. Am anderen Ende des Raumes lachte Gorbadoc laut auf, erschreckte dadurch die kleine Minze, die auf dem Schoß ihrer Mutter saß und zu weinen begann. Hanna beruhigte sie, wies Gorbadoc an, ein wenig leiser zu sein, ging aber schließlich aus dem Zimmer, um ihre beiden Kinder zu Bett zu bringen. "Kannst du?", fragte Minto, der neben Frodo saß, ungeduldig. Frodo schreckte aus seinen Gedanken, schüttelte schließlich den Kopf und zog eine Karte, ehe er erneut den Kopf schüttelte und Minto weitermachen ließ.
Nelke, die neben ihm saß, blickte konzentriert auf den Kartenstapel in der Mitte des Tisches, dann wieder auf die Karten in ihrer Hand. Ohne den Blick davon abzuwenden, tastete sie nach ihrem Becher und nahm einen Schluck. Dabei hielt sie ihre Karten ein wenig schief und Frodo sah darin seine Möglichkeit einen kurzen Blick darauf zu erhaschen. Unauffällig lehnte er sich zur Seite, legte den Kopf ein wenig schief und schrie plötzlich auf, als Nelke ihm einen schmerzvollen Tritt ins Schienbein verpasste. Missmutig rieb er sich das Bein, während Nelke ihn bissig wissen ließ, dass er nicht in ihre Karten zu starren habe. "Ich habe nichts gesehen!" ließ er sie trotzig wissen und fügte dem ein unhörbares "noch nicht", hinzu. Sie beäugte ihn kritisch, als er sich wieder gerade hinsetzte. Frodo spürte ihre Blicke auf sich ruhen, hob immer wieder kurz den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen. Es machte ihn unruhig, dass sie ihn so anblickte und schließlich ließ er sie das auch wissen. "Hör auf, mich so anzustarren!" fuhr er sie an. "Ich bin kein Drache!" Nelke kniff die Augen zusammen und ließ ihn mit sachlichem Tonfall wissen, dass es keine Drachen gäbe. Frodo sah sie herausfordernd an. "Und woher willst du das wissen?" Sie hatte die Karten auf den Tisch gelegt und sich zu ihm vorgebeugt. "Woher willst du wissen, dass es welche gibt?" Frodo grinste, legte seine Karten ebenfalls auf den Tisch und sagte: "Mein Onkel hat einen gesehen. Er stahl Schätze aus seinem Hort und malte Bilder des Drachen, als er wieder zu Hause war." Leise lachend schüttelte Nelke den Kopf. "Und weshalb gedenkst du zu wissen, dass diese Bilder nicht alle seiner Phantasie entsprangen?" "Weshalb sollte er solche Dinge erfinden?" Ein schadenfrohes, gemeines Grinsen glitt über ihr Gesicht. "Weil kleine Jungen dumm genug sind, solche Geschichten zu glauben." Frodo sah sie erbost an, schüttelte dann aber resignierend den Kopf und lehnte sich zurück. "Mädchen verstehen von solchen Dingen ohnehin nichts." "Und warum nicht?" Frodo wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Marmadoc sie daran erinnerte, dass sie nicht alleine am Tisch saßen, und dass sie hier eigentlich ein Kartenspiel spielen wollten. In sich hineingrinsend griff Frodo nach seinen Karten, während sich Nelke ebenfalls wieder zurücklehnte und eine Karte auflegte. Frodo legte eine weitere darauf, grinste siegreich, als er sie geradewegs ansah und sagte: "Darum!" Kaum hatte er sich zurückgelehnt, sah Nelke ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Musst du eigentlich immer das letzte Wort haben?" "Kein Wort!" rief Merry mahnend und hob seine Hand. Frodo stieß die Luft wieder aus, die er zuvor eingeatmet hatte und sah grinsend zu Nelke, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder den Karten widmete.
Sie hatten die Runde gerade beendet, als Frodo auf die Schulter getippt wurde. Marroc sah unter den kritischen Augen von Saradoc auf ihn herab. Frodo spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte und es ihm für einen Augenblick schwer fiel, zu atmen. Er hasste diesen Hobbit und wäre heilfroh gewesen, wenn er ihn nie hätte wieder sehen müssen, erst recht nicht in einem so geringen Abstand, wie im Moment. Ruckartig stand er auf, in der Hoffnung sich dann nicht mehr ganz so klein vorzukommen. Als er sich umdrehte, stieß er einen Becher vom Tisch und verschüttete dessen Inhalt auf Nelkes Kleid. Das Mädchen sprang erschrocken auf, schimpfte ihn einen Tollpatsch und versuchte, das Wasser wieder trocken zu reiben. Frodo nahm dies kaum wahr, entschuldigte sich rasch, widmete seine Aufmerksamkeit dann aber Marroc, der sich sein dämliches Grinsen nur schwer verkneifen konnte. Saradoc räusperte sich und das Grinsen verschwand von seinem Gesicht. Frodo sah ihn geradewegs an und doch lag große Unsicherheit in seinem Blick. Alle am Tisch konnten spüren, dass er lieber woanders gewesen wäre, als hier, und auch Marroc schien das zu bemerken, doch hatte er im Augenblick keine Möglichkeit, dies auch zu zeigen, denn Saradoc stand ihm im Nacken. Langsam streckte Marroc seine Hand aus, hielt Frodo einen Bilderrahmen hin, eben jenen Rahmen, den er zur Strafe hatte schnitzen müssen. Frodo rührte sich nicht von der Stelle, hielt sich aber verkrampft an der Lehne seines Stuhles fest, während die Blicke der jungen Hobbits auf den beiden ruhten. Als keiner ein Wort sprach, räusperte sich Saradoc erneut, dieses Mal jedoch aggressiver. Marroc holte tief Luft, sagte jedoch nichts. Die Worte schienen ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Er zögerte einen Augenblick, ehe er ein leises "Es tut mir Leid", murmelte. Frodo war überrascht jene Worte aus seinem Munde zu hören, doch wusste er genau so gut, wie alle anderen, dass dies Saradocs Werk war. Er erwiderte nichts darauf, sah Marroc nur weiterhin unverhohlen an, lockerte den Griff um die Lehne seines Stuhles ein wenig. "Willst du ihn nicht annehmen?", fragte Marroc dann barsch. Frodo blickte kurz zu Merry, dessen Augen noch immer auf ihm und seinem Gegner ruhten. "Nein", sagte er dann. "Ich brauche nichts, was du gemacht hast, denn nichts davon würde dem Wert meines Bildes gerecht werden. Nichts, was aus deinen Händen stammt, selbst nicht wenn du wochenlang hart daran gearbeitet hättest, würde wiedergutmachen, was du getan hast." Er wandte sich wieder um und setzte sich hin. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals und er hatte Mühe das Zittern seiner Hände zu verbergen. "Behalte ihn!" Marrocs Augen blitzten wütend. Wäre Saradoc nicht hinter ihm gestanden, hätte er den Jungen gepackt und ihm erzählt, was er behalten konnte! Seine möchtegern-großen Aussagen und seine Augen! Auch wenn er klar die Angst in seinem Blick hatte erkennen können, so war dort doch auch etwas anderes gewesen. Ein Glimmen, ein gefährliches Glühen. Wütend wandte er sich ab und stapfte davon.
Saradoc lächelte zufrieden. Frodo lernte langsam, sich zu behaupten, auch wenn er nicht danach aussah, als wäre ihm das leicht gefallen. Er nickte den Kindern zu, ehe auch er sie wieder alleine ließ.
Frodo atmete erleichtert auf, als sie gegangen waren. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Es war Marrocs Strafe gewesen, doch wie konnte er auch nur einen Augenblick glauben, er würde den von ihm gemachten Bilderrahmen annehmen, um das Bild seiner Eltern darin aufzubewahren? Seine Augen blitzten wütend, als er Marroc hinterher sah. Merry war aufgestanden und legte ihm plötzlich eine Hand auf die Schulter. "Gut gemacht, werter Vetter!" Frodo lächelte, entspannte sich langsam, während er von einem zum anderen sah. Sie hatten von der Geschichte mit dem Bild gehört und nickten nun alle bestätigend. "Manchmal scheint es mir unmöglich, mit ihm verwandt zu sein", seufzte Nelke, die sich ebenfalls wieder an den Tisch gesetzt hatte. Keiner ging auf Nelkes Aussage ein und bald darauf setzten sie ihr Kartenspiel fort.
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Ein Lächeln huschte über Frodos Gesicht. Seine Finger glitten zärtlich über das glatt geriebene Holz, das nun das Bild seiner Eltern umrahmte. Er hatte es wieder, heil und unversehrt, und nie wieder würde er zulassen, dass so etwas wie mit Marroc noch einmal geschah. Marroc. Seine Miene verfinsterte sich. Dieses Mal war er zu weit gegangen.
Es klopfte an der Tür. Frodo wandte sich um und entdeckte Merry, der mit einem breiten Grinsen in das Zimmer stapfte. "Es gibt Arbeit!" meinte er. "Kinder müssen gehütet werden." Frodo zog eine Augenbraue hoch. "Berilac, Merimas und vermutlich auch Minze, werden heute Nachmittag unter unserer Aufsicht stehen." Noch immer hatte Frodo die Stirn gerunzelt und betrachtete Merry kritisch. "Weshalb stimmt dich das so fröhlich?" "Weil wir so unsere Zeit möglicherweise mit Minto und Marmadoc verbringen können und trotzdem ‚etwas Nützliches' machen, um es mit Papas Worten auszudrücken." Frodo nickte, hatte aber wenig Hoffnung, dass sich Merrys Vermutung erfüllen würde.
Merimas grinste über das ganze Gesicht, als er Frodo auf den Sandkasten zukommen sah und kam ihm sogleich mit einer Schaufel in der Hand entgegengelaufen. Voller Freude berichtete er ihm, dass er und Berilac vorhatten, Höhlen zu bauen und dass sie dazu sogar Wasser verwenden durften. Natürlich stand es für ihn außer Frage, dass Frodo und Merry ihnen dabei behilflich sein würden. Frodo verdrehte die Augen bei dem Gedanken daran, den Nachmittag im Sandkasten zu verbringen. Merimas sprang sofort wieder in den Sand, schüttete ein wenig Wasser in eine Grube, die er gegraben hatte und füllte diese dann mit noch mehr Sand auf, sodass ein fester Matsch entstand. Berilac saß neben ihm, summte leise, während er die von ihm gebaute Höhle in Form brachte. Auf der niedrigen Holzbank, die den Sandkasten umschloss, saß Hanna, die darauf achtete, dass ihre Tochter Minze nicht an den Wassereimer kam, den das Kind besonders zu interessieren schien. Frodo begrüßte sie und ließ sich neben ihr auf die Bank sinken. "Passt gut auf sie auf!" ließ Hanna verlauten, "Und achtet darauf, dass sie nicht zuviel Wasser nehmen." Frodo nickte und nahm den Wassereimer an sich, den Minze gerade in ihren Besitz bringen wollte. Merry nickte ebenfalls, als er sich auf die Holzbank setzte und einen prüfenden Blick in Richtung der Kinder warf. Ein Lächeln huschte über Hannas Gesicht, ehe sie sich verabschiedete und die beiden mit den Kindern alleine ließ.
Es war ein angenehmer Frühlingstag und die warme Luft ließ bereits den nahenden Sommer erahnen. Der Duft von Kirschblüten und unzähliger anderer Blumen schmeichelte den Nasen der Auenlandbewohner. Merry griff sogleich nach einer Schaufel und begann damit, seine eigene Höhle zwischen die von Merimas und Berilac zu bauen. Frodo stand der ganzen Sache noch immer kritisch gegenüber, zog fragend eine Augenbraue hoch. Er schreckte zurück, als Merimas ihm plötzlich schwungvoll eine Schaufel entgegenstreckte und damit vor seinem Gesicht herumwackelte. Gerade wollte er dem Kind erklären, dass er eigentlich nicht vorhatte, ebenfalls Sandhöhlen zu bauen, als ihn ein Platschen darauf aufmerksam machte, dass Minze den Wassereimer endlich für sich entdeckt hatte. Schnell entriss Frodo ihr den Eimer wieder, doch das Wasser schwappte über und tropfte auf das Kleid des Hobbitmädchens. Aus Minze sprudelten die Wortfetzen nur so heraus, als sie schimpfend nach dem Eimer verlangte und versuchte, über Frodos Schoß zu klettern, denn dieser hatte den Wassereimer nun auf der anderen Seite abgestellt. Trotzig schlug das Mädchen auf Frodos Arme, als dieser ihre kleinen Hände davon abhielt, ins Wasser zu platschen. "Nein!" meinte er dann mit strengem Blick auf Minze, ließ den Eimer demonstrativ unter der Holzbank verschwinden und stellte seine Füße davor. Minze sah ihn erbost an und fuhr damit fort, sich zu beklagen, während sie versuchte, Frodos Füße zur Seite zu schieben.
Frodo wandte sich zu Merry um, der inzwischen in das Gesumme von Berilac und Merimas mit eingestimmt hatte. Seine Finger strichen geschickt hier noch ein wenig Sand weg, gruben dort noch kleine Löcher hinein. Frodo traute seinen Augen nicht, starrte mit offenem Mund auf die außergewöhnlich hohe Höhle die zwischen denen von Merimas und Berilac emporragte. "Merry, du wolltest Kinder hüten und keine Sandhöhlen bauen!" rief er aus, während er Minzes Hand zur Seite schob, als das Mädchen seine Zehen kitzelte. "Ich hüte Kinder", ließ Merry ihn grinsend wissen und betrachtete stolz seine Arbeit, ehe er einmal nach links und einmal nach rechts schielte, bevor seine Augen auf Frodo zur Ruhe kamen. Mit den Händen deutete er auf die beiden Jungen neben sich. "Sie sind brav, sie sind still, sie sind zufrieden!" Er grinste, betrachtete seine Höhle kritisch und wandte sich dann noch einmal an Frodo: "Würdest du mir bitte das Wasser reichen?" "Merry, du…", weiter kam er nicht, denn er zuckte schmerzvoll zusammen und schlug sich dabei die Ferse an. Minze war inzwischen dazu übergegangen ihm das Fußhaar auszuzupfen, in der Hoffnung, dadurch an den Eimer zu kommen. "Minze, hör auf damit!" schimpfte er, griff nach den kleinen Händen und hob das Mädchen hoch. Dieses protestierte lauthals und versuchte, sich aus Frodos Armen zu befreien.
Ein Kichern ließ ihn aufblicken. "Mir scheint, du hast den Nachwuchs nicht im Griff", meinte Nelke, die unmittelbar gefolgt von Rubinie zum Sandkasten kam und sich nicht einmal die Mühe machte, sich das Lachen zu verkneifen. Frodo warf ihr einen vielsagenden Blick zu, sah dann aber zu Merry ehe er die Augenbraue hochzog und wieder zu den Mädchen blickte. "Fragt sich nur, welchen Nachwuchs." Rubinie kicherte und auch Nelke hatte das Gesicht noch immer zu einem Grinsen verzogen. "Das Wasser bitte!" ließ Merry ungeduldig verlauten, keine Notiz von den Mädchen nehmend. Frodo schob ihm den Eimer zu und wurde sogleich von Merry zurechtgewiesen, er solle vorsichtiger sein und seine Höhle nicht zerstören. Mit einem Seufzen verdrehte Frodo die Augen und blickte gequält zu Minze, die noch immer nicht aufgehört hatte, zu quengeln. Nelke und Rubinie standen regungslos vor dem Sandkasten und schmunzelten in sich hinein. "Warum passt du eigentlich nicht auf die Kinder auf?", fragte Frodo an Nelke gerichtete. "Du bist schließlich ein Mädchen und wirst eines Tages Kinder haben." Merry hob den Kopf. "Die armen Kinder, die dich zur Mutter haben, werden ihr Leben lang gestraft sein!" rief er mit dramatischem Tonfall aus und begann zu kichern. Das Grinsen in Nelkes Gesicht verschwand, als sie auf Merry zustapfte und ihm mit der flachen Hand auf dessen Hinterkopf schlug. Merry zuckte, noch immer kichernd, zusammen, hatte aber seine Hand schützend erhoben. "Pass auf meine Höhle auf!" fuhr er sie an, als er sicher war, dass sie sich wieder von ihm entfernte. Frodo schüttelte den Kopf. "Wenn du so mit deinen Kindern umgehst, dann muss ich Merry Recht geben." Verzweifelt versuchte er sich das Grinsen zu verkneifen, als Nelke nun auf ihn zutrat. Wäre er nicht noch immer damit beschäftigt gewesen, das weinende Kind auf seinem Schoß vom Wassereimer, der nun hinter ihm stand, fernzuhalten, hätte auch er die Hände schützend erhoben, doch so konnte er nur abwarten und hoffen, nicht auch gezüchtigt zu werden. "Gib mir die Kleine!" verlangte sie, ihren strafenden Blick auf ihn gerichtet und setzte sich neben ihm hin. Während sie Minze in den Arm nahm, wandte sie sich noch einmal an Merry. "Lieber mich zur Mutter, als dich zum Vater! Flegel!" Frodo kicherte in sich hinein, erntete dadurch einen mahnenden Blick von Merry und Nelke. Sein Grinsen verschwand dennoch nicht. Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte sie erwartungsvoll an. Sollte sie ihm beweisen, dass sie den Nachwuchs besser unter Kontrolle hatte, als er.
Zu seiner Enttäuschung (und doch auch zu seiner Erleichterung) hatte Nelke das Mädchen schnell zur Ruhe gebracht. Minze schien jegliche Gedanken an den Wassereimer vergessen zu haben, als sie eine Schaufel gereicht bekam, mit der sie nun zufrieden im Sand herum klopfte. Frodo staunte, ließ sich seine Verwunderung jedoch nicht anmerken. Ein breites, siegreiches Grinsen erschien auf Nelkes Gesicht und auch auf dem von Rubinie, die sich neben ihnen ins Gras sinken ließ.
"Fertig!" verkündete Merry voller Stolz und betrachtete sein Werk mit leuchtenden Augen. Alle wandten sich zu ihm um. Berilac betrachtete die Höhle abschätzig. "Meine ist schöner!" meinte er dann. Merry warf ihm einen vielsagenden Blick zu. "Du bist nur neidisch!" Ein breites Grinsen erschien auf Merimas' Gesicht. "Meine ist am schönsten!" verkündete er dann stolz und um das auch sicherzustellen, ließ er seine Schaufel schwungvoll auf Merrys Werk niedersausen. Merrys Augen weiteten sich in Entsetzen. "So etwas macht man nicht, du kleiner, gemeiner Fiesling von einem Hobbit." "Merry!" fuhr Frodo ihn erschrocken an, doch es war bereits zu spät. Stolz wiederholten Merimas und Berilac das neu gelernte Wort und selbst Minze versuchte sich darin, es richtig nachzusprechen. "Sehr gut gemacht!" meinte Nelke und schüttelte den Kopf. Frodo seufzte und Merry zog beschämt den Kopf ein.
Mit einem erschrockenen Ausruf sprang Frodo plötzlich auf, wäre beinahe rückwärts in den Sandkasten gestolpert. Nelke, Rubinie und Merry brachen in schallendes Gelächter aus. Während die Hobbits damit beschäftigt gewesen waren, Merry strafend anzusehen, hatte sich Minze unbemerkt zum Wassereimer geschlichen und dessen Inhalt über Frodos Hose verteilt. "Minze!" schimpfte Frodo, rieb mit den Händen über seine Hose, während ihm das Wasser in kleinen Rinnsalen die Beine hinunter lief. Missmutig runzelte er die Stirn und seufzte. "Eigentlich hatte ich gedacht, dass du…", weiter kam Merry mit seiner klugen Bemerkung nicht, denn ein wütendes Funkeln in Frodos Augen brachte ihn zum Schweigen. Sein Vetter biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszuprusten, versagte aber. Rubinie und Nelke hielten sich ebenfalls vor Lachen die Bäuche, nur Frodo blickte missmutig von einem zum anderen. Minze hatte sich hinter Nelke versteckt und blickte mit großen, unschuldigen Augen zu ihm auf. Er schüttelte den Kopf, versuchte weiterhin, seine Hose trocken zu reiben und setzte sich zu den anderen, als diese sich wieder beruhigt hatten, warf dabei allerdings einen besonders strafenden Blick zu Minze.
Kapitel 44: Auf dem Brandywein
Frodo zuckte erschrocken zusammen, als er Stimmen vernahm, die auf ihn zukamen. Regungslos verharrte er unter den Sträuchern, ließ seine Augen in alle Richtungen wandern. Merimac trottete lachend mit seiner Gattin Adamanta an den Beerensträuchern vorüber, unter denen Frodo sich versteckte. Wie so oft um diese Jahreszeit, der Nachlithe ging bereits zu Ende, hatte Frodo sich heimlich zu den Beerensträuchern zurückgezogen, wo er sich in aller Ruhe an den süßen Beeren gütlich tat.
Es war ein sonniger Tag und der angenehme Geruch von frisch gemähtem Heu, Lilien und Gladiolen hing in der Luft. Der Himmel leuchtete in einem strahlenden Blau, die Vögel zwitscherten und der Wind säuselte leise, als er zärtlich über die Wälder und Felder des Auenlandes strich. Die Haare wurden ihm ins Gesicht geweht, als Frodo den Hobbits mit seinen Augen folgte. Er verbrachte den Nachmittag alleine, denn Merry war mit seinem Vater auf den Brandywein hinaus gefahren. Merry sollte sein Können im Umgang mit Booten verbessern und dabei war er einerseits wenig von Nutzen und noch dazu, hielt sich sein Interesse dafür in Grenzen. Er hatte nie wirklich gelernt, mit Booten umzugehen, denn immer war er zu jung gewesen. Als er dann das nötige Alter erreicht hatte, war er nicht mehr daran interessiert, in ein Boot zu steigen und so war es auch heute noch. Für ihn war es genug, in der Lage zu sein, mit der Fähre das andere Ufer erreichen zu können, mehr brauchte er nicht. Merry hingegen war von der Bootsfahrt ganz und gar begeistert. Den ganzen Morgen war er übermütig um ihn herum gesprungen, hatte von nichts anderem mehr gesprochen. Inzwischen war er bestimmt schon irgendwo inmitten des Flusses und kämpfte gegen die Strömung an. Frodo schauderte unwillkürlich. Der Gedanke an die Strömung des Flusses und Boote die darauf trieben, war ihm selbst nach fast fünf Jahren noch immer nicht geheuer.
Er erhob sich von seinem Versteck, als sich Merimac und Adamanta weit genug entfernt hatten. Nachdem er sich noch jeweils eine Himbeere und ein kleines Johannisbeersträußchen gepflückt hatte, ging er ebenfalls zum Brandyschloss zurück. Für den Augenblick hatte er genug Beeren.
Sein Weg führte ihn in die Bibliothek. In den letzten Wochen hatte er außergewöhnlich wenig gelesen und fand, dass es höchste Zeit war, dem entgegenzutreten. Gedankenverloren ging Frodo durch den dunklen Raum. Die Bibliothek besaß keine Fenster und selbst im Sommer war es in diesem Zimmer des Brandyschlosses ungewöhnlich kühl, denn auch einen Kamin gab es hier nicht. Die Bibliothek war lediglich ein Raum, aus dem Bücher geholt und wieder zurückgebracht wurden. Gelesen wurden die Bücher meist woanders, außer ein Hobbit schätzte die Stille und machte sich nichts aus der kühlen, stickigen und modrigen Luft des Zimmers. Frodo gehörte zu diesen Hobbits. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er sich daran erinnerte, wie er selbst damals, als er kaum in der Lage gewesen war, mehr als einige Worte zu lesen, hierher gekommen war. Meist war es spät in der Nacht gewesen, wenn er eigentlich hätte schlafen sollen, doch er hatte sich aus seinem Zimmer geschlichen, einen Kerzenhalter mit sich genommen und war dann oft stundenlang in der Bibliothek gesessen, um in all den Büchern zu blättern. Ihn störte der Geruch nicht. In Wahrheit mochte er ihn sogar, den unverwechselbaren Duft von altem Leder, den modrigen Geruch von vergilbtem Papier. Frodo sog ihn tief in sich ein, als seine Finger über die Buchrücken strichen. Er fragte sich, ob es in Bruchtal wohl auch solche Bibliotheken gab. Mit einem amüsierten Lächeln schüttelte er den Kopf. Natürlich gab es dort Bibliotheken, vermutlich solche, die noch sehr viel größer waren, als die des Brandyschlosses und alle Bücher und Schriftrollen waren in elbischer Sprache verfasst. Ein sehnsüchtiges Seufzen entwich seinen Lippen. Wie lange hatte er schon nicht mehr elbisch gesprochen? "Elbereth", flüsterte er und runzelte die Stirn. Er hatte den Namen der Schöpferin der Sterne schon lange nicht mehr laut ausgesprochen und nun, da er es tat, klang er fremd und zugleich vertraut in seinen Ohren. Wie lange war es her, dass er diesen Namen das erste Mal vernommen hatte. Gedankenverloren schloss er die Augen.
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Er konnte das Feuer im Kamin prasseln hören, roch plötzlich, neben den Büchern, auch den Geruch von Pfeifenkraut. Bilbo hatte sich vor dem Kamin in Beutelsend niedergelassen, während er selbst einen Turm baute, aus den Karten, die er von seinem Onkel erhalten hatte. Er war glücklich gewesen, in jenen lang vergangenen Tagen in Beutelsend, auch wenn sein Herz schwer gewesen war. Es war so lange her und doch erinnerte er sich an jenen Abend, als wäre es vor wenigen Tagen gewesen. Damals hatte er das erste Mal von Elebereth, von Varda gehört. Er hatte das erste Mal von Valinor erfahren und von der Erschaffung der Sterne.
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Als er die Augen wieder öffnete, bemerkte er, dass er die Gemütlichkeit und die Ruhe der geräumigen Hobbithöhle in Hobbingen vermisste und dass ihm Bilbo sehr fehlte. Noch immer schrieb er ihm regelmäßig Briefe und erhielt auch jedes Mal eine Antwort, doch hatte er ihn nun schon seit mehr als drei Jahren nicht mehr gesehen. Er seufzte leise. Ob er ihn darum bitten sollte, ihn wieder einmal besuchen zu dürfen? Ob er fragen sollte, ob nicht Bilbo wieder nach Bockland reisen konnte? Frodo schluckte, schüttelte kaum merklich den Kopf. Nein, das konnte er nicht machen. Es war eine weite Reise von Hobbingen bis nach Bockland. Er würde niemals die Erlaubnis erhalten, sich alleine auf den Weg zu machen und von Bilbo konnte er nicht verlangen diesen Weg auf sich zu nehmen, außer er wollte es von sich aus. Frodo wusste aus den Briefen, dass auch Bilbo ihn vermisste, doch wagte er dennoch nicht, ihn danach zu fragen. Es erschiene ihm unhöflich.
Vehement schüttelte er den Gedanken ab. Er würde Bilbo wieder sehen, das hatte der alte Hobbit bei ihrem letzten Treffen versprochen, er brauchte nur zu warten. Ohne nachzusehen, wonach er seine Hand ausstreckte, griff er nach einem Buch. Der Titel verkündete stolz: Geschichten aus dem Alten Wald. Verwundert und erfreut zugleich zog Frodo eine Augenbraue hoch. Dieses Buch könnte ihm gefallen. Mit einem Lächeln auf den Lippen strich er über den dunklen, ledernen Einband, wischte den Staub davon ab und verließ dann die Bibliothek auf leisen Sohlen.
Frodo war bereits in die ersten Seiten des Buches vertieft, als er durch die Gänge des Brandyschlosses wieder nach draußen lief. Sein Weg führte ihn an der Küche vorbei. Ein verführerischer Geruch brachte ihn zum stehen, ließ ihn neugierig aufblicken. Er streckte die Nase in die Luft und schnüffelte. Es roch nach frisch gebackenem Kuchen und nach Himbeeren. Frodo klappte das Buch zu, spähte vorsichtig in die Küche. Er konnte niemanden sehen, doch hörte er Esmeralda und seine Großmutter, die sich mit einem anderen, männlichen Hobbit unterhielten. Frodo erkannte dessen Stimme nicht, und obschon er neugierig war, wer es sein konnte, übte doch der Kuchen, der noch immer dampfend auf der Anrichte stand, eine weitaus größere Anziehungskraft auf ihn aus. Noch immer genüsslich schnuppernd trat er näher. Sein Magen meldete sich mit einem hungrigen Knurren. Frodo verzog verlegen das Gesicht und blickte sich versichernd um. Ein Stück würde er sich bestimmt nehmen dürfen. Rasch hatte er sich ein Messer aus der Schublade geholt und sich ein großzügiges Stück des Himbeerkuchens abgeschnitten. Mit einem schmerzvollen Zischen zog er die Hand wieder zurück, mit der er die Leckerei hatte aufheben wollen und ließ seinen kühlen Atem über seine Finger wandern, die er sich am Kuchen, der vermutlich gerade erst aus dem Ofen genommen worden war, verbrannt hatte.
Esmeraldas Kopf erschien in der Tür, die in das Esszimmer führte. "Frodo!" rief sie überrascht aus. "Wirst du wohl die Finger vom Kuchen lassen! Den gibt es erst später." Erschrocken trat Frodo einen Schritt zurück, verschränkte rasch die Hände hinter dem Rücken, senkte den Kopf und grummelte etwas Unverständliches. Tiefes, lautes Lachen drang an sein Ohr und er hob überrascht den Kopf. Neben Esmeralda erschien die kräftige Gestalt von Bauer Maggot. Frodo schnappte nach Luft, trat unwillkürlich einen weiteren Schritt zurück und blickte nervös nach allen Seiten, beinahe damit rechnend, die Hunde des Bauern würden plötzlich wieder knurrend und kläffend vor ihm stehen. Dann machte er auf dem Absatz kehrt, griff nach seinem Buch und eilte aus der Küche. Er konnte gerade noch hören, wie der Bauer ihn einen Tunichtgut nannte und daraufhin erneut in schallendes Gelächter ausbrach.
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Tief in den Zeilen versunken, die er las, lag Frodo im weichen Gras des Hügels, nicht weit unter der großen Eiche. Über ihm waren die anderen Kinder des Brandyschlosses in ein Spiel vertieft, doch Frodo nahm ihre fröhlichen Stimmen kaum wahr. Auch Merrys Stimme hörte er nicht, die verzweifelt nach ihm rief, als die Sonne nach Westen zog und sich langsam tiefer senkte.
Erst als es zu dunkel zum Lesen wurde, kehrte er in die Wirklichkeit zurück und blickte sich verwundert um. Die Stimmen der Kinder waren verstummt und die Sonne war nur noch ein blasser Streifen am westlichen Horizont. Überrascht sprang er auf und eilte zur großen Eiche hinauf. Als er zum Brandyschloss hinüber blickte, sah er, dass in den Fenstern der großen Höhle bereits Lichter brannten. Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass es höchste Zeit für das Abendessen war, zu dem er vermutlich zu spät kommen würde. Schnell rannte er zur Höhle und stürmte in das Esszimmer, wo, wie er befürchtet hatte, bereits alle versammelt waren und sich aus großen Schüsseln Salat schöpften, während andere einige Platten mit Fleisch herumreichten. Saradoc sah ihn streng an, als Frodo sich, völlig außer Atem, an seinen Platz setzte. "Du bist zu spät", erklärte er trocken. "Du weißt, wann du zu Hause sein solltest." Frodo nickte betroffen und senkte den Kopf. Aus den Augenwinkeln erkannte er ein freches Grinsen in Merrys Gesicht und gab seinem Vetter, der neben ihm saß, einen leichten Tritt ins Schienbein. Merry presste die Lippen zusammen und schielte zu seinem Vater, der den Blick noch immer nicht von Frodo abgewandt hatte. "Du wirst Mirabella beim abräumen der Tische helfen", meinte Saradoc dann und schaute kritisch auf das Buch, das Frodo mit sich gebracht hatte. "Bücher gehören nicht an den Tisch." Frodo nickte missmutig, griff aber rasch nach dem Buch und legte es sich auf den Schoß, ehe auch er nach einer Salatschüssel langte.
Mit einem zufriedenen Seufzen legte Frodo seine Gabel hin und lehnte sich im Stuhl zurück. Seine Finger strichen ungeduldig über den ledernen Einband und die rauen Seiten des Buches. Er konnte es kaum abwarten, weiter zu lesen. Saradoc räusperte sich und erinnerte Frodo daran, dass er etwas zu erledigen hatte. Missmutig blickte der junge Hobbit auf, machte sich dann aber dennoch daran, den Tisch abzuräumen. Merry war ihm freiwillig dabei behilflich, doch das nicht ganz ohne Grund. Er erzählte ihm von seinem Nachmittag auf dem Brandywein und versuchte Frodo die Kunst des Bootfahrens schmackhaft zu machen. "Du musst morgen unbedingt mitkommen!" verlangte er. "Das Wetter ist perfekt um zu fischen. Und mit dem Boot auf dem Wasser…", ein verträumter Ausdruck schlich über sein Gesicht und Merry seufzte glücklich. "Es ist so wunderschön, Frodo. Du musst unbedingt mitkommen. Außerdem kann ich sehr gut mit einem Boot umgehen. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du Papa fragen." Frodo schüttelte den Kopf. "Ich glaube dir, doch ich will nicht mit einem Boot auf den Fluss." "Komm schon. So schlimm ist das nicht. Es macht sogar riesigen Spaß, wenn du einmal drinnen sitzt. Du warst schon viel zu lange nicht mehr mit einem Boot draußen", erklärte Merry, unwillig so schnell nachzugeben. "Das hat seine Gründe", entgegnete Frodo scharf. "Ich war schon immer selten auf dem Fluss und nachdem meine Eltern…", er stockte kurz. Noch immer fiel es ihm schwer, dieses Ereignis in Worte zu fassen. "… diesen Unfall hatten, ist mir die Lust auf Bootfahrten gänzlich vergangen. Und das wird sich auch nicht ändern, nur weil dein Vater meint, dass er dich inzwischen auch alleine auf den Fluss lassen kann." "Aber ich kann es wirklich!" beharrte Merry und nahm einen weiteren Stapel Teller mit sich, um sie in die Küche zu tragen. "Ich habe mein halbes Leben in Booten verbracht, du bräuchtest dir also überhaupt keine Sorgen zu machen. Außerdem möchte ich mit dir fischen gehen." "Dann gehen wir fischen", meinte Frodo und drehte sich zu ihm um, als sie in die Küche gingen. "Wir laufen nach Süden, wo das Wasser tiefer ist, setzen uns ans Ufer und…" "Am Ufer", grummelte Merry, "ist es sterbenslangweilig und wir müssen ewig warten, bis endlich ein Fisch anbeißt." "Dann wirst du auf mich verzichten müssen", schloss Frodo, stellte das Geschirr ab und sah seinen Vetter ernst an, ehe er erneut ins Esszimmer trottete. "Ich werde in kein Boot steigen." "Du weißt doch gar nicht, was dir entgeht!" versuchte Merry verzweifelt zu überzeugen. "Und ich will es auch gar nicht wissen." "Frodo, der Fluss ist nicht dein Feind. Du wirst nicht sterben, nur weil du mit mir fischen gehst." Frodo drehte sich abrupt um, sodass Merry beinahe in ihn hinein gerannt wäre. Ein gefährliches Funkeln trat in seine Augen, als er seinen jüngeren Vetter scharf ansah. "Du solltest nicht von Dingen sprechen, die du nicht verstehst, Meriadoc." Merry zuckte zusammen, als Frodo ihn bei seinem vollen Namen nannte, etwas, das äußerst selten geschah. "Ich werde nicht mit dir in ein Boot steigen, und wenn du noch so gut damit umgehen kannst. Wenn du mit mir fischen gehen willst, können wir das gerne machen, aber nicht in einem Boot." Merry seufzte verzweifelt, als Frodo zum Esstisch trottete und ihn alleine stehen ließ. Er hatte so sehr gehofft, seinen Vetter überreden zu können. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals mit ihm fischen gegangen zu sein und hatte sich gewünscht, dies nachholen zu können. Frodo wusste genauso gut wie er, dass man am Ufer keine Fische fing, auch wenn man ein noch so guter Angler war. Mit traurigen Augen eilte er ihm hinterher, sah fast flehentlich zu seinem Vetter auf. "Auch nicht, wenn ich dich darum bitte?" Frodo schüttelte den Kopf und lief mit den letzten Schüsseln an Merry vorüber, zurück in die Küche. Sein Vetter trottete mit gesenktem Kopf hinter ihm her. "Es würde bestimmt Spaß machen", sagte er und ließ nur den kleinsten Hauch von Traurigkeit in seiner Stimme mitklingen. Auch wenn Frodo ihn zuvor fast zornig angesehen hatte und ihn nun beinahe zu meiden schien, wollte Merry noch nicht aufgeben.
Frodo stöhnte auf und drehte sich zu ihm um. Er vermutete, dass Merry Recht hatte und er wäre gerne mit ihm fischen gegangen, doch wagte er es nicht. Zwar gestand er sich das nicht ein, doch er fürchtete sich davor, mit einem Boot auf den Brandywein hinaus zu fahren. Alleine der Gedanke in ein Boot zu steigen, ließ ihn erschaudern. Seine Mutter war, genau wie Merry, davon überzeugt gewesen, sich mit Booten und der Strömung des Flusses auszukennen und doch war sie ertrunken. Das Können seines Vaters hatte sich zwar in Grenzen gehalten, doch war Primulas Vorliebe für Bootfahrten im Mondschein auf ihn übergegangen. Und auch Frodo hatte es gemocht, sich auf der gemächlichen Strömung des Flusses treiben zu lassen, doch seit seine Eltern ums Leben gekommen waren, hatte sich diese Vorliebe ins Gegenteil gewandelt und er traute weder den Booten, noch dem Fluss.
"Ich weiß", seufzte Frodo schließlich. "Aber ich kann nicht." Merry sah zu ihm auf, spürte förmlich, wie er Frodos Sturkopf zum Schmelzen brachte. "Willst du es denn nicht einmal versuchen?" Er konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass sein Vetter wegen dem Tod seiner Eltern Angst vor Booten hatte, doch andererseits, war bei Frodo alles möglich. Als Frodo nicht antwortete, fügte er mit einem leisen Seufzen hinzu: "Wenn du noch immer nicht willst, nachdem wir bei der Bootanlegestelle waren, können wir uns immer noch irgendwo ans Ufer setzen und auf unser Glück hoffen." Frodo schwieg weiterhin, setzte sich jedoch wieder in Bewegung, um ein letztes Mal in das Esszimmer zu gehen, wo er das Buch holen wollte, welches er auf seinem Platz hatte liegen lassen. Merry folgte ihm, sah ihn die ganze Zeit erwartungsvoll an, bis er schließlich antwortete. "Also gut, ich werde mit dir kommen. Aber du musst mir versprechen, dass du mir weder böse noch beleidigt sein wirst, wenn ich nein sage." Merry grinste von einem Ohr zum andern. "Ganz bestimmt nicht!" rief er erfreut. "Ich werde sofort Papa Bescheid sagen." Mit diesen Worten sprang er davon, ließ seinen Vetter alleine im Licht der Lampen stehen. Frodo blickte ihm beunruhigt hinterher, runzelte die Stirn und fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, einzuwilligen.
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Die ersten Sonnenstrahlen schienen durch das Fenster in Frodos Zimmer. Frodo blinzelte kurz, rümpfte verschlafen die Nase und drehte sich noch einmal um. Das fröhliche Gezwitscher der Vögel hielt ihn davon ab, wieder einzuschlafen und auch Merimas, der im Gang vor seiner Tür lauthals nach seiner Schwester rief, war keine große Hilfe dabei, noch ein wenig Schlaf zu finden. Gähnend rappelte er sich auf und blickte verschlafen aus dem Fenster. Er hatte am vergangenen Abend lange über die Bootsfahrt nachgedacht und war zu keinem Ergebnis gekommen. Zwar freute er sich darauf, mit Merry fischen zu gehen, doch dabei in einem Boot zu sitzen, war ihm nicht geheuer. Boote waren unberechenbar und man konnte nie wissen, was geschah, wenn man in eine gefährliche Strömung geriet. Dennoch hatte er sich fest vorgenommen, es zumindest zu versuchen.
Mit einer raschen Bewegung schlug er die Decke zurück, griff nach seiner Hose und zog sich an. Er war gerade damit beschäftigt, sich die obersten Knöpfe seines Hemdes zuzuknöpfen, als er schnelle Schritte näher kommen hörte. Kurz darauf wurde seine Zimmertür schwungvoll geöffnet und Merry stand schnaufend vor ihm. "Ein herrlicher Tag!" verkündete dieser übermütig grinsend. "Wir sollten sofort aufbrechen. Wir brauchen noch Würmer und Maden und diese sollten wir sammeln, ehe das ganze Schloss auf den Beinen ist." Frodo zog grinsend eine Augenbraue hoch. "Guten Morgen, Merry. Danke, ich habe sehr gut geschlafen und nein, du hast mich überhaupt nicht erschreckt, als du hereingestürmt kamst." "Das wusste ich", meinte Merry ernst, als er Frodo förmlich aus dem Zimmer scheuchte. Frodo kicherte, als sie den Gang entlang liefen und das Brandyschloss durch die Hintertür verließen. Einige verschlafene Hobbits blickten ihnen verwundert hinterher, denn es war keineswegs üblich, die Höhle vor dem Frühstück zu verlassen.
Frodo verzog angeekelt das Gesicht, als sie zum Misthaufen liefen. "Glaubst du nicht, wir finden die Maden auch an einem anderen Ort, an dem es besser riecht?", presste Frodo hervor, der sich alle Mühe gab, nicht zu atmen. Merry schüttelte den Kopf, ließ seine Augen über die verwelkten Pflanzen, verfaulten Tomaten und verschimmelten Gemüseresten wandern und wurde rasch fündig. Frodo gab einen angeekelten Laut von sich, als Merry in den Mist hineinlangte und einige Maden herauspickte um sie anschließend in einem Eimer zu deponieren. "Ich werde mich um die Würmer kümmern", meinte er dann und ließ Merry wissen, dass er zum Gemüsegarten kommen solle, sobald er fertig war.
Frodo brauchte nicht lange zu graben, ehe auch er einige Würmer gefunden hatte. Und auch wenn seine Hände mindestens genauso schmutzig waren, wie die von Merry, war ihm die Suche im Gemüsebeet doch lieber gewesen, als die im Misthaufen.
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Der Tag war noch nicht weit fortgeschritten, als Merry und Frodo zum Fluss hinunter trotteten und doch schien die Sonne schon warm vom tiefblauen Himmel, versprach einen heißen Sommertag. Beide Kinder hatten einen voll beladenen Rucksack auf dem Rücken. Merry trug außerdem zwei Eimer mit sich, wovon einer Erde voller Würmer und Maden beinhaltete, die sie als Köder verwenden wollten. Frodo war mit zwei Ästen, an denen je eine lange Schnur mit einem stählernen Haken festgemacht war, und einem dritten Eimer bewaffnet.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Frodos Magengegend bemerkbar, als sie die Anlegestelle erreichten. Während Merry in eines der Boote kletterte und die Eimer und seinen Rucksack sicher verstaute, blieb Frodo unsicher davor stehen. Er hatte die Stirn gerunzelt, als seine Augen jeder von Merrys Bewegungen kritisch folgten. Jetzt, da er hier war, glaubte er nicht mehr, dass er in das Boot steigen wollte. Unwillkürlich machte er einen Schritt zurück. "Du hast es versprochen!" erinnerte ihn Merry sogleich, dem Frodos Zurückweichen nicht entgangen war. Frodo schluckte und sah Merry mit einem stummen Flehen in seinen Augen an, doch Merry schüttelte den Kopf. "Das Boot ist noch an Land", wies er ihn hin. "Es kann also überhaupt nichts geschehen." Frodo warf ihm einen vielsagenden Blick zu, seufzte leise und machte dann einen zögernden Schritt auf seinen Vetter, der bereits im Boot saß, zu. Merry grinste zufrieden, nahm Frodo die Angeln und den Eimer ab und verstaute auch diese. Frodo reichte ihm auch seinen Rucksack, doch machte er noch immer keine Anstalten, selbst in das Boot zu steigen. Erwartungsvoll zog Merry eine Augenbraue hoch, lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und wartete.
Frodo sagte die Lage gar nicht zu. Er ließ seinen Blick zum Fluss hinüber wandern, der an dieser Stelle ruhig und gemächlich dahin floss. Nur leise hörte er das Wasser fliesen. Die Vögel zwitscherten über ihm und ein kleiner Spatz setzte sich auf die Kante des Bootes, in dem Merry saß und legte den Kopf schief, als würde auch er auf ihn warten. Frodo seufzte erneut, holte dann aber tief Luft und kletterte in das Boot hinein. Der Spatz flog davon und Merry grinste von einem Ohr zum anderen. "Das wäre geschafft", verkündete er freudig. "Wie fühlst du dich?" Frodo saß völlig verkrampft da, rang sich jedoch ein Lächeln ab. "Seltsam." "Das wird sich ändern, sobald wir im Wasser sind", meinte Merry mit versicherndem Ton. Frodo krallte sich sofort an beiden Seiten des Bootes fest und starrte Merry entgeistert an. Dieser grinste. "Keine Sorge, ohne dich komme ich nicht bis ins Wasser. Du wirst noch einmal heraus kommen und mir helfen müssen." Frodo entspannte sich ein wenig, bat aber, noch ein Weilchen sitzen bleiben zu dürfen, um sich an das Gefühl zu gewöhnen, wie er sagte. Merry bemerkte, wie die Falten auf seiner Stirn langsam verschwanden und ein zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht. Er hatte gewusst, dass er Frodo dazu bringen konnte, in ein Boot zu steigen, auch wenn es etwas länger dauerte, als ihm lieb war.
Schließlich jedoch stand Frodo auf und half Merry dabei, das Boot in den Fluss zu schieben. Sie waren noch nicht sehr tief im Wasser, als Frodo wieder in das Boot klettert, während Merry es noch etwas weiter hinaus stieß, ehe auch er wieder hinein sprang. Das Boot schaukelte gefährlich, und Frodo krallte sich entsetzt an dessen Rand fest. "Merry, …", stotterte er ängstlich. "Merry, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee war. Lass uns wieder zurückgehen!" Er klammerte sich fester an das Holz, während das Boot noch immer ein wenig schaukelte, da Merry bereits nach einem Ruder gegriffen hatte. "Es schaukelt zu sehr, lass uns umdrehen." Merry seufzte und verharrte regungslos. Wenn er in Frodos ängstliches Gesicht sah und seine flache Atmung hörte, glaubte er nicht daran, dass er heute noch würde fischen können. "Das Boot ist nicht dein Feind", erklärte Merry ruhig. "Entspann dich, es wird sich gleich wieder beruhigen." Frodo erstarrte förmlich, doch die Unsicherheit wich nicht aus seinem Blick, als seine Augen von einer Seite zur anderen wanderten. Seine Fingerknöchel waren weiß geworden und Merry konnte sehen, dass er gegen ein Zittern ankämpfte. Das Boot hörte schließlich auf zu schwanken, was auch dazu führte, dass sich Frodo sichtlich beruhigte. "Kann es weiter gehen?", wollte Merry wissen. Frodo schluckte, blickte sehnsüchtig zum Ufer hinüber, doch er nickte, was ein Lächeln auf Merrys Züge zauberte. Er konnte die Angst seines Vetters deutlich spüren, doch gleichzeitig bewunderte er seinen Mut und es rührte ihn, dass Frodo ihm so sehr vertraute und, trotz seiner Furcht, bei ihm sitzen blieb.
Schwungvoll tauchte Merry das Ruder ins Wasser und trieb das Boot flussabwärts. Frodo schwieg. Seine Hände klammerten sich weiterhin krampfhaft am Rand des Bootes fest, doch ansonsten machte er einen ruhigen Eindruck. Mit der Zeit begann Merry sich jedoch zu fragen, ob er diesem Eindruck auch trauen konnte. "Frodo?", fragte er zögernd. Der Angesprochene wandte sich langsam und vollkommen verkrampft zu ihm um. Der Eindruck hatte eindeutig getäuscht, denn Merry entging der sehnsüchtige Blick, den Frodo dabei dem Ufer zuwarf, nicht. Er unterdrückte ein Seufzen. "Wovor hast du Angst? Das Boot ist ruhig, der Fluss auch. Wenn wir die Fähre benutzen, fürchtest du dich auch nicht." Frodo hob verwundert den Kopf. Merry hatte Recht. Im Grunde war das hier nichts anderes, als mit der Fähre den Fluss zu überqueren, nur, dass sie ihn dieses Mal nicht überquerten, sondern mit der Strömung trieben. "Du hast Recht", sagte er schließlich zögernd und ein gequältes Lächeln huschte über seine Züge. Zaghaft ließ er seine Hände auf seinen Schoß sinken und als er nach einiger Zeit bemerkte, dass wirklich kein Unterschied zwischen der Bootsfahrt und der Fähre bestand, entspannte er sich zusehends. Merry atmete erleichtert auf und lachte. "Siehst du, es ist halb so schlimm." Frodo grinste verlegen und nickte schwach. Er kam sich ein wenig dumm vor, für sein Verhalten und doch konnte er die Angst, die ihm noch immer im Nacken saß, nicht leugnen. Merry warf jubelnd die Hände in die Luft, brachte das Boot dadurch zum schwanken. Blitzschnell hatte Frodo sich wieder festgeklammert. "Merry!" fuhr er ihn erschrocken an. Sein Vetter lächelte verlegen und griff wieder nach dem Ruder. "Entschuldige."
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Der Tag verging schnell, als die Hobbits endlich einen geeigneten Anglerplatz gefunden hatten. Der Wind strich sacht über das Wasser, die Vögel zwitscherten in den Bäumen am Ufer. Es war ein warmer Nachmittag und beide Hobbits hatten ihre Ärmel zurückgekrempelt und die obersten Knöpfe ihrer Hemden geöffnet. Frodo hatte mehr Glück, als Merry. Er hatte bereits drei Frische gefangen, als Merry seinen ersten, einen noch recht jungen und dementsprechend kleinen Barsch, aus dem Wasser zog. Vorsichtig löste Merry den Angelhaken, denn er wollte sich nicht am Dorn, der sich am Ende der Kiemendeckel des Tieres befand, stechen. Der Barsch wand sich und zappelte, doch schließlich gelang es Merry, den Haken zu lösen und er warf den Fisch in den Eimer, in dem auch Frodos Fische lagen. Rasch griff er nach einer Made, spießte sie auf den Haken und ließ die Schnur dann schwungvoll wieder ins Wasser fallen. "Ich werde dich einholen", versicherte Merry. "Einen habe ich schon." Frodo nickte nur, verharrte dann bewegungslos, ehe er langsam die Schnur um den Ast wickelte und ebenfalls einen grün glänzenden Barsch aus dem Wasser zog, der deutlich größer war, als jener, den Merry gefangen hatte. Er grinste. "Ich bin bei vier. Wenn du mich einholen willst, musst du dich anstrengen, werter Vetter." "Das ist ungerecht!" grummelte Merry und wandte sich zu ihm um. "Ich hatte immer geglaubt, du könntest nicht fischen." Frodo zog verwundert eine Augenbraue hoch. "Weshalb?" "Erinnerst du dich noch daran, wie ich dir einmal die Brandybock-Sonder-Fischfang-Position beibringen wollte?", fragte Merry. Frodo brach in schallendes Gelächter aus, als er sich daran erinnerte, wie Merry versucht hatte, mit bloßer Hand Fische zu fangen und dabei ständig der Länge nach, im Wasser gelandet war. "Wie könnte ich das vergessen?" "Du hast damals gesagt, dass du deine eigene Methode hast, Fische zu fangen, nämlich, sie dir auf dem Markt frisch verkaufen zu lassen", murmelte Merry. "Und du hast daraus geschlossen, dass ich in meinem Leben noch nie einen Fisch gefangen habe?", beendete Frodo Merrys Gedankengang. Der Hobbit nickte. Frodo grinste. "Dann muss ich dich enttäuschen, mein lieber Vetter." "Das sehe ich", meinte Merry trocken. "Ich habe es vor langer Zeit von meinem Vater gelernt", erklärte Frodo. "Er war es, der mich die nötige Geduld und Ruhe lehrte. ‚Können oder eine ordentliche Angelrute sind halb so wichtig', hat er immer gesagt, ‚Mit Geduld, Ruhe und dem richtigen Köder, hast du die Fische schon so gut wie gefangen.'" Frodo hatte den Blick auf das Wasser gerichtet und seufzte leise. "Das letzte Mal war ich mit ihm angeln. Mama hat uns damals begleitet, das heißt, ohne sie wären wir vermutlich nie zum Fischen gekommen, denn weder Papa, noch ich, konnten mit einem Boot umgehen." Merry kicherte, als auch über Frodos Gesicht ein Lächeln huschte. "Es ist so lange her", murmelte er kaum hörbar. "Dann wurde es höchste Zeit!" meinte Merry und lächelte ihm zu. Frodo nickte und sah Merry aus traurigen und doch strahlenden Augen an. Der Wind blies ihnen sanft in die Haare und spielte mit den zerzausten Locken.
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Die Sonne ging bereits unter, als die Hobbits die Anlegestelle erreichten und das Boot aus dem Wasser zogen. In der Ferne grollte Donner. Frodo und Merry hoben überrascht die Köpfe und blickten nach Osten, von wo das Gewitter zu kommen schien. Merimacs dunkle Gestalt hob sich am Horizont ab, als sie den Hang hinauf blickten. Er rief nach ihnen, verlangte, dass einer von ihnen mit ihm kam und dabei half, das restliche Heu einzuholen, ehe es zu regnen begann. Frodo und Merry sahen einander fragend an, bis Frodo schließlich das Wort ergriff. "Geh du. Ich werde das Boot vertäuen und anschließend treffen wir uns bei den Ställen." Merry nickte, meinte noch, dass es bestimmt nicht lange dauern werde und rannte dann den Hang hinauf. "Ich werde dennoch schneller sein!" rief ihm Frodo lachend hinterher. Sein Vetter stolperte rückwärts, als er sich noch einmal zu ihm umwandte. "Das werden wir noch sehen!"
Frodo schüttelte den Kopf, als er sich daran machte, das Boot zu vertäuen. Der Wind blies nun kräftiger, doch war die Luft noch immer warm und Frodo schwitzte, obschon er die Ärmel seines Hemdes zurückgekrempelt hatte. Als er seine Arbeit beendet hatte, warf er noch einen letzten Blick in den Eimer mit den Ködern. Sie hatten noch mehr Erde hineingeworfen, um sicher zu gehen, dass die Tiere auch am nächsten Tag noch lebten, denn sie hatten sich fest vorgenommen, erneut fischen zu gehen. Acht Fische hatten sie gefangen und in einen Eimer gelegt. Diesen hob Frodo nun auf und stapfte den Hang hinauf, während das Gras seine Füße kitzelte und der Wind ihm ins Gesicht blies. Oben angekommen stellte er den schweren Eimer kurz ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
"Auf diesen Augenblick habe ich schon lange gewartet." Überrascht hob Frodo den Kopf, einen Ausdruck von Wut und Angst auf seinem Gesicht.
Kapitel 45: Schuld…
"Auf diesen Augenblick habe ich schon lange gewartet." Frodos Augen hatten sich geweitet, er schluckte schwer, verharrte aber regungslos an seinem Platz, als Marroc auf ihn zu trat. Donner grollte in der Ferne und der Wind zog leise pfeifend an ihnen vorüber. "Wo hast du dich nur die ganze Zeit herumgetrieben?", fragte Marroc höhnisch, als er ihn scheinbar nachdenklich umkreiste. "Ich warte seit Wochen auf eine Gelegenheit, dich alleine anzutreffen und das erfolglos. Doch das hat nun ein Ende."
Frodo fühlte sich wie erstarrt, als er Marrocs Bewegungen mit seinen Augen folgte. Sein Herz pochte, als wolle es ihm aus der Brust springen und Marrocs Worte lösten ein grausames Gefühl der Angst bei ihm aus. Die kalten Finger der Furcht waren in ihn eingedrungen, schienen ihn erdrücken zu wollen, doch noch kämpfte Frodo gegen das Gefühl an, wollte sich nicht davon überwältigen lassen.
Marroc grinste hämisch. Er konnte die Panik in Frodos Augen sehen, doch war es nicht nur Furcht, was er dort sah und das galt es, zu ändern. "Hier sind keine Augen, die uns gemeinsam sehen könnten, keine Ohren, die dich betteln hörten", er stellte sich vor Frodo hin und kicherte schadenfroh. "Dein Flehen war Musik in meinen Ohren und dann die Verzweiflung in deinen Augen, wundervoll. Willst du das nicht noch einmal wiederholen? Nur für mich?" Frodo sah mit funkelnden Augen in das hinterhältige Gesicht Marrocs. "Lass mich in Ruhe!" forderte er und wollte an Marroc vorüber gehen, doch dieser versperrte ihm den Weg. "Du glaubst wohl, du wärst etwas Besseres!" zischte er. "Aber da hast du dich getäuscht. Du bist nichts weiter, als ein naives, kleines Muttersöhnchen, dasselbe Muttersöhnchen, das mich noch vor wenigen Monaten, wegen eines alten, hässlichen Bildes angefleht hatte. Was hast du dir überhaupt dabei gedacht, mich zu verraten? Glaubtest du, du würdest ungestraft davon kommen, als du mich im Wohnzimmer bloß stelltest?" Frodo wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als Marroc näher auf ihn zukam. "Du hast es nicht anders verdient", presste er hervor, blickte seinem Peiniger standhaft in die Augen. Er konnte die Wut in Marroc brodeln sehen, fühlte den Zorn in jeder Faser seines Körpers vibrieren. "Halte deine Zunge im Zaun, Kleiner, sie wird dich noch in große Schwierigkeiten bringen!" zischte Marroc und drängte Frodo weiter zurück. "Deinetwegen musste ich tagelang an einem Bilderrahmen arbeiten, während der Herr mich auf Schritt und Tritt beobachtet hat. Glaub ja nicht, du wärest nun gewachsen und in der Lage, dich gegen mich zu wehren. Ich bin nicht besiegt, nur weil du den Bilderrahmen nicht angenommen hast, nein, das bin ich noch lange nicht. Wenn du gehofft hattest, dadurch zu erreichen, dass ich dich in Frieden lasse, muss ich dich enttäuschen. Darauf kannst du lange warten und wenn ich du wäre, würde ich gut auf meine Sachen Acht geben. Wie wäre es das nächste Mal mit deinem Tagebuch, oder vielleicht wieder das Bild?"
Frodo funkelte ihn wütend an. Niemals wieder, würde Marroc Hand an das Bild legen können. Es war sein Bild und niemand, niemand durfte es ihm wegnehmen. Marroc war einmal zu weit gegangen und Frodo würde nicht zulassen, dass er das noch einmal tat. Er trat einen Schritt zur Seite, um wieder auf selber Höhe mit dem Eimer mit den Fischen zu sein. Er wollte so schnell es ging nach Hause und nach seinem Bild sehen. Es durfte nicht bereits zu spät sein.
Marroc grinste ein Grinsen aus Bosheit, grimmiger Freude und Wut, denn statt überhand zu gewinnen, war die Angst in Frodos Blick zurückgewichen und hatte einem Funkeln Platz gemacht. Demselben gefährlichen Funkeln, das auch an jenem Abend in seinen Augen geflackert hatte, als er es gewagt hatte, sich ihm entgegen zu stellen. Er durfte nicht zulassen, dass sich dieses Funkeln weiter ausbreitete. "Das nächste Mal, wird es nicht nur der Rahmen sein, das versichere ich dir. Dein geliebtes Bild wirst du nicht wieder sehen, sollte ich es noch einmal in die Finger bekommen. Was hängst du überhaupt so sehr daran? Es ist nichts weiter als ein Stück Papier." Er schlug sich auf die Stirn, als wäre ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen. "Natürlich, deine Eltern. Sie sind zum falschen Zeitpunkt von uns gegangen, findest du nicht auch? Wenn es nach mir ginge, hätten sie schon viel früher sterben sollen und du mit ihnen!"
Das war zuviel für Frodo. Er konnte es nicht länger ertragen, dieses Grinsen, die Drohungen und die Verächtlichkeit, mit der Marroc von seinen geliebten Eltern sprach. Marroc hatte seine Grenzen überschritten und ehe Frodo wusste, was er tat, hatte er sich mit einem Schrei auf seinen Peiniger gestürzt und ihn zu Boden geworfen. Tränen der Wut brannten in seinen Augen und ließen sie gefährlich glitzern. Marroc starrte erstaunt in sein Gesicht, die Augen geweitet vor Schreck und Überraschung. "Sprich nicht so über meine Eltern!" keuchte Frodo, als er mit aller Kraft versuchte, Marroc am Boden zu halten, wobei er seine Knie schwer in den Bauch seines Gegners drückte und dem älteren Hobbit die Luft raubte. "Nie, nie wieder wirst du ihr Bild auch nur zu Gesicht bekommen!"
Marroc keuchte, drehte und wand sich verzweifelt unter dem klammernden Griff Frodos. Niemals hätte er ihm diese Tat zugetraut, doch es dauerte nicht lange, bis er die Kontrolle zurück erlangte. Frodo mochte zwar für einen Augenblick Kraft aus seiner eigenen Wut geschöpft haben, doch diese Kraft ließ bereits nach, nicht zuletzt, weil Frodo sich plötzlich bewusst wurde, was er tat. Ein kräftiger Stoß von Marroc genügte, um das Blatt zu wenden. Nun war es Frodo, der nach Luft schnappte, als er kraftvoll von Marroc zu Boden gedrückt wurde. "Du willst einen Kampf?", zischte er und beugte sich gefährlich nah zu ihm hinunter. "Dann sollst du einen Kampf haben." Er holte aus und ließ seine Faust schwungvoll auf Frodos Gesicht niedersausen. Sie traf Frodo hart auf die linke Wange, ließ ihn scharf die Luft einziehen. Um Frodo schlagen zu können, hatte Marroc jedoch von dessen linkem Arm ablassen müssen. Diesen hatte Frodo nun erhoben und griff nach Marrocs Handgelenk, um ihn von einem weiteren Schlag abzuhalten. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, sich zu befreien, wollte sich unter Marrocs Körper wegdrehen, doch es gelang ihm nicht. Kurz fiel sein Blick auf einen Dornbusch, der am Flussufer stand. Es musste ihm nur gelingen, Marroc dort hinein zu stoßen und er wäre frei. Mit all seiner Kraft versuchte er, Marroc von sich zu drücken, erfolglos, denn inzwischen hatte dieser wieder nach seinem linken Arm gegriffen und presste ihn in das trockene Gras. Verstohlen schielte Frodo zum Busch hinunter, hielt plötzlich unbewusst die Luft an. "Elbereth!" stieß er auf einmal laut hervor und warf Marroc mit einer ruckartigen Bewegung von sich, woraufhin sie beide den Abhang hinunter purzelten. Frodo hatte gehofft, dass Marroc ihn loslassen würde, doch kaum hatte dieser bemerkt, dass er fiel, hatte er Frodo noch fester gepackt und ihn mit sich gerissen. Nun war Frodo selbst in Gefahr in das Dorngestrüpp zu fallen und versuchte verzweifelt, ihren Sturz zu bremsen, doch wann immer ihm das gelungen wäre, wurde er von Marroc weiter mitgerissen. Dennoch war ihm das Glück hold und Marroc stürzte mit dem Rücken voraus in den dornigen Busch, während Frodo schmerzlos auf dem Bauch des älteren Hobbits landete. Er konnte förmlich hören, wie die Dornen durch den Stoff von Marrocs Hemd drangen und ihm mit gieriger Freude, den Rücken zerkratzten.
Marroc sog scharf die Luft ein und stieß Frodo, mit einem kräftigen Tritt in den Bauch, von sich, woraufhin dieser zurücktaumelte und neben dem Dornbusch ins Gras fiel.
Frodo zitterte, hielt sich keuchend den Bauch und wäre am liebsten auf der Stelle davon gerannt. Seine Wange pochte schmerzvoll und aus einem Kratzer am Unterarm tropfte Blut. Er wusste, dass es ein Fehler gewesen war, noch ehe sich Marroc gewehrt hatte, doch wusste er genauso gut, dass er jetzt nicht aufhören konnte, denn Marroc rappelte sich mit einem schmerzverzerrten Gesicht wieder auf. Würde er sich jetzt umwenden und dem Kampf aus dem Weg gehen, würde Marroc ihn grün und blau prügeln. Andererseits würde er auch verprügelt werden, wenn er blieb und weitermachte, denn er wusste, dass er Marroc unterlegen war. In der Ferne grollte Donner, während Frodo sich rasch erhob. Er wollte gehen, doch seine Angst und seine Wut geboten ihm, zu bleiben und sich nicht kampflos geschlagen zu geben, nicht dieses Mal.
Marroc taumelte, als Frodo sich erneut auf ihn warf, ging aber bereits zum Angriff über, noch ehe Frodo zu einem zweiten Schlag hatte ausholen können. Mit einer schnellen Bewegung nahm er beide von Frodos Händen in seine linke, während seine rechte ihm grob die Schulter zusammendrückte. Schmerzvoll verzog Frodo das Gesicht, war jedoch darum bemüht, seine Hände zu befreien, wollte durch Tritte versuchen, sich aus Marrocs Griff zu winden. "Was du kannst, kann ich schon lange", zischte Marroc, der nun hinter ihm stand, scharf in sein Ohr. Frodo biss die Zähne zusammen, als Marrocs rechte Hand ruckartig nach seinem rechten Handgelenk griff und ihm die Hand auf dem Rücken verdrehte. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entwich seinen Lippen.
Entsetzt schloss Frodo die Augen, als ihm Marroc einen Tritt versetzte und ihn mit dem Kopf voran in das dornige Gestrüpp stieß. Erbarmungslos zerkratzten die Dornen seine Arme und sein Gesicht, einer davon gefährlich nahe an seinem rechten Auge. Frodo war nicht mehr in der Lage, den leisen, schmerzerfüllten Schrei, der sich in seiner Kehle formte, zu unterdrücken. Er war unfähig, sich zu bewegen, als Marroc ihm sein Knie in den Rücken rammte und ihm die Luft in den Lungen raubte.
Verräterisch suchten und fanden die Dornen ihren Weg durch Frodos Hemd, schoben den Stoff zur Seite oder durchdrangen ihn mit ihren spitzen Zähnen, um sich anschließend an Frodos erhitzter, schweißnasser Haut gütlich zu tun. Der junge Hobbit hielt die Luft an, versuchte verzweifelt, sich nicht zu rühren, denn mit jeder Bewegung gruben sich die spitzen Dornen tiefer in sein Fleisch. Er hatte die Augen geschlossen, doch er wusste, dass Marroc dasselbe höhnische Grinsen im Gesicht hatte, das ihn auf Schritt und Tritt zu begleiten schien, als er sich erst vorsichtig und dann mit all seinem Gewicht auf Frodos Rücken niederließ, wohl wissend, dass er ihn dadurch noch mehr verletzte. Erneut schrie Frodo auf, spielte bereits mit dem Gedanken Marroc zu bitten, ihn gehen zu lassen, doch wollte er ihm diese Genugtuung nicht gönnen. Das warme Blut ließ dunkle, rote Flecken auf seinem Hemd sichtbar werden. Frodo biss die Zähne zusammen. Es brannte und kratzte nun an seinem ganzen Körper und er glaubte, sein Arm würde jeden Augenblick brechen, denn Marroc hatte ihn noch nicht losgelassen. Inzwischen hatte er das Gefühl, als würde Marroc mit jedem Moment der verging, schwerer werden und die Dornen tiefer in sein Fleisch treiben.
Als Frodo schon glaube, es nicht mehr länger aushalten zu können, verschwand das Gewicht und Marroc ließ von ihm ab, um sich neben dem Gestrüpp schnaufend ins Gras fallen zu lassen. Vorsichtig kroch Frodo aus den Dornen hervor, nicht ohne sich dabei noch weitere Kratzer zuzuziehen. Tränen des Schmerzes hatten sich in seinen Augen gesammelt, doch fanden sie den Weg über seine Wangen nicht. Zitternd streckte er den schmerzenden rechten Arm aus und schüttelte ihn leicht. Er keuchte, zog immer wieder scharf die Luft ein, während er sich anschließend mit der flachen Hand vorsichtig vom Hals bis unter seinen Bauchnabel strich. Die Berührung schmerzte und wo immer die Hand ruhte, färbte sich sein Hemd rot. Auch seine Arme waren vollkommen zerkratzt und blutig und Frodo wollte gar nicht erst wissen, wie sein Gesicht aussah. Er zitterte nun noch mehr als zuvor, war sein Körper nun nicht nur von Angst, sondern auch von Schmerz geschüttelt.
Frodos Hände krallten sich im Gras fest, als er mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Marroc hinüber sah. Dieser keuchte zwar und schien ebenfalls nicht schmerzfrei zu sein, doch lachte er boshaft. "Du wirst es nie lernen, nicht wahr? Mich kannst du nicht besiegen, genauso wenig, wie du dein dämliches Bild wirst retten können." Frodo stand ruckartig auf, schwankte kurz und verharrte dann regungslos. Seine Augen waren starr auf Marroc gerichtet und funkelten wütend. Das Grinsen im Gesicht des älteren Hobbits verschwand plötzlich und machte blinder Wut Platz. "Hör auf, mich so anzusehen!" schrie er hasserfüllt und seine Augen blitzten voller Zorn. Frodo wich überrascht einen Schritt zurück.
Marroc hasste dieses Funkeln. Seit er es an jenem Abend, an dem Frodo die Annahme des Bilderrahmes verweigert hatte, zum ersten Mal gesehen hatte, erfüllte es ihn mit unbändiger Wut. Er konnte diesen Blick nicht ertragen und hätte alles dafür getan, ihn nicht noch einmal sehen zu müssen.
Ehe Frodo wusste, wie ihm geschah, war Marroc aufgesprungen, hatte ihn grob an den Schultern gepackt und ihn in den Busch gestoßen. Frodo schrie auf, als sich die Dornen nun auch in die Haut an seinem Rücken bohrten. Erbarmungslos stießen sie zu, tranken gierig das Blut, das aus seinen Kratzern floss.
Alles ging viel zu schnell, als dass Frodo hätte reagieren können. Blinder Zorn flackerte in Marrocs Augen, während er auf Frodo einprügelte und ihn dabei immer tiefer in das Gestrüpp stieß. Es machte ihm nichts aus, dass er sich ab und an selbst die Haut an den Dornen aufriss, er hatte nur eines im Sinn: das gefährliche Funkeln in den großen, unschuldigen, blauen Augen auszulöschen. Er bemerkte nicht, dass der Funken schon lange erloschen war, und sich nur noch kalte Angst in den entsetzten Augen widerspiegelte, sofern Frodo diese nicht geschlossen hielt. Er war zu kaum einer Gegenwehr fähig, war nur noch darauf bedacht, sein Gesicht zu schützen und Marrocs Hände davon abzuhalten, auf ihn einzuprügeln. Panisch rief er Marrocs Namen, bat ihm, seiner Wut Einhalt zu gebieten und ihn gehen zu lassen, doch der ältere Hobbit beachtete nicht. Und all die Zeit ritzten die Dornen neue, tiefere Kratzer in seine Haut.
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"Frodo!" Merry stürmte den Hang hinab, als er Marroc am Flussufer auf jemanden einprügeln sah. Er musste seinen Vetter nicht sehen, um zu wissen, dass er Marrocs Opfer war, denn der Eimer mit den Fischen stand noch immer im Gras und wartete darauf, nach Hause gebracht zu werden. Er war eigentlich nur zurückgekommen, weil er die Rucksäcke hatte im Boot liegen lassen und sie nun holen wollte, doch was er nun sah, raubte ihm den Atem. Mit vor Angst geweiteten Augen wandte er sich um und rief verzweifelt nach seinem Onkel Merimac, der ob der Panik in seines Neffen Stimme rasch herbei gerannt kam.
Schnell rannten sie den Hang hinunter, riefen immer wieder nach Frodo und Marroc, bis dieser schließlich von seinem Opfer abließ. Er schien selbst überrascht über seine Tat zu sein, als er sich ins Gras fallen ließ und mit erstaunten Augen auf Frodo blickte, der die Hände noch immer schützend erhoben hatte und ihn anflehte aufzuhören.
Tränen traten in Merrys Augen, als er das Gestrüpp endlich erreichte und stolpernd davor zum Stehen kam. Zögernd öffnete Frodo die Augen, schielte ängstlich zu Marroc hinüber und kroch dann vorsichtig aus dem dornigen Gestrüpp hervor. Blut troff aus seiner Nase, das er mit dem Handrücken wegwischte und die Tränen, die zuvor seine Augen nicht verlassen wollten, rannen nun ungehindert über seine Wangen. Seine zerkratzte, rechte Wange brannte, als die salzige Flüssigkeit darüber floss. Keuchend blickte er auf Marroc hinab, der wie gelähmt im Gras saß, wischte sich schließlich auch die Tränen aus den Augen und rannte den Hang hinauf. Merry folgte ihm, unsicher darüber, was geschehen war oder was er von all dem halten sollte. Auch Merimac stand nur verwundert vor den jungen Hobbits, ohne recht zu wissen, wie er sich verhalten sollte. Marroc erhob sich schließlich, blickte Frodo erzürnt und erschrocken zugleich hinterher. "Wir werden meinem Bruder einen längeren Besuch abstatten", meinte Merimac schließlich und deutete Marroc mit einem Kopfnicken an, dass er sich auf den Heimweg machen sollte. Als sie den Hang hochgegangen waren, nahm Merimac den Eimer mit den Fischen mit sich.
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Ein Blitz zuckte am Himmel, dicht gefolgt von einem grollenden Donner. Die ersten Regentropfen fielen auf ihn herab, als Frodo mit raschen Schritten nach Hause stapfte. Er zitterte am ganzen Körper, unfähig zu verstehen. Wie hatte er sich nur mit Marroc prügeln können? Wie hatte er auch nur einen Augenblick glauben können, in der Lage zu sein, ihn zu besiegen? Schmerz durchzuckte ihn, wie der Blitz die grauen Wolken. "Frodo!" Merry rief nach ihm, doch er blieb nicht stehen. Was war in Marroc gefahren? So wutentbrannt hatte er ihn noch nie erlebt. Er schien plötzlich kräftiger gewesen zu sein, als jemals zuvor. Hatte er wirklich geglaubt, dass Marroc bei der Zerstörung seines Bildes zu weit gegangen war? Wenn dem so war, was war dann nun mit dem, was eben geschehen war? Frodo erschauderte und blieb abrupt stehen. Er hatte Marroc schon immer gefürchtet, doch nie so sehr, wie vor wenigen Augenblicken. Das wütende Funkeln in seinen Augen; es war aus dem Nichts gekommen und mit ihm die Kraft. Marroc war auf einmal noch stärker gewesen und er hatte sich plötzlich wieder so klein und hilflos gefühlt, wie damals, als ihm keiner hatte glauben wollen, weil Marroc sie um seinen Finger gewickelt hatte. Keuchend sank er auf die Knie, schloss seine Augen mit einem verzweifelten Ausdruck im Gesicht. "Frodo?", Merry stand an seiner Seite und sah ihn besorgt und verwundert zugleich an. Die Blutflecke auf Frodos Hemd und die Kratzer ließen ihn erschaudern. "Was ist passiert?" Zögernd hob Frodo den Kopf. "Ich weiß es nicht", flüsterte er tonlos und verzog das Gesicht, als der Stoff seines Hemdes über einen Kratzer strich. Verwirrt runzelte Merry die Stirn und half Frodo wieder auf die Beine. "Lass uns zu meinem Papa gehen."
Frodo nickte schwach, als er taumelnd aufstand. Sein Hemd war ihm auf einer Seite aus der Hose gerutscht, doch kümmerte er sich nicht weiter darum. Um sich wieder ordentlich anzuziehen, hätte er seinen Oberkörper berühren müssen und das wollte er im Augenblick vermeiden. Seine Haare waren zerzaust und einige Dornen und kurze Zweige hatten sich in den dunklen Locken verfangen.
Mit gerunzelter Stirn lief Merry neben seinem Vetter her. Er war blass geworden vor Schreck und Sorge um Frodo und war unfähig, seine Augen von den blutigen Stellen auf dessen Hemd abzuwenden.
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"Das hat er wirklich gesagt?", meint Esmeralda lachend und ließ Adamanta, mit der sie sich angeregt unterhielt, den Vortritt in das Wohnzimmer. Adamanta lachte ebenfalls und nickte heftig. "Ja, das hat er gesagt. Außerdem war er der Ansicht, dass…", sie hielt inne und legte den Kopf schief, als sie bemerkte, dass Esmeralda in der Tür stehen geblieben war und sie nicht weiter beachtete. "Esmie?"
Esmeralda hatte kurz zur Eingangstür hinübergeschielt, als diese knarrend geöffnet worden war. Erschrocken schnappte sie nach Luft, fühlte sich einen Augenblick wie gelähmt. Das Lachen auf ihrem Gesicht war purem Entsetzen gewichen, als sie zur Tür stürmte um Frodo und Merry zu empfangen. Ihr Sohn war blass, doch was sie erschreckte, war Frodos Anblick. Der junge Hobbit hatte das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzogen, die Augen starr zu Boden gerichtet, während blutige Kratzer seinen Körper von der rechten Schläfe bis zu den Füßen verunstalteten. "Was…?", wisperte sie tonlos, als sie sich vor ihm niederkniete, unfähig weitere Worte zu finden. Sie wollte Frodo schützend in ihre Arme schließen, doch wagte sie es beim Anblick seines blutigen Hemdes nicht. Fragend sah sie ihn an, doch Frodo beachtete sie nicht und Merry zuckte nur ahnungslos mit den Schultern. Adamanta war inzwischen aus der Tür getreten und sah mit großen Augen auf Frodo, hatte die Hand in einer erstaunten Geste vor den Mund gelegt. "Ich hole den Weinbrand", sagte sie rasch und eilte davon. Esmeralda wandte sich kurz zu ihr um. "Bring auch kaltes Wasser mit!" Frodo zitterte, als er langsam den Kopf hob und sie traurig ansah. Esmeralda biss sich auf die Lippen, spürte Tränen in sich aufsteigen, schluckte sie aber. "Mein Zimmer?", fragte Frodo mit gebrochener Stimme und Esmeralda fand sich gerade noch dazu in der Lage, zu nicken. Wortlos stapfte Frodo, gefolgt von Merry, an ihr vorüber. Es dauerte einen Augenblick, bis sie ihre Fassung wieder fand und ihre zittrigen Knie ihr erlaubten, wieder aufzustehen und den Kindern zu folgen.
Kapitel 46: … und Sühne
Frodo setzte sich schweigend auf das Bett, sog schmerzhaft die Luft ein, als er vorsichtig sein Hemd aufknöpfte. Merry blieb neben dem Schrank stehen und beobachtete seinen Vetter, als seine Mutter ihm eine Hand auf die Schulter legte. Er sah zu ihr auf und bemerkte, dass auch ihre Augen auf Frodo ruhten, doch dann beugte sie sich zu ihm herab und strich ihm über die Stirn. "Geht es dir gut?", wollte sie wissen und Merry nickte. "Würdest du uns alleine lassen und Adamanta Bescheid sagen, dass sie den Weinbrand hierher bringen soll?" Merry nickte erneut, sah noch einmal traurig zu Frodo und verließ dann das Zimmer.
"Kann ich dir helfen?", fragte sie, als sie ihre Aufmerksamkeit nun ganz auf Frodo richtete. Der junge Hobbit schüttelte den Kopf und schloss die Augen, als er das Hemd langsam über seine Arme gleiten ließ. Einen Moment lang schien Esmeralda nach Luft zu ringen. Frodos Oberkörper war vollkommen zerkratzt und blutig. Aus einigen der Wunden tropfte noch immer ein wenig Blut, während andere bereits verkrustet waren. "Was ist geschehen?", fragte sie. Frodo antwortete nicht, sah sie nicht einmal an, sondern stierte auf seine Füße, die nur knapp über dem Fußboden baumelten. Erst als Adamanta mit einem Tuch, Weinbrand und einem Krug mit Wasser in das Zimmer trat, hob er den Kopf. Adamanta hielt erschrocken inne, als sie ihn sah, stellte dann aber alles auf den Nachttisch. Mit einer raschen Bewegung brachte Frodo sein Bild in Sicherheit, bereute die Tat aber sogleich und zuckte schmerzvoll zusammen. Mit einem leichten Kopfschütteln, sah Adamanta ihn an. "Was ist dir passiert?" Auch ihr entgegnete Frodo nichts, wich ihrem Blick aus und Esmeralda deutete ihrer Freundin mit einem freundlichen Kopfnicken an, das Zimmer zu verlassen und die Tür hinter sich zu schließen.
Frodo wünschte sich nichts mehr, als allein gelassen zu werden. Er schämte sich, denn schließlich war er es gewesen, der mit der Prügelei begonnen hatte, auch wenn er davon wesentlich mehr Wunden und Schrecken davongetragen hatte, als Marroc. Wie hatte er nur so dumm sein können? Er war ein Narr gewesen und hatte nun dafür gesühnt. Er spürte Esmeraldas besorgten Blick auf sich ruhen und schloss die Augen. Er hatte nicht verdient, dass man sich um ihn sorgte, denn er war selbst an dem Schuld, was ihm widerfahren war. Der Schrecken darüber saß ihm noch tief in den Knochen, ließ seinen Körper noch immer erbeben. Ein leises Schluchzen entrann seiner Kehle und er versuchte verzweifelt, seine Tränen zu schlucken.
Esmeralda kniete sich vor ihm nieder, versuchte, ihn mit leisen Worten zu beruhigen, wollte ihm über den Rücken streichen, hielt jedoch plötzlich inne. Blutige Kratzer zierten auch den Rücken des Kindes und so strich sie ihm zärtlich durch die zerzausten Haare, die einzige Stelle, von der sie sicher sein konnte, ihm kein Leid zuzufügen. Frodos Körper war angespannt und sie vermutete, dass er starke Schmerzen haben musste. Sie biss sich erneut auf die Lippen, als sie ihre Hand ausstreckte und vorsichtig über einen der Kratzer an Frodos rechter Seite strich. Frodo zuckte zusammen, sog scharf die Luft ein. "Frodo?", ihre Stimme klang sanft und dennoch fordernd und er wusste, wonach sie eigentlich fragen wollte.
Er verkrampfte sich noch mehr, wollte ihr nichts davon sagen. Was würde sie von ihm denken? Er war beschämt über das, was er getan hatte, doch wie enttäuscht musste sie erst sein? "Bist du gefallen?", fragte sie nach. Er schüttelte den Kopf. Zögernd griff sie nach seinem Kinn, zwang ihn, sie anzusehen. Ihre Augen ruhten forschend auf seinen geschwollenen und vor Hitze pochenden Wangen, während die Finger ihrer anderen Hand sanft über den Kratzer an seinem rechten Auge strichen. Frodo wich zurück und Esmeralda bemerkte, dass auch ein wenig verkrustetes Blut unter seiner Nase klebte. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. "Wurdest du geschlagen?"
Frodo wandte erneut den Blick ab und biss sich auf die Lippen. "Hat Marroc dir das angetan?", fragte sie weiter, doch ihre Stimme klang schärfer als zuvor. Weshalb wusste sie genau, wonach sie fragen musste? Konnte sie ihn nicht alleine lassen und ihm diese Beschämung ersparen? Er schloss die Augen und erneut entwich ein leises Wimmern seinen Lippen, zum einen wegen des brennenden Schmerzes, der ihn nun fest in seinem Griff hielt, zum anderen wegen Esmeraldas Frage, die er beantworten und doch nicht beantworten wollte.
"War es Marroc?", fragte sie noch einmal, an Frodos Reaktion erratend, dass ihre Vermutung richtig war. Frodo nickte zögernd. Wut glomm in Esmeraldas Herzen und sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie spürte, wie sich ihre Fingernägel in ihr Fleisch gruben, doch es machte ihr nichts aus. Wenn sie Marroc in die Finger bekam, würde er für jeden einzelnen Kratzer, für jedes Wimmern Frodos büßen. Wie konnte er es wagen, ihm so etwas anzutun? Sie keuchte wütend und Frodo sah ihr verwirrt in die Augen. Ein leichtes Kopfschütteln half ihr, sich zu besinnen und so griff sie schließlich nach dem Tuch und der Flasche mit dem Weinbrand.
Frodos Augen weiteten sich in Entsetzen, als hätte er erst jetzt begriffen, was Esmeralda mit dem Weinbrand vorhatte. "Nein!" keuchte er und wich unwillkürlich zurück. "Es tut mir Leid", sagte sie traurig. "Aber danach wird es dir besser gehen."
Frodo sah sie flehend an, doch es half nichts. Esmeralda meinte, dass er sich in die Mitte seines Bettes setzen sollte, sodass sie sich hinter ihn knien konnte, um seinen Rücken mit dem Weinbrand zu säubern. Nur widerwillig gehorchte Frodo, saß schließlich vollkommen verkrampft auf dem Bett, die Augen fest geschlossen, und wartete darauf, dass Esmeralda mit der Flüssigkeit seine verwundete Haut betupfte. Er biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe, um nicht zu schreien, als sie damit begann seinen Nacken zu betupfen und sich dann von seinen Schultern ausgehend, immer tiefer hinunter arbeitete. Tränen brannten in seinen Augen, als der brennende Schmerz seinen Körper durchzog und ihn vollends verschlang. Seine schmutzigen Finger hatten sich krampfhaft in das Laken gekrallt und immer wieder entwich ihm ein leises Wimmern.
Esmeralda hatte selbst mit den Tränen zu kä mpfen, als sie den Rücken des Jungen mit dem Weinbrand behandelte. Es schien ihr, als würde mit jedem Blutfleck, den sie wegtupfte, ein neuer Kratzer sichtbar werden und das brach ihr das Herz. Marroc würde bitter dafür büßen. Eine Frage jedoch, ließ sie nicht los. "Wie konnte er dich so zerkratzen?" Frodo war nicht mehr in der Lage, sich der Beantwortung ihrer Frage zu widersetzen. "Dornbusch", presste er hervor, nur um kurz darauf aufzuschreien, als sie einen besonders tiefen Kratzer versorgte. "Unten am Fluss." Esmeralda schloss ungläubig die Augen und unterdrückte die Tränen, die in ihr aufstiegen.
Schließlich wandte sie sich auch seinem Oberkörper und seinen Armen zu und Frodo schien es, als würde es nun noch mehr brennen. Sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Er brannte, würde bei lebendigem Leibe verbrennen. Tränen liefen ungehindert über sein Gesicht, als Esmeralda sich schließlich auch seiner rechten Wange zuwandte und sie vorsichtig versorgte. Bei jeder Berührung zuckte Frodo zusammen, wich zurück. Immer öfter kam es nun vor, dass er nach ihren Handgelenken griff und sie davon abhalten wollte, ihn mit dem in Weinbrand getränkten Tuch, zu betupfen. "Bitte", jammerte er schließlich mit weinerlicher Stimme. "Es genügt." Esmeralda sah ihn mitleidig an und strich ihm eine Strähne aus der Stirn. "Du hast es gleich überstanden." Mit diesen Worten machte sie sich an den letzten Kratzer. Besorgt blieb sie bei ihm sitzen, als sie auch damit fertig war. Ihr Blick ruhte auf dem Kratzer über seinem rechten Auge und schließlich tauchte sie den Lappen mit dem noch trockenen Ende, in das kalte Wasser und betupfte den Kratzer damit. Es brannte nicht mehr, doch wurde Frodos Körper dennoch bei jeder Berührung von Schmerzen durchzuckt. "Das Auge ist geschwollen", sagte Esmeralda ruhig. "Ich fürchte es wird in den nächsten Tagen das ein oder andere Mal seine Farbe wechseln." Frodo seufzte elend. Blieb ihm denn gar nichts erspart?
Schließlich lächelte sie zufrieden und betrachtete ihn von oben bis unten. Das Lächeln verschwand und wich einem traurigen Ausdruck. Zärtlich strich sie ihm über die linke Wange, die keine Kratzer davongetragen hatte, aber Opfer von Marrocs Faust geworden war. Frodo schloss die Augen und zuckte im ersten Augenblick zusammen, doch als er keine Schmerzen verspürte, ließ er sie gewähren. "Wie kann er dir nur so etwas antun?" Frodo schluckte schwer, entgegnete jedoch nichts.
~*~*~
Regen prasselte an das Fenster in Saradocs Arbeitszimmer. Die Sonne war inzwischen untergegangen und Marroc war seit seiner Rückkehr ins Brandyschloss auf einem Stuhl im Arbeitszimmer des Herrn gesessen. Saradoc selbst war nur kurz bei ihm gewesen, doch Merimac wich nicht von seiner Seite, betrachtete ihn abschätzig. Die Kerzenhalter an der Wand waren, ebenso wie das Feuer im Kamin, entzündet worden und auf dem Schreibtisch brannte eine weitere Kerze, die schon beinahe heruntergebrannt war. Als Saradoc schließlich zurückkehrte, funkelte er Marroc wütend an, würdigte ihn dann aber keines weiteren Blickes und setzte sich gedankenverloren und mit gerunzelter Stirn an seinen Schreibtisch.
Ein Blitz durchzuckte den nächtlichen Himmel, gefolgt von zornigem Donnergrollen. Die Tür öffnete sich und im kurzen, hellen Licht des Donners erschien Frodos dunkle Gestalt. Marroc hob den Kopf und sah den Jungen abschätzig an. Die blinde Wut, die ihn am Fluss ergriffen hatte, war verschwunden. Er verstand noch immer nicht, wie er so plötzlich, alles um sich herum vergessend, auf ihn hatte einprügeln können. Er hatte nicht gewollt, dass es so sehr ausartete, doch bereute er seine Tat nicht wirklich.
Frodo sah Marroc mit einer Mischung aus Wut und Angst an, als er, gefolgt von Esmeralda, in das Zimmer trat und sich am anderen Ende des Raumes auf einen Stuhl setzte. Marroc erwiderte den Blick mit einem hämischen Grinsen und verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich jedoch nicht zurück, denn auch ihn mussten dieselben Schmerzen quälen wie Frodo. Merimac sah indes seinen Bruder an, nickte kurz und verließ dann den Raum. Es oblag Saradoc, diese Angelegenheit zu regeln, und Merimac war lediglich ein unnützer Zuschauer.
Kurz verzog Frodo das Gesicht, als er ungewollt die Lehne des Stuhles berührte. Sein Körper hatte aufgehört zu brennen, doch Berührungen waren unangenehm. Er trug nun ein frisches, weites Hemd und sowohl seine Haare, als auch seine Finger waren wieder sauber und ordentlich. Esmeralda platzierte sich neben Frodo, der den Kopf gesenkt hielt und ließ ihre zornigen Augen auf Marroc ruhen. Sie hatte alle Mühe, ihre Wut unter Kontrolle zu halten und sich nicht einfach auf ihn zu stürzen.
Saradoc räusperte sich, erhob sich von seinem Schreibtisch und lief von Frodo zu Marroc, zurück zu Frodo und wieder zu Marroc. Sein Blick jedoch ruhte die meiste Zeit auf dem älteren der beiden und es war offensichtlich, dass er nicht glaubte, dass Frodo auch nur die geringste Schuld an dem Vorfall hatte. "Worum ging es bei dem Streit?", fragte er scharf und seine Augen funkelten Marroc an, doch der Hobbit antwortete nicht, sondern wandte gleichgültig den Blick ab. Auch Frodo machte keine Anstalten zu antworten, hielt seinen Kopf weiterhin gesenkt. "Worum?", rief Saradoc aufgebracht und wieder wanderten seine Augen von einem Jungen zum anderen, blieben schließlich auf Marroc ruhen. Dieser tat, als würde ihn diese Angelegenheit nicht im Geringsten betreffen und so trat Saradoc schließlich näher an ihn heran, bedachte ihn mit einem strengen Blick. "Wer hat die Prügelei begonnen?", begehrte er zu wissen. Marroc kicherte und Saradoc trat aufgebracht einen weiteren Schritt näher, beugte sich zu ihm hinab. "Ich finde das nicht lustig", zischte er scharf und schielte kurz zu Frodo hinüber. "Warum hast du ihn so zugerichtet?" Der Junge entgegnete nichts, sah Saradoc nicht einmal an, jedoch bemerkte der Herr, dass Marroc scheinbar Mühe damit hatte, sich ein Grinsen zu verkneifen und das machte ihn beinahe rasend vor Wut, doch hielt er diese geschickt verborgen, als er sich wieder zu seiner vollen Größe aufrichtete. Esmeralda dagegen trat aufgebracht an ihn heran, ihre Augen blitzten voller Zorn, doch Marroc schien auch das wenig zu kümmern, denn er beachtete sie kaum, ließ seine Augen lediglich schadenfroh auf Frodo ruhen.
Dieser schien förmlich in seinem Stuhl zusammenzuschrumpfen. Die Stirn hatte er nervös in Falten gelegt. Nur kurz sah Frodo auf, spürte Marrocs Augen auf sich ruhen und wandte den Blick wieder ab. Wenn er es nicht tat, würde Marroc es sagen und seine Scham noch verstärken. Er schluckte schwer. "Gestehe endlich und ich werde vielleicht eine gewisse Milde bei deiner Strafe walten lassen, Marroc Boffin", fauchte Esmeralda.
Zögernd blickte Frodo auf, nur um seinen Kopf sofort wieder zu senken. Diese beschämende Peinlichkeit würde ihm nicht erspart bleiben und es war besser, sofort zu sprechen, als die Wahrheit noch länger hinauszuzögern. "Ich…", brachte er leise stockend hervor und spürte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg, doch keiner bemerkte es ob seiner geschwollenen Wangen. Saradoc und Esmeralda wandten sich zu ihm um, sahen ihn erwartungsvoll an. "Ich war es", flüsterte Frodo beschämt und vermied es, jenen Hobbits in die Augen zu sehen, in deren Obhut er sich befand. Einen Augenblick später war Esmeralda an seiner Seite, kniete sich vor ihm nieder und ergriff seine Hand "Du musst ihn nicht in Schutz nehmen", sagte sie sanft, doch Frodo schüttelte den Kopf. "Nein, ich nehme ihn nicht in Schutz", flüsterte er leise und spürte Tränen in sich aufsteigen. "Ich war es, der die Prügelei begonnen hat."
Schweigen senkte sich schwer über den Raum, als Frodo diese Worte gesprochen hatte. Ein Blitz zuckte am Himmel und erhellte das Zimmer für einen Augenblick. Frodo konnte den entgeisterten Ausdruck in den Gesichtern von Saradoc und Esmeralda erkennen, spürte deren ungläubige Blicke. Beschämt schloss er die Augen, versuchte verzweifelt, seine Tränen zu schlucken. Er hoffte, ein Loch im Boden würde ihn verschlingen, auf dass er die enttäuschten Blicke nicht länger ertragen musste.
Marroc war es, der das betretene Schweigen brach. Er lachte. "Euer kleiner, braver, ach so unschuldiger Schützling ist wohl doch nicht so unschuldig, wie er sich gibt. Ihr habt euch den Falschen ausgesucht. Ihr solltet euch lieber um ihn kümmern, als mich zu beschuldigen. Das Muttersöhnchen hat es bitter nötig, dass ihn jemand lehrt, wie man sich unter Kontrolle hält. Er ist eine Gefahr für die Allgemeinheit. Und jemand wie ihn lässt ihr auf eure Kinder Acht geben? Dieses Risiko würde ich nicht eingehen. Wer weiß, vielleicht werden die Kleinen seine nächsten Opfer sein!" Frodo biss sich auf die Lippen. Mit einer ruckartigen Bewegung wandte sich Saradoc plötzlich zu Marroc um, beugte sich wütend über dessen Gestalt, die plötzlich um einiges kleiner zu werden schien. Aufgebracht ergriff Saradoc die Handgelenke des Hobbits, die auf der Stuhllehne ruhten und pressten sie kraftvoll gegen das starke Holz des Stuhles. Seine Augen funkelten vor Zorn und Empörung. "Du solltest dir sehr gut überlegen, mit wem du sprichst, Marroc Boffin. Ich weiß sehr gut was ich tue und wozu Frodo fähig ist und wozu nicht!" zischte er. "Du hast doch nur darauf gewartet, dass er die Prügelei beginnt und es dann schamlos ausgenutzt! Wie hast du ihn dazu gebracht soweit zu gehen? Wie?!"
Frodo zuckte zusammen ob der lauten, zornigen Stimme des Herrn und kauerte sich in seinem Stuhl zusammen. Esmeralda drückte seine Hand, blickte dann wutentbrannt auf Marroc und hoffte, dieser würde sich mit seiner Antwort nicht allzu viel Zeit lassen, denn langsam verlor sie die Geduld. Marroc jedoch schien vollkommen unbeeindruckt und funkelte Saradoc an. "Warum schiebst du die Schuld auf mich? Weshalb erscheint es dir so unmöglich, dass er der Schuldige ist?" Saradoc umfasste seine Handgelenke fester, beugte sich noch näher an Marroc heran, wodurch dieser gezwungen war, sich zurückzulehnen, was ihm ein schmerzvolles Zischen entlockte. Der Herr von Bockland hatte Mühe seinen Zorn unter Kontrolle zu halten, besann sich jedoch schließlich, lockerte den Griff wieder ein wenig und vergrößerte den Abstand zwischen Marrocs Gesicht und seinem eigenen. "Überlege dir gut was du sagst, Marroc, denn es könnte dich in größere Schwierigkeiten bringen, als dir lieb ist. Sieh ihn dir an!" Saradocs Stimme hatte ruhig geklungen, doch seine letzen Worte waren scharf und befehligend. Als Marroc keine Anstalten machte, seinem Befehl Folge zu leisten, brüllte er: "Sieh dir Frodo an!" Er packte Marroc grob am Kinn, zwang ihn, den jungen Hobbit anzublicken.
Dieser saß zusammengekauert auf dem Stuhl, den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Schoß gefaltet und spielte nervös mit seinen Fingern. Er bebte, drohte jeden Augenblick in Tränen auszubrechen. Neben ihm kniete noch immer Esmeralda und auch sie zitterte, denn die Wut auf Marroc drohte jeden Augenblick aus ihr heraus zu brechen. Sollte es dazu kommen, würde er um einiges mehr, als nur Glück und eine vorlaute Zunge benötigen, um seine nichtsnutzige, eingebildete und rohe Gestalt retten zu können.
Marroc sagte nichts, grinste nur, während er seine Augen auf Frodo ruhen ließ. Saradoc ließ von seinem Kinn ab, erhob sich mit einer raschen Bewegung und stapfte zu seinem Schreibtisch. Er griff sich mit den Fingern seiner rechten Hand zwischen die Augen und seufzte, während er sich mit der linken am Schreibtisch abstützte. Der Regen prasselte gegen das Fenster und erneut erhellte ein Blitz den spätabendlichen Himmel, gefolgt von einem lauten Donnergrollen.
Frodo spürte die Spannung in der Luft, die sich jeden Augenblick zu entladen drohte. Zögernd hob er den Kopf und sah Esmeralda an. Ihre Augen ruhten weiterhin zornig auf Marroc. Der Griff um seine Finger war stärker geworden und Frodo entzog ihr seine Hände, woraufhin sie ihn einen Augenblick überrascht ansah und sich dann erhob, um angespannt neben ihm stehen zu bleiben. Frodo blickte zu Marroc hinüber, der ihn noch immer grinsend ansah. Ein wütendes und zugleich verletztes Funkeln trat in seine geschwollenen Augen, woraufhin sich Marrocs Miene verfinsterte.
Erschrocken zuckte Frodo zusammen, als Saradoc wieder das Wort ergriff. Seine Worte waren an ihn gerichtet, seine Stimme klang sanft und ruhig. "Willst du mir nicht sagen, worum es bei der Prügelei ging, Frodo? Weshalb hast du ihn geschlagen?" Beschämt senkte Frodo erneut den Blick, schluckte schwer, als er sich an Marrocs Äußerungen erinnerte, doch kein Wort verließ seine Lippen. Er schloss die Augen, zuckte zusammen, als Saradoc, der zu ihm herüber getreten war, eine Hand auf seine Schulter legte. Erschrocken zog der Herr sie wieder zurück, entschuldigte sich wispernd. "Frodo?", fragte Saradoc noch einmal, fordernder als zuvor, und blickte ihn erwartungsvoll an. Ein Blitz erhellte das Zimmer. Frodo schluckte schwer. "Er hat…", stammelte er mit zittriger Stimme. "Er drohte, mir mein Bild zu zerstören." Saradocs Augen weiteten sich voller Zorn, doch ehe er etwas sagen konnte, sprach Frodo weiter, den Blick weiterhin stur auf den Fußboden gerichtet. Er hatte seine Finger auf dem Schoß gefaltet, spielte nervös und krampfhaft mit einem Zipfel seines Hemdes. "Er sagte, dass er froh wäre, dass meine Eltern tot sind und dass…", er schluchzte und eine einzelne Träne stahl sich aus seinen Augen, "… dass es besser gewesen wäre, ich hätte auch den Tod gefunden."
Mit blutendem Herzen hatte Esmeralda Frodos Worte vernommen. Ihre Hände hatte sie zu Fäusten geballt, ihr Körper zitterte vor Wut. Mit einem Satz sprang sie an Saradoc vorüber und setzte auf Marroc zu. "Du grausamer, hinterhältiger, verachtungswürdiger Narr!" zischte sie wutentbrannt und das erzürnte Funkeln in ihren Augen ließ selbst Marroc zurückweichen. Saradoc konnte sie gerade noch am Arm packen und sie zu sich zurückziehen, doch er hatte Mühe, sie davon abzuhalten, sich auf Marroc zu stürzen. "Esmie!" rief er aufgebracht und versuchte, sie festzuhalten, als sie sich an ihm vorbeischieben wollte. "Esmeralda!" Er packte ihre Handgelenke und stellte sich zwischen sie und Marroc. "Beruhige dich!" Sie sah ihn keuchend mit großen, zornigen Augen an. "Beruhigen?", schrie sie erzürnt. "Ich soll mich beruhigen?! Sieh dir Frodo an! Sieh dir an, was er mit ihm gemacht hat! Er wusste sehr gut, was er tat, wusste, dass er Frodo damit provozieren würde, wusste, dass…" Sie brach ab, wandte den Kopf zur Seite und schielte traurig in Frodos Richtung. "Wie kann er das einem Kind wie Frodo antun? Nein, Saradoc, sag mir nicht ich solle mich beruhigen. Du musst etwas tun. Du musst dafür sorgen, dass so etwas nicht wieder vorkommen kann und wenn du das nicht kannst, dann werde ich es tun. Wenn es nach mir ginge, ich würde ihn vor die Tür setzen. Ich würde Marroc aus Bockland verbannen. Aus dem ganzen Auenland!" Sie hatte ihren Blick wieder auf Marroc gerichtete und ihre Stimme, die sich zuvor beruhigt hatte, war nun wieder schrill und voller Zorn. Sie versuchte sich erneut aus Sardocs Griff zu befreien, doch dieser hielt sie fest, sah ihr geradewegs in die Augen und forderte sie schweigend auf, sich ihrer wieder zu besinnen. Sie keuchte, blickte ihn stur an, wandte sich dann jedoch ab und ging zu Frodo, der sie erstaunt mit seinen traurigen Augen ansah. Sanft strichen ihre Finger durch seine Haare. Sie hätte ihn in den Arm genommen, hätte sie nicht gewusst, dass sie ihm dadurch Schmerz zufügte. All das nur wegen Marroc. Ihre Augen wanderten erneut zu dem Schuldigen, doch blieb sie ruhig.
Frodo sah sie verwundert an. Ein Gefühl der Freude, aber auch des Erstaunens breitete sich in seinem Körper aus und für einen sehr kurzen Augenblick erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. Es war lange her, dass sich jemand so sehr für ihn eingesetzte und die Art, wie Esmeralda dies tat, erinnerte ihn sehr an seine Mutter. ‚Sie sorgt sich um mich' hatte er in seinem Tagebuch geschrieben und nun bestätigten sich diese Worte erneut. Erleichtert darüber, jemanden zu haben, der ihn vor Marroc verteidigte und dankbar dafür, dass sie sich um ihn kümmerte, sah er zu ihr auf.
"Ich beginne mich zu fragen, was dich zu dem gemacht hat, was du bist", sagte Saradoc ruhig an Marroc gewandt. "Was lässt dich solche Wut in dir tragen, eine Wut, die du, so scheint mir, am liebsten an Frodo auslässt? Ich bin ratlos. Sag du mir, was soll ich tun?" Marroc schnaubte gleichgültig, hatte den Blick abgewandt und sagte nichts. Saradoc seufzte und begann, im Raum auf und ab zu gehen. "Ich könnte mir natürlich auch Esmeraldas Ratschlag einmal durch den Kopf gehen lassen. Frodo hätte seine Ruhe und mir würden solche langen und erschöpfenden Abende erspart bleiben. Es wäre eine Lösung, mit der alle in diesem Raum glücklich wären, außer dir vielleicht."
Frodo hatte bei Saradocs letzten Worten verwundert den Kopf gehoben. Er hatte sich schon oft vorgestellt, wie es wäre, wenn Marroc vertrieben wurde, doch dass Saradoc dies wirklich in Erwägung ziehen könnte, hätte er nicht gedacht. Auch Marroc schien davon überrascht zu werden, denn auch er sah auf und ein Ausdruck von Angst lag in seinem Gesicht. Saradoc grinste, zufrieden mit dem, was seine Worte auslösten. "Ich werde mit deinen Eltern sprechen und gemeinsam mit ihnen entscheiden. Dennoch wirst du im nächsten Monat von früh bis spät auf den Beinen sein. Es ist Sommer und es gibt eine Menge zu tun, und du wirst diese Arbeiten mit Freuden erledigen. Noch dazu habe ich eine ganz besondere Aufgabe für dich: Der Dornbusch bei der Bootanlegestelle hat heute eine Menge Schaden angerichtet und um zu vermeiden, dass so etwas noch einmal geschieht, muss er ausgerissen werden. Du wirst dich darum kümmern…", ein grausames Grinsen erschien kurz auf Saradocs Gesicht, doch verschwand es, ehe es jemand bemerken konnte, "… mit bloßen Händen." Marroc erhob sich ruckartig. "Aber das…" "Schweig!" eine rasche Handbewegung Saradocs ließ ihn inne halten. "Setz dich!" Mit einem missmutigen Grummeln ließ sich Marroc wieder auf den Stuhl fallen, streifte dabei mit dem Rücken die Lehne und zuckte schmerzvoll zusammen.
Frodo tat es ihm gleich, hatte das Gefühl, als würde sein eigener Rücken durch bloßes Zusehen wieder zu brennen beginnen. Esmeralda wandte sich besorgt zu ihm um. Saradoc sah kurz zu ihnen herüber, versicherte sich, dass alles in Ordnung war und lehnte sich dann wieder an seinen Schreibtisch. "Marroc und ich wären jetzt gerne alleine", verkündete er und hinter ihm erhellte ein Blitz den nächtlichen Himmel, verlieh seinen Worten ein böses Ohmen.
Frodo erhob sich rasch, ging zur Tür, ohne Marroc auch nur ein einziges Mal anzusehen. An der Tür angekommen, wandte er sich noch einmal um, verabschiedete sich von Saradoc und verließ dann den Raum. Erleichtert atmete Frodo auf, war froh, dass Zimmer endlich verlassen zu haben und wieder freier atmen zu können. Eine Zeit lang hatte er geglaubt, die Spannung, die im Arbeitszimmer herrschte, nicht länger ertragen zu können, doch nun, da er wieder im Gang stand, ging es ihm besser. Er spürte, dass Esmeraldas Blick auf ihm ruhte und sah zu ihr auf. Plötzlich fühlte er sich unendlich erschöpft und müde, hatte Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. "Ich werde zu Bett gehen", sagte er dann, obschon er noch nicht zu Abend gegessen hatte. Hunger hatte er keinen, denn der Appetit war ihm vergangen. Außerdem sehnte er sich danach, endlich alleine zu sein und den vergangenen Tag zu vergessen. Esmeralda ließ ihn widerwillig gewähren, denn es schien ihr nicht gut, dass er ohne ein Abendessen zu Bett gehen wollte, brachte ihn dann aber bis an seine Zimmertüre, wo sie ihn schließlich alleine ließ.
~*~*~
Der Regen hatte aufgehört, als Frodo mit halbgeschlossenen Augen auf seinem Bett saß. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich schlafen zu können, doch wann immer er sich hinlegte, gab es Stellen, die spannten und schmerzten und ihm jegliche Ruhe raubten. Stunden saß er nun schon wach und er vermutete, dass es schon weit nach Mitternacht war, denn keine Geräusche waren mehr zu hören, außer dem leisen Zirpen der Grillen vor seinem Fenster. Das Kinn sank ihm auf die Brust. Erschrocken stützte sich Frodo am Bett ab, als er zu fallen drohte und richtete sich wieder auf. Es musste doch einen Weg geben, auch mit einem zerkratzten Rücken schlafen zu können. Er seufzte und stand auf. Seine Zunge fühlte sich trocken an und er wollte erst einen Schluck Wasser zu sich nehmen, ehe er erneut nach einer geeigneten Lage suchen wollte, um zu schlafen.
Müde schlurfte er in die Küche, wo er überrascht aufblickte, als er Hanna am Tisch sitzen sah. Sie sah ihn nicht weniger verwundert an und im schwachen Licht einer Kerze, die sie entzündet hatte, glaubte Frodo, einen geschockten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu erkennen. Er war sich sicher, dass jeder im Brandyschloss inzwischen von der Prügelei gehört hatte, doch gesehen hatten ihn bisher nur wenige und er fragte sich, ob er noch immer einen solch erschreckenden Anblick bot, wie am Abend zuvor, als er das letzte Mal in den Spiegel gesehen hatte und außer Kratzern, Schwellungen und aufgesprungenen Lippen kaum etwas hatte erkennen können. "Kannst du nicht schlafen?", wollte sie wissen und ihre Stimme ließ nichts von dem Schrecken erahnen, den er zuvor noch in ihrem Gesicht gesehen haben wollte. Frodo schüttelte den Kopf. "Und du?" Sie grinste, deutete mit einer Handbewegung auf die Tasse Milch und die Kekse vor sich. In der rechten Hand hielt sie eine angebissene Karotte. Frodo runzelte die Stirn, als er nach einer Tasse griff und sie sich an einem Pumpbrunnen, der als Spüle diente, füllte. "Seltsam was man alles isst, wenn man schwanger ist. Und vor allem um welche Uhrzeit, nicht wahr?", meinte sie. Frodo lächelte, doch gelang ihm das nicht wirklich, denn seine Wangen schmerzten. Die Schwellung seiner linken Wange schien beinahe abgeklungen, doch die Kratzer an seiner Rechten schmerzten mit jedem Augenblick, der verging, mehr. Sie bemerkte sein Leiden und legte den Kopf schief. An Stelle von Schrecken glaubte Frodo nun Traurigkeit und Mitleid in ihrem Gesicht zu erkennen. "Kannst du deshalb keinen Schlaf finden?" Frodo nickte und setzte sich hin, die Tasse mit beiden Händen umklammernd. "Ganz gleich, wie ich mich hinlege, irgendetwas schmerzt immer." Ein leises Jammern entwich seinen Lippen, als er spürte, wie sein Kopf schwer wurde und ihm die Lider zufielen. Sein Oberkörper brannte nun wieder, nicht so stark wie am Abend, doch vermischt mit seiner Müdigkeit schien es beinahe unerträglich. "Komm mit mir", meinte Hanna, stand auf und ging zur Tür. Frodo zwang sich, seine Augen offen zu halten, erhob sich schwerfällig und folgte ihr den Gang entlang zu seinem Zimmer. Vor seiner Zimmertür blieb sie stehen, gebot ihm flüsternd zu warten und verschwand dann kurz in ihrem eigenen Zimmer. Als sie wiederkehrte, hatte sie ein Gefäß mit Salbe in der Hand.
Frodo trat in die Dunkelheit seines Zimmers, entzündete mit routinierten Handgriffen die Kerze auf dem Schreibtisch, ohne lange nach den Streichhölzern oder dem Docht suchen zu müssen, während Hanna hinter ihm die Türe schloss. "Zieh dir das Nachthemd aus", sagte sie und nahm den Korkverschluss von dem kleinen Gefäß. Frodo sah sie entgeistert an und es dauerte einen Augenblick, bis sie verstand. Sie seufzte und drehte sich um. Frodo entkleidete sich, wickelte sich bis zur Hüfte in seine Decke ein, ersparte ihr dadurch den Anblick seiner ebenfalls leicht zerkratzten Beine, und setzte sich dann auf das Bett, ehe er Hanna erlaubte, sich wieder umzudrehen.
"Das ist Ringelblumensalbe", erklärte sie und tauchte ihre Finger in die gelbliche Creme, während sie hoffte, Frodo würde den entsetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht, nicht bemerken. Sie hatte von der Prügelei erfahren und der Anblick seines Gesichtes hatte sie bereits erschreckt, doch hatte sie nicht gewusst, wie sehr er zerkratzt worden war. Es verwunderte sie nicht, dass er unter Schmerzen litt und es verletzte sie sehr, dass sie ihm diese Wunden weder hatte ersparen, noch sie mit einem Mal würde heilen können. Doch mit der Salbe würde sie seine Haut abkühlen und ihm zumindest ein wenig Linderung verschaffen und das ließ sie ihn auch wissen.
Bei der ersten Berührung zuckte Frodo zusammen, doch bald bemerkte er, dass die Salbe rasch half und ihm fielen die Augen zu, während Hanna mit sanften, kreisenden Bewegungen seinen Oberkörper und seine Arme einstrich. Auch die Kratzer an seiner rechten Wange blieben nicht unbehandelt. Frodo war beinahe im Sitzen eingeschlafen, als sie ihn bat, sich auf den Bauch zu legen. Nur widerwillig tat Frodo, wie ihm aufgetragen, fürchtete, dass es schmerzen würde, doch dem war nicht so. Ein leichtes Ziehen machte sich dennoch bemerkbar, dieses war aber erträglich. Er seufzte zufrieden und schloss erneut seine müden Augen, als Hanna mit sanften Fingern die Salbe auf seinen Schultern, dem Nacken und seinem Rücken einmassierte, und driftete langsam in einen erholsamen Schlaf.
Hanna brach es das Herz, die Kratzer zu sehen und die wunden Stellen unter ihren Fingern zu spüren. Wie konnte Marroc zu so etwas überhaupt fähig sein. Ein trauriges Lächeln schlich über ihre Lippen, als sie Frodos zufriedenen Ausdruck sah und bemerkte, dass er bereits eingeschlafen war. Mit sanften Fingern rieb sie auch die letzten wunden Stellen auf Frodos Rücken mit Salbe ein, deckte ihn dann ordentlich zu und küsste seine Stirn.
Kapitel 47: Schleudern statt Pilzen
Erschöpft wischte Frodo sich den Schweiß von der Stirn, ehe er Wasser aus dem Brunnen pumpte, und gierig von der kalten Flüssigkeit trank. Merry und er waren den ganzen Nachmittag bei der Heuernte behilflich gewesen. Es war ein warmer, sonniger Tag, der sich nun langsam dem Ende neigte. Während er trank, bemerkte er nicht, dass sich Merry mit einem frechen Grinsen an ihn heran geschlichen hatte. Der junge Hobbit kniete sich ungesehen neben dem Pumpbrunnen nieder, formte mit den Händen eine kleine Schale unter Frodos Kopf und wartete, bis diese voll mit Wasser war. Angespannt hielt er den Atem an, hoffte, dass Frodo ihn nicht bemerkte. Als seine Hände mit dem frischen Wasser gefüllt waren, spritzte er es schwungvoll in die Höhe. Frodo zog erschrocken die Luft ein, verschluckte sich, als ihm das Wasser in Gesicht und Ohr spritzte, wich zurück und hätte sich dabei beinahe den Kopf angeschlagen. "Merry!" schimpfte er hustend, und rieb sich mit dem Zeigefinger das Wasser aus dem linken Ohr. Merry kicherte in sich hinein. "Du solltest nicht so gierig sein, werter Vetter." Die Aussage ließ ihn einen Hieb auf den Oberarm ernten, doch änderte das nichts an seinem frechen Grinsen.
Während sich Merry ebenfalls am frischen Wasser gütlich tat, kratze Frodo an beiden seinen Armen. Er hatte die Ärmel seines Hemdes zurückgekrempelt und noch immer konnte man Blut verkrustete Kratzer an seinen Armen erkennen. Erst zehn Tage waren seit der Prügelei am Flussufer vergangen. Inzwischen hatten die Kratzer die lästige Angewohnheit, zu jucken und immer wieder kratzte Frodo ungewollt seine Arme blutig. Manche der kleineren Kratzer waren inzwischen verheilt, doch die auf seinem Oberkörper und vor allem jene auf seinem Rücken, schmerzten noch immer von Zeit zu Zeit. Seine Haut spannte, schien viel zu klein für seinen Körper und ständig juckte es an Stellen, an denen er sich nicht kratzen konnte, obschon es ohnehin besser wäre, wenn er nicht daran reiben würde. Am Abend war es am schlimmsten, doch Hanna kam jeden Tag zu ihm, ehe er sich schlafen legte und schmierte ihn mit Ringelblumensalbe ein. Frodo genoss die Zuneigung, die sie ihm zukommen ließ, wünschte sich oft, sie würde ein wenig länger bei ihm blieben, doch bat er sie nie darum. Hanna war hochschwanger und noch dazu hatte sie mit zwei kleinen Kindern bestimmt genügend andere Sorgen, als ihm abends Gesellschaft zu leisten.
Frodo rieb ungeduldig an einem Kratzer, während er auf Merry wartete, der sich ausgesprochen viel Zeit ließ und das frische Wasser mehr über sein Gesicht rinnen ließ, anstatt es zu trinken. "Komm endlich, du Dummkopf von einem Brandybock! Das Gesicht kannst du auch zu Hause unter Wasser halten. Ich habe Hunger!" Merry ließ sich von dieser Aussage nicht aus der Ruhe bringen, hob nicht einmal den Kopf, sondern kicherte in sich hinein, pumpte noch kräftiger am Brunnen und spritzte zugleich einige Wassertropfen in Frodos Richtung. Unbemerkt schüttelte dieser listig den Kopf. Wenn sein Vetter glaubte, er ließe sich ärgern, dann hatte er sich getäuscht. Blitzschnell legte er seine Hand auf Merrys Lockenkopf und stieß ihn für einen Augenblick komplett unter das fließende Wasser. Merry prustete, wich erschrocken zurück, als das kalte Wasser seinen Nacken hinunter lief. Entgeistert starrte er Frodo an, während er sich das Wasser aus dem Gesicht wischte. Frodo grinste frech: "Abgekühlt genug?" "Du…!" begann Merry aufgebracht und setzte Frodo, der zurück zum Brandyschloss eilte, hinterher.
~*~*~
Frodo saß gedankenverloren an seinem Schreibtisch und strich sich mit der Feder über die Lippen. Er wandte sich um, als ein leises Pfeifen an sein Ohr drang. Ein leichter Wind war aufgekommen, blies nun leise seufzend in das Zimmer des jungen Hobbits. Schweigend legte Frodo die Feder weg, kletterte in sein Bett und kniete sich vor das Fenster, wo er den Kopf in die Hände stützte und zum Himmel blickte. Der Mond, welcher mit den Sternen um die Wette zu leuchten schien, war beinahe voll. Nur das Zirpen einiger Grillen unterbrach die Stille der Nacht. Frodo seufzte leise. Manchmal fühlte er sich einsam. Merry hatte ihm erzählt, dass er sich spät abends oft zu Madoc und Minto schlich, deren Zimmer direkt neben Merrys eigenem lag, und bis spät in die Nacht bei ihnen blieb. Sich zu Frodo zu schleichen, war zu gefährlich, denn dazu hätte er sich an zwei Wohnzimmern, einem Gesellschaftszimmer, der Küche und der Haupteingangstüre vorüber schleichen müssen. Hätte er dies geschafft, wäre es ein Leichtes gewesen, in Frodos Zimmer zu kommen, denn der östliche Gang, in dem dieses lag, wurde ansonsten wenig genutzt. Dummerweise jedoch, wurde Merry meist schon erwischt, ehe er auch nur an der zweiten Wohnzimmertüre vorüber geschlichen war, denn selbst abends herrschte reges Treiben unter den Hobbits.
Überrascht blickte Frodo zur Tür, als es klopfte. Hanna trat ein, ließ sich müde seufzend auf den Stuhl fallen, lehnte sich zurück und legte ihre Hände locker auf ihren Bauch. Frodo legte den Kopf schief und sah sie fragend an. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, welches Frodo erwiderte. Sie sah erschöpft aus, einige ihrer hellbraunen Locken hingen ihr strähnig ins Gesicht. Aus einer Tasche in ihrem Rock kramte Hanna die Ringelblumensalbe hervor und rutschte mit dem Stuhl ein wenig näher an das Bett heran. "Wie war dein Tag?", fragte sie fröhlich, während Frodo sein Hemd aufknöpfte. "Anstrengend", entgegnete er, doch zierte ein schiefes Grinsen sein Gesicht. "Ich und einige der anderen Jungen waren den ganzen Tag bei der Heuernte behilflich." Er schlüpfte aus seinem Hemd und wartete, dass sie ihm die Brust einschmierte. Hanna lachte, als sie ihre Finger in die Salbe tauchte. "Davon habe ich bereits gehört. Marmadas hat erzählt, Merry, Minto, Madoc und du hättet euch eine Heuschlacht nach der anderen geliefert." Frodo kicherte bei der Erinnerung daran, errötete aber zugleich ein wenig. "Das war nur in den Pausen", versicherte er rasch. "Den Rest der Zeit haben wir gearbeitet. Das war eine Menge Heu!" "Wie viele solcher Pausen gab es denn?", fragte Hanna mit einem Zwinkern. Frodos Wangen färbten sich noch dunkler. "Es gab einige", gestand er mit einem verlegenen Lächeln und rieb sich am Unterarm. Hanna griff nach seinem Handgelenk, hinderte ihn am Weiterkratzen. Verwundert hob Frodo den Kopf, sah sie schweigend an. "Du solltest die Wunden nicht wieder aufreiben", mahnte sie. "Ich weiß, dass es juckt, aber wenn du sie wieder blutig reibst, wird es nicht besser werden." Frodo nickte und ließ seine Hand wieder sinken, während Hanna seinen anderen Arm einschmierte. Die Arme und den Oberkörper hätte er sich selbst einreiben können, doch Hanna bestand darauf, dies selbst zu tun. Weshalb dem so war, konnte er nicht sagen. Gehorsam drehte er sich um, auf dass sie sich seinem Rücken zuwenden konnte. Die Salbe fühlte sich kühl auf seiner Haut an, als Hannas Finger behutsam über seine Schultern strichen. Die Kratzer an seinem Rücken waren am tiefsten gewesen und auch jetzt, nach zehn Tagen, waren sie an manchen Stellen noch immer blutig und schmerzten. Frodo blickte wieder aus dem Fenster, betrachtete die Sterne, die funkelnd am Nachthimmel standen. Seine Gedanken drifteten zurück an einen längstvergessenen Abend in Beutelsend. Er war mit Bilbo auf der Bank vor der Höhle gesessen, und gemeinsam hatten sie die Sterne beobachtet. Ein leises Seufzen entwich seinen Lippen und plötzlich bemerkte er, dass Hannas Hand zur Ruhe gekommen war. Nur noch ein einzelner Finger strich vorsichtig über den tiefsten der Kratzer, der sich quer über seinen Rücken zog. Ein wenig verwundert drehte er den Kopf, versuchte, aus ihrem Blick zu lesen, was sie damit bezwecken wollte. Zu seiner Verwunderung sah er Tränen in ihren Augen glitzern. "Hanna?", fragte er zögernd und runzelte die Stirn, als er sich vollends zu ihr umwandte. "Ist alles in Ordnung?" Seine Stimme klang besorgt, war kaum mehr, als ein Flüstern. Ein seltsames, unbehagliches Gefühl regte sich in ihm, während er sie fragend ansah und nicht wusste, was er tun sollte, oder was geschehen war. Ihre Hand war auf ihren Schoß gefallen und nun, da ihr klar geworden war, dass Frodo sie beobachtete, trocknete sie schnell ihre Tränen und schüttelte den Kopf. "Keine Sorge, es ist nichts. Mir geht es gut", schluchzte sie und rang sich ein Lächeln ab. Frodo war sich nicht sicher, ob er ihr glauben konnte, ließ seine fragenden Augen weiterhin auf ihr ruhen. Was hatte sie so plötzlich zum Weinen gebracht? Ihre Hand strich gedankenverloren über ihren gerundeten Unterleib, als eine weitere Träne, die sie zu verbergen suchte, über ihre Wange rann. "Es ist wirklich alles in Ordnung", erklärte sie noch einmal auf seinen fragenden Blick hin. "Manchmal kommen mir Tränen, ohne, dass ich recht weiß weshalb. Keine Angst, mir geht es wirklich gut." Frodo legte den Kopf schief, die Stirn noch immer nachdenklich in Falten gelegt. Sein Blick glitt von ihren Händen zu den seinen. Zögernd rutschte er dann ein wenig näher an sie heran und umarmte sie. Auch wenn sie ihm versicherte, dass es ihr gut ging, hatte er doch das Gefühl, sie trösten zu müssen. Im ersten Augenblick schien Hanna ein wenig erschrocken, hatte Frodo sie doch nie zuvor von sich aus umarmt, doch dann legte auch sie die Arme um ihn und drückte den Jungen an sich. Für einen kurzen Augenblick schloss Frodo die Augen und wünschte, die Umarmung würde niemals zu Ende gehen und er könne alle Sorgen vergessen, wie er das in den Armen seiner Mutter immer getan hatte. Doch schließlich löste sich Hanna aus der Umarmung und blickte ihren Schützling liebevoll an. Dieser hob langsam den Kopf, sah ihr zögernd in die Augen, als sie ihm lächelnd durch die Haare strich. Das Licht einer Kerze auf dem Nachttisch ließ sein Gesicht golden schimmern. Doch auf einmal runzelte Hanna fragend die Stirn, denn es schien ihr plötzlich, als wolle er ihr etwas sagen. Lange blickte Frodo in ihre fragenden Augen, hoffte, so den nötigen Mut zu finden, den es ihn kostete, seine Frage zu stellen. ‚Willst du nicht noch ein wenig bleiben?', wollte er sie bitten, doch kein Wort verließ seine Lippen und so schüttelte er nur schweigend den Kopf und senkte erneut den Blick.
Hanna runzelte ein wenig nachdenklich die Stirn. Ihr war dieser Ausdruck in letzter Zeit häufiger aufgefallen, doch wusste sie ihn nicht zu deuten und inzwischen kannte sie Frodo zu gut, um ihn danach zu fragen. Er würde ohnehin nicht antworten. "Du solltest dich jetzt schlafen legen", sagte sie stattdessen und strich ihm ein letztes Mal über die Wange. Frodo nickte schwach, wünschte ihr eine gute Nacht, während sie sich erhob, und blickte schließlich wieder aus dem Fenster, als sie das Zimmer verlassen hatte. Schweigend tastete er nach seinem Nachthemd und zog es sich über, wobei erneut ein leises Seufzen seinen Lippen entwich.
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Dank Hannas liebevoller Behandlung, waren Frodos Wunden rasch verheilt, und als in den ersten Tagen des Winterfilth viele der weiblichen Hobbits und die meisten Kinder im Waldstück südlich der Straße nach Bockenburg nach Pilzen suchten, waren die Spuren des Streites mit Marroc längst verschwunden. Fröhlich lachend sprangen die Kinder, deren Rucksäcke voll mit kleinen Leckereien waren, vor ihren Müttern her. Ihr Lachen erfüllte den sonnigen Herbstnachmittag. Frodo, Merry und Minto huschten kichernd zwischen den Bäumen umher, sammelten jede Eichel und kleine Kastanie auf, die sie finden konnten und steckten sie in ihre Taschen. Die drei jungen Hobbits hatten sich, gemeinsam mit Madoc und Marmadoc, Schleudern gebastelt, die sie in den vergangenen Tagen laufend mit sich herumgetragen hatten. Ständig zielten sie damit auf Bäume, erschreckten Vögel und Eichhörnchen. Ein weiteres, sehr beliebtes Ziel, war die kleine Gruppe bestehend aus Viola, Rubinie und Nelke. Vor allem Frodo fand großen Gefallen daran, den Mädchen einen Schrecken einzujagen.
"Treffer!" flüsterte Frodo mit einem siegreichen Grinsen und ließ sich sogleich wieder neben Merry ins Gebüsch fallen, als er das verschreckte Aufkreischen Violas hörte. Vom Baum unweit hinter Viola, splitterte ein wenig Rinde ab, als die Eichel, mit der Frodo darauf gezielt hatte, in den Stamm einschlug. "Warst du das?", rief Viola aufgebracht und wandte sich an Minto, der mit einigem Abstand hinter ihr her ging. Der junge Hobbit schüttelte unschuldig den Kopf und versteckte die Schleuder in seiner Hand rasch hinter seinem Rücken. Das Mädchen drohte ihm zornig mit dem Finger und stapfte dann davon, um wieder mit Nelke und Rubinie gleichzuziehen.
Hanna seufzte, als Merimas seine Finger aus ihrer Hand gleiten ließ und mit Berilac davon eilte. "Ich hätte nicht mitkommen sollen", meinte sie und strich sich mit den Händen über den Bauch. Adamanta blickte ihre Freundin ein wenig besorgt an. "Ich hatte dir geraten zu Hause zu bleiben. Was bewegte dich dazu, dennoch mitzukommen?" Hanna lächelte und nickte mit dem Kopf in die Richtung, in die ihr Sohn gelaufen war. "Der kleine Tollpatsch bettelte so lange, bis ich eingewilligt habe. Außerdem hätte Marmadas ihn heute nicht mitnehmen können. Soweit ich weiß, ist er mit Merimac nach Süden gegangen, um sich um die Schafe zu kümmern." "Vetter Seredic begleitet sie ebenfalls", schaltete sich Frodo ein, der Hannas Worte mitangehört hatte, als er aus dem Gebüsch getreten war. Sie zog verwundert eine Augenbraue hoch und Frodo grinste verschmitzt. "Das ist richtig", bestätigte Adamanta. Ihr Gatte hatte ihr in der Früh erzählt, dass er heute, mit der Unterstützung von Marmadas und Seredic, die ersten Schafe scheren wollte. "Dennoch hättest du zu Hause bleiben sollen. Merimas hätte uns trotzdem begleiten können, und wenn nicht, dann hätte Mirabella bestimmt ihre Freude mit dem Kleinen gehabt. Minze und die anderen Kleinen sind schließlich auch bei ihr." Hanna nickte und senkte den Kopf, als Adamantas strafender Blick sie traf. "Es ist nun einmal das erste Mal, dass Merimas uns bei der Pilzsuche behilflich sein kann und da wollte ich dabei sein." "Sei dennoch vorsichtig", mahnte sie und warf einen nachdenklichen Blick auf Hannas gerundeten Unterleib.
"Frodo Beutlin! Du nichtsnutziger Strohkopf von einem Hobbit!" Frodo, der sich möglichst unauffällig unter die plaudernden Frauen gemischt hatte, zog scharf die Luft ein und erstarrte in seiner Bewegung. Seine Tante Asphodel wäre beinahe in ihn hineingelaufen, so plötzlich war er stehen geblieben, als er Violas wutentbranntes Gesicht erkannte. Obwohl Viola jünger war, als er, war sie in der Lage, jeden in Angst und Schrecken zu versetzen, wenn sie wütend wurde. Nicht nur ihre Wangen, sondern ihr ganzer Kopf färbte sich dann rot, wie eine Tomate und ihre Augen funkelten, als würde darin ein Gewitter toben. Asphodel schlug ihm mit der Hand leicht auf den Hinterkopf, was Frodo erschrocken zusammenzucken ließ. Sie sah ihn ernst an und schüttelte den Kopf, da sie vermutete, Viola wäre Frodos Schleuder zum Opfer gefallen. Frodo senkte den Kopf und wich dem Blick seiner Tante aus. "Weg hier!" rief Merry aufgebracht, der plötzlich neben Asphodel aus dem Gebüsch schoss. "Nelke und Rubinie sind auf dem Weg hierher. Ich fürchte ich habe den Baum verfehlt und stattdessen Nelkes Schulter getroffen." Frodo sah ihn entgeistert an, als plötzlich Violas wütende Stimme wieder an sein Ohr drang. Er machte auf der Stelle kehrt und versuchte, mit Merry am Arm, zwischen den Bäumen Schutz zu finden. Ein wütendes Mädchen konnte man abwehren, doch drei waren eindeutig zu viel.
Hinter einem Hagebuttenstrauch fanden die beiden Hobbits einen Unterschlupf und beide machten sich sogleich daran, ihre Schleudern zu spannen. Kaum tauchte das erste Mädchen, Viola, zwischen den Bäumen auf, sauste auch schon eine Eichel knapp an ihrem Kopf vorüber. Das Mädchen gab einen kurzen, kreischenden Laut von sich und blickte wütend in die Richtung, aus der das Wurfgeschoss gekommen war. "Frodo, ich schmeiße dich in die Brennnesseln!" fauchte sie und stapfte auf ihn und Merry zu. Frodo kicherte. "Dazu bist du nicht Imstande." Sein Blick glitt kurz zu Merry, der damit beschäftigt war, eine weitere Eichel aus seiner Tasche zu kramen, während Frodo noch immer in Violas Richtung zielte. Ein leises Rascheln hinter sich, ließ ihn die Stirn runzeln, doch zu mehr war er nicht mehr in der Lage, denn plötzlich spürte er ein schweres Gewicht auf seinem Rücken. Die Schleuder wurde ihm aus den Händen gerissen und er fiel vornüber zu Boden. "Wir haben sie!" riefen Nelke und Rubinie im Chor, während Merry bereits zu schimpfen begonnen hatte, und sich verzweifelt versuchte, aus Rubinies Griff zu befreien. Frodo hingegen hatte hilflos zu kichern begonnen, denn während Merry von Rubinie festgehalten wurde, fand Nelke es amüsanter, ihr Opfer durchzukitzeln. Verzweifelt versuchte er, sich zu wehren, doch kaum hatte er eines ihrer Handgelenke zu fassen bekommen, musste er es auch schon wieder loslassen, um kitzlige Körperstellen vor frechen Fingern zu schützen. Viola sprang plötzlich hinter den Busch und half ihrer Schwester dabei, Merry festzuhalten, ging aber nebenbei gerne auch Nelke zur Hand, um sicher zu gehen, dass auch Frodo sich nicht befreien konnte. "Gebt ihr auf?", wollte Nelke schließlich wissen und grinste hinterhältig. "Niemals!" zischte Merry und verpasste Rubinie einen Tritt, ehe er von Viola erneut zu Boden gedrückt wurde. "Werdet ihr aufhören, Eicheln auf uns zu werfen?", verlangte Nelke entschlossen, ohne einmal von Frodo abzulassen, der zu keiner Antwort fähig war, sondern immer noch mit Lachen und hilflosem nach Luft schnappen beschäftigt war. "Nein!" rief Merry stur und schaffte es erneut, sich für einen Moment aus dem Griff von Viola und Rubinie zu befreien. Auch Frodo gelang es schließlich Nelkes Handgelenk zu fassen zu bekommen und in einem kurzen Moment der Unachtsamkeit schaffte er es, sich aus den Fängen des Mädchens zu befreien. Er hatte dennoch Mühe damit, sie festzuhalten, denn noch immer musste er kichern. Doch schließlich hatte er ihre Handgelenke so fest umklammert, dass sie sich nicht befreien konnte. Auch die Tatsache, dass Viola ihm kräftig auf die Arme schlug und verlangte, Nelke wieder loszulassen, konnte daran nichts mehr ändern.
Die fünf Hobbits sahen sich ernst an. Rubinie kniete neben Merry, der der Länge nach ausgestreckt auf dem Bauch lag und versuchte, sich unter ihrem Griff heraus zu winden. Frodo saß dicht neben ihm, seine Arme so um Nelke geschlungen, dass das Mädchen sich kaum mehr rühren konnte. Viola kniete zwischen ihnen und blickte von einem zum anderen, plötzlich ihrer Lage unsicher. Ein schelmisches Grinsen erschien auf Frodos Gesicht. "Gebt mir Merry und ihr könnt dafür Nelke wieder haben!" Rubinie machte keine Anstalten, von Merry abzulassen. "Erst lässt du sie gehen, dann wird er frei kommen." "Ich bin nicht dumm!" erklärte Frodo und schüttelte vehement den Kopf. "Ihr seid in der Überzahl. Erst Merry, dann Nelke!" Rubinie und Viola sahen ihn lange strafend an, doch Frodo grinste, dem Sieg gewiss. Widerwillig ließen sie schließlich von Merry ab, der sich schimpfend erhob und jedem der beiden Mädchen einen Schlag auf den Oberarm verpasste. Erst als Merry schließlich hinter Frodo stand, ließ dieser auch Nelke gehen und erhob sich.
Erst jetzt bemerkte er den strengen Geruch von Kiefernnadeln und Erde in seiner Nase. Schnell wischte er sich Schmutz und verdorrte Nadeln von Hemd, Hose und Gesicht. Merry tat es ihm gleich, warf jedoch ständig wütende Blicke auf die drei Mädchen. "Mädchen!" fauchte er schließlich, warf verständnislos die Arme in die Luft und stapfte davon. Frodo sah ihm grinsend hinterher, griff dann nach seiner Schleuder, die noch immer neben Nelke lag und verabschiedete sich mit einem frechen: "Euch werden wir uns nie ergeben!" von den dreien.
Als Frodo wieder mit Merry aufschloss, war dieser damit beschäftigt, sich die letzten Nadeln aus den Haaren zu zupfen und vor sich hin zu schimpfen. "Das werden sie noch bereuen!" schlussfolgerte er schließlich. "Wer wird was bereuen?", wollte Esmeralda wissen, die von hinten an ihren Sohn herangetreten war. "Mama!" Merry wandte sich rasch zu ihr um, ein zuckersüßes Lächeln auf den Lippen. Sie zog kritisch eine Augenbraue hoch und ließ ihren Blick von Merry zu Frodo wandern, der nicht weniger unschuldig zu ihr aufsah. Einige Kiefernnadeln hatten sich in den Locken des jungen Hobbits verfangen. Esmeralda streckte ihre Hand aus, um die Nadeln zu entfernen, doch Frodo kam ihr zuvor und ließ seine Finger rasch durch die zerzausten Locken gleiten. "Ehe der Winter kommt, sollten wir deinen Krauskopf bändigen", meinte sie, woraufhin Frodo das Gesicht verzog. "Das ist nicht nötig", meinte er rasch und trat zur Sicherheit einen Schritt zurück, damit Esmeralda gar nicht erst auf die Idee kam, die Länge seiner Haare zu prüfen.
Das letzte Mal, hatte Tante Asphodel ihm die Haare geschnitten und zwei Dinge hatten ihm den Spaß daran gründlich verdorben. Seine Tante war schlecht gelaunt gewesen und hatte ihre Wut an ihren Opfern ausgelassen. Es hatte bereits beim Waschen der Haare angefangen. Anstatt das Wasser über dem Feuer zu erwärmen, hatte sie einfach das kalte Brunnenwasser genommen, welches einige Zeit lang im Badezimmer gestanden war. Noch dazu hatte sie nicht darauf geachtet, keine Seife in die Augen zu bringen. Frodos Augen waren einen ganzen Tag lang rot gewesen. Außerdem hatte Asphodel eine Vorliebe für kurze Haare, für sehr kurze Haare. Sie hatte seine Locken so kurz abgeschnitten, dass sie nicht einmal mehr seine Ohren gewärmt und erst Wochen später wieder eine vernünftige Länge angenommen hatten. Er hatte wirklich keine Lust, diese Behandlung noch einmal über sich ergehen lassen zu müssen.
Merry hakte sich bei seiner Mutter ein und griff nach dem Korb, den sie in der anderen Hand hielt. "Du verheimlichst mir etwas", meinte sie mit einem strengen Blick auf ihren Sohn, ehe sie sich erneut an Frodo wandte. "Ob du es willst oder nicht, deine Haare müssen gestutzt werden." Frodo verzog das Gesicht, doch noch ehe er etwas erwidern konnte, hatte Merry das Wort ergriffen. "Ich verheimliche nie etwas!" Er warf einen kurzen Blick zu Frodo, richtete seine Augen dann auf den leeren Korb. "Du hast ja noch gar keine Pilze! Das sollten wir dringend ändern. Von einem leeren Korb werden wir nämlich nicht satt." Merry wollte bereits davon eilen, um nach frischen Pilzen zu suchen, deshalb waren sie schließlich alle im Wald, doch er wurde von seiner Mutter gestoppt. "Wo sind eure Rucksäcke? Die sollten eigentlich dafür sorgen, dass wir nicht verhungern, bis wir genügend Pilze gefunden haben." Merry biss sich auf die Lippen, schielte ratlos zu Frodo, der sich verzweifelt umsah, als würde die Antwort plötzlich von einem der Bäume fallen. Als keine Antwort kam, senkte Frodo den Kopf, schielte nur gelegentlich verstohlen in Esmeraldas Richtung, deren Augen ungeduldig auf ihm ruhten. "Sie sind… weg", begann er und nach einer kurzen Pause deutete er vage in Richtung der Straße nach Bockenburg. "Dort vorne… irgendwo… in den Büschen." "Und was ist mit dem Essen?", wollte sie wissen. "Das ist noch da!" warf Merry ein, "… teilweise…" "Na, dann holt es!" rief sie, nahm den Korb wieder an sich und gab Merry einen Klaps auf den Hintern. Sie schüttelte den Kopf, als die jungen Hobbits den Weg zurückeilten, den sie gekommen waren. Donna trat kichernd an sie heran und hakte sich bei ihr ein. "Da die beiden sich so prächtig um unser Essen kümmern, sollten wir besser dafür sorgen, dass unsere Körbe rechtzeitig voll werden, oder wir werden heute wirklich nicht mehr satt."
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Hanna saß auf einem abgeholzten Baumstamm und ruhte sich aus. Die Augen hatte sie halb geschlossen, während die letzten warmen Sonnenstrahlen sie wärmten. Der Duft von frischen Pilzen, Erde, Tannennadeln und Laub hing in der Luft und mischte sich mit dem der belegten Brote der Kinder. Inzwischen war es Nachmittag geworden und beinahe alle Körbe waren nun mit Pilzen gefüllt. Hanna hatte beim Sammeln der Pilze nicht geholfen. Kaum hatte sich ihr die Möglichkeit geboten, sich hinzusetzen, hatte sie dies auch getan. Inzwischen jedoch, war ihr Körper das Sitzen Leid und ihr Rücken schmerzte. Hanna bereute nun, dass sie mitgekommen war und der bloße Gedanke an den Heimweg, bereitete ihr Übelkeit. "Schau, was ich gefunden habe!" rief Merimas erfreut, als er vor ihr zum Stehen kam und stolz drei große Steinpilze präsentierte. Hanna rang sich ein Lächeln ab und lobte ihren Sohn. Adamanta hatte sich seiner angenommen, damit Hanna sich ausruhen konnte, doch immer wieder kam der Kleine zu ihr gerannt, um ihr seine Fundstücke zu präsentieren. "Bring sie zu Adamanta! Ich bin sicher, sie hat noch Platz dafür in ihrem Korb", erwiderte sie. Merimas grinste von einem Ohr zum anderen, umarmte seine Mutter kurz und eilte dann davon. Hanna sah ihm hinterher, ehe sie ihren Blick über das Waldstück schweifen ließ. Sie hatten eine Lichtung erreicht, an deren Rand sie nun saß. Überall um sie herum waren fleißige Frauen und Kinder, die den Boden nach Pilzen absuchten. Einige Kinder jedoch, waren der Arbeit überdrüssig geworden und rannten zwischen den Bäumen umher.
Sie schreckte zusammen, als Frodo auf einmal neben ihr zu Boden fiel. Der junge Hobbit sog scharf die Luft ein. "Alles in Ordnung?", fragte sie besorgt. Frodo setzte sich nickend auf, verzog jedoch das Gesicht und rieb sich den rechten Knöchel. Er war über eine Wurzel gestolpert, als er vor Merry, Madoc und Minto geflüchtet war. Die jungen Hobbits hatten beschlossen, sich nun gegenseitig mit der Schleuder abzuschießen und es galt die Regel "Jeder gegen Jeden", was jedem von ihnen einige blaue Flecken bescherte. Er sah sich um, doch im Augenblick war keiner der anderen zu sehen. Mit einem Seufzen lehnte er sich neben Hanna an den Stamm und schloss die Augen. "Müde?", fragte sie, froh jemanden gefunden zu haben, mit dem sie sich unterhalten konnte. Frodo schüttelte den Kopf. "Eigentlich nicht." "Ergib dich!" brüllte Merry, der plötzlich neben Frodo auftauchte und mit der Schleuder auf ihn zielte. Noch ehe Frodo etwas sagen konnte, hatte Esmeralda ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben. "Meriadoc Brandybock, ich habe dir verboten mit der Schleuder auf andere zu zielen und ich werde es nicht noch einmal tun!" Sie packte ihn am Ohr und zog ihn mit sich. Merry protestierte, wollte sich herausreden und ihr zu verstehen geben, dass er gar nichts gemacht hatte, doch Esmeralda schien davon nichts hören zu wollen. Frodo rieb sich unwillkürlich am Ohr, als er seinem Vetter hinterher blickte. Merry tat ihm Leid, denn schließlich hatte er wirklich nichts getan, zumindest nicht im Augenblick. "Ich sollte ihm helfen", sagte er und war bereits dabei aufzustehen, doch Hanna hielt ihn auf. "Tu das nicht. Esmie ist gar nicht begeistert von den Schleudern und wenn du jetzt zu ihr gehst, wirst du Merry nur Gesellschaft leisten, bei welcher Bestrafung auch immer." Frodo sah sie verwundert an und runzelte die Stirn, ließ sich aber von ihr zurück halten und setzte sich wieder neben sie. "Warum sagst du mir das?", begehrte er zu wissen. Hanna seufzte leise. "Esmeralda tut genau das Richtige. Solche Schleudern sind gefährlich, vor allem wenn man damit auf andere zielt." Frodo spürte, wie er errötete und senkte ein wenig verlegen den Kopf. Ein Lächeln huschte über Hannas Lippen. "Ich habe dich aus reiner Selbstsucht vor einer Bestrafung bewahrt." Überrascht sah Frodo wieder zu ihr auf und runzelte die Stirn. Wie konnte sie das meinen? "Euch die ganze Zeit bei der Arbeit zuzusehen, ist nicht halb so aufregend, wie es aussehen mag. Ich hatte gehofft, du würdest mir ein wenig Gesellschaft leisten, wenn ich dich vor Schlimmerem bewahre." "Dann werde ich bleiben", schmunzelte Frodo, der ihrem Wunsch gerne nachkam. Seit seine Wunden verheilt waren, war sie nicht mehr bei ihm gewesen und Frodo vermisste die Aufmerksamkeit, die sie ihm zuteil werden hatte lassen, auch wenn er ihr das niemals gesagt hatte. "Weißt du denn schon, wann es auf die Welt kommen wird?", fragte er und deutete mit einem Kopfnicken auf ihren Bauch. Hanna rutschte ein wenig hin und her und setzte sich bequemer hin. "Eigentlich könnte es jeden Tag soweit sein." "Und dann kommst du noch mit in den Wald?!" rief Frodo aus und sah sie mit großen, verständnislosen Augen an. "Was, wenn es jetzt auf die Welt kommt?" "Keine Sorge, es wird nicht jetzt zur Welt kommen", lächelte sie. "Du hörst dich an wie Adamanta. Sie war heute Morgen auch schon sehr besorgt, als sie hörte, dass ich vorhatte, euch zu begleiten. Aber ich wollte Merimas nicht alleine lassen und…" "Aber auf Merimas hätte ich doch aufpassen können", erklärte Frodo. Hannas Aussage, dass das Baby jederzeit geboren werden konnte, beunruhigte ihn. "Nach allem, was ich heute gesehen habe, glaube ich nicht, dass du noch viel Zeit für Merimas gehabt hättest." Etwas verlegen senkte Frodo den Blick. "Ein wenig Zeit schon." Mit einem Schmunzeln wuschelte sie ihm durch die Haare. "Komm, hilf einer müden Frau auf. Wenn ich noch lange hier sitzen bleibe, werdet ihr mich nicht Hause tragen müssen." Frodo grinste und half Hanna, die sich den Rücken hielt, mühselig wieder auf die Beine.
Hanna war noch nicht recht aufgestanden, als sie sich plötzlich krümmte und die Hände unter ihren Bauch schob. Einen kurzen Augenblick schien sie nicht zu atmen und ihr Gesichtsausdruck verkrampfte sich. "Hanna?", fragte Frodo besorgt und griff nach einer ihrer Hände. "Ist alles in Ordnung?" Sie antwortete nicht sofort, was Frodo noch mehr beunruhigte. Er wollte zu Esmeralda laufen und sie um Hilfe bitten, doch Hanna ergriff sein Handgelenk und hinderte ihn am Gehen. Überrascht und ein wenig erschrocken blickte er auf. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich wieder entspannt. "Ich fürchte, ich habe mich geirrt, Frodo. Du musst nach Hause laufen. Sag Mirabella, sie solle alles vorbereiten." Ihre Stimme klang leise, aber bestimmt. "Ich werde nachkommen." Frodos Augen weiteten sich, doch er nickte und stürmte auf der Stelle davon.
Als er zwischen den Bäumen verschwand, hätte er beinahe Asphodel umgerannt. "Vorsicht, Kind!" mahnte diese streng. "Wenn du rennst, dann schau wenigstens, wo du hinläufst." "Hanna bekommt ihr Baby!" rief Frodo aufgebracht, drängte sich an seiner Tante vorüber und rannte weiter, ohne eine Antwort abzuwarten.
So schnell er konnte, eilte Frodo durch den Wald. Die Kiefernnadeln und das Laub unter seinen Füßen knisterten, als er über Wurzeln sprang oder zwischen Bäumen hindurch rannte, um seinen Weg abzukürzen. Die Zeit schien plötzlich um vieles schneller vorüberzugehen, als zuvor. Oder waren es seine Füße, die sich plötzlich immer schwerfälliger bewegten? Frodo keuchte, war schließlich gezwungen seine Geschwindigkeit zu verlangsamen. Es dauerte einige Zeit, bis er wieder zu Atem gekommen war, doch dann rannte er weiter, erreichte schließlich den Waldrand und wusste, dass er nicht mehr allzu weit zu gehen hatte. Prustend und keuchend blickte er sich um, fragte sich, wie es Hanna wohl ginge, ehe er sich wieder in Bewegung setzte.
Als er das Brandyschloss erkennen konnte, verließ Frodo die Straße dort, wo sie eine Biegung machte, um seinen Weg abzuküren. Er stürmte er durch die Hintertür in die Höhle und rief keuchend nach seiner Großmutter. Mirabella kam aus einem der Wohnzimmer gerannt, ihr Gesicht voller Sorge ob der verzweifelten Stimme ihres Enkels. "Frodo, was ist geschehen?", wollte sie wissen, als sie auf ihn zugeeilt kam. "Hanna…", keuchte Frodo, der kaum genügend Luft bekam, um seine Nachricht in Worte zu fassen. "… ist auf dem Weg hierher. Du sollst alles vorbereiten für…" Weiter kam er nicht, doch Mirabella hatte ihn verstanden und gab ihm sogleich einen weiteren Auftrag. Er sollte nach Hanna Ausschau halten und ihr Bescheid geben, wenn sie kam. Frodo tat, wie ihm aufgetragen wurde, ging wieder nach draußen und wartete.
Ungeduldig blickte er auf die Straße nach Bockenburg. Er war besorgt, hoffte, dass Hanna rechtzeitig nach Hause kommen würde und ihr Kind nicht irgendwo im Wald zur Welt bringen musste. Frodo wusste zwar nicht so recht, was bei einer Geburt geschah, oder was es dazu brauchte, doch er konnte sich vorstellen, dass es nicht sehr angenehm war, ein Kind im Wald zu gebären. Endlich tauchten die Schatten von drei Hobbits auf der Straße auf. Esmeralda und Asphodel hatten Hanna in ihre Mitte genommen und stützten die werdende Mutter. Frodo eilte zurück ins Brandyschloss, um seiner Großmutter Bescheid zu geben. Gefolgt von Mirabella wollte er wieder nach draußen gehen, als sich die Hintertür öffnete und Esmeralda eintrat. Hanna stützte sich indes schwer auf Asphodel. "Liebes, wie geht es dir?", wollte Mirabella wissen, als sie zu Hanna eilte, um sie ebenfalls zu stützen. Hanna schloss einen Augenblick die Augen und verzog das Gesicht. Schweiß stand auf ihrer Stirn und sie sah erschöpft aus. "Es geht." Mirabella führte Hanna in ihr Zimmer. Frodo wollte ihnen folgen, doch Esmeralda hielt ihn zurück. "Wir kamen rechtzeitig", versicherte sie auf seinen besorgten Gesichtsausdruck hin. "Bei Mirabella ist sie in guten Händen. Ich glaube, in ganz Bockland gibt es keinen einzigen Hobbit, der mehr Kinder zur Welt gebracht hat, als deine Großmutter." Frodo sah sie mit großen Augen an, doch Esmeralda war nicht in der Stimmung, mehr zu erzählen. Stattdessen schob sie ihn in Richtung Küche und bat ihn, den Tisch für das Abendessen zu decken. "Und das werde ich behalten", sagte sie bestimmt und nahm ihm die Schleuder ab, die er in den Hosenbund gesteckt hatte. "Aber…", protestierte Frodo, doch sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Frodo seufzte. Für heute hatte er genügend Aufregung. Er war zu erschöpft, um sich auf eine Diskussion mit Esmeralda einzulassen.
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Es war bereits spät in der Nacht, als Frodo in seinem Bett lag, hin und her gerissen zwischen seiner Erschöpfung und seiner Aufregung. So müde er auch war, er konnte keinen Schlaf finden, wollte gar nicht einschlafen. Voller Erwartung blickte er zur Tür. Esmeralda hatte ihm versprochen, zu ihm zu kommen, sobald Hannas Kind auf der Welt war und ihr Kommen war ihm wichtiger, als seine eigene Schläfrigkeit. Die sanften Hände des Schlafes langten immer wieder nach ihm, doch Frodo schüttelte sie von sich ab, auch wenn er Mühe hatte, seine Augen offen zu halten und immer wieder von einem Gähnen heimgesucht wurde. Verlockend waren da die zärtlichen Berührungen, die seine Lider schlossen und ihm die Glieder schwer werden ließen und bald fühlte Frodo sich außerstande, sich ihrer zu erwehren.
"Melilot Brandybock", flüsterte eine leise Stimme. Frodo schlug die Augen auf. Esmeralda war, im sanften Schein einer Kerze, über ihn gebeugt, ein Lächeln im Gesicht. "Melilot", wiederholte sie. Verwundert runzelte Frodo die Stirn, doch dann lächelte auch er. "Ein Mädchen." Esmeralda nickte. "Hanna geht es gut. Ich habe doch gesagt, dass sie in guten Händen ist." Frodo grinste, wurde jedoch von einem Gähnen unterbrochen. "Schlaf jetzt weiter. Gute Nacht!" Zur Antwort bekam Esmeralda nur mehr ein leises Murmeln und noch ehe sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, war Frodo wieder eingeschlafen.
Author notes: In diesem Kapitel wird Salbe hergestellt. Ich übernehme jedoch keine Garantie, dass diese Arte der Zubereitung auch wirklich stimmt. Sollte es falsch sein, wäre ich über jede Berichtigung dankbar. Auch das Internet lässt einem über manche Dinge im Dunkeln. :)
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Kapitel 48: Festtagsvorbereitungen
22. Vorjul 1385
Die Sonne ging rot über den Feldern im Osten auf. Bandobras Tuk hatte mit Hilfe vieler Bogenschützen die Orks vertrieben und die Schlacht von Grünfeld, die einzige Schlacht, die jemals im Auenland ausgetragen wurde, hatte ein Ende gefunden.
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Langsam hob Frodo den Kopf und holte tief Luft. Was für eine Geschichte! Die Kerze, die neben ihm auf dem Fußboden stand, flackerte und Frodo blickte verwundert in die gelblichrote Flamme. Nur langsam kehrten seine Gedanken zurück in die Bibliothek, war er doch eben noch damit beschäftigt gewesen, Bandobras Tuk dabei zu unterstützen, Orks, die im Jahre 1147 in das Auenland eingedrungen waren, zu vertreiben. Er fröstelte, als ihm plötzlich auffiel, wie kalt es in der Bibliothek war. Sofort nach dem Frühstück war er hierher gekommen, um sich ein neues Buch zu holen, doch anstatt in seinem Zimmer zu lesen, war er den Berichten der Schlacht von Grünfeld noch in der Bibliothek verfallen. Später würde er etwas über den Grausamen Winter im Jahre 1311 lesen, als die Flüsse zugefroren und Wölfe in das Auenland eingedrungen waren. Doch erst musste er sich ein wärmeres Plätzchen suchen.
Rasch hatte er das Buch geschlossen und war aufgestanden, um sich genüsslich zu strecken. Für einen Augenblick schloss Frodo die Augen und sog tief den unverwechselbaren Geruch von altem Leder und vergilbten Papier ein. Er genoss den Frieden und die Stille in der Bibliothek, Ruhe, die er nicht einmal in seinem Zimmer fand. Nachts wurde er oft von Melilot um den Schlaf gebracht, die im Nebenzimmer so laut weinte, dass sie ihre Geschwister aufweckte, die daraufhin ebenfalls zu weinen begannen. Tagsüber hielt er sich selten in seinem Zimmer auf, da er, wie immer im Winter, Unterricht hatte oder seine Zeit mit Merry verbrachte. In den letzten Tagen waren die Unterrichtsstunden jedoch ausgefallen und würden dies auch in den kommenden Tagen tun, denn es musste alles für die Jul-Feierlichkeiten vorbereitet werden und keiner konnte sich mit der Belehrung der Kinder aufhalten.
Frodo griff nach dem Kerzenhalter und blickte sich noch einmal in der dunklen Bibliothek um, deren Wände und Regale voller Bücher das schwache Licht der Kerze kaum widerspiegelten. Zufrieden lächelte Frodo in sich hinein, ehe er sein Buch aufhob und den Raum verließ. Kaum war er aus der Tür getreten, pustete er die Kerze aus und stellte sie auf ein Regal zu seiner Linken, auf dem noch andere Kerzenhalter und Streichhölzer standen.
Während Frodo durch die Gänge stapfte, fiel ihm plötzlich ein strenger und doch angenehmer Geruch auf. Er hielt kurz inne und streckte nachdenklich die Nase in die Luft, in der Hoffnung, den Duft erkennen zu können. Es war der Geruch von frischen Kräutern, doch welcher Kräuter, wusste er nicht. Neugierig ging er seiner Nase nach, um den Ursprung des wohlriechenden Krautes zu ergründen.
Sein Weg führte ihn in eine der größeren Nebenküchen des Brandyschlosses, wo seine Großmutter über zwei große Töpfe gebeugt am Feuer stand. Auf ihren grau-weißen Locken, die sie mit einer Spange im Nacken zusammengebunden hatte, lag ein roter Schimmer. Die Ärmel ihrer blassgelben Bluse hatte sie bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Eine wohlige Wärme strahlte Frodo entgegen, als sich Mirabella umdrehte und ihre Hände an der Schürze ihres braunen Baumwollkleides trockenrieb. Sie lächelte, als sie ihren Enkel erkannte, der sie fragend ansah und neugierig schnüffelnd auf die Töpfe über dem Feuer zuging. "Was ist da drin?", wollte er wissen. Mirabella grinste, während sie einen großen Tontopf aus dem Schrank holte. "In einem der Töpfe befindet sich Fenchel und im anderen Salbei, den ich im Wasser auskochen lasse." "Tee?" "Nein", Mirabella schüttelte den Kopf, "ich bin dabei, Salbe herzustellen. Dein Großvater wird mir jeden Augenblick das notwendige Fett dafür bringen." Als hätte er ihre letzten Worte gehört, trat Gorbadoc plötzlich in die Küche, eine Schüssel mit zwei großen Brocken weißen Fettes in der Hand. Frodo trat rasch zur Seite und verzog angeekelt das Gesicht, als sein Großvater an ihm vorüber an den Tisch ging, wo er die Schüssel abstellte. Der alte Hobbit zog den Geruch von Schweinen, Blut und rohem Fleisch hinter sich her. Sein Hemd war mit dunklem Blut bespritzt und auch an seinen Armen klebte Blut, das er wohl vergessen hatte, abzuwaschen. Frodo spürte, wie ihm übel wurde und hielt sich die Hand vor die Nase. "Die Schweine für das Jul-Fest sind geschlachtet", verkündete sein Großvater stolz. "Das Fett ist für dich. Um das Fleisch der beiden Tiere werde ich mich kümmern. Merimac und Seredic helfen mir dabei." Mirabella war zufrieden und holte sogleich einen weiteren Topf aus dem Schrank, in den sie das gebrachte Fett hinein gab. Frodo blickte seinem Großvater hinterher, als dieser die Küche verließ, stellte sich dann neben das Feuer, um den Duft der Kräuter einzuatmen und den Geruch des Blutes vergessen zu können. "Wozu brauchst du das?", fragte er, als Mirabella zu ihm kam, die Töpfe mit den Kräutern vom Feuer nahm und dafür den, der das Fett beinhaltete, aufsetzte. "Ich werde das Fett schmelzen, bis nur mehr einige Klumpen übrig bleiben, die Grüben", erklärte sie, erfreut über Frodos Interesse. "Diese werde ich dann herausfischen und später zum Kochen verwenden. Das restliche Fett kommt in den Topf mit Schweineschmalz." Sie deutete mit einem Kopfnicken auf den großen Tontopf, den sie zuvor aus dem Schrank genommen hatte. "Ich dachte, du wolltest Salbe herstellen?", fragte Frodo und sah verwundert zu ihr auf. "Das werde ich auch", meinte sie mit einem Lächeln, "und du kannst mir dabei behilflich sein."
Frodo lächelte erfreut, legte sein Buch zur Seite und wurde sogleich damit beauftragt, die Kräuter aus dem Wasser zu schöpfen. Mirabella erklärte ihm, dass nun, da sie die Kräuter ausgekocht hatte, alle wichtigen Inhaltsstoffe im Wasser waren und nicht mehr in den nun lahmen Blättern. Indes verließ seine Großmutter mit einer großen Schüssel in der Hand die Küche, nur um bald darauf zurückzukehren. In der Schüssel fanden sich, zu Frodos Überraschung, nicht etwa weitere Kräuter, sondern viele kleine Gefäße, wie jenes, in welchem Hanna die Ringelblumensalbe aufbewahrte. Frodo stellte all diese Gefäße auf den Tisch und nahm die Korkverschlüsse ab. Kaum war er damit fertig, hatte seine Großmutter schon eine weitere Aufgabe für ihn. Sie hatte in der Zwischenzeit die Grüben aus dem flüssigen Fett geschöpft und gab nun vorsichtig jeweils zehn Tassen des Schmalzes in die Töpfe mit dem Kräuterwasser. Das restliche Fett goss sie in den Schmalztopf und erklärte, dass es bald genauso fest werden würde, wie der wenige Schmalz, der sich noch in dem Tontopf befunden hatte. "So", stellte Mirabella mit einem zufriedenen Seufzen fest, "jetzt müssen wir nur noch rühren." Sie drückte Frodo einen Kochlöffel in die Hand, stellte ihm einen der Wassertöpfe hin und bat ihn, so lange zu rühren, bis die Flüssigkeit fester wurde. Sie selbst nahm sich des anderen Topfes an.
Frodo grinste in sich hinein, während er im Topf rührte und darauf wartete, dass dessen Inhalt fest wurde. Es machte ihm Spaß, seiner Großmutter behilflich zu sein und er fand es sehr interessant. Er hatte nicht gewusst, wie Salbe hergestellt wurde, und noch weniger hatte er geahnt, dass seine Großmutter sie herstellten konnte. Außerdem fand er es schön, mit Mirabella zusammen zu sein. Ihm fiel auf, dass er viel zu selten Zeit mit ihr verbrachte und beschloss, dies zu ändern. Mit einem Lächeln im Gesicht blickte er zu seiner Großmutter, die nicht weniger zufrieden zu ihm zurücklächelte.
Mirabella war glücklich, ihr Wissen an ihren jüngsten Enkel weitergeben zu können. Auch wenn Küchenarbeit meist den Frauen vorbehalten war, so war es doch auch gut, wenn Frodo etwas über die Zubereitung bestimmter Dinge erfuhr. Zwar konnte er von Salben nicht satt werden, doch nichtsdestotrotz konnte es sich eines Tages als nützlich erweisen, über deren Herstellung Bescheid zu wissen. Lächelnd strich sie mit dem Handrücken über die Wange ihres Enkels.
Frodos Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als er die faltige Haut auf der seinen spürte. Für einen kurzen Augenblick lehnte er den Kopf in ihre Berührung, erst dann blickte er erneut zu ihr auf. "Glaubst du, die Salbe ist jetzt fest genug?", wollte er wissen, denn er wurde des Rührens müde und sein Oberarm begann zu schmerzen. Mirabella schielte in seinen Topf und schüttelte den Kopf, erklärte aber, dass es nicht mehr lange dauern konnte.
Und tatsächlich, bald darauf war erst Mirabellas Salbe und dann auch seine eigene fertig und sie konnten sich daran machen, die kleinen Gefäße damit zu füllen. Frodo, der die Fenchelsalbe gemischt hatte, füllte die Töpfe am einen Tischende und Mirabella schöpfte ihre Salbeisalbe in jene am anderen Ende, um sicherzugehen, dass die Salben nicht vermischt und dadurch später falsch beschriftet wurden.
"Fertig!" verkündete Frodo mit einem zufriedenen Seufzen, als er das letzte Gefäß gefüllt hatte und sich auf einen der Stühle fallen ließ. Er hätte es nicht zugegeben, doch die Arbeit hatte ihn erschöpft und sein rechter Arm schmerzte vom vielen Rühren. "Wozu brauchen wir so viele?", wollte er schließlich wissen. "Wir brauchen nicht alle", erklärte Mirabella und setzte sich ebenfalls auf einen Stuhl, wobei sie sich ihre Hände an ihrer Schürze abwischte. Frodo glaubte nicht, dass ihre Hände tatsächlich schmutzig waren, sondern dass sie dies aus einer Gewohnheit heraus machte. "Nachdem wir sie beschriftet haben, werde ich die meisten zu Fastred bringen lassen. Könntest du das für mich erledigen und heute Nachmittag nach Bockenburg gehen?" Frodo überlegte einen Augenblick, nickte aber schließlich. Er hatte ohnehin nichts zu tun, denn Merry war mit seinem Vater unterwegs. Was genau der junge Hobbit machte, wusste er nicht, alles, was er ihm gesagt hatte, war, dass es etwas mit den Jul-Feierlichkeiten zu tun hatte, doch das war um diese Jahreszeit beinahe selbstverständlich.
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Frodo griff nach seinem Umhang und wickelte sich enger darin ein. Inzwischen war er der Ansicht, dass es doch keine so gute Idee gewesen war, die Salben zu Fastred zu bringen. Kurze Zeit nach dem Mittagessen hatte seine Großmutter ihm in seinen Mantel geholfen und ihm eine Tasche mit den Salben umgehängt. Frodo hatte sich daraufhin seinen Umhang um die Schultern geschlungen und sich auf den Weg gemacht.
Inzwischen hatte er Bockenburg erreicht. Es herrschte reges Treiben auf den Straßen und hier und da hörte man einen Bauer den besonderen Geschmack seiner Kuhmilch oder die Zartheit seines Lammfleisches anpreisen. Zudem gab es viele Frauen, die Gestecke aus Tannen, Stechpalmen und Misteln verkauften, ebenso wie in goldene Bänder gebundene kleine Sträußchen aus Tannen und Mistelzweigen. Frodo wunderte das nicht, denn zur Julzeit blühte der Handel, selbst an Tagen, an denen kein Markt war und die immergrünen Zweige hatten an Jul eine besondere Bedeutung, um die der junge Hobbit allerdings nicht wusste, was ihn aber auch nicht weiter störte. Neugierig ließ Frodo seinen Blick über die Straße wandern und entdeckte einen ältern Hobbit, der rauchend auf der Bank vor seinem Holzhaus saß und das Getümmel auf den Straßen ebenso interessiert beobachtete, wie Frodo das tat. Frodo lächelte in sich hinein und nickte dem Hobbit freundlich zu, als er an ihm vorüberging und dann in eine Seitengasse einbog.
Das warme Licht der Sonne schien auf sein Gesicht und doch fröstelte er, denn obschon es ein schöner Wintertag war, wehte ein kühler Wind. Als er das Haus des Heilers erreichte (es war einer Hobbithöhle so ähnlich wie möglich, hatte sogar eine runde Tür und runde Fenster), klopfte er und wartete ungeduldig schlotternd vor der Schwelle. Ein Mädchen in seinen Tweens öffnete die Tür und begutachtete Frodo erwartungsvoll. Ihre hellen Locken hatte sie hochgesteckt, nur eine einzelne Strähne hing ihr über die Schulter. "Was kann ich für dich tun?", fragte sie, ohne ihre grünen Augen von ihm zu nehmen. Frodo fühlte sich unbehaglich, kam sich klein vor unter ihrem prüfenden Blick, doch sagt er, wenn auch ein wenig zaghaft, dass er zu Herrn Fastred wolle. "Papa, es ist für dich!" rief das Mädchen über seine Schulter und machte auf dem Absatz kehrt. Frodo blieb ein wenig verwirrt auf der Schwelle stehen, unsicher, ob er nun eintreten durfte, oder doch lieber draußen warten sollte. Zu seiner Erleichterung erschien Fastred einige Augenblicke darauf an der Tür. "Frodo, was führt dich denn hierher? Komm nur herein." Frodo tat gerne, wie ihm geheißen wurde und rieb sich die kalten Hände, als er in die Empfangshalle des Hauses trat. "Tee?", wollte Fastred wissen, als er ihm andeutete seinen Umhang und seinen Mantel auszuziehen. Frodo nickte, reichte dem Heiler seinen Umhang, legte die schwere Umhängetasche ab und zog seinen Mantel aus. Fastred führte ihn in das Wohnzimmer des Hauses und stellte ihm seine Familie vor. "Das ist meine Frau, Calendula", erklärte er, als eine Frau mit dunklem Haar und einem grünen Kleid auf sie zukam. Frodo reichte ihr höflich die Hand und neigte den Kopf ein wenig. Sie lächelte und verschwand kurz darauf in der Küche, um den Tee vorzubereiten. Fastred deutete auf die anderen beiden Mädchen, die stickend in großen, weichen Sesseln am Kamin saßen. "Und dies sind meine Töchter Mary und Lily, die du ja bereits an der Tür kennen lernen durftest." Fastred warf seiner jüngsten Tochter, die ihren Gast so einfach hatte in der Kälte stehen lassen, einen scharfen Blick zu. Frodo begrüßte auch sie höflich und setzte sich dann an den Tisch. Seine Augen wanderten neugierig durch das geräumige Wohnzimmer, das neben einem Kamin auch einen großen Esstisch beherbergte. Unzählige Lampen, die an reich verzierten Holzhalterungen an den Wänden hingen, spendeten nachts das nötige Licht, doch brannten im Augenblick keine davon, denn das Tageslicht, das durch ein großes Fenster hereinströmte, reichte aus, um den Raum hell und gemütlich wirken zu lassen. "Nun, Frodo, was führt dich zu mir?", begehrte Fastred zu wissen. Frodo wandte sich ihm zu, lächelte und legte seine Tasche auf den Tisch. "Ich soll dir das hier bringen. Mit den besten Wünschen meiner Großmutter, Mirabella." Fastred nahm die Tasche an sich und begutachtete neugierig deren Inhalt. Schließlich lachte er. "Fenchel und Salbei, genau was ich um diese Jahreszeit brauche. Richte deiner Großmutter bitte meinen Dank aus." "Das werde ich", versicherte Frodo lächelnd.
Kaum hatte Fastred die Salben zur Seite gelegt, war Calendula mit einem Tablett zu ihnen getreten und tischte den Tee auf. Frodo bedankte sich höflich und griff sofort mit beiden Händen nach der Tasse, um seine Finger ein wenig zu wärmen, ehe er einen Schluck der heißen Flüssigkeit zu sich nahm.
Fastred lächelte und beobachtete den Jungen einige Zeit. Auch wenn es inzwischen mehr als fünf Jahre her sein musste, so erinnerte er sich dennoch gut daran, was Frodo nach dem Tod seiner Eltern zu ihm gesagt hatte.
"Was fühlst du, Frodo?" "Schmerz. Alles schmerzt. Und die Angst, sie ist unerträglich. Ich blicke nach vor und sehe nichts."
Nur wenige Male zuvor hatte er solche Worte am Krankenbett eines Alten vernommen, doch sie aus dem Munde eines Kindes zu hören, hatte ihn erschreckt. Er hatte damals lange über jene Worte nachgedacht und bald erkannt, dass er ein tiefes Mitgefühl für Frodo empfand. Fastred wusste noch genau, was er dem Jungen damals geraten hatte und hoffte inständig, dass Frodo nach all den Jahren gesprochen hatte und seine Ängste mit jemandem teilte. Er selbst hatte ihn seit jenen Tagen nur mehr selten gesehen, und dies war seither die erste Möglichkeit, die sich ihm bot, ein Gespräch mit Frodo zu führen. "Nun, Frodo, wie geht es dir?", begann er. Frodo blickte von seiner Tasse auf, musterte den Heiler einen Augenblick mit einem verwunderten Ausdruck. Dann jedoch, stahl sich ein Lächeln über seine Lippen und er nickte leicht. "Es geht mir gut. Die Jultage stehen vor der Tür und, wie jedes Jahr, soll es ein großes Fest geben. Die Vorbereitungen sind in vollem Gange. Fastred nickte. "Freust du dich darauf?" "Sehr", entgegnete Frodo und nahm einen weiteren Schluck von seinem Tee. "Allerdings ist es schade, dass Bilbo nicht kommen wird. Ich habe ihm vor einigen Wochen einen Brief geschickt, doch er meinte, dieses Jahr würde er wohl nicht kommen können." Frodo senkte den Kopf und Fastred bemerkte einen traurigen Schatten über die blauen Augen des jungen Hobbits huschen. Doch als Frodo wieder aufsah, war der Schatten verschwunden, auch wenn das Lächeln noch nicht wieder auf sein Gesicht zurückgekehrt war. Fastred runzelte einen Moment die Stirn und überlegte. Bilbo war Frodos Vetter zweiten Grades, wenn er sich recht entsann. Ein merkwürdiger Hobbit aus Hobbingen, über den man die seltsamsten Geschichten hörte. Dennoch schien Frodo einiges an ihm zu liegen und er entschied, dies etwas genauer zu untersuchen. "Du vermisst ihn, nicht wahr?" Frodo nickte. "Manchmal. Er war schon so lange nicht mehr hier." Ein leises, nachdenkliches Seufzen entwich Frodos Lippen, als dieser versuchte, sich an Bilbos letzten Besuch zu erinnern. Er musste mindestens drei oder gar vier Jahre zurückliegen. Frodo verspürte einen leichten Stich im Herzen, als ihm klar wurde, wie lange er Bilbo nicht mehr gesehen hatte und wie sehr er ihn vermisste. Worte von einem ihrer letzten Treffen klangen in seinen Gedanken.
"Ich hatte geglaubt, wir könnten miteinander reden." "Wir können reden, Frodo, jederzeit."
Reden. Er hatte damals an Fastreds Worte denken müssen, hatte sogar mit Bilbo sprechen wollen, doch letzten Endes war er wieder gescheitert, fand weder den Mut, noch die richtigen Worte, um Bilbo seine Sorgen, seine Gefühle anzuvertrauen. Frodo runzelte die Stirn. Fastreds Worte hatten ihn seit sie gesprochen worden waren, nicht wieder losgelassen. Argwöhnisch blickte er auf den Hobbit vor sich. Er erinnerte sich an Gerüchte. Fastred sehe mehr, als manch ein anderer und könne in den Herzen anderer lesen. War es das, was den Heiler zu diesem Gespräch veranlasste? Wollte er in seinem Herzen lesen? Frodo nippte an seinem Tee, ohne den Hobbit aus den Augen zu lassen.
Fastred bemerkte plötzlich, wie Frodo unsicher wurde, ja, vielleicht sogar ein wenig ängstlich. Das verwunderte ihn und er griff nachdenklich nach seiner Teetasse, doch noch ehe er einen Schluck nehmen konnte, fragte Frodo: "Werden die Salben, die ich gebracht habe, im Winter oft gebraucht?" Der Heiler hielt in seiner Bewegung inne, überrascht über die plötzliche Wendung ihres Gespräches. ‚Du verbirgst etwas, Frodo. Du hast nach all den Jahren noch immer etwas zu verbergen. Was ist es, das du wie einen Schatz hütest? Wovor hast du Angst? Was glaubst du, könnte ich entdecken, wenn ich weiter frage?' Fastred nahm einen Schluck seines Tees und entschied, vorerst auf Frodos Ausweichversuch einzugehen. "Fenchel und Salbei helfen vor allem bei Erkältungen. Zwar werden sie meist als Tee verabreicht, doch auch als Salbe können sie sehr hilfreich sein."
Frodo war ein erleichtertes Aufatmen förmlich anzusehen, während Fastred mit seiner Erklärung fortfuhr. Er war sich nicht sicher weshalb, doch es beunruhigte ihn, dass der Heiler ihn ausfragte. Er hatte das schon einmal gemacht und Frodo erinnerte sich nur zu gut, wie rasch er damals geantwortet hatte, oft schon ehe er überhaupt gewusst hatte, was er sagen wollte. Gespräche mit dem Heiler konnten gefährlich sein, auch wenn er eigentlich sehr nett war. Selbst wenn die Gerüchte, die über Fastred im Umlauf waren, nicht stimmten, war es sicherer, Gespräche in die andere Richtung zu leiten, als der Heiler es beabsichtigte.
Frodo stellte noch einige weitere Fragen, die Fastred geduldig beantwortete, doch kaum hatte der junge Hobbit seinen Tee ausgetrunken, erhob er sich. "Ich sollte gehen", sagte Frodo. "Zu Hause warten sie bestimmt auf mich." "Dann will ich dich nicht aufhalten", erklärte Fastred und erhob sich ebenfalls. Die Enttäuschung darüber, dass er nicht wieder hatte auf das Ausgangsthema ihres Gespräches zurückkommen können, ließ er sich nicht anmerken. Frodo verabschiedete sich freundlich von der Familie des Heilers und bedankte sich für deren Gastfreundschaft.
In der Tür beugte sich Fastred noch einmal zu ihm herunter und öffnete Frodos Hand, um drei Silberpfennige hineinzulegen. Frodo starrte den Heiler mit großen Augen an, doch Fastred lächelte. "Zwei davon sind für deine Großmutter und der dritte ist für deine Mühen." Frodo öffnete den Mund um zu protestieren, doch Fastred schüttelte den Kopf. Ein Lächeln, das von einem Ohr zum anderen reichte, erschien auf Frodos Gesicht. "Vielen Dank, Herr Fastred. Das ist sehr großzügig." Der Heiler nickte freundlich, ehe er sich von Frodo verabschiedete.
Frodo lächelte noch immer, als er den Weg nach Hause einschlug. Er hatte einen ganzen Silberpfennig bekommen und das nur, weil er nach Bockenburg gegangen war. Hobbits in seinem Alter bekamen selten etwas bezahlt für ihre Arbeit, erst recht nicht einen ganzen Silberpfennig. Er fragte sich, was er sich wohl damit kaufen würde, entschied dann jedoch, dass ein Silberpfennig viel zu kostbar war, um ausgegeben zu werden. Er würde ihn aufbewahren und eines Tages etwas ganz Besonders damit erwerben. Was das war, wusste er noch nicht, doch er würde es bestimmt wissen, wenn er es sah.
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Fröhliches Gelächter erfüllte das Gemeinschaftszimmer des Brandyschlosses. Rauchschwaden hingen in der Luft und zahlreiche Lampen erhellten den Raum, ließen ihn wie die Wirtsstube eines Gasthauses wirken. Überall waren Mistelzweige aufgehängt oder Tannengestecke aufgestellt worden. Viele der Gäste, die für das Julfest erwartet wurden, waren bereits eingetroffen und die Stimmung der Hobbits hätte besser nicht sein können. Alte Freunde wurden fröhlich begrüßt, Familienmitglieder, die das Gedränge im Brandyschloss hinter sich gelassen hatten und ausgezogen waren, wurden willkommen geheißen.
Gorbadoc war der Ansicht gewesen, dass es nicht schaden konnte, schon an diesem Abend den Freuden der Jul-Feierlichkeiten zu frönen und hatte angeordnet, dass Musik spielen sollte. Einige der Hobbits waren dabei ihre Instrumente auszupacken, während Dodinas, Frodos Onkel, seine Trommel bereits hervorgeholt hatte und nun geduldig auf die anderen Musiker, darunter auch Saradas, Merimac und Dinodas, wartete.
Frodo saß nicht weit von seinem Onkel entfernt und äugte die Trommel, die der alte Hobbit neben sich platziert hatte, neugierig. Frodo hatte Dodinas schon häufiger spielen sehen und war jedes Mal begeistert gewesen. Zu gern hätte er selbst versucht, auf der Trommel zu spielen, doch war es ihm bisher nur einmal erlaubt worden. Seine Augen wanderten von Dodinas zu Merry, der neben ihm saß und sich angeregt mit Minto und Madoc unterhielt. Schließlich stand er auf, um sich neben seinen Onkel auf die Eckbank zu setzen und seine Augen weiterhin auf der Trommel, die sich nun in unmittelbarer Reichweite befand, ruhen zu lassen. "Du willst spielen, nicht wahr?" Frodo hob überrascht den Kopf und blickte in das grinsende Gesicht seines Onkels. Ein Lächeln stahl sich über seine Lippen und er nickte zaghaft. Dodinas nahm einen Zug seiner Pfeife, schien nachzudenken, während Frodo gespannt auf eine weitere Reaktion wartete. Doch nichts geschah. Der alte Hobbit nahm einen weiteren Zug, blies einen neuen Rauchring und blickte in die Ferne. Frodos Stirn legte sich verwirrt in Falten, doch seine Augen ließen nicht von dem alten Hobbit ab, beobachteten gespannt jede seiner Bewegungen. Als das Kind schon beinahe glaubte, sein Onkel hätte ihn vergessen, wandte dieser sich mit einem lauten Lachen zu ihm um und griff nach seiner Trommel. "Dann sollst du spielen, Junge", meinte er und erklärte ihm rasch, wie er die Trommel handhaben musste.
Frodo strahlte von einem Ohr zum anderen, als er seine Hand auf das gespannte Leder prallen ließ und der Trommel dadurch einen tiefen, hohlen Ton entlockte. Er blickte zu seinem Onkel auf, der ihm ermutigend zunickte und kurz darauf schlug Frodo mit beiden Händen schwungvoll auf die Trommel, spielte einen Takt von dem er nicht wusste, wie er ging, ehe seine Hände das gespannte Leder berührt hatten. Seine Augen strahlten und ein breites Grinsen erhellte sein Gesicht, als seine Hände immer schwungvoller auf die Trommel niedersausten. Er fand großen Gefallen an seinem Rhythmus und sein Kopf bewegte sich bald im Takt der Trommelschläge.
Er war so angetan von seiner Musik, dass er kaum bemerkte, wie es um ihn herum plötzlich still wurde. Als ihn dann jedoch das unangenehme Gefühl überkam, beobachtet zu werden, hielt er inne und blickte auf. Das Lächeln in seinem Gesicht verschwand und Frodo spürte Wärme in seinen Kopf steigen, ein Zeichen dafür, dass seine Wangen erröteten. Die Augen der meisten Anwesenden waren auf ihn gerichtet und in manch einem Gesicht zeigte sich ein amüsiertes Grinsen. Frodo räusperte sich verlegen, reichte die Trommel rasch seinem Onkel zurück und rutschte von der Bank. Dodinas lächelte und wuschelte ihm durch die Haare. "Nicht schlecht, für den Anfang", meinte er mit einem Augenzwinkern. Die Gespräche im Zimmer wurden bereits fortgesetzt, als sich Frodo mit einem verlegenen Lächeln zu seinem Onkel umwandte, ehe er sich wieder zu Merry und den anderen Kindern an den Tisch setzte.
Die jungen Hobbits kicherten in sich hinein, was Frodos Wangen noch roter werden ließ. "Netter Auftritt", meinte Rubinie, ehe sie sich zu Nelke beugte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, woraufhin diese noch mehr zu kichern begann und heimlich in Frodos Richtung schielte. Merry hatte von einem Ohr zum anderen gegrinst, als Frodo sich wieder neben ihn setzte, doch nun hafteten seine Augen an Dodinas' Trommel. "Meinst du, er lässt mich spielen?" Als er keine Antwort erhielt, blickte er kurz auf, sah, dass Frodo zwar neben ihm saß, ihn aber nicht bemerkte, da er viel zu sehr damit beschäftigt war, böse Blicke in Rubinies Richtung zu senden. Er stieß seinen Vetter in die Seite und als er endlich dessen Aufmerksamkeit hatte, wiederholte er seine Frage. Frodo zuckte mit den Schultern, meinte aber, dass er sich beeilen sollte, wenn er nach der Trommel fragen wollte, denn inzwischen hatten auch die anderen musizierenden Hobbits ihre Instrumente gestimmt und überlegten nun noch, welches Lied als erstes angestimmt werden sollte.
Merry wollte gerade aufspringen, als sich Dodinas erhob und sich zu den anderen Musikern gesellte. Enttäuscht brummte Merry in sich hinein und legte den Kopf auf seine verschränkten Arme. Wenige Augenblicke darauf, begann die Musik zu spielen. Flöte, Trommel, Banjo und Rassel stimmten eine fröhliche Melodie an, die zum Tanz einlud. Viele der Hobbits kamen der Einladung nach, unter ihnen sowohl Saradoc und Esmeralda, als auch Frodos Vetter Milo und seine Gattin Päonie, die zu Besuch gekommen waren.
Frodos Trommelspiel war auch unter den Kindern rasch vergessen und bald fanden auch sie sich auf der Tanzfläche, wo sie wild herumhüpften und lautstark mitsangen. Nelke hakte sich bei Frodo ein und sprang lachend mit ihm im Kreis herum. Marroc, der gerade auf dem Weg war, sich einen neuen Krug Bier geben zu lassen, wurde in ihrem Übermut übersehen und so stießen die drei mehr oder weniger schmerzhaft zusammen. Frodo und Nelke landeten auf dem Fußboden, während Marroc rückwärts stolperte, sein Gleichgewicht aber gerade noch halten konnte. Mit vor Wut funkelnden Augen sah Marroc auf Frodo hinab, aus dessen Gesicht plötzlich jegliche Farbe gewichen war. Von allen Hobbits im Zimmer musste er ausgerechnet mit Marroc zusammenstoßen und das, nachdem er es geschafft hatte, ihm beinahe sechs Monate lang so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Doch zu seinem Glück war Nelke bei ihm und ihr entschuldigender Blick genügte, um ihren aufgebrachten Vetter zur Ruhe zu bringen. Frodo atmete erleichtert auf, als er wieder auf die Beine kam und sich erneut bei Nelke einhakte. Rubinie tanzte an sie heran und hakte sich ebenfalls bei Frodo ein und Merry folgte ihr sogleich nach. Madoc, Minto und Viola schlossen sich der kleinen Gruppe ebenfalls an. Die jungen Hobbits stellten sich im Kreis auf, streckte ihre Hände überkreuzt in die Mitte und ergriffen jeweils die Hand ihres Nachbarn, ehe sie sich wild im Kreis drehten und aus Leibeskräften kreischten und jubelten, bis ihnen übel wurde.
Für Frodo drehte sich noch immer alles, als er wieder auf einem Stuhl saß und benommen auf die Tanzfläche blickte, da die meisten Hobbits begonnen hatten im Takt der Musik mitzuklatschen. Etwas Aufregendes musste auf der Tanzfläche geschehen. Frodo schüttelte den Kopf und blinzelte einige Male, ehe er nach dem Grund der Aufregung forschte. Nur mehr ein einziges Paar fand sich auf der Tanzfläche. Frodos Mund klappte auf und verzog sich sogleich zu einem Lächeln. Dennoch blinzelte er erneut, um sicher zu gehen, dass es nicht nur das anhaltende Schwindelgefühl war, das ihn Dinge sehen ließ, die nicht da waren. "Ich glaube es nicht", wisperte Merry neben ihm verwundert. Seine Augen waren ebenfalls auf die Tanzfläche gerichtet und auch er schien Probleme mit seiner Wahrnehmung zu haben. "Das sind doch Mirabella und Gorbadoc." Frodos Lächeln wurde noch breiter. Es waren tatsächlich seine Großeltern, die lachend über die Tanzfläche schwebten. Das weiße Haar seiner Großmutter schimmerte im Licht der Lampen und auch ihre Augen glitzerten voller Freude. Gorbadoc hatte einen Arm um ihre Hüften gelegt und führte sie im Takt der Musik, als hätte er in seinem Leben nie etwas anderes getan. Frodo grinste von einem Ohr zum anderen, während er sie staunend beobachtete. "Die sind doch viel zu alt für so was!" stellte Merry fest, der dem Paar ebenso aufmerksam folgte, wie Frodo das tat. "Ich finde, sie machen sich ausgezeichnet", meinte Frodo mit einem Lächeln. Er musste sich eingestehen, dass er stolz auf seine Großeltern war. Merry hatte nicht Unrecht. Seine Großeltern waren alt und auch Frodo hätte ihnen nicht zugetraut, so elegant und schwungvoll zugleich zu tanzen. Umso mehr gefiel es ihm, dass sie es dennoch taten.
Als das Musikstück endete und ein Neues angestimmt wurde, sprang auch Frodo wieder auf die Tanzfläche und mischte sich unter die Erwachsenen. Er hatte schon lange nicht mehr solchen Spaß gehabt, wie an diesem Abend.
Author notes: Ich bin kein Heiler und jegliche Behandlungsmethoden, die ich anwende (oder anwenden lasse) basieren auf Recherchen in Bücher und im Internet und ich übernehme keine Verantwortung für die Richtigkeit selbiger.
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Kapitel 49: Unerlaubter Besuch
"Frodo, was fällt dir ein!" Noch ehe Frodo die Flucht ergreifen konnte, packten grobe Finger ihn am Ohr und zogen daran. Ein schmerzvolles Zischen entwich seinen Lippen und er hätte beinahe die Narzissen in seiner Hand fallen gelassen, als er versuchte, sich aus dem schmerzhaften Griff zu winden. Rosamunde zog ihn hinter sich her aus dem Blumenbeet, schimpfte und tadelte und zupfte immer heftiger an seinem Ohr, um ihren Worten Ausdruck zu verleihen. "… hast du mich verstanden?", schimpfte sie, als sie endlich von seinem Ohr abließ und mit ihrem Finger drohte. Frodo rieb sich das linke Ohr und blickte zornig in ihre Richtung. "Spar dir diesen Blick, mein junger Hobbit!" keifte sie. "Und wehe dir, wenn ich dich noch einmal in meinen Blumen erwische!" Rosamunde wandte sich um und brummte, dass junge Hobbits jeglichen Respekt vor den Pflanzen verloren hatten und nun alles an ihr blieb, den Garten vor achtlosen Kindern zu schützen.
Frodo schnitt eine Grimasse, ehe er sich noch einmal das wunde Ohr rieb. Trotzig blickte er auf die drei Narzissen in seiner Hand, die er gepflückt hatte. Immerhin hatte sie ihm die nicht genommen. Sie wusste ja nicht einmal, wozu er die Blumen brauchte und hatte kein Recht, ihn so zu behandeln. Erneut warf er einen wütenden Blick in die Richtung in die Rosamunde verschwunden war, ehe auch er sich in Bewegung setzte.
Es war ein warmer Frühlingstag, der Rethe war erst vor wenigen Tagen in den Astron übergegangen und die Temperaturen waren nun endlich gestiegen. Vögel zwitscherten und der Duft von Blumen erfüllte die Luft, als Frodo durch die Haupteingangstür im Brandyschloss verschwand. Er verhielt sich so unauffällig wie möglich, als er durch die Gänge schlich, auf dem Weg in das Zimmer seiner Großmutter. Mirabella lag schon seit beinahe zwei Wochen krank im Bett und niemand durfte zu ihr. Fastred hatte Lungenfieber festgestellt und Saradoc hatte daraufhin angeordnet, dass keines der Kinder mehr zu ihr durfte, aus Angst, sie könnten sich bei ihr anstecken. Anfangs hatte sich Frodo nichts dabei gedacht, schließlich kam es häufig vor, dass manche für einige Tage niemanden empfangen durften, da sie eine ansteckende Krankheit hatten und niemand wollte, dass alle Bewohner des Brandyschlosses ebenfalls erkrankten.
Inzwischen aber waren elf Tage vergangen und noch immer bestand das Besuchsverbot für Kinder. Selbst Merry war inzwischen misstrauisch geworden und wollte wissen, weshalb er seine Urgroßmutter nicht besuchen durfte, doch Saradoc gab ihm immer dieselbe Antwort: "Sie ist krank und ich will nicht, dass sie dich oder eines der anderen Kinder ansteckt." Die Tatsache, dass sie inzwischen schon elf Tage krank war, schien Saradoc dabei überhaupt nicht zu berücksichtigen. Frodo fragte sich, ob nach elf Tagen noch eine Ansteckungsgefahr bestehen konnte und kam zu dem Schluss, dass dem bestimmt nicht so war. Deshalb war er bereits kurz nach dem Frühstück im Garten verschwunden, um einen Strauß Narzissen zu pflücken, den er seiner Großmutter bringen wollte. Allerdings hatte er nicht vermutet, dass Rosamunde sich deswegen so sehr aufregen würde, war es schließlich für einen guten Zweck.
Frodo hielt inne, als er an der Abstellkammer vorüber kam. Die Blumen benötigten Wasser und so holte er eine Vase aus einem Schrank in der Kammer, die er in der Küche mit Wasser füllte, ehe er sich erneut auf den Weg zu seiner Großmutter machte. Stimmen drangen an sein Ohr und er blieb stehen, spähte vorsichtig um die Biegung, wo Gorbadoc und Fastred gerade aus Mirabellas Zimmer traten. "Ich weiß es nicht. Es sieht nicht sehr gut aus. Ich wage nicht, ihr ein weiteres Mal etwas von dem Tollkirschengift zu verabreichen. Auch wenn es gering dosiert ist, kann es gefährlich werden und in ihrem Zustand würde ich davon abraten. Im Augenblick können wir nicht viel mehr für sie tun, als abzuwarten und die Behandlungsmethoden beizubehalten." Gorbadoc seufzte. "Es gibt wirklich nichts, was wir sonst noch tun könnten?" "Ich fürchte nicht", entgegnete Fastred kopfschüttelnd. "Manchmal sind mir auch als Heiler die Hände gebunden und ich kann nur zusehen und abwarten und hoffen, dass es besser wird." "Wird es denn besser werden?", Gorbadocs Stimme hatte jeglichen Klang verloren, schien weder Hoffnung noch Hoffnungslosigkeit auszudrücken. Das tiefe Luftholen Fastreds drang an Frodos Ohr. "Ich weiß es nicht." Gorbadoc antwortete nicht und führte Fastred wortlos in sein Arbeitszimmer.
Frodo verharrte regungslos in der Ecke und versuchte, die Worte zu ordnen, die er eben vernommen hatte. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Fastred hatte nicht sehr ermutigend geklungen und auch Gorbadoc schien mehr erschöpft und traurig, als hoffnungsvoll. Das ungute Gefühl in Frodos Magen breitete sich aus und verwandelte sich langsam in Angst. Angst davor, wie gut oder schlecht es seiner Großmutter wirklich ging. Stirnrunzelnd blickte er auf die Blumenvase in seiner Hand. Die Entschlossenheit, die er am frühen Morgen noch gefühlt hatte, schien schwächer zu werden und er war sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob er Mirabella wirklich besuchen wollte. Frodo schielte den Gang hinunter und für einen Augenblick fragte er sich, ob er froh sein sollte, dass das Arbeitszimmer seines Großvaters noch weiter hinten lag und er deswegen nicht erwischt wurde, oder ob es besser gewesen wäre, Gorbadoc hätte ihn hier entdeckt.
Frodo trat aus der Ecke hervor und tapste zur Zimmertüre seiner Großmutter. Zögernd blickte er sich nach beiden Seiten um, lauschte und griff dann nach dem Knauf, doch öffnete er die Tür nicht sofort.
Dunkelheit hieß ihn willkommen, als er den Knauf vorsichtig drehte und in das Zimmer spähte. Die Vorhänge waren zugezogen und nur ein Feuer im Kamin erleuchtete den Raum. Die Luft im Zimmer wirkte abgestanden und es roch nach Tee, Schweiß und Kräutern. Das Feuer im Kamin prasselte. Es war das einzige Geräusch, das neben den schnellen, schweren, röchelnden Atemzügen Mirabellas noch zu hören war.
Frodo schluckte. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und versuchte verzweifelt, das Gefühl der Angst, das ihn umgab, zu unterdrücken. Leise schloss er die Tür hinter sich und blickte zum Bett, wo er unter Unmengen von Decken seine Großmutter zu erkennen glaubte. Zögernd ging er darauf zu. Auf dem Nachttisch standen eine halbleere Tasse und eine Teekanne. Daneben war ein Teller mit Suppe platziert worden, der offensichtlich unangetastet geblieben war.
Frodo spürte einen Stich in seinem Herzen, als er schließlich neben dem Bett stand und für einen Augenblick stockte ihm der Atem. Mirabella war bis zum Hals zugedeckt. Ihr Gesicht war blass, ihre Lippen bläulich und dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren geschlossenen Augen ab. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn und ihr Gesicht wirkte alt und eingefallen. Ihre weißen Locken lagen stumpf und zerzaust auf dem Kissen und einzelne Strähnen klebten auf ihrer schweißnassen Stirn. Sie hatte ihren Mund leicht geöffnet, doch das Atmen fiel ihr dennoch schwer und jeder Atemzug schien ihr Schmerzen zu bereiten. Frodo erinnerte sich daran, wie sie vor etwas mehr als drei Monaten fröhlich und ausgelassen getanzt hatte und glaubte, nun eine vollkommen andere Frau vor sich zu haben. Dies konnte unmöglich seine Großmutter sein. Seine Großmutter war eine starke, lebensfrohe Frau. Sie konnte nicht so schwach und krank sein, sie durfte es nicht sein.
Eine plötzliche Angst ergriff Besitz von ihm. Rasch stellte er die Blumen auf den Nachttisch und eilte zum Fenster. Warum hatte man das Zimmer verdunkelt? Wie sollte seine Großmutter hier drinnen gesund werden können, wenn der Frühling ausgesperrt wurde? Mit ein wenig warmem Sonnenlicht ginge es ihr bestimmt bald besser. Warum hatte Fastred das nicht schon lange angeordnet?
Ruckartig riss Frodo die Vorhänge zurück und sogleich wurde der Raum von Sonne durchflutet. Geblendet schloss Frodo die Augen. Erst als er sich an das Licht gewohnt hatte, bemerkte er zu seiner Überraschung, dass die Fensterscheiben angelaufen waren. Verwundert runzelte er die Stirn. "Wer ist da?" Frodo zuckte zusammen, als er die schwache, raue und zittrige Stimme vernahm. Dies konnte unmöglich die Stimme seiner Großmutter sein, auch wenn sie ihr sehr ähnlich war. Langsam drehte er sich zum Bett um, ging dann zögernd darauf zu. Mirabella hatte ihre müden Augen geöffnet und blickte sich nun verloren im Zimmer um. Ihre rechte Hand war unter der Bettdecke hervorgerutscht. Frodo ergriff sie und erschrak ob der Kälte der zittrigen Finger. Ohne ihn wirklich wahrzunehmen, wandte Mirabella sich ihm zu. Frodo kniete nieder um auf ihrer Augenhöhe zu sein und legte auch seine andere Hand um ihre kalten Finger. "Ich bin es, Großmutter, Frodo", wisperte er, einen Hauch von Angst in der Stimme. Mirabella sah ihn an, doch ihr Blick war leer. "Oma?" Mirabellas Augen hellten sich plötzlich auf und für einen kurzen Moment huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. "Frodo, mein Kind. Wie schön dich zu sehen." Sie hob ihre Hand, wollte seine Wange berühren, fand jedoch die nötige Kraft nicht. Frodo ergriff ihre Hand und lehnte sich ein wenig nach vor, um ihr die Berührung zu ermöglichen. Er schloss die Augen, als er ihre kalte Haut auf der seinen spürte. Erst als die Hand seiner Großmutter sie verwischte, spürte er, dass ihm eine Träne über die Wange lief. Auch Mirabella schien dies zu spüren, denn ihre Stirn legte sich in Falten. Schwach sank ihre Hand wieder auf das Bett zurück, wo Frodo sie zärtlich umklammert hielt und sie zu wärmen versuchte. "Du weinst, Kind", flüsterte sie. "Was bedrückt dein Herz?" "Du bist krank", wisperte er und drückte ihre Hand etwas fester. "Jeder wird in seinem Leben früher oder später einmal krank, Frodo", antwortete sie, ehe sie keuchend nach Luft rang. "Das bleibt keinem erspart." "Aber…", Frodos Finger strichen verzweifelt über die kalte, knochige Hand Mirabellas, "du bist schon so lange krank. Du musst doch inzwischen wieder gesund sein." Mirabellas Atmung klang schwer, als sie keuchend antwortete: "Ich bin alt, Kind. Manche Dinge brauchen nun einmal mehr Zeit, wenn man älter wird." Frodo schluckte und wischte sich die Träne weg, die Mirabella zuvor verwischt hatte. Erneut griff er nach ihrer Hand, die sich zu weigern schien, die Wärme seiner eigenen Hände anzunehmen. "Es wird dir also bald wieder besser gehen?", fragte er und versuchte das Gespräch zwischen Fastred und Gorbadoc, das er mitangehört hatte, aus seinen Gedanken zu verdrängen. Mirabella antwortete nicht. Sie hatte ihre Augen geschlossen und rang nun mit schnellen, kurzen Atemzügen nach Luft. "Oma?", flüsterte Frodo tonlos und rieb stärker an ihrer Hand. Ihre Art zu atmen, beunruhigte ihn. "Du bist hier unglücklich, Kind", flüsterte sie. Frodo hob überrascht den Kopf und blickte in ihre liebevollen Augen. Mirabella hob erneut die Hand und Frodo führte sie an seine Wange. "Ich sehe es manchmal in deinen Augen. Was ist es, das dich so traurig sein lässt?" Ein Zittern durchlief ihn, doch ob von der Kälte ihrer Hand, oder von dem Wissen, das in ihren Worten steckte, wusste er nicht zu sagen. "Ich bin nicht unglücklich", erklärte er dann und lehnte sich etwas mehr in ihre Berührung. Ein kurzes, gequältes Lächeln zeigte sich auf Mirabellas blassem Gesicht, ehe sie keuchend und mit leiser Stimme fortfuhr. "Du brauchst es nicht zu verheimlichen, Frodo. Ich weiß es bereits. Doch bitte, sag deiner alten Großmutter, was dir dein Herz schwer macht." Frodo sah sie lange an, während sich ihre Worte in seinem Kopf immer und immer wieder wiederholten. Ihre Hand rutschte von seiner Wange und Frodo legte sie vorsichtig wieder auf das Bett, ohne auch nur ein einziges Mal von ihren noch immer kalten Fingern abzulassen. Ihr keuchender Atem klang in seinen Ohren und er schloss für einen Augenblick die Augen. Etwas rührte sich in ihm, stärker, als je zuvor und er wünschte sich plötzlich nichts mehr, als ein langes Gespräch mit ihr zu führen und ihr jede einzelne Sorge, die auf seinem Herzen lastete, anzuvertrauen. Eine weitere Träne stahl sich aus seinen Augenwinkeln und noch ehe er wusste, was er sagte, begann er zu sprechen. "Niemand liebt mich. Niemand liebt mich so, wie mein Vater, wie meine Mutter es getan haben. Keiner kommt abends zu mir, um mir eine gute Nacht zu wünschen. Keiner nimmt mich grundlos in den Arm. Keiner…" Er hätte die Liste noch lange fortführen können, doch der schmerzliche Ausdruck, der sich auf Mirabellas Gesicht zeigte, ließ ihn inne halten. Er biss sich auf die Lippen. Nie hätte er ihr dies sagen dürfen, erst recht nicht in einer solchen Situation. Plötzliche Angst ergriff ihn und er wünschte sich, er wäre niemals in Mirabellas Zimmer gekommen, sondern von Gorbadoc erwischt und fortgeschickt worden. Er wollte gerade aufstehen, als sich Mirabellas schwache Finger um die seinen schlossen. Erschrocken blickte Frodo in ihr Gesicht. Mirabella keuchte, schnappte verzweifelt nach Luft. Eine einzelne Träne trat aus ihren geschwollenen Augen, rann über ihr Ohr und tropfte dann auf ihr Haar. "Es tut mir Leid, Frodo", wisperte sie mit schwacher Stimme. "Ich hätte wissen müssen, dass das alles zuviel für dich war. Nach dem Tod deiner Eltern hätte ich…", sie keuchte, "… ich hätte mich viel mehr um dich kümmern müssen." "Nein, Oma", Frodo schüttelte vehement den Kopf. "Das ist nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür. Wie hättest du es denn auch wissen sollen. Ich wusste es ja selbst nicht. Ich meine…", Frodo hielt inne, suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, um sie nicht noch trauriger zu machen. Es brach ihm das Herz, sie so zu sehen. "Ich bin deine Großmutter, Frodo", flüsterte sie mit zittriger Stimme. Ein glänzender Schleier aus Tränen lag auf ihren Augen. Sie schnappte nach Luft, um weiter zu sprechen, doch Frodo ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. "Nein, du kannst nichts dafür. Das ist alles meine Schuld. Ich … du, du warst immer gut zu mir", stotterte er, "und ich sollte das zu schätzen wissen, doch stattdessen jammere ich und… das ist nicht richtig. Es tut mir Leid. Ich hätte das nicht sagen sollen und du, du solltest nicht weiter darüber nachdenken. Wirklich nicht. Es ist völlig, völlig…", Frodo stockte und schnappte nach Luft. "Es ist dummes Geschwätz." Frodo hatte zu zittern begonnen, so aufgewühlt war er. Er hatte seine Großmutter nicht zum Weinen bringen wollen, erst recht nicht jetzt, da sie so schwach und krank war. Wie hatte er ihr das nur antun können? Tränen sammelten sich in seinen Augen, als er sich näher an sie heranbeugte und flüsterte: "Bitte, Oma, weine nicht. Bitte nicht." Mirabella hob die Hand und berührte Frodos Wange. "Mein liebes Kind. Es tut mir Leid. All das tut mir so schrecklich Leid." Frodo schüttelte den Kopf und wollte ihr erneut widersprechen, als sie zu husten begann. Ihre Hand sank auf die Bettdecke und sie schloss die Augen, das Gesicht ein Bildnis des Schmerzes. Es dauerte einige Zeit, bis der Hustenanfall vorüber war und sie keuchend wieder zu Atem kam. "Komm, umarme deine Großmutter so lange du es noch kannst", bat sie dann mit zittriger Stimme. "Was redest du denn da?", schimpfte Frodo, umarmte sie aber trotzdem, so fest er es in ihrem schwachen Zustand wagte. Ihre Wange berührte die seine und Frodo spürte, dass sie Fieber hatte. "So etwas darfst du nicht sagen. Du wirst wieder gesund." "Nein, Frodo", flüsterte sie und ihre keuchenden Atemzüge kitzelten sein Ohr. "Ich fühle es. Die Schatten des Todes sind nahe. Spürst du sie, mein Kind? Es wird kalt und alles verschwimmt in Dunkelheit." Frodo ließ sie los und sah sie entgeistert an. "Hör auf, solchen Unsinn zu reden, Großmutter." Er sagte es ihr nicht, doch ihre Worte jagten ihm Angst ein. Eine Angst, die sich durch Mark und Bein schlich und ihn vor Kälte erstarren ließ.
Mirabella begann erneut zu husten. Sie röchelte und gab ein ersticktes, gurgelndes Geräusch von sich, als der Hustenanfall vorüber war. Frodo ergriff erneut ihre Hand, als er plötzlich bemerkte, dass Blut aus ihren Mundwinkeln lief. Erschrocken sprang er auf, die Augen weit aufgerissen. Ohne nachzudenken eilte er zur Tür. Er musste sofort Fastred und seinen Großvater holen. "Frodo, geh nicht", keuchte Mirabella und Frodo blieb stehen, blickte ängstlich auf das Bett und überlegte, ob er auf sein Gefühl oder auf seine Großmutter hören sollte. "Lass mich nicht allein", bat sie, ehe sie erneut zu husten begann. Frodo entschied sich, dennoch auf sein Gefühl zu hören, riss die Tür auf und rannte geradewegs in Gorbadocs Arme. Gorbadoc sah ihn verwirrt an, doch dann hörte er Mirabellas Husten, stieß ihn beiseite, eilte hinter Fastred in das Zimmer und schloss die Tür.
Frodo, der durch Gorbadocs rasche Bewegung zu Boden gestolpert war, starrte einige Zeit schweigend auf die verschlossene Tür. Mirabellas ersticktes Husten war noch immer zu hören und Frodo schloss ängstlich die Augen. Er hatte erneut zu zittern begonnen, sollte er jemals damit aufgehört haben, seit er seine Großmutter zu überzeugen versucht hatte, dass sie keine Schuld an dem trug, was er ihr gesagt hatte. Wie hatte er nur so dumm sein können, ihr diese Worte anzuvertrauen? Dinge, die er schon seit so langer Zeit geheim hielt. Warum musste er ihr es sagen? Warum ausgerechnet in einem Augenblick wie diesem? Wenn ihr nun etwas geschah, weil seine Worte sie zu sehr aufgeregt hatten? Frodo rutschte an die Wand zurück, lehnte sich dagegen, schlang die Arme um die Beine und ließ sein Kinn auf seinen Knien ruhen. Er erschauderte, als er an das Blut dachte, das aus Mirabellas Mund gelaufen war. Warum hatte sie plötzlich geblutet? Was war mit ihr geschehen? Ob sie wieder gesund werden würde? Würde sie ihm seine Worte übel nehmen, wenn sie sich überhaupt noch an das Gespräch erinnerte? So viele Fragen kreisten in seinem Kopf und auf keine wusste er eine Antwort.
"Die Schatten des Todes sind nahe. Spürst du sie, mein Kind? Es wird kalt und alles verschwimmt in Dunkelheit." Ihre Worte hatten ihn in so große Angst versetzt, er konnte die Kälte in seinen Knochen noch immer spüren. Sie durfte nicht sterben. Frodo lauschte, doch konnte er Mirabella nun nicht mehr husten hören. Es war still geworden im Zimmer und Frodo hoffte, dass Fastred seiner Großmutter hatte helfen können und etwas gegen das Blut unternommen hatte. Er blickte zum Türknauf, überlegte, ob er hinein gehen sollte, um nachzusehen, wie es Mirabella ging, entschied sich dann aber dagegen. Sein Großvater würde bestimmt wütend werden, wenn er noch einmal in ihr Zimmer ging, wo doch schon sein erster Besuch verboten gewesen war. Mit einem leisen Seufzen stand er auf und ging den Gang entlang. Frodo war gerade um die Ecke gebogen, als er hörte, wie eine Tür geöffnet wurde und inne hielt. Er spähte noch einmal zurück und sah, dass Fastred aus dem Zimmer getreten war, das Gesicht blass, die Augen leer und voller Trauer. Frodo schluckte und trat einige Schritte zurück, bis seine Schultern die Wand berührten. Er kannte diesen Ausdruck, hatte ihn oft gesehen. Viele Hobbits hatten so ausgesehen und voller Mitleid zu ihm herüber geblickt, als er an jenem Abend vor fünfeinhalb Jahren am Brandywein gestanden war und von Saradoc davon abgehalten wurde, zu seiner Mutter zu gehen. Frodo schnappte nach Luft, spürte Tränen in sich aufsteigen. Warum war er zu ihr gegangen? Weshalb hatte er ihr gesagt, dass er sich nicht geliebt fühlte? Sie hatte sich die Schuld dafür gegeben und jetzt, noch ehe Frodo sie hatte vom Gegenteil überzeugen können, war sie gestorben. Sie war tot. Frodo schnappte erneut nach Luft und spürte, wie seine Knie weich wurden und er der Wand entlang zu Boden glitt. "Sie kann doch nicht einfach so sterben", flüsterte er, ohne zu bemerken, dass er seine Gedanken laut aussprach. Fastred blickte überrascht zu ihm herüber und schloss gequält die Augen. Frodo starrte den Heiler an und Tränen traten in seine Augen, doch weinte er nicht. Er blickte einfach nur zu Fastred und schüttelte den Kopf. "Du bist ein Heiler. Wie konntest du das zulassen? Warum hast du sie nicht geheilt?" Fastred trat an ihn heran. "Es tut mir Leid, Frodo, doch ich kann nicht jedem helfen." Wut funkelte in Frodos Augen, als er sich mühevoll erhob. Seine Knie zitterten noch immer, als er sich langsam von Fastred entfernte. "Ihr hättest du helfen müssen." Dann begann er zu laufen, ohne eine Antwort abzuwarten. Es war alles seine Schuld.
Author notes: Ich hoffe, der kleine (große) Ausflug in die Vergangenheit hat euch gefallen und für alle, die sich nochmal die ganze Leserei angetan haben, hoffe ich, dass sich das auch gelohnt hat. Länger will ich euch aber nun nicht mehr auf die Folter spannen, denn es geht endlich da weiter, wo ich euch im Februar habe stehen lassen. Kapitel 50 - eine ganze Menge. Hätte mir zu Beginn jemand gesagt, die Geschichte würde mal so viele Kapitel haben, hätte ich ihn vermutlich ausgelacht. Und doch ist es soweit gekommen und ich möchte den Moment nutzen, um meinen Lesern für ihre Treue danken! Ich hatte nie damit gerechnet, dass überhaupt jemand diese Geschichte lesen wird und dass sie dann auch noch solchen Anklang findet, erfüllt mich mit großer Freude und Dankbarkeit.
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Kapitel 50: Schatten des Todes
Kaum hatte er einige Bissen zu sich genommen, verließ Frodo den Esstisch. Saradoc wollte ihn aufhalten, doch Frodo beachtete seine Worte nicht und ging an ihm vorüber, ohne ihn auch nur anzusehen. Merry war von seinem Stuhl gerutscht, als Frodo aufgestanden war und folgte seinem Vetter nun, sehr zum Missfallen seines Vaters.
Sie aßen im großen Esszimmer des Brandyschlosses zu Abend, da Hobbits aus allen vier Vierteln des Auenlandes angereist waren, um Mirabella am folgenden Tag zu verabschieden. Der Thain war mit seiner Frau und seinen Kindern angereist, ebenso wie viele andere Tuks. Odovacar Bolger war mit seiner Familie gekommen und auch Bilbo und einige andere Beutlins hatten die Reise nach Bockland auf sich genommen, um ihrer Verwandten die letzte Ehre zu erweisen.
"Frodo, warte!" rief Merry, als er seinem Vetter hinterher eilte, doch Frodo wollte nicht eingeholt werden. Er lief in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich, noch ehe Merry diese erreicht hatte. Merry wollte ihm folgen, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. "Frodo, mach die Tür auf!" Frodo antwortete nicht. Er stemmte sich mit all seiner Kraft gegen die Tür, auf dass es Merry nicht gelingen würde, zu ihm zu kommen. Er wollte ihn nicht bei sich haben. Er wollte alleine sein, genauso alleine, wie er es auch in den vergangenen drei Tagen zu sein versucht hatte. "Frodo, was soll das?", klagte Merry, der sich nun ebenfalls gegen die Tür drückte. "Komm heraus, bitte!" Keiner antwortete ihm und auch nach mehrmaligem Rufen blieb alles still. Merry spürte die Wut in sich. Seit drei Tagen ging Frodo ihm aus dem Weg. Nicht nur ihm, sondern jedem. Er hatte sich in sein Zimmer verkrochen und war nur selten woanders anzutreffen, und selbst dann reagierte er auf keine Fragen, die man ihm stellte, antwortete nicht einmal auf einen freundlichen Gruß. "Also gut, dann bleib da drin", schimpfte er und schlug mit der Faust ein letztes Mal gegen die Tür. "Weißt du, sie war auch meine Urgroßmutter. Denkst du etwa, ich bin nicht traurig? Du bist herzlos, mich einfach so alleine zu lassen. Du bist mein Freund und solltest jetzt nicht irgendwo alleine sitzen, sondern bei mir. Aber nein,…" Merry seufzte. Es hatte ja doch keinen Sinn. Er hatte in den letzten Tagen mehrere Male versucht, mit Frodo zu sprechen, doch sein Vetter blieb stur und schweigsam. Es machte ihn nur noch wütender, dass Frodo seinen Sturkopf ausgerechnet jetzt durchsetzen musste. Merry war ebenfalls am Boden zerstört gewesen, als er von Mirabellas Tod erfahren hatte, und auch wenn seine Eltern ihn lange im Arm gehalten und versuchten hatten, ihn zu trösten, so wünschte er sich doch, Frodo würde ihn in den Arm nehmen. Frodo war Mirabellas Enkel und wusste besser, als alle anderen, was er an Mirabella liebte und vermisste. Doch Frodo war nie zu ihm gekommen oder hatte Merry zu sich geholt. Wie schon beim Tod seiner Eltern hatte er sich zurückgezogen. Merry starrte einige Zeit schweigend auf die verschlossene Tür, dann ging er traurig zurück ins Esszimmer, setzte sich betrübt an seinen Platz und stocherte in seinem Essen herum. Der Appetit war ihm vergangen.
Frodo spürte bei Merrys Worten einen Stich in seinem Herzen. Er hatte Recht. Eigentlich sollte er an Merrys Seite sein und ihn trösten, doch er konnte es nicht. Ganz gleich wie sehr es ihn schmerzte, Merry mit vor Tränen geschwollenen Augen bei den Mahlzeiten zu sehen, er durfte nicht bei ihm sein. Er durfte Merry nicht noch mehr Leid zufügen, als er ohnehin zu erdulden hatte. Er wollte ihn nicht ebenso traurig stimmen, wie er Mirabella traurig gestimmt hatte. Frodo schluckte die Tränen, die in ihm aufstiegen bei dem Gedanken an das Gespräch mit seiner Großmutter und die letzte Umarmung kurz vor ihrem Tod. Die Umarmung; Frodos Umarmungen brachten das Leid, er selbst war es, der das Unglück brachte. Jeden, der ihm lieb war, stimmte er traurig, jeder, den er zu nahe an sich heran ließ, jeder, dem er erlaubte, ihn zu umarmen, starb. Erst waren seine Eltern ertrunken und nun war ihm seine Großmutter genommen worden. Kein anderer sollte mehr dieses Schicksal erleiden müssen. Nicht Merry, nicht Saradoc und Esmeralda, nicht Hanna und auch nicht Bilbo, der endlich wieder bei ihm war. Frodo hatte sich nichts mehr gewünscht, als ihn wieder zu sehen und nun hatte er seinen Onkel nicht einmal begrüßt. Nichts wäre ihm lieber gewesen, als wieder von Bilbo in die Arme genommen zu werden, wie bei seinem letzten Besuch, und doch wagte er nicht, ihm zu nahe zu kommen. Bilbo sollte nicht auch sterben, nur weil er sich von ihm trösten lassen wollte. Frodo musste sich selbst trösten. Er wandte sich um, lehnte den Stuhl von seinem Schreibtisch an den Türknauf, um das Eindringen anderer Hobbits zu verhindern, setzte sich anschließend auf sein Bett, schlang die Arme um seine angewinkelten Beine und legte den Kopf müde auf seine Knie. Ein Zittern durchlief seinen Körper und Frodo schluckte schwer. So sehr er es sich auch wünschte, in den Arm genommen, getröstet zu werden, durfte er es dennoch nicht zulassen. Niemand sollte mehr seinetwegen leiden. Nie wieder.
"Frodo?" Bilbos Stimme drang an sein Ohr, ließ ihn aufblicken. Der Knauf wurde gedreht, doch der Stuhl verhinderte das Öffnen der Tür. "Frodo, ist alles in Ordnung?", die Stimme klang ebenso besorgt, wie beunruhigt. "Mach die Tür auf, mein Junge. Lass mich herein." Frodo biss sich auf die Lippen, blickte starr zum Türknauf, der immer wieder gedreht wurde. Traurigkeit und Sehnsucht lagen in seinen Augen.
Geh weg, Bilbo. Bitte, geh weg. Ich will dir nicht wehtun, doch wenn du hier bleibst, dann werde ich schwach werden und die Tür öffnen und dann… ich will nicht, dass dir dasselbe passiert, wie Oma. Geh, Bilbo, bitte.
Frodo hielt sich die Ohren zu und schloss krampfhaft seine Augen, als Bilbos Rufen nicht endete. Dennoch konnte er seine Stimme hören, ebenso wie die Stimme Saradocs. Der Herr von Bockland stand ebenfalls vor seiner Zimmertür und versucht herein zu kommen, doch schließlich gaben beide Hobbits auf und es wurde still. Frodo seufzte und ließ sich betrübt in die Kissen sinken.
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Saradoc schüttelte den Kopf. "Es hat keinen Sinn, Bilbo. Ich weiß nicht, was er mit der Tür gemacht hat, doch wir werden warten müssen, bis er von selbst wieder herauskommt, es sei denn, wir wollen die Tür aufbrechen." Bilbo seufzte und schüttelte den Kopf. "Mir missfällt beides, doch ich fürchte, im Augenblick hast du Recht. Sollte Frodo aber morgenfrüh nicht beim Frühstück sitzen, werde ich die Tür aufbrechen." Saradoc nickte, das Gesicht ernst und nicht etwa zu einem erheiterten Lächeln verzogen. Er führte den alten Hobbit den spärlich beleuchteten Gang entlang. Einige der Fackeln in den Halterungen an der Wand flackerten, als sie sie passierten. "Würde es dir etwas ausmachen, mich zu begleiten? Gorbadoc und ich würden uns gerne mit dir unterhalten." Bilbo blickte Saradoc etwas überrascht an, doch er nickte. Es konnte sich bei diesem Gespräch nur um Frodo handeln. Frodo hatte sich äußert seltsam benommen, seit er angekommen war, war ihm gegenüber außergewöhnlich abweisend gewesen. Beinahe fürchtete er, Frodo würde sich nicht freuen, ihn zu sehen. Ob er ihn wohl zu lange nicht mehr besucht hatte? Bilbo schüttelte den Gedanken ab. Selbst wenn der Grund für Frodos Verhalten darin lag, so musste es dennoch einen weiteren geben, denn der Junge wich nicht nur ihm aus. Hatte er nicht eben erst beobachtet, wie Frodo Merry aus dem Weg gegangen, förmlich vor ihm geflüchtet war? Ein Gespräch mit Gorbadoc und Saradoc könnte äußerst aufschlussreich werden.
Saradoc öffnete die Tür zu Gorbadocs Arbeitszimmer. Der alte Hobbit saß in einem gemütlichen Sessel an seinem Schreibtisch. Nur kurz blickte er auf, als Bilbo und Saradoc eintraten, senkte anschließend den Kopf und blickte gedankenverloren auf das Glas Wein in seiner Hand. Das Zimmer wurde nur von einem Feuer im Kamin und zwei Kerzen auf dem Schreibtisch beleuchtet. Durch das kleine Fenster, drang nur wenig Licht, denn der Mond hatte seine Bahn nach Westen noch nicht weit genug fortgesetzt. Als Bilbo das letzte Mal hier gewesen war, war er von Mirabella begleitet worden und Gorbadoc hatte ihm erklärt, dass Saradoc sich bis auf weiteres um Frodo kümmern werde. Nun sollte es nicht viel anders sein. Wieder musste ein Verlust hingenommen werden, und wieder ging es bei der Unterhaltung um Frodo. Zwar hatte noch keiner ein Wort gesagt, doch Bilbo war sich sicher, dass Frodo der Grund war, weshalb Gorbadoc ihn sprechen wollte.
Bilbo setzte sich auf einen Stuhl, den Saradoc an den Schreibtisch geschoben hatte und beobachtete, wie Gorbadoc das Weinglas in seiner Hand prüfend schwenkte, um es schließlich abzustellen und aufzustehen. Die Erschöpfung der vergangenen Tage war klar in seinen Zügen zu erkennen. Dunkle Ringe fanden sich unter seinen müden Augen, sein Gesicht war blass und er sah um einiges älter aus, als Bilbo ihn in Erinnerung hatte. Gorbadoc verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging zum Fenster, um die Sterne zu betrachten. Bilbo zog eine Augenbraue hoch, als er sich fragend an Saradoc wandte, doch auch dieser zuckte nur mit den Schultern. "Du hast mich wegen Frodo gerufen, nicht wahr?", fragte Bilbo schließlich und erhob sich ebenfalls. Gorbadoc nickte, doch wandte er sich nicht zu ihnen um, sondern blickte weiterhin aus dem Fenster. "Ich mache mir Sorgen um ihn, Bilbo. Er ist zurückgezogener denn je." Ausdruckslos sah Gorbadoc in Bilbos Augen, als dieser sich neben ihn stellte und ebenfalls aus dem Fenster blickte. "Er ist schweigsam", stellte Bilbo fest. "Nicht nur das", entgegnete Gorbadoc und wandte seine Aufmerksamkeit nun wieder der sternenklaren Nacht zu. "Er lässt nicht mit sich reden, ich glaube, er hört nicht einmal zu. Er weicht jeglichen Berührungen aus und schließt sich in seinem Zimmer ein." "Nicht einmal Merry lässt er mehr an sich heran", schaltete sich Saradoc ein, der die alten Hobbits einige Zeit beobachtet hatte und nun zu ihnen ans Fenster trat. Bilbo sah ihn stirnrunzelnd an. Saradoc nickte auf die ungestellte Frage in Bilbos Augen. "Ich weiß, so etwas geschah nie zuvor und genau das ist es, was mir so große Sorgen bereitet. Wenn selbst Merry nicht mehr zu ihm durchdringt, wer dann?" Bilbo schüttelte den Kopf. "Das kann nicht alles nur an Mirabellas Tod liegen. Er wäre verletzt und traurig, aber doch nicht so verstört? Ist zuvor noch etwas anderes vorgefallen, von dem ich nicht weiß?" "Das wüsste ich auch sehr gerne", meinte Gorbadoc und räusperte sich. Bilbo sah den alten Brandybock stirnrunzelnd an, als dieser sich wieder zum Schreibtisch bewegte und sich in seinen Sessel setzte. "Für Mirabella bestand ein Besuchsverbot, doch als ich vor drei Tagen zu ihr ging, Fastred an meiner Seite, da wurde ich förmlich von Frodo umgerannt. Wie vom Blitz getroffen war aus ihrem Zimmer gestürmt. Ich weiß nicht, was er bei ihr verloren hatte, oder was geschehen war. Als ich jedoch gerade nach dem Grund für seine Anwesenheit fragen wollte, hörte ich Mirabella husten. Ich ging zu ihr, habe nicht weiter auf den Jungen geachtet. Sie hustete Blut und nur wenige Minuten später verstarb sie." Gorbadoc wandte den Blick ab und holte tief Luft. Es dauerte einige Augenblicke, ehe er weiter sprach. "Ich vermute, dass Frodo entweder zu Fastred oder zu mir wollte. Es muss ihn sehr erschreckt haben, Mirabella so zu sehen." Der alte Hobbit unterbrach sich erneut und schluckte schwer. "Seither hat er mit niemandem mehr gesprochen", erklärte Saradoc, der noch immer am Fenster stand. "Ich war am selben Abend noch bei ihm, doch er sah mich gar nicht erst an, sondern blickte stur aus dem Fenster. Ich griff nach seiner Schulter, doch er schlug meine Hand weg. Ich wollte mit ihm reden, ihm in die Augen sehen, doch er wich meinen Blicken aus. Schließlich wurde ich wütend und griff nach seinem Kinn, doch wieder schlug er meine Hand weg…"
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"Was geschehen ist, ist für uns alle schwer, Frodo. Mirabella hat uns allen sehr viel bedeutet. Sie war ein wundervoller Hobbit, voller Kraft und Lebensfreude. Ihr Tod ist eine schlimme Sache, doch manche Dinge müssen ihren Lauf nehmen", Saradoc versuchte, die Trauer in seiner Stimme mit Trost zu überdecken und hoffte, dass ihm dies gelänge. Eine Kerze brannte auf dem Nachttisch, als er sich neben Frodo, der ihm den Rücken zugewandt hatte und aus dem Fenster sah, auf das Bett setzte. Tröstend legte er einen Arm auf Frodos Schulter. Der Junge zuckte unter seiner Berührung zusammen und stieß die Hand mit einer raschen Bewegung weg. Saradoc kannte Frodo inzwischen gut genug, um einen zweiten Versuch zu wagen, den Jungen mit Berührungen zu trösten und so sprach er weiter, hoffte, Frodo dadurch ein wenig Trost spenden zu können. "Mirabella war alt und durch ihre Krankheit sehr geschwächt. Sie hatte ein glückliches Leben und wurde nun von ihren Leiden erlöst." Frodo starrte reglos in die Nacht hinaus, ohne ein einziges Mal aufzublicken. Saradoc entschied, einen weiteren Versuch zu wagen, überlegte es sich dann aber anders, als er sah, wie Frodo sich verkrampfte und sich bereit machte, die Hand erneut wegzustoßen. "Trauere nicht alleine, Frodo. Teile deinen Schmerz. Du wirst sehen, es wird dir besser gehen. Merry wäre bestimmt froh, wenn du jetzt bei ihm wärest." Es war ein hinterhältiger Versuch, Frodos Aufmerksamkeit zu erlangen und Saradoc wusste es, doch in Situationen wie dieser, waren solche Tricks erlaubt. Dennoch schien sein Vorhaben nicht aufzugehen. Frodo starrte aus dem Fenster, keine Regung seines Gesichts war zu erkennen, kein Zeichen der Emotion. "Hörst du mir überhaupt zu? Sieh mich an, Frodo." Saradoc lehnte sich auf dem Bett zurück, in der Hoffnung, Frodo so in die Augen sehen zu können, doch der Junge drehte den Kopf. Saradoc versuchte es von der anderen Seite, doch auch hier wandte Frodo den Kopf ab. "Hör auf mit den Spielereien und sieh mich an!" sagte Saradoc, der einen Anflug von Wut verspürte, doch wieder wich das Kind seinem Blick aus. "Sieh mich an, Frodo!" forderte er noch einmal, und als Frodo erneut den Kopf wegdrehte, beschloss er, andere Maßnahmen zu ergreifen und griff nach dem Kinn des Jungen, um ihn dazu zu zwingen, ihn anzusehen. Kaum hatte Saradocs Hand Frodos Kinn berührt, schlug Frodo seine Hand kraftvoll weg. Saradoc sah ihn für den Bruchteil einer Sekunde wütend an, dann griff er nach Frodos Handgelenk. Frodo versuchte sich aus dem Griff zu winden, doch Saradoc ging sicher, dass ihm das nicht gelänge. Er konnte gerade noch erkennen, wie ein panischer Ausdruck über Frodos Gesicht kroch, ehe der Junge mit der anderen Hand auf seinen Arm einschlug und das mit einer Geschwindigkeit, die es Saradoc verbot, auch nach dem anderen Handgelenk zu greifen. "Frodo, was soll das. Hör auf damit. Ich will dir nicht wehtun, ich will…", doch weiter kam er nicht, denn er wurde von Frodo unterbrochen. "Wenn du mir helfen willst, dann geh! Geh, und lass mich in Frieden! Du und alle anderen, haltet euch von mir fern!" Die Stimme das Jungen war schrill und voller Panik.
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"Er scheuchte mich beinahe hysterisch aus dem Zimmer. Seither zeigt er sich nur mehr während den Mahlzeiten. Er redet nicht und reagiert auch auf nichts, was gesagt wird. Anschließend verschwindet er wieder in seinem Zimmer und versperrt die Tür. Ich vermute, er nimmt den Stuhl zu Hilfe, ich wüsste nicht, was er sonst vor die Türe stellen könnte", Saradoc seufzte und schüttelte den Kopf. "Ich verstehe das nicht, Bilbo. Frodo verhielt sich schon häufiger seltsam und bisher fand ich auch immer einen Grund dafür, doch dieses Mal…", er zuckte mit den Schultern und seufzte erneut, "… sein Verhalten ist mir ein Rätsel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn allein der Verlust seiner Großmutter so verstört."
Bilbo hatte Saradocs Worten aufmerksam gelauscht. Was er erzählte bereitete ihm noch mehr Sorgen, als was er selbst hatte am Esstisch beobachten können. Etwas stimmte nicht. Etwas musste vorgefallen sein, von dem weder Saradoc noch Gorbadoc wussten. Frodo war kurz vor ihrem Tod bei Mirabella gewesen. Ob der Grund für sein Verhalten in diesem Besuch versteckt lag? Dessen war Bilbo sich sicher. Was auch immer geschehen war, es hatte etwas mit Mirabella zu tun.
"Bilbo?" Der alte Hobbit schreckte aus seinen Gedanken, als er Saradocs Stimme vernahm. "Was hältst du davon?" Bilbo schüttelte den Kopf. "Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Aber, was immer es ist, ich werde es in Erfahrung bringen. Ich werde dafür sorgen, dass Frodo nicht mehr in sein Zimmer kommt, sobald er es einmal verlassen hat. Er wird mit mir sprechen, ob er will oder nicht."
Kapitel 51: Ich will dich nicht verletzen
Für Frodo trübte ein Schleier aus Tränen das Antlitz der Welt an diesem sonnigen Frühlingsmorgen. Die Bewohner des Brandyschlosses und deren Gäste waren bereits am frühen Morgen aufgebrochen und nach Norden gegangen, wo sich nahe einem kleinen Waldstück die Gräber der verstorbenen Hobbits befanden. An der Spitze des Zuges gingen Gorbadoc, Dodinas, Saradas und Dinodas, die Mirabellas Körper, der durch ein weißes Leinentuch verdeckt war, auf einer Bahre mit sich trugen. Frodo war an Bilbos Seite, als die Hobbits ihren traurigen Marsch antraten. Der alte Hobbit war nach dem Frühstück auf ihn zugekommen und seither nicht mehr von seiner Seite gewichen. Das beunruhigte Frodo, ebenso, wie es ihn erleichterte.
Frodos Augen blickten ins Leere, als sie schließlich alle unter einigen Pappeln standen, wo Mirabellas Grab ausgehoben worden war, und Gorbadoc Worte des Abschieds sprach. Er konnte seine Großmutter nicht vergessen, ihre Worte, und die Tränen, die über ihr blasses, müdes Gesicht geflossen waren, als er ihr sein größtes Geheimnis anvertraut hatte. Warum hatte er es getan? Warum hatte er gesprochen, wo er genauso gut hätte schweigen und ihr Kummer ersparen können? Weshalb hatte er sie so verletzt? Weshalb hatte er ihr vor ihrem Tod noch soviel Leid aufbürden müssen? Frodo holte tief Luft und schluckte schwer, versuchte, die Tränen in seinen Augen zu verbergen. Sein Blick fiel auf Merry und Pippin, die, unweit von ihm entfernt, bei ihren Eltern standen und nur mit geringem Erfolg gegen ihre Tränen ankämpften. Esmeralda hatte die Arme um Merry gelegt und die Hände vor seiner Brust verschränkt. Pippin stand bei seinem Vater, der einen tröstenden Arm um ihn gelegt hatte. Frodo schloss die Augen, ermöglichte dadurch einer einzelnen Träne, sich einen Weg über seine Wangen zu suchen. Ein Arm wurde um seine Schultern gelegt und zog ihn in eine Umarmung, die Frodo widerstandslos geschehen ließ. Es war ein Bedürfnis, das nun endlich gestillt werden sollte. Bilbos Trost und sein Mitgefühl legten sich wie Balsam um Frodos hungernde Seele. Erschrocken öffnete Frodo die Augen, als ihm plötzlich klar wurde, was es war, das er zuließ: eine Umarmung. Seine Umarmungen brachten das Leid, er selbst war es, der das Unglück brachte. Frodo verkrampfte sich, doch war er unwillig, sich aus der Umarmung zu lösen. Nur dieses Mal. Bitte, nur dieses eine Mal. Bilbo wird nichts geschehen, nur wegen einem Mal. Es darf ihm nichts passieren. Nur dieses eine Mal, und ich verspreche, ich werde ihn nie wieder umarmen. Zögernd schloss er erneut die Augen und gab sich dem Gefühl des Trostes hin. Ein Gefühl der Wärme erfüllte ihn. Wärme, nach der er sich so sehr sehnte und bei keinem war sie so stark und ausgeprägt, wie bei Bilbo. Plötzlich war der Arm um seine Schulter fort, und mit ihm die Geborgenheit. Voller Überraschung öffnete Frodo die Augen und fröstelte ob dem Verlust.
Bilbo hatte nicht mit Frodo gesprochen, auch wenn er fest entschlossen war, dies noch zu tun. Er hatte am vergangenen Abend lange über das Gespräch mit Saradoc und Gorbadoc nachgedacht. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen und immer wieder fragte er sich, was wohl in Mirabellas Zimmer geschehen sein konnte. Was Frodo dort zu suchen hatte, war ihm klar. Er hatte seine Großmutter besuchen wollen. Doch dann musste etwas geschehen sein, mit dem er nicht gerechnet hatte. War der Anblick des von der Krankheit gezeichneten Körpers Mirabellas zuviel für ihn gewesen? Hatte Mirabella etwas gesagt, das ihn beunruhigt hatte? Darauf konnte nur Frodo ihm antworten, doch der Junge hatte auch am heutigen Tag noch kein Wort von sich gegeben. "Er lässt nicht mit sich reden, ich glaube, er hört nicht einmal zu. Er weicht jeglichen Berührungen aus und schließt sich in seinem Zimmer ein." Gorbadocs Worte klangen in seinen Ohren und Bilbo entschied, diese Dinge selbst zu prüfen. Vorsichtig legte er einen Arm um Frodos Schulter und zog den Jungen zu sich. Er war beinahe überrascht, keinerlei Widerwillen zu verspüren. Er lässt sich also doch in den Arm nehmen. Vielleicht sind Saradocs Augen nicht ganz so wachsam, wie er vielleicht glaubt. Was war es, mein Junge, das dich so gegen Saradoc hat vorgehen lassen? Für einen Augenblick spannte sich Frodos Körper an und Bilbo runzelte nachdenklich die Stirn. Oder vielleicht bin ich es, dessen Augen nicht wachsam genug sind und du lässt mich nur gewähren, weil du bei Mirabellas Beisetzung nicht unnötig auffallen willst? Womöglich habe ich also nur Glück und sollte vorsichtiger sein, als ich es im Augenblick bin. Vergraule den Jungen jetzt nicht, Bilbo, oder du wirst es bei einem Gespräch mit ihm schwer haben. Bilbo wollte kein Risiko eingehen, wollte nicht, dass ihm dasselbe geschah, wie Saradoc und so nahm er den Arm von Frodos Schultern. Als er auf den Jungen hinunter blickte, bemerkte er plötzlich, dass Frodo fröstelte. "Ist dir kalt, mein Junge?"
Frodo blickte zu ihm auf, Verwunderung in seinen Augen. "Ja", antwortete er rasch, in der Hoffnung, Bilbo würde erneut einen Arm um ihn legen. Zu seiner Überraschung war ihm keine weitere Umarmung vergönnt. Stattdessen zog Bilbo seinen Mantel aus und legte ihn ihm um die Schultern. Verwirrung und Traurigkeit ließen Frodo wieder in Schweigen verfallen und er senkte betrübt den Kopf. Eigentlich sollte er froh sein, dass Bilbo ihn nicht in den Arm nahm. Es war besser für sie beide. Doch andererseits war Bilbos Mantel weit davon entfernt, dieselbe Wärme zu spenden, wie Bilbos Umarmung. Frodo seufzte leise und schlang den Mantel, der ihm viel zu groß war, enger um sich.
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Kaum waren die Hobbits wieder zurück im Brandyschloss, stürmte Frodo in sein Zimmer. Merry und Pippin folgten ihm und deshalb war besondere Eile geboten. Rasch griff Frodo nach dem Knauf, drehte ihn und rannte geradewegs in die Tür. Erschrocken schnappte er nach Luft und versuchte erneut, in sein Zimmer zu gelangen, doch es war vergebens. Jemand hatte die Tür verschlossen und dieser Jemand konnte nur Saradoc sein, denn nur der Herr von Bockland besaß die Schlüssel zu den einzelnen Zimmern im Brandyschloss. Für einen Augenblick trat ein wütendes Funkeln in seine Augen, ehe er den Gang entlang zurück eilte. Wenn Saradoc ihn nicht in seinem Zimmer wollte, dann würde er sich einen anderen Ort suchen, an dem er alleine sein konnte.
Merry und Pippin wären beinahe mit ihm zusammengestoßen, als er um die Biegung rannte "Frodo, wo willst du hin?", fragte Merry verzweifelt und nahm erneut die Verfolgung auf, während Pippin ebenfalls hinter seinem Vetter her eilte. "Bleib hier, bitte", bat Pippin und blickte Frodo flehend nach, als dieser bereits durch den Haupteingang nach draußen sprang.
Bilbo, der auf dem Weg in eines der Wohnzimmer war, wo sich alle versammeln wollten, um gemeinsam zu speisen und der Verstorbenen zu gedenken, hörte Merrys verzweifeltes Rufen und wandte sich gerade rechzeitig um, um zu erkennen, wie Frodo nach draußen stürmte. Er rief Merry und Pippin zurück, hielt sie davon ab, Frodo zu folgen. "Lasst ihn alleine, Kinder", sagte er, als die beiden Hobbits fragend zu ihm aufblickten. "Ich werde später mit ihm sprechen und dann werdet ihr euren Vetter hoffentlich bald zurückhaben." Er legte beiden der jungen Hobbits eine Hand auf die Schulter und blickte Frodo hinterher. "Was hat er denn, Onkel Bilbo?", fragte Pippin ein wenig verwirrt. "Warum läuft er vor uns davon?" Bilbo seufzte. "Ich weiß es nicht, Pippin, doch ich hoffe, ich werde es bald herausfinden."
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Frodo setzte zum Fluss hinunter, sprang auf die Fähre und löste die Taue. Er wusste, im Brandyschloss würde er nicht in Ruhe gelassen werden, weshalb sonst hätte Saradoc seine Zimmertür verschlossen? Der einzige Ort, wo er im Augenblick ungestört sein konnte, war auf seinem Apfelbaum im Bruch. Nicht einmal Merry würde ihm folgen, nicht jetzt da Pippin hier war. Frodo stieß das Fährenboot mit dem Bootshaken ab, woraufhin es gemächlich über das Wasser glitt.
Als er das andere Ufer erreichte, wandte er sich noch einmal um und blickte nachdenklich zurück. Er fühlte sich, als befände er sich auf der Flucht, doch wovor er flüchtete, konnte er nicht sagen. Rasch eilte Frodo den Fährweg entlang, bis er schließlich die Straße erreichte und ihr bis zum Apfelbaum folgte. Der Baum stand in voller Blüte und obschon Frodo wusste, dass es nicht gern gesehen war, wenn Kinder in einen blühenden Baum kletterten, tat er es dennoch. Müde lehnte er sich mit der Wange an den Stamm des mächtigen Baumes und schloss die Augen. Der Geruch der Blüten stieg ihm in die Nase und gelegentlich hörte er das Summen einiger Bienen und das Zwitschern junger Vögel. Es war Frühling und doch herrschte in seinem Herzen noch immer der frostige Winter mit seinen eisigen Klauen. Frodo seufzte. Die Wärme, die er für einen kurzen Augenblick hatte spüren dürfen, war ihm genommen worden, nicht aber die Sehnsucht danach. Hör auf damit, schalt er sich selbst. Es darf nicht wieder geschehen. Hör auf, daran zu denken und vergiss Umarmungen, vergiss Bilbo, und lerne, so zurechtzukommen. Es ist besser so, besser für dich und für alle anderen.
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Von Merry hatte Bilbo erfahren, wo er Frodo würde finden können, sollte dieser sich nicht irgendwo in der Nähe des Brandyschlosses aufhalten. Festen Schrittes stapfte er nun den Fährweg hinauf, entschlossen, die Wahrheit von Frodo zu erfahren. Was auch immer geschehen war, sollte nicht länger geheim bleiben. Bilbo hielt einen Augenblick inne. Er war angenehm überrascht gewesen, als Frodo bei Mirabellas Beisetzung mit ihm gesprochen hatte, auch wenn er nicht mehr als ein Wort von sich gegeben hatte. Dennoch ließ ihn Frodos Stimme nun nicht mehr los. Etwas, das er zuvor nicht wahrgenommen hatte, schien plötzlich immer klarer in seinen Gedanken zu werden. Hatte er den Hauch einer Bitte aus Frodos Antwort vernommen? Doch wenn dem so war, worum hatte Frodo ihn so heimlich gebeten? Bilbo seufzte und schüttelte den Kopf. Es war höchste Zeit, mit dem Jungen zu sprechen. Schon von weitem konnte er den Apfelbaum sehen, ebenso wie Frodo, der ihm den Rücken zugewandte hatte. Schweigend trat Bilbo an den Baum, wohl wissend, dass Frodo ihn bemerkt hatte, denn er konnte den Blick des Jungen spüren. Scheinbar gleichgültig lehnte er sich an den Stamm und Stille zog über ihm herein. Nicht nur Frodo, sondern jegliches Getier im Bruch schien auf eine Aussage seinerseits zu warten. Bilbo entschied, sie noch einen Augenblick länger warten zu lassen. "Ich habe mir sagen lassen, du würdest jeglichen Berührungen aus dem Weg gehen und doch hast du nicht protestiert, als ich heute einen Arm um dich legte. Weshalb?" Bilbos Stimme war ruhig, klang, als würde er sich über das Wetter unterhalten. Es war eine reine Feststellung. Keine Antwort. Bilbo sah nicht nach oben, doch konnte er hören, wie Frodo auf seinem Ast unruhig wurde. Einige weiße Blütenblätter regneten auf ihn herab. "Ich werde nicht gehen, Frodo. Nicht, ehe du antwortest." Wieder regneten einige Blütenblätter auf ihn herab, doch noch immer erhielt er keine Antwort, außer einem leisen, entnervten Seufzen. Bilbo entfernte sich einen Schritt vom Stamm und blickte nach oben. Die weißen Blüten des Apfelbaumes bildeten einen Kontrast zu Frodos dunklem Lockenkopf, der ihm nun mit einem Ausdruck, den Bilbo nicht zu deuten wusste, entgegen blickte. War es Wut, Erleichterung, Zorn, Verzweiflung, das sich in Frodos Augen widerspiegelte? War es nichts von alledem, oder gar alles zugleich? Bilbo wusste nichts mit diesem Ausdruck anzufangen und entschied, ein wenig länger zu warten. Wieder lehnte er sich an den Stamm und verschränkte die Arme vor der Brust. Schließlich hörte er die Blüten über sich rascheln und wieder purzelten weiße Blütenblätter auf ihn herab, bis plötzlich Frodo neben ihm auf dem Boden stand. Das Gesicht des Jungen trug noch immer denselben Ausdruck, wie zuvor, während er ihn einige Augenblicke ansah, sich dann plötzlich umwandte und davon laufen wollte. Blitzschnell griff Bilbo nach Frodos Handgelenk und hielt ihn auf. Frodo wehrte sich, stand dann aber still, als er erkannte, dass Bilbo ihn nicht loslassen würde. "Weshalb läufst du weg, Frodo?", fragte Bilbo besorgt und tiefe Falten zeigten sich auf seiner Stirn. "Weshalb lässt du weder mit dir reden, noch irgendwen in deine Nähe?" Frodo wandte den Blick ab, schluckte schwer und hob dann zögernd den Kopf. "Ich will dich nicht verletzen", wisperte er mit einer Stimme, als wäre er den Tränen nahe. Bilbo verspürte einen schmerzhaften Stich im Herzen und für einen kurzen Augenblick lockerte sich sein Griff um Frodos Handgelenk. Das Kind ließ sich diese Möglichkeit nicht entgehen, befreite sich vollends aus dem Griff und begann zu laufen.
Frodo rannte, bis er die Straße erreichte doch dort hielt er inne, blickte zögernd zu Bilbo zurück, der noch immer wie versteinert unter dem Apfelbaum stand. Es stimmte, er wollte ihn nicht verletzen, wie er Mirabella verletzt hatte und doch wollte er ihn ebenso wenig alleine dort stehen lassen. Er wollte nicht gehen, obschon er wusste, dass es besser wäre, wenn er davon lief. Frodo tat einen weiteren Schritt, ehe er erneut stehen blieb. Sein ganzer Körper schien sich gegen ein fort bewegen zu wehren. Alles in ihm schrie danach, zu bleiben, schrie nach der Wärme, die er am Morgen gespürt hatte. Wie lange hatte er sich danach gesehnt? Wie groß war die Sehnsucht in den vergangenen Tagen geworden, als er plötzlich erneut verlassen wurde? Er sank auf die Knie. Es darf nicht sein. Wenn ich ihn umarme, wenn ich mit ihm rede, wird er genauso sterben, wie Mirabella es getan hat und meine Eltern vor ihr. Jeder, der mir Nahe steht, wird sterben und mich zurücklassen. Ich darf es nicht zulassen, ganz gleich was passiert. Ich darf nicht… Frodo zuckte zusammen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Bilbo stand hinter ihm und auf einmal schienen all seine Vorsätze vergessen und nur mehr die Sehnsucht lebte in ihm. Mit einer plötzlichen Bewegung wandte er sich um, fiel Bilbo in einer beinahe krampfhaften Umarmung um den Hals. Es tut mir Leid, aber bitte umarme mich. Als hätte Bilbo seine Bitte gehört, legte er zögernd einen Arm um Frodo und erfüllte den lange gehegten Wunsch. Frodo hatte die Augen geschlossen und seine Finger hatten sich verzweifelt in Bilbos Mantel gegraben, als wäre er unwillig, jemals wieder los zu lassen.
Bilbo verstand die Welt nicht mehr. So verzweifelt hatte er Frodo bisher nur einmal erlebt und selbst damals war es eine andere Verzweiflung wie jene, die sich ihm nun darbot. Damals hatte Frodo aus Angst vor einem Traum so krampfhaft reagiert, doch dieses Mal war es anders. Hier gab es keinen Traum und die Art, wie Frodo ihn umarmte versetzte ihn in Schrecken. Hatte Saradoc nicht gesagt, er ließe sich nicht berühren? Nun schien es ganz anders. Frodo schien die Umarmung förmlich erzwingen zu wollen. Und doch war da ein Gefühl der Verzweiflung, der Endlichkeit, als wäre dies die letzte Umarmung, die Frodo jemals zuteil werden sollte und diese schien er nun um alles in der Welt auskosten zu wollen.
"Ich will dich nicht verletzen." Was ist mit dir geschehen, mein Junge?
Als Frodo sicher war, dass Bilbo ihn nicht sofort loslassen würde, entspannte er sich ein wenig. Wieder umgab ihn eine wohlige Wärme, ein Gefühl des Trostes, der Geborgenheit. Etwas in ihm schrie noch immer, doch diese Stimme war leiser geworden, labte sich nun an der Wärme, die ihn umgab. Bilbos löste sich schließlich zaghaft aus der Umarmung und auch Frodo, ließ, wenn auch nur widerwillig, los. Bilbos Arme ruhten auf seiner Schulter, als der alte Hobbit den Kopf ein wenig schief legte und traurig fragte: "Wie könntest du mir Schmerz zufügen?" Frodo seufzte, blickte verzweifelt in die Augen seines Onkels und schluckte, während er den Wunsch unterdrückte, ihn erneut zu umarmen. "Fragen mögen harmlos erscheinen, doch die Antworten führen zu Leid." Er stand auf, verharrte einige Augenblicke regungslos, ehe er sich schließlich umwandte und zu laufen begann, so schnell ihn seine Beine trugen.
Frodo rannte, bis seine Knie weich wurden und seine Lungen zu bersten drohten. Erschöpft hielt er an, versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er hatte die Fähre erreicht und lehnte sich nun an einen der weißen Pfosten am Flussufer, ließ sich daran langsam zu Boden sinken. Tränen traten in seine Augen, doch er wischte sie weg. Niemand sollte ihn jemals wieder weinen sehen, niemand sollte glauben, er brauche deren Trost. Niemand. Keiner sollte mehr seinetwegen leiden müssen. Verzweifelt vergrub er den Kopf in seinen Händen und kämpfte gegen seine Tränen an. "Warum ich?", flüsterte er, ohne auf eine Antwort zu hoffen. "Warum bleibt mir genau das verwehrt, was ich mir am meisten wünsche?"
Bilbo blutete das Herz, als er diese Worte vernahm, dennoch war er der Ansicht, Frodo genau im richtigen Augenblick eingeholt zu haben. Noch immer wusste er nicht viel mit dem Verhalten des Kindes anzufangen, doch langsam begann er zu begreifen. Sehnte Frodo sich nach Umarmungen, die ihm nicht zuteil wurden? Andererseits war es jedoch Frodo gewesen, der den Berührungen aus dem Weg gegangen war und doch war sich Bilbo sicher, dass Umarmungen einen Grund für sein jetziges Verhalten waren, sonst hätte der Junge ihn zuvor nicht so krampfhaft in den Arm genommen. Bilbo holte tief Luft und versuchte erneut, die Distanz, die zwischen ihm und Frodo aufgekommen war, zu verringern, indem er sich schweigend neben den Jungen setzte und einen Arm um seine Schultern legte. "Nichts muss dir verwehrt bleiben, wenn du es zulässt, mein Junge."
Frodo zuckte zusammen, wich erschrocken zurück und starrte Bilbo mit weit aufgerissenen Augen an. "Das verstehst du nicht", meinte er dann leise und blickte demonstrativ in die andere Richtung. Bilbo unterdrückte ein Seufzen. "Du warst bei Mirabella, kurz vor ihrem Tod." Frodo zuckte kaum merklich zusammen. "Habt ihr miteinander gesprochen? Hat sie dich umarmt?", wollte Bilbo wissen. Frodo wandte sich erneut zu ihm um, blickte ihn durchdringend an. Für einen Augenblick glaubte Bilbo, Wut in den blauen Augen des Jungen blitzen zu sehen, doch Frodo entgegnete nichts, schickte sich stattdessen an, aufzustehen. Bilbo griff nach seinem Arm und zog ihn wieder zu Boden, mit einer Kraft, die Frodo ihm nicht zugetraut hatte. "Du wirst mir jetzt sagen, was geschehen ist, mein Junge, und wenn wir bis morgen Abend hier sitzen. Bei Saradoc mag dir deine Sturheit vielleicht nützlich sein, doch hier hast du es mit einem weiteren Beutlin zu tun und ich kann mindestens genau so starrköpfig sein, wie du." Frodo starrte ihn entgeistert an. Bilbo seufzte leise und die Strenge, die zuvor in seiner Stimme gelegen hatte, schwand. "Ich kenne dich, Frodo. Du fürchtest dich und ich würde gerne wissen, was dir solche Angst machte, dass du nun glaubst, jedem aus dem Weg gehen zu müssen." Frodo wandte den Blick ab. Bilbo sah ihn lange Zeit schweigend an. "Also gut, ich habe Zeit."
Frodo blickte stumm auf den Brandywein. Das bräunliche Wasser floss gemächlich murmelnd dahin. Warum wollte jeder mit ihm darüber sprechen, was bei Mirabella geschehen war? Warum ausgerechnet Bilbo? Er hatte es nicht verdient, dass er so von ihm behandelt wurde. Bilbo war immer gut zu ihm gewesen, hatte ihn immer verstanden, hatte ihn nie gedrängt, Dinge zu erzählen, die er nicht erzählen konnte. Weshalb tat er es nun? Frodo seufzte leise, seine Augen noch immer ziellos auf das Wasser gerichtet. Weshalb konnte nicht alles so sein, wie vor vier Jahren, als Bilbo ihn das letzte Mal besucht hatte? Warum musste er ihn traurig stimmen? Er stockte einen Augenblick, schluckte dann schwer und senkte den Kopf, ließ den Blick auf seinen im Schoß liegenden Händen, ruhen. Es hatte bereits begonnen. Schon jetzt fügte er Bilbo Leid zu, selbst wenn er nicht sprach und die Mauer um sich herum, so gut es ging, aufrechterhielt. Warum musste es Bilbo sein? Bilbo, der ihm soviel mehr gab, als alle anderen. Weshalb war er nun derjenige, vor dem er zurückwich?
Frodo wünschte sich nichts mehr, als dass er die Zeit zurückdrehen konnte, um sowohl Bilbo, als auch sich selbst unnötigen Schmerz zu ersparen. Dadurch, dass er sich in seinem Zimmer verkrochen hatte, erfuhr er erst am Morgen nach seiner Ankunft, dass Bilbo hier war. Er hatte sich damals nichts mehr gewünscht, als zu ihm gehen zu können, doch er hatte Angst gehabt und der Gedanke an Mirabella hatte ihn seinen Wunsch vergessen lassen. Noch dazu war Saradoc an jenem Morgen auf ihn zu gekommen, und Frodo hatte es für besser gehalten, wieder in sein Zimmer zu gehen. Dort war es wesentlich leichter, Gesprächen aus dem Weg zu gehen, als in der Gegenwart mehrerer Hobbits.
Während er seinen Gedanken nachging, regte sich erneut der Wunsch in ihm, umarmt zu werden. Die Sehnsucht nach der Wärme, die er zuvor empfunden hatte, kehrte wieder und Frodo wusste, sollte ihn Bilbo nun in den Arm nehmen, würde er nichts dagegen unternehmen können. Doch es durfte nicht geschehen. Er wollte Bilbo nicht noch mehr Schmerz zufügen, als er es ohnehin schon getan hatte. Ein leises Wimmern entwich seiner Kehle und er biss sich erschrocken auf die Unterlippe. Er würde nicht weinen.
"Ich weiß, weshalb du nicht sprichst", sagte Bilbo dann sanft, und auch wenn Frodo angespannt lauschte, hob er den Kopf nicht. "Es ist, wie du es mir bei meinem letzten Besuch erklärt hast: Du kannst deine Gedanken nicht in Worte fassen, kannst nicht darüber sprechen." Frodo sah ihn verwundert an, doch Bilbo blickte starr gerade aus. "Hast du denn in der Zwischenzeit zumindest versucht, mit jemandem zu sprechen?", Bilbos Blick war nun wieder auf ihn gerichtet und Frodo senkte rasch den Kopf.
Nur für einen kurzen Augenblick huschte ein gequälter Ausdruck über das Gesicht des Jungen und dieser war Bilbo Antwort genug. "Du hast mit Mirabella darüber gesprochen." "Ich wollte es nicht", platzte es aus Frodo heraus und Bilbo erschrak ob der Lautstärke seiner Stimme. "Sie hat gefragt und ich konnte nicht anders, als zu antworten", er stockte, "Ich wollte sie doch nicht traurig stimmen. Sie sollte nicht weinen, wo es ihr ohnehin schon so schlecht ging." Frodo kämpfte verbissen gegen die Tränen an, die sich in seinen Augen sammelten und blickte wieder zum Fluss. Bilbo blutete das Herz ob Frodos verzweifelter Stimme. Er wollte einen Arm um Frodos Schultern legen, entschied sich dann aber dagegen. "Was hast du ihr gesagt?" Die Augen des jungen Hobbits funkelten, als er sich wieder Bilbo zuwandte und ihm klar machte, dass dies nun keine Rolle mehr spielte und niemand, außer Mirabella, jemals davon erfahren werde. Bilbo wusste, dass Frodo nicht darüber sprechen würde, nichtsdestotrotz wagte er einen weiteren Versuch. "Sag es mir, Frodo. Wenn du einmal geschafft hast, die Dinge, die dich beschäftigen, in Worte zu fassen, dann wird es dir auch wieder gelingen." Frodo starrte ihn entgeistert an. "Denkst du, ich will, dass dir dasselbe geschieht, wie ihr?" Bei diesen Worten konnte sich Bilbo nicht länger zurückhalten und zog Frodo rasch in eine feste Umarmung. "Ich werde nicht sterben, Frodo. Mirabella war alt und krank und dann geschehen solche Dinge nun einmal. Deine Unterhaltung mit ihr hatte darauf keinen Einfluss." "Du bist auch alt", beharrte Frodo und versuchte, gegen seine Sehnsucht anzukämpfen, musste dann aber einsehen, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte und gab sich der Umarmung hin. "Und Mama und Papa sind tot, obwohl sie nicht alt waren. Jeder, der von meinen Gedanken weiß, ist tot." Frodo war so aufgewühlt, er hatte zu zittern begonnen, doch Bilbo nahm ihn nur noch fester in den Arm und versuchte, ihn zu trösten. Er konnte kaum glauben, dass Frodo sich noch immer die Schuld am Tod seiner Eltern gab, wie er es getan hatte, als er bei ihm in Beutelsend gewesen war. Bilbo hatte geglaubt, ihm diese Bürde bereits abgenommen zu haben, doch offensichtlich war dem nicht so. Mirabellas Tod lastete nun zusätzlich auf seinen Schultern und Bilbo begann zu wünschen, dass Frodo nicht zu ihr gegangen wäre. "Das hat nichts mit dir zu tun, mein Junge. Manche Dinge geschehen, ohne dass uns deren Sinn klar wird. Du hast nichts damit zu tun, Frodo. Dafür kannst du nichts. Niemand kann etwas dafür." Frodo schluchzte, erlaubte sich aber noch immer nicht zu weinen. "Aber ich habe sie umarmt und dann… das Blut…", er stockte und sprach nicht weiter.
Das war also des Rätsels Lösung. Ein Seufzer der Erleichterung entwich Bilbos Lippen, als er zärtlich durch Frodos Locken strich. Verzweifelt versuchte er, dem Jungen zu erklären, dass auch das nicht seine Schuld war. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass Frodo sich entspannte, je länger er sprach. Es war nun keine erzwungene Umarmung mehr, keine Umarmung voller Verzweiflung und Angst. Es ging nur mehr darum, Trost zu spenden und zu erhalten.
Alle Bürden schienen von Frodos Herzen zu weichen, während er in Bilbos Armen lag. Die Wärme kehrte zurück und erfüllte ihn von neuem. Er hatte die Arme um Bilbos Oberkörper geschlungen, während sein Kopf auf dessen Brust ruhte. Tränen der Erleichterung hatten sich in seinen Augen gesammelt, doch Frodo blinzelte sie weg. Er wisperte eine leise Entschuldigung, wusste aber bereits, dass Bilbo ihm sein Verhalten vergeben würde. Bilbo verstand ihn und dafür war er dankbar.
Author notes: Wundert euch nicht wegen des Titels. Aus Gründen der Überlänge habe ich beschlossen, die Schicksalsjahre optisch in zwei Teile zu trennen, obschon sie handlungsmäsig zusammen gehören. Die Teilung erfolgt zwar erst in ferner Zukunft, aber ich habe den Titel bereits angeglichen. Der zweite Teil wird sich dann mit der Zeit in Beutelsend befassen, doch werden bis dahin noch etwa 30 Kapitel in diesem Teil kommen.
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Kapitel 52: Mittjahrstag
1386 AZ
Frodos Trauer war tief und auch wenn Bilbo ihm einen großen Teil seiner Angst genommen hatte, war er weiterhin sehr verschlossen und blieb gerne für sich. Allerdings erlaubte er sich manchmal, seinen Schmerz zu teilen und verbrachte viele Stunden damit, sich mit Merry über seine Großmutter zu unterhalten, sich an sie zu erinnern, wie sie vor ihrer Krankheit gewesen war. Langsam verblasste das Bild Mirabellas, wie sie in ihrem Bett lag, das Gesicht so weiß wie das Laken, die Wangen eingefallen und die Hände schwach und zitternd, und Frodo erinnerte sich wieder daran, wie sie mit leuchtenden Augen getanzt und gelacht hatte, während ihr weißes Haar locker über ihren Schultern gefallen war. Eines allerdings würde er nie vergessen können: die Träne, die über ihre Wange gelaufen war, als er sich ihr anvertraut hatte und er versprach sich, nicht noch einmal mit jemandem über diese Dinge zu sprechen. Nie wieder sollte jemand seinetwegen weinen müssen.
Bilbo blieb nicht sehr lange im Brandyschloss, auch wenn er seine Abreise um einige Tage verzögerte. Frodo sagte dem alten Hobbit nichts davon, doch er war froh, Bilbo bei sich zu haben und genoss die wohltuende Wärme, die ihn umgab, wenn sein Onkel ihn manchmal abends in die Arme schloss. Auch Pippin reiste bereits zwei Tage nach Mirabellas Beisetzung mit seiner Familie zurück zu den Großen Smials.
So zogen die Wochen ins Land. Die Hobbits vergaßen über ihre Trauer und der Alltag kehrte wieder ein. Die Heuernte begann und die Tiere wurden wieder auf die Weiden gebracht. So kam schließlich der Vorlithe und gegen Ende des Monats begannen die Vorbereitungen für die Lithe-Feiertage. Frodos Tanten Berylla und Asphodel hatten alle Hände voll zu tun und standen von morgens bis abends in der Küche des Brandyschlosses, um die notwendigen Kuchen, Kekse and anderen Leckereien zuzubereiten, und diese vor gierigen Fingern zu schützen, machten sich Frodo und Merry schließlich einen Spaß daraus, gelegentlich den einen oder anderen Leckerbissen zu stibitzen. Am dreißigsten des Monats waren Saradoc, Merimac, Marmadas und Saradas damit beschäftigt, Bänke und Tische nahe dem Flussufer aufzustellen. Wie jedes Jahr sollten die Feierlichkeiten unweit der Fähre stattfinden. Zu ihrem Unglück waren Frodo und Merry bei einem ihrer Raubzüge durch die Küche Saradoc in die Arme gelaufen und halfen dadurch "freiwillig" beim Aufstellen der Tische und Bänke mit.
Frodo ließ sich auf die Bank plumpsen, die er gerade mit Merry herangetragen hatte. "Ich kann nicht mehr", keuchte er, ließ sich auf den Rücken sinken und schloss die Augen. Seine Stirn war schweißnass und einige seiner dunklen Locken klebten ihm an den Schläfen. Es war ein warmer, sonniger Tag und nur ein gelegentlicher, frischer Luftzug verschaffte ein wenig Abkühlung. Merry wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ sich ins Gras fallen, wobei er seinen Kopf an der Bank anlehnte und seufzte. Das gemächliche Plätschern des Flusses klang in ihren Ohren und ließ die jungen Hobbits zusätzlich schläfrig werden. Inzwischen war es später Nachmittag und sie waren schon seit Mittag damit beschäftigt, Bänke herbei zu tragen, Zelte aufzubauen, Holz für das Feuer, welches am kommenden Tag entzündet werden sollte, zu sammeln und die Mädchen, die für die Gestaltung der Blumenkränze verantwortlich waren, zu ärgern. Merry drehte den Kopf so, dass er Frodo ansehen konnte. "Meine Hände werden abfallen, wenn ich auch nur noch eine einzige Bank tragen muss." Frodo nickte nur, rollte sich von der Bank, wobei er seinen Sturz mit den Füßen abfing, und ließ sich so neben Merry zu Boden gleiten, wo er den Kopf an die Schulter seines Vetters legte. "Wenn wir uns still verhalten, wird er uns vielleicht nicht finden." Diese Hoffnung verschwand ebenso schnell, wie sie aufgekommen war, denn Saradoc ging an ihnen vorüber, eine weitere Bank unter den Armen haltend. Er hatte die Ärmel seines Hemdes zurückgekrempelt und auch ihm klebte der Schweiß an der Stirn. Im Großen und Ganzen sah er nicht anders aus, als Merry und Frodo, denen die Erschöpfung jedoch wesentlich deutlicher ins Gesicht geschrieben stand. Saradoc stellte die Bank hin und streckte den Rücken. Schweigend beobachteten Frodo und Merry den Herrn von Bockland, hofften inständig, er würde ihnen ihre kleine Pause erlauben, doch Saradoc verschränkte die Hände vor der Brust und sah sie erwartungsvoll an, ohne ein Wort zu sagen. Die jungen Hobbits kannten diesen Blick nur zu gut. Sie hatten etwas ausgefressen und sollten nun dafür gerade stehen, auch wenn es ihnen schwer fiel. Grummelnd und mit langsamen, schwerfälligen Bewegungen kamen die beiden wieder auf die Beine und trotteten auf Saradoc zu, bereit, die Bank, die neben ihm stand, an ihren gewünschten Standort zu tragen. Zu ihrer Überraschung hielt Saradoc sie jedoch von der Arbeit ab und lächelte. "Ich denke, für heute habt ihr genug getan. Ruht euch ein wenig aus, genießt den Abend." Frodo sah ihn mit verblüfften Augen an und auch Merrys Ausdruck war nicht weniger verwundert. "Wirklich?", fragte er seinen Vater und zog dabei skeptisch eine Augenbraue hoch, als würde er ihm nicht glauben wollen. Saradoc nickte und wuschelte seinem Sohn durch das ohnehin schon zerzauste Haar. "Geht schon, ehe ich es mir anders überlege." Das ließen sich Frodo und Merry nicht zwei Mal sagen und waren mit einem Satz davon.
Merry packte seinen Vetter am Arm und zog ihn an den Tischen und Bänken vorüber, den Hang hinunter zum Fluss. "Frei!" rief er übermütig, als er sich das Hemd aufknöpfte, es zu Boden warf und dann mit Anlauf in den Fluss sprang. Frodo kicherte und schüttelte den Kopf, als Merry wieder auftauchte und seine nassen Haare schwungvoll zurückwarf. Glitzernde Wassertropfen spritzten in alle Richtungen. "Du bist verrückt", ließ ihn Frodo mit einem Schmunzeln wissen, knöpfte aber ebenfalls sein Hemd auf, um anschließend am Ufer Platz zu nehmen und seine Beine ins Wasser hängen zu lassen. Es war kühl und erfrischend. Noch dazu wehte hier unten ein beständiger, leichter Wind und nicht nur der gelegentliche Luftzug, der weiter oben bei den Vorbereitungsarbeiten für Abkühlung sorgte. Frodo seufzte zufrieden, stützte sich mit den Händen im Gras ab und lehnte sich zurück. Merry schickte eine Flut Wasser in seine Richtung, die ihn prompt von oben bis unten nass spritzte und ihn erschrocken zusammenzucken ließ. Murrend wies Frodo seinen Vetter zurecht, doch Merry lachte nur. "Wenn du nur deine Beine baumeln lässt, wirst du von der wahren Erfrischung nie erfahren", meinte er in gespielt sachlichem Tonfall, "und ich wollte dir dieses Erlebnis nicht vorenthalten." "Herzlichen Dank!" ließ Frodo trocken verlauten und spritzte seinem Vetter ebenfalls Wasser ins Gesicht, woraufhin dieser den Kopf untertauchte, nur um Frodo kurz darauf in eine wilde Wasserschlacht zu verwickeln.
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Es war Mittjahrstag und die Sonne stand hoch am Himmel. Die Feierlichkeiten waren in vollem Gange und laute Gespräche, vermischt mit ebenso lautem Gelächter, erfüllten die Luft. Frodo hatte sich nach dem Mittagessen ein wenig von den noch immer speisenden Hobbits entfernt und sich auf dem Hang ausgestreckt. Über sich konnte er weiterhin die Stimmen der Hobbits hören, doch auch der Klang des Brandyweins drang hier an sein Ohr. Er seufzte zufrieden und blickte zum Himmel, wo die Sonne zwischen einigen weißen Wolken hervorlachte.
Frodo dachte an den Silberpfennig, den er vor einem halben Jahr von Fastred erhalten hatte. Am vergangenen Tag, als er nach Bockenburg gegangen war, hatte er ihn mit sich genommen, doch hatte er nichts gefunden, das er hätte kaufen wollen. In den Lithetagen blühte der Handel und meist versammelten sich die Hobbits der näheren Umgebung am ersten der beiden Lithe-Feiertage in Bockenburg, um dort ihre Waren anzupreisen. Frodo hatte einiges gesehen, angefangen vom Kinderspielzeug, über Kleidung, bis hin zu Pfeifenkraut und den dazugehörigen Pfeifen, doch nichts, wofür er seinen Silberpfennig hätte ausgeben wollen. Er hatte sich damals versprochen, etwas ganz Besonderes damit zu kaufen, doch nichts war ihm besonders genug erschienen, als dass er es hätte kaufen wollen. So hatte er den Pfennig abends wieder mit nach Hause genommen und ihn in einer kleinen Holztruhe verstaut, die er wiederum in seinem Nachtkästchen aufbewahrte.
Ein Lächeln stahl sich über seine Lippen, als einige Grashalme ihn am Nacken kitzelten. Frodo legte die Hände hinter den Kopf und schloss für einen Augenblick die Augen. Lautes Lachen drang an sein Ohr, woraufhin mehrere Bierkrüge aneinander geschlagen wurden. Es war Mittjahrstag und an jenem Tag wurde der Handel vergessen und nur noch das Feiern war wichtig. Es waren Schweine und Schafe geschlachtete worden, die nun über dem Feuer brieten und schon seit dem Morgen hatten sich die Hobbits aus Bockenburg, dem Brandyschloss und sogar einige, die vom Bruch angereist waren, hier auf der Wiese nahe des Flussufers eingefunden, um gemeinsam zu feiern.
"Frodo", Merry rannte auf ihn zu, ließ ihn verwundert den Kopf heben. "Die Spiele beginnen." Ein Grinsen stahl sich über Frodos Lippen und mit einem Satz war er aufgesprungen, um seinem Vetter wieder nach oben zu folgen. Die Spiele waren ein wesentlicher Teil des Feierns. Der Nachmittag gehörte den Kindern zwischen zwölf und zwanzig, die in Zweiergruppen gegeneinander antraten. Die Siegergruppe wurde am Ende des Tages mit einem Blumenkranz gekrönt. Da jedoch sehr viele Kinder den Spielen beiwohnten, konnten nicht alle gleichzeitig antreten und so waren einzelne Gruppen von zwölf bis zwanzig Kindern zusammengerufen worden, die im Laufe des Nachmittages die Spiele durchlaufen sollten.
Frodo und Merry zwängten sich zwischen den Bänken durch und erkämpften sich so ihren Weg zu den anderen Kindern, die sich bereits unter einem großen Holzstamm, dessen Rinde abgerieben worden war, versammelt hatten und auf sie warteten. An der Spitze des Stammes hing ein Blumenkranz an dem bunte Bänder befestigt worden waren, die im aufkommenden Wind flatterten. Frodo wusste nicht um die Bedeutung dieser Bänder. Alles, was ihm seine Eltern vor vielen Jahren einmal gesagt hatten, war, dass die Bänder für ihn eine größere Bedeutung haben werden, sobald er in seinen Tweens war. Mehr hatten sie ihm nicht sagen wollen, auch wenn er lange um eine Erklärung gebettelt hatte. Auch dieses Jahr war er nicht klüger geworden und er musste wohl oder übel darauf warten, bis er selbst in seinen Tweens war, um das Geheimnis der Bänder zu ergründen, auch wenn ihm das wenig zusagte.
"Trödler", schimpfte ihn Rubinie und stieß ihn spielerisch in die Rippen, als er sich neben sie stellte. Frodo warf ihr einen zornigen Blick zu, erwiderte jedoch nichts. Der Geruch des Feuers, das unweit des Stammes inmitten der Wiese entzündet worden war, stieg ihm in die Nase, als ein sanfter Wind zu wehen begann. Esmeralda trat mit einem Eimer zu ihnen. Sie hatte die Aufsicht dieser Runde übernommen. "In diesem Eimer sind Lose mit euren Namen darauf. Jeder wird nun ein Los ziehen und derjenige, dessen Name auf dem Los steht, wird für den heutigen Nachmittag sein Partner sein. Solltet ihr euch selbst ziehen, oder jemanden, der schon einen Partner hat, dürft ihr erneut ziehen", erklärte sie und deutete dann mit einem Kopfnicken auf Linda, ein zwölfjähriges Mädchen aus Bockenburg. "Du bist die Jüngste, Linda, also darfst du als Erste ziehen." Das Mädchen strahlte von einem Ohr zum anderen und griff in den Eimer, um das Los anschließend an Esmeralda weiterzureichen. Diese grinste noch breiter, als es Linda tat und zwinkerte ihrem Sohn zu. "Merry, Linda wird für heute Nachmittag deine Partnerin sein." Frodo konnte förmlich beobachten wie Merrys Gesichtsfarbe von einem gesunden Rot in ein blasses Weiß wechselte. "Das kann nicht sein!" rief er aus. "Kein Mädchen! Sie muss noch einmal ziehen!" Der junge Hobbit warf den anderen Kindern, die leise vor sich hin kicherten, wütende Blicke zu. Lindas Gesicht nahm dieselbe Farbe an, wie ihr rotes Kleid. Verlegen spielte sie mit einer ihrer blonden Locken. "Mama", versuchte Merry seine Mutter weiterhin zu überzeugen. "Sie ist ein Mädchen!" Er spukte das Wort förmlich aus. "Ich kann unmöglich mit einem Mädchen spielen." Merrys strafender Blick traf Frodo, der sich auf die Unterlippen biss, verzweifelt darum bemüht, sich das Lachen zu verkneifen. "Reiß dich zusammen, Meriadoc", mahnte Esmeralda. "Du wirst heute Nachmittag mit ihr spielen." Bei der Nennung seines vollen Namens wurde Merrys Gesichtsfarbe merklich dunkler und Frodo prustete los, unfähig, sich das Lachen länger zu verkneifen. Zu seiner Beruhigung stimmten andere in sein Gelächter ein, sodass er nicht der Einzige war, der Merrys strafenden Blick erntete. "Gregory, du wirst als nächster ziehen", bestimmte Esmeralda. Gregory war ein kräftig gebauter Junge aus Bockenburg, der ihnen heute, gemeinsam mit seinem vier Jahre älterem Bruder Mungo, Gesellschaft leistete. Auch er reichte sein Los an Esmeralda weiter, die daraufhin Madoc zu seinem Partner erklärte. "Das ist ungerecht", ließ Merry verlauten und ließ sich trotzig auf den Boden fallen. Linda sah ihn mit einem solch unschlüssigen Gesichtsausdruck zu ihnen herüber, dass Frodo nicht in der Lage war, sich das Kichern zu verkneifen. "Dir wird das lachen noch vergehen!" klagte Merry und verschränkte die Arme vor der Brust. "Das werden wir noch sehen", meinte Frodo und spitzte die Ohren, als Esmeralda Violas Partner verkündete. Es war Donna, Lindas älteste Schwester, deren helles Haar in der Sonne golden schimmerte. Minto zog als nächstes ein Los aus dem Eimer und erst nach dem dritten Versuch, hatte er jemanden erwischt, der noch keinem Partner zugeteilt worden war. Es war Ferdinand Maggot, von allen nur Ferdi genannt, Bauer Maggots ältester Sohn. Ein Seufzer der Erleichterung entwich Frodo. Auch wenn Maggots Kinder nicht der Bauer selbst waren, war er dennoch froh, nicht mit jemanden spielen zu müssen, der den unheilvollen Namen Maggot trug. Unwillkürlich lief ihm ein Schauer über den Rücken und er ertappte sich dabei, wie er sich verstohlen nach dem Bauer und dessen Hunden umblickte, auch wenn er nicht glaubte, dass dieser seine Haustiere ebenfalls mitgebracht hatte. Rubinie hatte inzwischen Marmadoc als Partner bekommen, was ebenfalls Gekicher hervorrief und die Mädchen leise flüstern ließ. Frodo wollte schon aufstehen, um sich ein Los zu holen, denn, wenn Esmeralda weiterhin nach dem Alter ging, wäre er der Nächste gewesen, doch sie schüttelte den Kopf. "Laura ist gleich alt", erklärte sie und deutete mit einem Kopfnicken auf Donnas und Lindas Schwester. "Wir werden dem Mädchen den Vortritt lassen, nicht wahr?" Frodo seufzte und stellte sich wieder neben Merry, der zu ihm aufblickte. "Ich hoffe sie zieht deinen Namen." "Das wird sie nicht", erklärte er seinem Vetter und hoffte inständig, dass er Recht behalten würde. So sehr er Merry um sein Schicksal belächelte, wollte er dennoch nicht dasselbe erleiden. Gespannt wartete er darauf, dass Esmeralda den nächsten Namen vorlas, doch Laura sorge für Spannung, indem sie zuerst sich selbst zog und anschließend Viola und Minto. Zu Frodos Erleichterung wurde dann aber Mungo zu ihrem Partner bestimmt und das Mädchen grinste von einem Ohr zum anderen, während Mungos Lippen ein entnervtes Seufzen entwich. Auch Frodo entwich ein Seufzen, allerdings eines aus Erleichterung. Er musste nicht mit Laura spielen, sondern bekam einen anderen Partner. "Nein!" Nelke schrie auf und Frodo hob überrascht den Kopf. "Können wir das bitte wiederholen? Ich will nicht mit ihm spielen!" Nelke nickte zu Frodo und ein plötzlicher Luftzug blies ihr ihre braunen Locken ins Gesicht. Frodo konnte spüren, wie er blass wurde. Neben ihm brach Merry in lautes Gelächter und Jubelgeschrei aus. Nur undeutlich konnte er hören, wie Esmeralda erklärte, dass er und Nelke die Einzigen waren, die übrig blieben. Nicht Nelke, nur nicht Nelke. "Nicht Nelke!" rief er aus und in seiner Stimme lag ein flehender Unterton, während er beinahe verzweifelt zu Esmeralda blickte. "Nichts da", antwortete sie rasch. "Ihr beide werdet genauso miteinander spielen, wie die anderen auch." "Aber…", begannen Frodo und Nelke gleichzeitig, doch ein Blick von Esmeralda brachte sie zum Schweigen. "Ist das Leben nicht schön?" fragte Merry, der inzwischen wieder vom Boden aufgestanden war und ihm brüderlich einen Arm um die Schultern legte. Ein überbreites Grinsen zierte sein Gesicht. Frodo warf ihm einen vielsagenden Blick zu, antwortete aber nicht und ging stattdessen zu Nelke, der er denselben, nicht gerade sehr glücklichen Blick schenkte. Wenn es schon ein Mädchen sein musste, warum dann ausgerechnet Nelke? Sie zog ihn schon seit seiner Kindheit auf, eine Tatsache, die, wenn er ehrlich war, auf Gegenseitigkeit beruhte, und mit ihr eine Gruppe zu bilden, konnte nur in einem Desaster enden.
Kurz darauf wurde mit den Spielen begonnen. Der Wettstreit fand ein Stück von Tischen, Bänken und dem Grillfeuer entfernt statt, sodass jene Hobbits, die kein Interesse an den Spielen der Kinder hatten, in Ruhe ihren Unterhaltungen und ihrem Genuss nachgehen konnten. Allerdings gab es auch einige interessierte Zuschauer und als Frodo sich umschaute, entdeckte er unter anderem Hanna und Marmadas mit ihren Kindern, ebenso wie Adamanta und ihren Sohn Berilac. Auch sein Großvater hatte sich unter die Zuschauer gemischt, was Frodo doch ein wenig verwunderte, denn für gewöhnlich interessierte sich Gorbadoc wenig für die Kinderspiele. Frodo betrachtete ihn einige Zeit, beobachtete, wie seine Augen über die Kinder und Zuschauer wanderten und erkannte, dass seinem Blick tatsächlich das nötige Interesse fehlte. Er hatte das schon mehrere Male beobachten können. Ein Teil seines Großvaters, das Leuchten in seinen Augen, war mit Mirabella gestorben, genau wie ein Teil von ihm mit seinen Eltern gegangen war. Frodo spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen und schluckte den Knoten, der sich in seinem Hals bildete. Sah man ihm das genauso deutlich an, wie er es gelegentlich an seinem Großvater erkennen konnte? Ein leichter Wind wehte ihm die Haare ins Gesicht und ließ in blinzeln. Als er die Augen wieder öffnete, war sein Großvater verschwunden und Frodo konnte ihn kurz darauf über das Gras gehen sehen. Offenbar war er auf dem Weg zum Feuer, welches in der Mitte der Wiese entzündet worden war. "Also gut", Nelke war so schweigsam gewesen, dass Frodo durch den Klang ihrer Stimme aufschreckte. "Für heute Nachmittag sind wir Partner, das heißt, keine neckischen Bemerkungen, kein sich gegeneinander ausspielen und vor allem keine dummen Kommentare." Der Ernst der dabei ihn ihrer Stimme lag, brachte Frodo zum Schmunzeln, doch das entschlossene Funkeln in ihren grünbraunen Augen ließ ihn unwillkürlich zurückweichen und er hob schützend die Hände. Schweigend ließ er sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Sie klangen durchaus vernünftig und wenn sie vorhatten, zu gewinnen, wäre es bestimmt nicht schlecht, zumindest ein wenig aufeinander einzugehen. Natürlich wäre das alles mit Merry viel einfacher, doch da sein Vetter eine andere Partnerin hatte, blieb ihm wohl oder übel nichts anderes übrig, als sich auf Nelkes Vorschlag einzulassen. Das Mädchen streckte ihm bereits eine Hand entgegen und sah ihn erwartungsvoll an. Ein Grinsen stahl sich über Frodos Lippen. "Also gut", sagte er schließlich und der Wind spielte mit seinen Haaren, "aber nur für heute Nachmittag." Sie nickte. "Natürlich", ihre Stimme klang beinahe entrüstet. "Länger halte ich das ohnehin nicht aus." Sie lachten beide und Frodo legte seine Hand in die ihre, um das Versprechen zu besiegeln.
Der Wettstreit begann mit einem Rennen im Sackhüpfen. Esmeralda behielt jeweils eine Person einer Gruppe bei sich, während sich die andere Hälfte ein wenig entfernt bei Rosamunde aufstellte. Rosamunde hatte beschlossen, Esmeralda ein wenig zu unterstützen, da es bei einem solchen Wettstreit schwer war, alle sieben Gruppen im Auge zu behalten. Frodo stand nun gemeinsam mit Linda, Gregory, Minto, Viola, Laura und Rubinie vor Rosamunde und blickten zu den anderen, die bereits in Jutesäcke geschlüpft waren und darauf warteten, dass Esmeralda das Startzeichen gab. Dann, mit einem lauten "Los!", setzten sich die sieben Kinder in Bewegung und hüpften mit großen Sprüngen über das saftig grüne Gras der Wiese. Rasch hatte sich Marmadoc an die Spitze der kleinen Gruppe gesetzt und die Zuschauer jubelten ihm zu, während sie zugleich die anderen zu einem schnelleren Tempo anspornten. Frodo feuerte Nelke an, die den Sack mit beiden Händen an ihrem Bauch verschlossen hielt und hinter Marmadoc hersetzte. Sie war gleich auf mit Merry, der auf der anderen Seite von Marmadoc versuchte, mit ihm gleichzuziehen. Madoc und Mungo waren dicht hinter ihnen, während Donna und Ferdi den Abschluss bildeten. Marmadoc hatte inzwischen seinen Abstand vergrößert, während Nelke ein wenig zurückgefallen war und nun den dritten Platz besetzte. Frodo feuerte sie lauthals an, während neben ihm, nicht weniger laut, die Namen der anderen gerufen wurden. Marmadoc sprang mit einem geschickten Sprung aus seinem Jutesack und reichte ihn an Rubinie weiter, die kurz darauf wieder zu Esmeralda zurückhüpfte. Frodo konnte aus den Augenwinkeln erkennen, wie auch Merry aus seinem Sack kletterte, da stolperte ihm Nelke auch schon keuchend entgegen. Rasch schlüpfte er in den Jutesack und nahm die Verfolgung von Linda und Rubinie auf. Mit großen Sprüngen setzte er über die Wiese, wobei der Jutesack ihn an den Beinen kratzte und die Anfeuerungsrufe der Zuschauer in seinen Ohren klangen. Das Ziel rückte näher, als Frodo um ein Haar gestolpert wäre, das Gleichgewicht aber im letzten Augenblick wiedererlangen konnte. Er spürte, wie ihm heiß wurde und sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn und unter seinen Armen bildeten. Linda hatte er inzwischen erreicht und war ohne Mühe an ihr vorüber gezogen, doch Rubinie konnte er nicht mehr einholen, denn diese setzte gerade zu ihrem letzten Sprung an. Frodo stolperte kurz nach ihr über das Seil, welches als Ziellinie diente und fiel der Länge nach hin. Erschöpft keuchend kletterte er aus dem Sack, wischte sich den Schweiß von der Stirn und krempelte seinen linken Ärmel zurück. Er lächelte, ein zweiter Platz war gar kein schlechter Anfang. "Tollpatsch!" Nelkes dunkler Schatten ragte über ihm auf und er blickte gleichgültig zu ihr empor. "Wenn du schneller gesprungen wärest, hätten wir sie besiegt", ließ er sie trocken wissen, während er sich daran machte, auch seinen rechten Ärmel zurückzukrempeln. "Außerdem", erinnerte er sie und stand schließlich vom Boden auf, "haben wir eine Abmachung." Nelke verdrehte mit einem Seufzen die Augen und Frodo setzte ein siegreiches Grinsen auf.
Als nächstes hatten sie einen Hindernislauf zu bewältigen. Die ersten Stroh- und Heuballen waren ausgelegt und aufgestapelt, um den Kindern als Hürden zu dienen. In einigen Abständen waren auch Bänke aufgestellt worden, unter denen sie entweder durchzukriechen hatten oder ebenfalls darüber springen mussten. Ferdi hatte bei einer der Bänke zu wenig Schwung genommen, hatte sich das Knie aufgeschürft und war heruntergestürzt, doch ansonsten ging auch dieses Spiel recht ereignislos vorüber. Frodo und Nelke erreichten, dank ihrer gegenseitigen Anfeuerungen und der lauten Zurufe der Zuschauer, den ersten Platz. Frodo grinste, als er keuchend wieder zu Atem kam. Es versprach, ein ausgesprochen guter Tag zu werden. Nelke stand neben ihm und grinste ebenfalls. Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und ließ ihre Hand dann, wie zufällig, durch ihre Haare gleiten, um eine Strähne hinter ihr Ohr zu streichen. Frodo blickte rasch in eine andere Richtung, als ihm auffiel, dass er sie beobachtete, und spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Ein leichter Luftzug kam auf und er streckte dem kühlen Wind dankbar sein Gesicht entgegen. Er konnte nur hoffen, dass ihn niemand gesehen hatte. "Es ist schrecklich!" Das war Merrys verzweifeltes Seufzen und nur Sekunden nachdem Frodo die Stimme seines Vetters vernommen hatte, spürte er das Gewicht dessen Kopfes auf seinen Schultern. Ein dünner Schweißfilm hatte sich auf Merrys Stirn und seinen Wangen gebildet. Frodo schielte mit einem besorgten Lächeln auf ihn hinab und legte einen Arm um seine Schultern. "Wie soll man denn mit Linda als Partnerin etwas gewinnen können?", klagte er und ein verzweifeltes Seufzen entwich seinen Lippen. Merry und Linda hatten beim Hindernislauf nur den zweitletzten Platz belegt und selbst den nur, weil Ferdinand gestürzt war. "Sie stellt sich so dumm an", jammerte Merry weiter. "Das kann nur ein Mädchen fertig bringen." Nelke stieß ihn so fest in die Rippen, dass er stolperte und der Schlag beinahe Frodo zu Boden geworfen hätte. "Was soll das?!" schimpfte Merry. Nelke sah ihn erbost an. "Du hast keine Ahnung, wie dumm ihr Jungs euch aufführt." "Wir haben eine Abmachung", erinnerte Frodo sie streng und zog dabei fordernd eine Augenbraue hoch. "Ja", Nelke nickte, "wir haben eine Abmachung, aber ich habe keine mit Merry." "Merry steht unter meinem Schutz", bestimmte Frodo und zog seinen Vetter zu sich. Merry blickte verwirrt von einem zum anderen, erklärte dann, dass er sie vielleicht doch besser alleine lassen sollte und machte sich, mit einem frechen Augenzwingern in Frodos Richtung, wieder auf dem Weg zu Linda. Frodo musste entsetzt feststellen, dass ihm erneut eine plötzliche Wärme ins Gesicht schoss und wandte rasch den Blick von Nelke ab, die ihrerseits den Kopf weggedreht hatte.
Als nächstes folgte das Drei-Bein-Rennen. Mit einem Seil wurden den beiden Partnern die Beine zusammengebunden, ehe sie im Zick-Zack um einige aufgestellte Holzblöcke laufen mussten. Eine Übung, die Geschick und ein gutes Zusammenspiel erforderte. Frodo musste leider feststellen, dass er und Nelke von letzterem wenig besaßen. Schon kurz nach dem Start stolperte Nelke, weil sie beide ihren ersten Schritt mit dem rechten Fuß taten. Frodo konnte sie gerade nach am Arm packen und verhindern, dass sie der Länge nach im Gras landeten, wie es Merry und Linda taten. "Den äußeren Fuß zuerst", teilte Frodo Nelke mit, legte einen Arm um ihre Hüften und zog sie ganz einfach mit sich. Sie stieß seinen Arm von sich weg und als Frodo sich zu ihr umwandte, anstatt weiterhin auf die Holzblöcke auf dem Boden zu achten, erntete er einen Blick, der ihn inne halten ließ. Nelke mochte vielleicht wenig mit Marroc gemein haben, doch sie konnte nicht bestreiten, mit ihm verwandt zu sein. Ihr Blick war kühl und etwas daran erinnerte ihn so stark an seinen Peiniger, dass ihm unwillkürlich ein kalter Schauer über den Rücken lief. "Ich kann alleine gehen", ließ sie ihn bissig wissen und tat einen weiteren Schritt. Frodo wurde mit ihr mitgerissen und stolperte, wobei er Halt suchend nach Nelkes Ärmel griff und das Mädchen mit sich riss. Mit einem überraschten Ausruf landete Frodo auf dem Rücken. Nelkes Ellbogen traf ihn schmerzhaft in die Brust, ließ die Luft in seinen Lungen keuchend entweichen. Nelke wandte sich ihm zu, das kühle Funkeln noch immer in ihren Augen, und öffnete den Mund. Frodo war sich sicher, würde ihre Abmachung nicht bestehen, würde sie ihm nun irgendeine Gemeinheit an den Kopf werfen, doch so machte sie den Mund wieder zu, begnügte sich mit einem bösen Blick und versuchte mühsam, sich wieder aufzurappeln. Frodo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er ihren verzweifelten Versuch beobachtete, sich zu erheben, ihr das aber nicht gelang, weil er sich nicht mit ihr mitbewegte. "Frodo Beutlin", schalt sie ihn plötzlich und ihre Stimme ließ das Grinsen auf seinem Gesicht für einen Augenblick ersterben. "Wenn du nicht gleich aufstehst, vergesse ich unsere Abmachung." "Gewiss", sagte Frodo trocken und half ihr mühevoll, wieder auf die Beine zu kommen, während er sich von ihr mit hochziehen ließ. Zu seiner Überraschung schafften sie es dann tatsächlich für ganze drei Holzblöcke, im Gleichschritt zu gehen. Frodo wusste nicht, welchen Platz sie zurzeit belegten. Er war voll und ganz darauf konzentriert, nicht zu stolpern, bis Nelke plötzlich aus dem Takt kam und fiel. Frodo konnte sie nicht mehr auffangen und landete mit den Händen voraus im Gras. Bevor er überhaupt daran denken konnte, wie er am leichtesten wieder aufstehen konnte, spürte er Nelkes Hände an seinen Schultern, die ihn entschlossen wegstießen. "Runter von mir, du Tölpel von einem Hobbit!" schimpfte das Mädchen aufgebracht. Offensichtlich vergaß sie ihre Abmachung tatsächlich. Erst jetzt wurde Frodo klar, dass er auf Nelke gefallen war, die nun auf dem Rücken lag und verzweifelt versuchte, ihn von sich wegzustoßen. Erschrocken zog Frodo die Luft ein und während ihm die Röte ins Gesicht stieg, stützte er sich auf die Hände und versuchte, sich von ihr wegzurollen. In seinem Schrecken achtete er nicht darauf, in welche Richtung er sich drehen musste und so lag er zwar kurz darauf auf dem Rücken, hatte jedoch Nelke mit sich gezogen, deren linkes Bein noch immer mit seinem Rechten zusammengebunden war. Das Mädchen lag nun auf der Seite und Frodo konnte ihren Atem an seinem Hals spüren, eine Tatsache, die der Röte in seinem Gesicht nicht unbedingt entgegenwirkte. Sie sah ihn erbost an und doch glaube Frodo in ihrem Gesicht dieselbe Farbe zu erkennen, die sein eigenes zieren musste. "Das war die falsche Richtung." Mit diesen Worten setzte sich das Mädchen erneut in Bewegung und versuchte über ihn hinwegzuklettern, wobei sie peinlichst genau darauf achtete, weder seinen Oberkörper, noch seine Beine zu berühren, was ihr allerdings nicht ganz gelang. Frodo schlug das Herz bis zum Hals und inzwischen hatte die Wärme nicht nur sein Gesicht, sondern auch seine Ohren erreicht. Er glaubte nicht, jemals etwas Peinlicheres erlebt zu haben. Nicht einmal das Trommelspiel an Jul war ihm so unangenehm gewesen. Er hielt die Augen geschlossen, in der Hoffnung, diesem Augenblick so entgehen zu können, wagte nicht, sich umzusehen, aus Angst, jemand könne sie vielleicht beobachtet haben und nun über sie lachen. Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich Nelke von ihm weggedreht und spielte nervös mit einer ihrer Haarsträhnen. Sie sah hübsch aus, wenn sie das tat. Frodo schüttelte bestimmt den Kopf. Dieses Spiel musste dringend beendet werden, seine Gedanken fingen schon an, verrückt zu spielen. Er brauchte eine Abkühlung. "Es sind nur noch fünf weitere Holzblöcke, die wir umgehen müssen", erklärte er zögernd und bemerkte, dass sein Mund trocken war. "Lass uns das Spiel beenden."
Als letztes war Seilziehen geplant. Linda, Gregory, Minto, Viola, Laura, Rubinie und Frodo sollten gegen Merry, Madoc, Ferdinand, Donna, Mungo, Marmadoc und Nelke antreten. Eine Aufteilung, die Frodos Ansicht nach, alles andere als gerecht war, waren Marmadoc, Madoc und Mungo doch viel stärker, als er, Minto und Gregory. Noch dazu waren in ihrer Gruppe zwei Mädchen mehr. Sie stellten sich inmitten der Wiese, unweit des Feuers auf und zogen mit all ihrer Kraft an einem kräftigen Seil, das für gewöhnlich für die Ponys verwendet wurde. Der Wind wehte Frodo ins Gesicht, als er die Füße in den Boden stemmte und sich zurücklehnte, während seine Hände sich krampfhaft um Seil schlossen. Die rauen Fasern schürften seine Handflächen wund, als das Seil plötzlich mit einem Ruck aus seinen Händen gerissen wurde und er nach vor stolperte. Die andere Gruppe hatte sie besiegt.
Merry trat zu ihm und legte ihm einen Arm um die Schultern. "Immerhin habe ich einen Sieg errungen", triumphierte er. "Und Linda bin ich auch los." Ein Grinsen stahl sich über seine Lippen. "Lass uns zum Fluss hinunter gehen." Frodo hatte dem nichts hinzuzufügen. Für heute war er Nelke los und er bedurfte dringend einer Abkühlung. Alleine der Gedanke an das Drei-Bein-Rennen ließ ihn erneut erröten und sich peinlich berührt fühlen. Er konnte nur froh sein, dass Merry davon nichts mitbekommen hatte. Sein Vetter würde ihn sonst vermutlich wochenlang damit aufziehen. Am Fluss konnten sie auf andere Gedanken kommen, ehe sie sich abends am Feuer wieder treffen würden, um die Sieger zu küren.
Author notes: Ihr merkt bereits, es dauert wieder etwas länger bei den Updates. Leider wird sich daran in der Zukunft auch nichts ändern. Ab Mitte Oktober werde ich studieren. Im Augenblick stecke ich schon in den Vorbereitungen für mein Studium und in zwei Wochen geht es dann richtig los. Ich werde natürlich trotzdem an der Geschichte bleiben und ihr könnt euch bestimmt auf neue Kapitel freuen, allerdings wird es leider wieder etwas länger dauern. Außerdem habe ich kein eigenes Internet mehr, was die Sache zusätzlich erschwert, aber ich werde versuchen, euch so oft wie möglich mit neuen Kapiteln zu versorgen.
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Kapitel 53: Errungene Siege
Frodo schlotterte, als er aus dem Wasser trat. Der Nachmittag war schon fast vorüber und bald würden sie alle zurück gerufen werden, damit die Sieger verkündet werden konnten. Ein frischer Windhauch strich über seinen nassen Oberkörper und Frodo konnte spüren, wie er eine Gänsehaut bekam. Er schlang die Arme um die Brust und rieb die Wassertropfen von seinen Armen. Bald nachdem er mit Merry zum Fluss gegangen war, hatten Madoc, Minto und Marmadoc ihnen Gesellschaft geleistet und waren schwimmen gegangen. Frodo war, wie üblich, am Ufer geblieben, doch kaum waren die anderen zurückgekehrt, war das erneute Zusammentreffen in eine wilde Wasserschlacht ausgeartet, die beinahe den ganzen Nachmittag angedauert und alle fünf Hobbits völlig durchnässt zurückgelassen hatte. "Frodo, komm zurück", jammerte Merry, der im Wasser stand und nicht weniger zitterte, als sein Vetter. Das Wasser tropfte ihm von den braunen Locken und sein Gesicht glänzte im Sonnenlicht. Dort, wo der Wind das Wasser kräuselte, schimmerte der Fluss golden und die Gestalten von Merry, Minto und Madoc hoben sich wie dunkle Schatten davon ab. Marmadoc hatte sich bereits etwas weiter über ihnen ins Gras gelegt und ließ sich von der Sonne trocknen. Frodo drehte sich zu den anderen um, wobei ihm ein Wassertropfen über Stirn und Nase rann. "Später vielleicht." Mit raschen Bewegungen rieb er sich noch mehr Wasser von den Armen und fröstelte erneut, da der Luftzug stärker wurde. Er hatte sich abgekühlt, allerdings auf eine andere Weise, als er vermutet hatte, und nun war ihm beinahe zu kalt. Das Wasser alleine war schon kühl genug und der frische Wind tat sein übriges. Mit raschen Schritten ging Frodo den Hang hinauf, ließ sich neben Marmadoc ins Gras fallen, schob die Hände unter den Nacken und blickte zum Himmel. Es war ein strahlender Tag. Kaum eine Wolke war zu sehen. Die Sonne schien warm auf sein Gesicht und es dauerte nicht lange, da war seine Gänsehaut verschwunden und nur mehr einzelne Wassertropfen glitzerten auf seiner Haut. Einzig seine Hose und seine Haare brauchten länger, um zu trocknen. Frodo schielte einige Male zu Marmadoc, doch sein Vetter hatte die Augen geschlossen, und auch wenn er nicht zu schlafen schien, wollte Frodo ihn nicht stören und schwieg, während er dem Platschen, Plantschen und Lachen der drei Hobbits im Fluss lauschte. Gelegentlich drangen auch Fetzen von lauteren Gesprächen und Gelächter der Feierlichkeiten über ihnen an sein Ohr, doch Frodo achtete nicht darauf, bis ein Schrei erklang. Überrascht hob er den Kopf und wandte sich um. Auch Marmadoc war aus seinen Tagträumen erwacht und blickte verwundert den Hang hinauf. Nelke und Rubinie kamen auf sie zugestolpert. Hinter den Mädchen, am oberen Ende des Hanges, tauchte Reginard auf, der ihnen hinterher rief, sie sollten sich gefälligst aus Angelegenheiten heraushalten, die sie nichts angingen. Nelke streckte ihrem Bruder die Zunge raus, doch dieser hatte ihnen bereits den Rücken zugekehrt und ging davon. Frodo runzelte die Stirn und beobachtete das Mädchen, als es neben ihm zum Stehen kam, aber noch immer den Hang hinauf schielte, als fürchte es, Reginard könne zurückkehren. Nelke atmete erleichtert auf und schloss einen Augenblick die Augen, während Rubinie neben ihr dasselbe tat. Marmadoc schüttelte den Kopf, legte sich wieder hin und schloss ebenfalls die Augen, um erneut in seinen Tagträumen zu versinken. Frodo aber lehnte sich auf seine Ellbogen und grinste von einem Ohr zum anderen. "Unsere Abmachung ist nichtig, nicht wahr?", fragte er gelassen, woraufhin Nelke ihn verwirrt ansah. Er grinste noch breiter. "Natürlich ist sie das", ließ sie ihn wissen. "Die Spiele sind vorüber und ich muss mich nicht länger mit dir beschäftigen. Das wäre ja noch schöner!" Frodo schaute verletzt drein, doch kehrte das freche Grinsen rasch auf sein Gesicht zurück, während er sich aus dem Gras erhob. Der Wind spielte mit seinem Haar, als er an Nelke herantrat. "Das ist sehr gut", meinte er trocken, "dann kann ich also tun, wonach mir der Sinn steht, nach diesem anstrengenden Nachmittag mit dir." Nelke runzelte die Stirn und wandte sich zu ihm um, als Frodo hinter sie trat. "Fragt sich nur, für wen er anstrengender war. So tölpelhaft, wie du dich benommen hast, könnte man meinen…" Der Rest ging in einem erschrockenen Schrei unter. Frodo hatte sich erneut hinter sie gestellt und nach ihren Armen gegriffen, die er Nelke vor ihrem Körper überkreuzte, ehe er sie langsam, aber bestimmt in Richtung Fluss schob. Rubinie wollte ihrer Freundin natürlich verteidigen, doch Frodo stieß sie mit der Schulter weg. Als sie einen zweiten Versuch starten wollte, wurde sie von Minto und Madoc aufgehalten, die ihrerseits Frodo zu Hilfe geeilt waren, als sie erkannt hatten, dass sich die Mädchen in ihr kleines Reich vorgewagt hatten. Rubinie schrie überrascht auf und schlug um sich, war jedoch unfähig, sich zu befreien. Nelke versuchte gar nicht erst, sich aus Frodos Griff zu winden. Es wäre ihr nicht gelungen. "Was immer du vor hast, lass es", warnte sie, als sie in Frodos noch immer grinsendes Gesicht blickte, woraufhin dieser nur noch breiter lächelte und nickte. Ein Leuchten war in Frodos Augen getreten und dieses Glimmen verriet Nelke, dass sein Nicken keineswegs ernst gemeint war. Sie hatten inzwischen das Flussufer erreicht und das Gras unter ihren Füßen gab ein wenig nach und ließ ein sumpfiges Geräusch vernehmen, denn es war im Laufe der Wasserschlacht überschwemmt worden. Frodo blieb stehen, strahlte immer noch von einem Ohr zum anderen und wartete darauf, dass Minto und Madoc, die selbst vor Nässe trieften, Rubinie neben Nelke aufstellten. "Und was jetzt?", wollte diese wissen, zog fragend eine Augenbraue hoch und drehte sich zu Frodo um. Dieser kicherte und zwinkerte ihr schadenfroh zu. "Merry, tu deine Pflicht", sagte er dann ruhig und wandte den Blick seinem Vetter zu, der mit einem ebenso breiten Grinsen im Wasser saß und scheinbar nur auf sein Zeichen gewartet zu haben schien. Merry nickte ihm höflich zu. "Wie Ihr wünscht, werter Vetter!" Dann fuhr er mit einer raschen Handbewegung über die Wasseroberfläche, woraufhin Wasserfontänen in alle Richtung spritzten und in bunten Farben glitzerten. Rubinie und Nelke schrieen auf und wandten die Köpfe zur Seite. Merry wiederholte den Vorgang und kurz darauf standen Nelke und ihre Freundin tropfnass am Flussufer. Frodo selbst war nur von einigen Wasserspritzern an Armen und Füßen erwischt worden, denn er hatte sich so gut es ging hinter Nelke und ihrem Kleid versteckt, um nicht selbst dem Wasser zum Opfer zu fallen, nachdem er erst mühevoll getrocknet war. Mit einem erfreuten Lachen gab er Nelke aus seinem Griff frei und spurtete den Hang hinauf, ehe sich das wutentbrannte Mädchen auf ihn stürzen konnte. "Frodo Beutlin! Das wirst du mir büßen!" rief sie aufgebracht und setzte ihm hinterher. Madoc und Minto lachten, waren dabei einen Augenblick lang unvorsichtig, sodass Rubinie entkommen konnte. Diese sprang wutentbrannt ins Wasser, stürzte sich auf Merry und tauchte ihn unter.
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Als sich Frodo und die anderen Kinder wieder unter dem Stamm versammelt hatten, an dessen Spitze ein Blumenkranz hing, der mit Bändern bestückt war - dem Bänderbaum, wie Frodo ihn für sich nannte - hing der Duft eines gegrillten Schweins in der Luft. Bald war es Zeit für das Abendessen, und das Schwein, welches dafür vorgesehen war, wurde bereits seit Stunden über dem Feuer gebraten. Rosamunde und ihr Gatte Willibert hatten die Hauptverantwortung dafür übernommen und Frodo konnte beobachten, wie die beiden immer wieder zum Feuer schielten und sich darin abwechselten, den Spieß zu drehen. Die meisten der anwesenden Hobbits hatten sich ebenfalls um den Bänderbaum versammelt, da sie dabei sein wollten, wenn Saradoc die Sieger kürte. Es war ein besonderes Ereignis für jedes Kind und jeder wollte mindestens einmal in seinem Leben zum Spielkönig am Mittjahrstag gekrönt werden. Für Frodo war dieser Wunsch bisher nie in Erfüllung gegangen. Er machte sich auch dieses Mal keine großen Hoffnungen, auch wenn der Nachmittag gar nicht so schlecht begonnen hatte. Seine Augen suchten unwillkürlich nach Nelke, die ihm gegenüber stand und damit beschäftigt war, ihm böse Blicke zuzuwerfen. Ihr Kleid war noch nicht vollständig getrocknet und ihre braunen Haare waren zerzaust, denn als sie Frodo schließlich erwischt hatte, waren sie gemeinsam den Hang hinunter gepurzelt und erneut von Merry, Madoc und Minto nass gespritzt worden. Frodo grinste sie unschuldig an, woraufhin Nelke ihm die Zunge herausstreckte. Merry hatte ihn beobachtet und kicherte. "Denkst du, wir könnten später auch Linda zum Fluss hinunter bringen und dort nass spritzen? Ich glaube, nach diesem Nachmittag würde mir das die nötige Genugtuung verschaffen." "Du kannst es versuchen", meinte Frodo, hatte allerdings wenig Hoffnung von dem Mädchen zum Fluss begleitet zu werden. "Sollte es dir gelingen, werde ich dir auf alle Fälle behilflich sein." Saradoc war es, der ihr Gespräch unterbrach und sie aufblicken ließ. Der Herr von Bockland hatte sich mit seiner Gattin in der Mitte des Kreises, den die Kinder und Zuschauer bildeten, aufgestellt, und berichtete nun vom Verlauf der Spiele. "Der Sieg fiel dieses Jahr ausgesprochen knapp aus", erklärte er und blickte mit einem Grinsen in die gespannten Kindergesichter. "Unsere Nachbarn aus Bockenburg, Mungo und Laura, haben nur um einen Punkt den ersten Platz verfehlt." Das Leuchten, das Saradocs Worte auf die Gesichter von Laura und Mungo gezaubert hatte, erlosch ebenso schnell, wie es gekommen war. Frodo wurde aufgeregt. So gering seine Hoffnungen auch waren, konnte er es nicht erwarten, zu erfahren, wer nun den Sieg errungen hatte. Merry und vielen anderen schien es ebenso zu ergehen, denn keiner sprach mehr ein Wort. Wie gebannt hingen die Hobbits an Saradocs Lippen und warteten darauf, dass dieser das Ergebnis verkündete. "Auch dieses Jahr bleiben die Siegerkronen im Brandyschloss", fuhr er fort. Frodo erinnerte sich daran, wie Marmadoc und Madoc im vergangenen Jahr den Kranz aus Margeriten aufgesetzt bekamen und fragte sich, ob auch dieses Jahr einer der beiden gewonnen hatte. Er schielte zu den Jungen hinüber. Die Augen der beiden Hobbits leuchteten hoffnungsvoll und Frodo wusste, dass ihnen dasselbe durch die Köpfe ging. "Ich möchte Nelke und Frodo zu mir bitten, damit ich ihnen die Blumenkränze aufsetzen kann", beendete Saradoc seine Rede und blickte zuerst zu Nelke, dann zu Frodo. Frodo stockte der Atem und für einen Augenblick setzte sein Herzschlag aus. Hatte er sich auch wirklich nicht verhört? Er blieb wie versteinert stehen, hörte nur gedämpft, wie Merry ihm gratulierte, ehe Esmeralda ihn in die Mitte des Kreises zog. "Ich gratuliere", sagte sie mit einem Lächeln und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Frodo wandte sich zu ihr um und bemerkte erst jetzt, dass ein überbreites Grinsen sein Gesicht zierte, das nicht wieder verschwinden wollte. Jeglichen Ärger vergessend, fiel Nelke ihm jubelnd um den Hals. Frodo teilte ihre Freude und strahlte über das ganze Gesicht, ehe ihm überhaupt bewusst wurde, was geschehen war. Die anwesenden Hobbits klatschten lauten Beifall, während Saradoc ihnen die Blumenkränze aus Margeriten aufsetzte und sie zu ihrem Sieg beglückwünschte. Auch der Herr von Bockland strahlte von einem Ohr zum anderen, doch Frodo bemerkte es kaum. Er war zu sehr damit beschäftigt, seinen Blick über die klatschenden Zuschauer schweifen zu lassen. Er hatte es tatsächlich geschafft, Spielkönig am Mittjahrstag zu werden. Sein Herz jubelte vor Freude, als Nelke plötzlich seine Hand ergriff und sie in die Höhe streckte, um ihrem Triumph Ausdruck zu verleihen. Ein weiteres Mal ließ Frodo seinen Blick über die Menge schweifen und plötzlich wünschte er sich nichts mehr, als dass seine Eltern ihn nun sehen könnten. Was würde er dafür geben, wenn sie nun bei ihm wären, um seinen Sieg mitzuerleben. Und wenn nicht seine Eltern, dann wenigstens seine Großmutter. Sie sollte bei seinem Großvater stehen, der zwar jubelte und lachte, doch ohne jegliche Freude in seinem Blick zu zeigen, und dafür sorgen, dass das Lachen des alten Hobbits auch seine Augen erreichte. Während Frodo seinen Großvater beobachtete, wurde sein Herz plötzlich schwer und das fröhliche Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Er hätte die Hand sinken lassen, hätte Nelke sie nicht noch festgehalten. Wie konnte er seinen Sieg genießen, wenn drei der wichtigsten Menschen in seinem Leben nicht hier waren, um mit ihm zu feiern? Was bedeutete ein Sieg im Vergleich zum Leben seiner Eltern, seiner Großmutter? Unwillkürlich suchten seine Augen nach jenen, die ihm am liebsten waren, doch stattdessen fanden sie Marroc. Der ältere Hobbit applaudierte nicht, sondern bedachte ihn mit einem kalten, abschätzigen Blick, der Frodo einen Schauer über den Rücken jagte und ihn hätte zurückweichen lassen, wären nicht so viele andere um sie herum gestanden. Rasch wandte er den Blick von seinem Peiniger ab, wobei seine Augen auf Merimas fielen, der klatschend und jubelnd vor seiner Mutter und seiner Schwester stand. Das Lächeln kehrte auf Frodos Gesicht zurück und er zwinkerte dem Kind zu. Auch wenn die, die ihm am wichtigsten waren, nicht hier sein konnten, gab es doch andere, die den Augenblick mit ihm teilten und genossen. Überrascht wandte sich Frodo um, als Rosamunde ihn anrempelte. Sie entschuldigte sich rasch, ehe sie an Saradoc herantrat, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Frodo runzelte die Stirn und sah den Herrn von Bockland fragend an. Saradoc lächelte ihm zu, hob dann die Hand um dem fortwährenden Applaus Einhalt zu gebieten und verkündete, dass das Abendessen nun bereit stünde, woraufhin sich die Menge rasch verstreute und sich jeder einen Platz auf den aufgestellten Bänken suchte.
Frodo machte es sich mit Merry neben dessen Eltern gemütlich und langte kräftig zu. Merimas saß, unweit von ihm entfernt, mit seiner Familie ebenfalls an ihrem Tisch und Frodo konnte es nicht lassen, mit dem Kind herumzualbern, indem er Grimassen schnitt und mit seinem Essen spielte, bis Saradoc ihn ermahnte, damit aufzuhören, das Kind auf dumme Ideen zu bringen. Mit einer unschuldigen Miene machte Frodo sich daran, ein Stück Fleisch abzuschneiden, wobei er Merry, der verzweifelt versuchte, nicht zu lachen, einen verstohlenen Blick zuwarf und in sich hinein grinste.
Das Bier floss in Strömen, als der Abend dahin zog und die Sonne langsam unterging, wobei sich ihr rotes Licht auf dem Brandywein spiegelte. Die Gespräche, die während dem Essen zurückgegangen waren, entflammten von neuem und an allen Ecken und Enden konnte man die Hobbits lachen und reden hören. Frodo war mit Merry zum Feuer gegangen, hatte sich dort ins Gras gesetzt und spielte mit dem Blumenkranz in seinem Haar. Das Feuer warf dunkle Schatten auf sein Gesicht, während die Sonne sich immer tiefer senkte und das Land der Nacht übergab. Kleine Rauchwölkchen stiegen vom Feuer auf und ließen die Umgebung seltsam flimmern. "Ich beneide dich darum", sagte Merry plötzlich mit einem Seufzen und ließ seine Finger über den Blumenkranz in Frodos Haar gleiten. Die weißen Blüten schienen förmlich zwischen den dunklen Locken herauszuleuchten. Frodo lächelte. "Du wirst es auch noch schaffen, Merry, keine Sorge. Vielleicht schon nächstes Jahr." "Wie denn?", klagte Merry und blickte missmutig ins Feuer. "Wenn ich wieder so eine dumme Partnerin bekomme, wie Linda, werde ich niemals Spielkönig." "Du willst damit hoffentlich nicht sagen, dass Nelke eine bessere Partnerin ist?", fragte Frodo und zog eine Augenbraue hoch. "Natürlich!" meinte Merry. "Sie bemüht sich immerhin, was man von Linda nicht behaupten kann." "Ich bin sicher, Linda hat sich auch bemüht", erklärte er aufmunternd und ließ seinen Blick wieder zu den Flammen wandern. "Außerdem kann es nicht halb so anstrengend sein, den Nachmittag mit Linda zu verbringen, als sich mit Nelke abgeben zu müssen." Er verdrehte die Augen und seufzte gequält, als ihm plötzlich jemand mit der flachen Hand auf den Hinterkopf schlug. Überrascht wandte Frodo sich um, bereit, seinen Angreifer zurechtzuweisen. Er wusste, dass es keineswegs Marroc sein konnte, der ihn geschlagen hatte. An einem Platz wie diesem würde der Hobbit es nicht wagen, ihm zu nahe zu kommen. Dennoch war er überrascht, als Nelke sich neben ihn setzte und ihm erklärte, dass sie seine frechen Kommentare ausnahmsweise erlauben würde, aber nur, weil sie dank seiner Unterstützung die Blumenkrone tragen durfte. "Das stimmt", neckte Frodo zustimmend, "ohne mich wärest du nie soweit gekommen." Er grinste frech, hielt sich aber rasch die Hände vors Gesicht, um nicht erneut geschlagen zu werden. Merry kicherte und erntete dafür die neckische Ohrfeige, die für Frodo bestimmt war, was ihn sogleich verstummen ließ. Er lehnte sich zu seinem Vetter und murmelte kaum hörbar: "Du hast Recht, Nelke ist schlimmer." Frodo kicherte und nickte, setzte aber rasch einen unschuldigen Gesichtsausdruck auf, als Nelke ihm einen strengen Blick zuwarf.
Saradoc lehnte am Bänderbaum und beobachtete die jungen Hobbits am Feuer. Die Sonne war inzwischen untergegangen und die Gesichter der Kinder wurden nur vom Licht der züngelnden Flammen erhellt und dennoch war Saradoc sicher, glückliche Gesichter mit leuchtenden Augen zu sehen. Vor allem das Lachen in Frodos Gesicht erfreute ihn. Nach Mirabellas Tod hatte er sich große Sorgen um den Jungen gemacht und war erleichtert gewesen, als Bilbo ihm am Abend nach der Beerdigung berichtet hatte, dass es Frodo besser ginge. Abende danach war er in Frodos Zimmer gegangen, doch der Junge wollte nicht mit ihm darüber sprechen. Auch Bilbo hatte wenig gesagt, denn auch ihm hatte Frodo sich nicht anvertraut. Alles, was er wusste, war, dass Frodo kurz vor ihrem Tod bei Mirabella gewesen war und mit ihr über Dinge gesprochen hatte, die er keinem anderen anvertrauen wollte. Selbst Bilbo hatte er darüber im Dunkeln gelassen und nichtsdestotrotz war es dem alten Hobbit gelungen, Frodo aus seinem Zimmer herauszulocken und dafür zu sorgen, dass er sich nicht länger verkroch. Zumindest nicht mehr, als es für Frodo üblich war. Ein Lächeln huschte über Saradocs Lippen, als er Frodo herumalbern sah und ein übermütiges Glitzern in seinen Augen erkannte. Bilbo hatte gesagt, er mache sich Sorgen um Frodo, meinte, es gingen Dinge in dem Jungen vor, die es zu erfahren galt, wichtige Dinge, die Frodo vor ihren Augen zerstören würden, wenn sie sich nicht darum kümmerten. Doch wenn er sich Frodo nun ansah, glaubte er nicht, dass er sich große Sorgen zu machen brauchte. Frodo war zwar verschlossener als andere, aber das war er schon immer gewesen. Oder konnte er sich nur nicht daran erinnern, wie Frodo früher gewesen war und hatte sich nur mit einer Veränderung abgefunden, die er noch nicht einmal richtig bemerkt hatte? Esmeralda trat an ihn heran und reichte ihm einen Krug Bier. Ihr helles Haar schimmerte golden im Licht des Feuers und der Sterne, als Saradoc einen Arm um ihre Hüften legte. "Es tut gut, sie so glücklich zu sehen", sagte sie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter wobei ihre Augen auf den Kindern ruhten. Saradoc nickte schweigend und nahm einen Schluck seines Bieres, als ein kühler Windhauch über die Wiese wehte. Ja, es tat gut, sie glücklich zu sehen und er konnte nur hoffen, dass Merry und Frodo noch lange so fröhlich würden bleiben können.
Kapitel 54: Sommertage
Frodo hing das Haar nass in die Stirn, als er mit geschlossenen Augen im Zuber saß und den Kopf zurücklehnte. Seine Wangen waren gerötet von der Arbeit in der Sonne und der feuchten und warmen Luft im Badezimmer. Kleine Dampfwölkchen hingen an der Decke, wo sie sich sammelten und darauf warteten, dass eine Tür geöffnet wurde, damit sie durch die Gänge des Brandyschlosses huschen konnten. Ein Feuer flackerte in der Feuerstelle inmitten des Raumes und erwärmte einen Topf mit Wasser. Esmeralda hatte zudem einige Lampen entzündet, da sie genügend Licht benötigte, um sowohl Frodo als auch Merry die Haare zu schneiden. Merry war bereits aus seinem Zuber gestiegen und saß, nur mit einer Hose bekleidet, auf einem Stuhl am anderen Ende des Zimmers. Den Kopf hatte er vornüber gebeugt, während seine Mutter mit einem Kamm die widerspenstigen, braunen Locken bändigte und ihnen mit der Schere zu Leibe rückte. Er lachte und redete mit Esmeralda, doch Frodo nahm seinen Vetter kaum wahr, als er sich noch ein wenig tiefer in das warme Wasser sinken ließ und die Augen schloss. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, war Marmadas und Merimac seit den frühen Morgenstunden bei der Heuernte behilflich gewesen und als er abends wieder nach Hause gekommen war, hatte er geglaubt, jeden einzelnen Muskel seines Körpers spüren zu können. Doch nun, im warmen Wasser, war es ihm gelungen, sich zu entspannen. Er sog den Duft von Lavendel und Bienenwachs tief in sich ein und seufzte leise. Auch wenn er glaubte, jeden Augenblick einzuschlafen, war er zufrieden und sein Herz war froh. Es war eine Menge Arbeit gewesen, doch Merry und er hatten sichergestellt, dass genügend Pausen den anstrengenden Tag auflockerten und verbrachten einen großen Teil damit, sich gegenseitig mit Heu zu bewerfen, anstatt es zu wenden, einzusammeln oder aufzuhängen. Madoc und Minto, die bei der Heuernte ebenfalls behilflich gewesen waren, unterstützten sie auch dabei kräftig. Es war ein warmer Tag gewesen und die Sonne hatte erbarmungslos auf sie herab gebrannt, doch gegen Abend waren erste Wolken aufgezogen und Frodo vermutete, dass es noch ein Gewitter geben würde.
Nach den Lithe-Feiertagen war es wärmer geworden und der Sommer war endgültig ins Land gezogen. Für Frodo war es ein schöner Sommer gewesen. Zwar hatte er viel auf den Feldern helfen und sich oft um die Tiere kümmern müssen, doch hatte unter all der Arbeit auch jede Menge Vergnügen Platz gefunden. Merry und er waren, wie jedes Jahr, oft zum Bruch gegangen und Merry hatte es sich nicht nehmen lassen, trotz Frodos Warnungen, das eine oder andere Mal Pilze aus Maggots Hof zu stehlen. Nicht selten war er dabei den Hunden nur knapp entkommen, doch bisher waren seine Raubzüge immer gut ausgegangen. Frodo hatte sich meist ebenfalls auf die Suche nach etwas Essbarem begeben und war dabei nicht selten auf dem Hof der Bäuerin gelandet, bei der er schon einmal Tomaten und Karotten mitgehen lassen hatte. Auch er war nie erwischt worden und so hatte er sich mit Merry an vielen Nachmittagen ein kleines, zusammen gesammeltes Festmahl gegönnt. Nun war der Sommer schon beinahe vorüber und bereits in einem Monat sollte er achtzehn werden. Noch immer nicht in seinen Tweens, aber immerhin ein Jahr näher. Ob Bilbo ihn wohl besuchen kommen würde? Frodo hoffte es sehr, denn er vermisste den alten Hobbit. Seit seinem letzten Besuch mehr denn je. Bilbo hatte getan, was keiner sonst vollbringen konnte. Er hatte ihm gleichzeitig seine Angst genommen, seine Trauer gelindert und ihm das gegeben, wonach er sich so sehr gesehnt hatte. Er hatte ihn umarmt, und die Wärme, die diese Umarmung mit sich gebracht hatte, hatte sich ohne sein Wissen tief in seinem Herzen eingebrannt, wo sie nun sehnsüchtig darauf wartete, von neuem entfacht zu werden. Nur selten ergriff diese Sehnsucht Besitz von ihm, oder wurde die Trauer in ihm wieder wachgerüttelt, doch dann blickte er zu den Sternen und lebte von der Erinnerung an seine Eltern, seine Großmutter und an die Wärme, die Bilbo ihm hatte zuteil werden lassen. Eine Wärme, die bei keinem anderen so stark war, ihn bei keinem anderen so sehr an seine Mutter erinnerte, wie bei Bilbo.
"Glaubst du, er schläft?" Frodo blinzelte, als er Merrys leise Stimme über sich hörte. Sein Vetter war über ihn gebeugt und blickte neugierig mit ausgesprochen kurzem, aber krausem Haar auf ihn herab. Frodo richtete sich auf und rieb sich den Nacken, der an der Kante des Zubers ruhte. "Ich schlafe nicht", ließ er seinen Vetter wissen, wobei er gegen ein Gähnen ankämpfte. Esmeralda sah zu ihnen herüber und nickte auf den leeren Stuhl. "Du bist an der Reihe." Mit einem kritischen Blick auf Merrys kurz geschnittenen Krauskopf deutete er ihr an, sich umzudrehen, ehe er nach einem Handtuch griff und aus dem Zuber stieg. "Du willst meine Haare doch nicht ebenso kurz schneiden?" Esmeralda lächelte. "Das hatte ich eigentlich vor." "Das ist zu kurz", ließ Frodo sie wissen, während er sich mit dem Handtuch trocken rieb und anschließend in seine Hose schlüpfte. "Wir werden sehen", erklärte sie. "Je kürzer du sie jetzt schneiden lässt, umso länger hast du hinterher Ruhe." Frodo drehte sich zu ihr um und erklärte, dass Merrys Haarschnitt für ihn trotzdem zu kurz wäre, was seinem Vetter ein leises Kichern entlockte. "Versuch es gar nicht erst, Frodo", teilte er ihm mit. "Sie macht ohnehin, was sie will." Vermutend, dass Merry Recht hatte, verfiel Frodo in Schweigen, als er seine Hose zuknöpfte und sich auf den Stuhl setzte. Merry wollte sich anschicken vor Frodo auf dem Fußboden Platz zu nehmen, um sich weiterhin mit seinem Vetter und seiner Mutter unterhalten zu können, doch Esmeralda hinderte ihn daran, indem sie ihm auftrug, zu seinem Vater zu gehen und ihm zu berichten, dass sie hier bald fertig war und er und Merimac anschließend baden konnten. Wenn er dies erledigt hatte, solle er in der Küche beim Aufräumen helfen. Merry starrte sie mit großen Augen an. Immerhin hatte er heute mehr als genug gearbeitet, als dass er auch noch in der Küche zu helfen brauchte, doch Esmeralda ließ sich nicht umstimmen. Während Merry das Bad murrend verließ, sah Frodo sie verwirrt an. "Warum schickst du ihn weg? Er hat heute genug gearbeitet und hätte mich nicht gestört." Esmeraldas hellbraunes Haar war von ihrem langen Aufenthalt im Badezimmer feucht geworden und hing ihr nun strähnig in die Stirn. "Ich möchte aber mit dir alleine sein und deshalb muss ich Merry anderweitig beschäftigen."
Frodo runzelte die Stirn und sah sie kritisch an. Wenn sie mit ihm alleine sein wollte, bedeutete das nichts Gutes. Immer, wenn jemand mit ihm alleine sprechen wollte, lief es darauf hinaus, dass dieser Jemand ihm Fragen stellte. Fragen, die er nicht beantworten wollte. Außerdem, was gab es für einen Grund mit ihm sprechen zu wollen? Es hatte keinen Streit gegeben, er hatte nichts angestellt, jedenfalls nichts wovon er wusste und selbst wenn, wäre es ohnehin Aufgabe von Saradoc, ihn zu bestrafen, und auch sonst gab es keinen Grund ein Gespräch unter vier Augen mit ihm zu suchen.
Esmeralda war gerade dabei, den Kamm durch Frodos dunkle Locken gleiten zu lassen, als sie spürte, wie der Junge sich verkrampfte. Sie seufzte leise. Diese Reaktion kannte sie nur zu gut. Frodo sprach nicht gerne mit jemandem alleine und manchmal fragte sie sich, wie Bilbo es schaffte, mit dem Jungen über das zu sprechen, was ihn beschäftigte. Sie wusste nicht genau, worüber sich Bilbo mit dem Jungen unterhielt, doch er schaffte es immer wieder, Frodo aufzuheitern, und manchmal beneidete Esmeralda ihn um diese Gabe. "Ich weiß, du sprichst nicht gerne mit jemandem allein. Ich würde mich trotzdem gerne mit dir unterhalten." "Worüber?" Seine Stimme klang misstrauisch und die Anspannung, die sie ihm förmlich ansehen konnte, ließ nicht nach. "Ich weiß nicht", entgegnete sie, setzte die Schere an und kürzte die ersten Locken. "Du scheinst mir heute Abend sehr still und betrübt zu sein." "Ich bin nur müde", antwortete Frodo und Esmeralda zweifelte nicht an der Wahrheit dieser Aussage, auch wenn das Frodos betrübten Gesichtsausdruck nicht erklärte. Sie schwieg einige Zeit und wartete darauf, dass die Anspannung nachließ, doch das tat sie nicht. Frodo schien nur auf ihre nächste Frage zu warten und sich bereit zu machen, allem auszuweichen, das ihm zu nahe kam. Nach Mirabellas Tod hatte sie oft versucht, mit ihm zu sprechen, doch Frodo hatte sich verschlossen, war Fragen, die er nicht beantworten wollte, ausgewichen oder hatte geschickte Gegenfragen gestellt, die vom eigentlichen Thema ablenken sollten. Auch später wollte sie ihn ab und an in ein Gespräch verwickeln, doch sobald sie auf Dinge zu sprechen kam, die Frodo zu nahe gingen, blockte er ab. Saradoc hatte ebenfalls versucht, sich mit dem Jungen zu unterhalten, doch ohne Erfolg. Er hatte ihr erzählt, was Bilbo ihm gesagt hatte, dass Dinge in dem Jungen vorgingen, die es zu erfahren galt. Auch wenn Frodo es sich nicht anmerken ließ, sobald sie ihn in ein Gespräch verwickeln wollte, wusste sie, dass Bilbo Recht hatte. Frodo hütete ein Geheimnis und so sehr sie es wünschte, konnte sie ihm nicht helfen, solange der Junge es ihr nicht anvertraute. Weshalb fürchtete er das Gespräch mit ihr? "Was geht dir durch den Kopf?", fragte sie unvermittelt, als sie eine weitere dunkle Locke abschnitt. Für einen Augenblick verkrampften sich Frodos Schultern stärker, doch dann entspannte er sich und sagte: "Ich habe nur nachgedacht." "Worüber?" "Nichts Wichtiges", war seine rasche Antwort, dann verfielen sie wieder in Schweigen.
Frodo wusste, sie würde nicht weiter fragen und selbst wenn sie es täte, könnte er ihr antworten, ohne weitere Fragen fürchten zu müssen. Er hatte über seinen Geburtstag nachgedacht und darüber, dass er den Tweens einen Schritt näher kam. Das war nichts, wofür es sich lohnte, weitere Fragen zu stellen. Esmeralda drückte seinen Kopf sanft nach vor. Er blickte zu Boden und spürte, wie die Zacken des Kammes über seinen Hinterkopf und seinen Nacken strichen. Frodo konnte es nicht verhindern, doch selbst nach vielen von Esmeraldas Haarschnitten und einigen weniger angenehmen, die von seiner Tante Asphodel durchgeführt worden waren, erinnerte ihn diese Art der Behandlung immer noch an seine Mutter. Als er jünger gewesen war, war er selbst am Nacken sehr kitzlig gewesen und seine Mutter hatte jedes Mal, wenn sie die Haare über seinen Nacken kämmen musste, eine Geschichte erfunden, um ihn abzulenken. Manchmal, wenn er lange vornüber gebeugt sitzen musste, hatte sie ihn anschließend mit ihren Fingern massiert, zumindest, wenn er so lange hatte stillsitzen können, was jedoch meist der Fall gewesen war. Für einen Augenblick schloss Frodo die Augen und gab sich der Erinnerung hin. Er spürte das kalte Eisen der Schere, die die Haare an seinem Nacken stutzten und fröstelte unwillkürlich.
Esmeralda stockte einen Augenblick, als er erzitterte. Mit gerunzelter Stirn beobachtete sie den Jungen, während sie den Kamm mit gleichmäßigen Bewegungen über seinen Kopf gleiten ließ. Sein Haar glänzte im goldenen Lichtschein und seine Wangen waren von der Sonne gerötet, doch sein Gesicht sah müde aus. Vielleicht war er wirklich nur erschöpft und sie sorgte sich unnötig. Sie unterdrückte ein Seufzen. Manchmal wünschte sie sich, sie würde Frodo ebenso gut verstehen, wie sie Merry verstand. Ihr Sohn konnte nichts vor ihr verheimlichen, denn sie sah es ihm sofort an, wenn etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Frodo hingegen war für sie ein Buch mit sieben Siegeln und sie war noch nicht einmal annähernd dabei, das erste dieser Siegel aufzubrechen. "Ich bin gleich fertig", sagte sie schließlich und schluckte, als sie die Schere erneut ansetzte. Frodo nickte nur schwach und ließ sie gewähren.
~*~*~
Vorsichtig drehte Merry den Knauf und schloss leise die Türe, als er in das Zimmer im östlichen Gang eintrat. Auf Zehenspitzen tapste er zum Bett auf der linken Seite des Raumes und grinste. Frodo lag mit dem Gesicht zur Wand in tiefem Schlummer. Seine Stirn ruhte auf dem Rücken seiner linken Hand, während seine rechte mit der Handfläche nach oben neben seiner linken lag. Für einen Augenblick fühlte Merry beinahe etwas wie Widerwillen, während er seinen Vetter betrachtete. Sollte er ihn wirklich aufwecken? Langsam und mit Bedacht kletterte er auf das Bett, bis er schließlich hinter seinem Vetter kniete und auf dessen schlafende Gestalt hinab blickte. Merry konnte sehen, wie sich Frodos Brust unter der Bettdecke in gleichmäßigen, tiefen Atemzügen hob und senkte. Die Sonne schien durch das kleine, runde Fenster und ließ kleine Staubkörnchen in der Luft sichtbar werden. Merry war durch das Licht geblendet, doch Frodo schien es offensichtlich nichts auszumachen. Er schlief weiterhin tief und fest, hatte sich nicht einmal bewegt, als Merry auf das Bett geklettert war. Frodos Wangen, die am vorherigen Tag von der Sonne verbrannt worden waren, waren noch immer leicht gerötet und die dunklen Locken, jetzt kürzer als selten zuvor, zeigten in alle Richtungen. Wie schon am Abend zuvor, musste Merry lächlen. Er hatte gewusst, dass seine Mutter tun würde, was sie wollte, ganz gleich, was Frodo sagte. "Frodo", flüsterte er schließlich und legte vorsichtig eine Hand auf die Schulter seines Vetters, unfähig, ihn stürmisch zu wecken, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte. Das spitze Ohr, das zwischen den dunklen Locken hervorlugte, zuckte, doch ansonsten zeigte Frodo keine Regung. Merry wiederholte den Vorgang und dieses Mal legte sein Vetter immerhin die Stirn in Falten und murrte leise ohne aufzuwachen. "Frodo", flüsterte Merry ein drittes Mal und rüttelte seinen Vetter ein wenig an der Schulter. Frodo grummelte unzufrieden, als er langsam den Kopf drehte und blinzelte. "Merry", murmelte er verschlafen und kämpfte verzweifelt gegen seine schweren Lider. "Was machst du hier?" "Ich überbringe dir Neuigkeiten", verkündete Merry stolz und strahlte von einem Ohr zum andern. "Pippin besucht uns. Er kommt noch heute an." Er begann aufgeregt auf und ab zu wippen, was unweigerlich dazu führte, dass Frodo verschlafen gegen das leichte Rütteln seines Bettes protestierte. "Pippin?", fragte er schließlich, als sich Merry wieder beruhigt hatte, und trug dabei einen Gesichtsausdruck, als hätte er diesen Namen noch nie gehört. Merry nickte. "So ist es. Peregrin Tuk, Sohn des Thains, und seine Schwester Perle." "Perle?!" Frodos Ausdruck wirkte nun beinahe entsetzt. "Warum Perle?" Merry zuckte die Schultern. "Vermutlich, damit Pip nicht alleine unterwegs ist." Frodo nickte schweigend, wobei er den Kopf tiefer in sein Kissen grub und seine Decke enger um sich wickelte. Die Augen waren ihm bereits wieder zugefallen. Ungeduldig rüttelte Merry an seiner Schulter, woraufhin Frodo die Augen widerwillig öffnete. "Glaubst du, Pippin wird wieder bei mir schlafen?" "Entweder das", antwortete Frodo, drehte sich auf die linke Seite und gähnte herzhaft, "oder er teilt sich ein Zimmer mit Perle." Merry sah ihn vielsagend an. Es stand außer Frage, wo Pippin die nächsten Tage verbringen würde. "Sehr gut", meinte Frodo schließlich und rutschte näher an Merry heran, sodass dieser zurückweichen musste. "Und da das jetzt geregelt wäre", er rutschte noch näher an die Bettkante, bis Merry von der Matratze rutschte und beinahe gestolpert wäre, "darfst du jetzt gehen und mich ausschlafen lassen." Mit diesen Worten rollte sich Frodo zurück zu seinem Platz an der Wand, zog sich die Decke bis unter das Kinn und seufzte zufrieden, als er sich in sein Kissen kuschelte. "Frodo!" rief Merry entrüstet und entdeckte ein Grinsen im Gesicht seines Vetters. "Du wirst sofort aufstehen, oder ich sorge dafür, dass du kein Frühstück bekommst. Weder ein erstes, noch ein zweites!" Frodo schien auch das völlig gleichgültig, denn er machte nur eine abwinkende Geste und murmelte etwas Unverständliches. Kurzerhand zog Merry seinem Vetter das Kissen weg und schlug es ihm um die Ohren, was Frodo lauter murren ließ. Als er jedoch keine weitere Regung zeigte, sprang Merry zurück auf das Bett und versuchte mit aller Gewalt, Frodo die Decke wegzunehmen, um ihn kitzeln zu können.
Frodo konnte gerade noch das überraschte Quieken unterdrücken, das sich in seiner Kehle formte, als Merry ihn in die Seite kniff. Die Augen, die er zuvor nur schwer hatte offen halten können, waren nun damit beschäftigt, empörte Funken in Merrys Richtung zu sprühen, was seinen Vetter nur verzückt grinsen ließ. Missmutig setzte er sich auf und stieß Merrys verräterische Hände von sich weg. "So ist es besser", tat Merry kund, als Frodo sich schließlich an die Wand lehnte und die Decke nur mehr seine Füße bedeckte. Merry kniete ihm gegenüber und wippte aufgeregt auf und ab. Mit einem Seufzen ließ sich Frodo wieder zur Seite sinken. Der vergangene Tag hatte ihn geschafft. Er war noch immer so müde, dass er glaubte, er könne sofort wieder einschlafen, wenn Merry sein Zimmer verlassen würde. Doch so aufgeregt, wie sein Vetter war, hatte Frodo wenig Hoffnung, dass dieser ohne ihn wieder nach draußen gehen würde. Müde rieb er sich den Schlaf aus den Augen und war verwundert, als Merry plötzlich neben ihm lag. Sein Vetter stützte den Kopf mit dem Ellbogen ab und sah ihn forschend an. "Du bist müde", bemerkte er. Frodo zog eine Augenbraue hoch und grinste. "Du denn nicht?" "Doch", entgegnete Merry und ließ den Kopf nun ebenfalls auf die Matratze sinken, "aber ich bin aufgewacht, als sich alle zum Frühstück versammelten. Berilac hat so laut geredet, ich glaube, man hörte ihn noch in Bockenburg." Frodo lachte. "Das ist bei Merimas nicht anders und Minze kann noch viel lauter sein als er." "Das muss eine Krankheit sein", sagte Merry ernst, konnte jedoch ein Kichern nicht unterdrücken. "Eine sehr gefährliche Krankheit", meinte Frodo und nickte. "Pippin leidet bestimmt schon sein ganzes Leben daran." Merry prustete los und nur Augenblicke später stimmte Frodo in sein Gelächter mit ein.
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Frodo saß auf der breiten Mauer, die die Brandyweinbrücke zu beiden Seiten säumte und ließ die Füße baumeln. Die Brücke aus Backstein war viel befahren und seit er mit Merry am frühen Nachmittag hierher gekommen war, hatten schon viele Karren und Fuhrwerke, die von Ponys und manchmal auch von Ochsen gezogen wurden, die Brücke überquert. Nur von einem Wagen aus Buckelstadt fehlte noch immer jede Spur. Saradoc hatte ihnen beim Mittagessen erlaubt, bis zur Brücke zu gehen und dort auf Pippin und seine Schwester zu warten. Es war ein ganzes Stück Weg bis zur Brandyweinbrücke, doch Merry und Frodo nahmen dieses gerne auf sich, wenn sie dafür ihren Vetter früher in Empfang nehmen durften. Es war ein angenehm warmer Tag. Das Gewitter, das sich am vergangenen Abend angekündigt hatte, war während der Nacht hereingebrochen und hatte für Abkühlung gesorgt. Der Wind kitzelte Frodo am Nacken. Esmeralda hatte seine Haare eindeutig zu kurz geschnitten. Er drehte sich auf der Brücke um, sodass seine Füße nun dem Wasser zugewandt waren und blickte fasziniert in den darunter fließenden Fluss. Das bräunliche Wasser gurgelte leise und floss gemächlich vor sich hin, wobei es beinahe sanft über das Schilf am östlichen Ufer strich. Frodo beobachtete es einige Zeit schweigend. Er war selten soweit nördlich des Brandyschlosses und hatte den Fluss noch nie aus diesem Blickwinkel betrachtet. Es war beinahe ein friedlicher Anblick. Frodo schloss für einen Augenblick die Augen und sog die frische Luft, die ihm um die Nase wirbelte, tief in sich ein. Als er sie wieder öffnete, sah er für einen kurzen Moment ein blaues Tuch im Schilf liegen. Ein Ende des dünnen Stoffes schwamm gerade so tief im Wasser, dass es nicht von der Strömung mitgerissen wurde, während das andere Ende sich im Schilf verfangen hatte. Frodo stockte der Atem und seine Hände krallten sich unwillkürlich am warmen Stein der Brückenmauer fest. Rasch wandte er den Blick ab, sah zwischen seinen Beinen hindurch direkt in das darunter fließende Wasser. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Die Brücke stand nicht besonders hoch über dem Fluss, doch der Anblick des Wassers ließ ihn schwindeln. Plötzliche Angst herunterzurutschen ergriff ihn und seine Finger gruben sich noch tiefer in die Rillen zwischen den einzelnen Backsteinen. "Sie kommen!" rief Merry plötzlich neben ihm, sprang auf die Brückenmauer und rannte blitzschnell zum westlichen Flussufer, um den herankommenden Ponywagen zu empfangen. Frodo hatte sich unterdessen umgedreht, sodass seine Füße wieder der Brücke zugewandt waren auf deren Boden seine Augen hafteten. Er zitterte, wagte nicht, den Blick von den rötlichen Steinen abzuwenden. Es konnte doch nicht sein. Zögernd hob er den Kopf, fand jedoch nicht sofort den Mut, erneut zum Schilf zu blicken. Als er sich schließlich langsam umdrehte, fühlte er, wie ein weiterer Schauder ihn erzittern ließ. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass das blaue Tuch, das Tuch seiner Mutter, verschwunden war. Hatte er sich das nur eingebildet oder war es das Tuch einer anderen Frau gewesen? Ein Tuch, das verloren worden war und nun von den Wassern des Flusses einem unbekannten Ziel entgegen getragen wurde? Frodo wusste, dass dem nicht so war. Der plötzliche Schmerz in seinem Herzen machte ihm deutlich, dass dies der flüchtige Funke einer Erinnerung an einen Abend vor sechs Jahren gewesen war, einen Abend, den er nie würde vergessen können.
Ein Wagen ratterte an ihm vorüber und Frodo hob überrascht den Kopf. Merry ließ sich neben ihm auf der Mauer nieder. "Das waren sie nicht", seufzte er und blickte betrübt zu seinem Vetter, der ihn keines Blickes würdigte, sondern nur verwirrt dem Ponywagen hinterher blickte. Merry runzelte die Stirn. Kam es ihm nur so vor, oder war Frodo kaum merklich blasser geworden? "Frodo, ist alles in Ordnung?" Frodo zuckte bei der Nennung seines Namens zusammen, wandte sich erschrocken um. "Ja", sagte er rasch, "es ist alles in Ordnung. Ich habe nur…", er blickte kurz zum östlichen Flussufer und schüttelte den Kopf. "Ich habe nur geträumt." "Das habe ich gesehen", erklärte Merry und lächelte. Als er jedoch sah, dass sein Vetter nicht lachte, wurde er wieder ernst und bedachte Frodo mit einem kritischen Ausdruck. Er wollte gerade erneut fragen, ob wirklich alles in Ordnung war, als Frodo aufsprang, sich auf der Mauer an ihm vorbei zwängte und rasch zum westlichen Ufer balancierte. "Sie kommen!" Merry folgte ihm sogleich und kurz darauf konnte er auch schon Pippin sehen. Der junge Hobbit saß neben seiner Schwester in einem Wagen und winkte seinen Vettern aufgeregt zu. Fred Hornbläser, der in den Ställen der Großen Smials angestellt war, lenkte das Pony nach Osten auf die Brücke, wo er es anhalten ließ. "Merry, Frodo, was fällt euch eigentlich ein!" keifte Perle. "Sofort runter von der Mauer! Wisst ihr denn nicht, wie gefährlich das ist. Ihr könntet runter fallen!" Mit einer raschen Bewegung packte sie ihren Bruder am Arm, da er sich bereits anschickte, vom Wagen aus direkt auf die Brückenmauer zu klettern, um seine Vettern zu begrüßen. "Peregrin Tuk, wirst du wohl hier bleiben!" Sie zog ihn in den Wagen zurück, wobei sie Merry und Frodo bedeutete, dasselbe zu tun.
Frodo und Merry machten sich zwar nichts aus Perles Schelte, doch die Einladung, zu ihnen in den Wagen zu steigen, nahmen sie gerne an. Mit übermütigen Sprüngen stürzten sie sich auf Pippin und begrüßten ihn herzlich, während Perle verzweifelt versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bringen und dabei einsehen musste, dass sie kläglich scheiterte. Als es ihr schließlich gelang, die drei jungen Hobbits zum Hinsetzen zu bewegen, gab sie Fred ein Zeichen, die Fahrt fortzusetzen, woraufhin das Pony in einen gemütlichen Trab verfiel und der Wagen mit gemächlichem Tempo seinem Ziel entgegen ruckelte.
Kapitel 55: Schlammschlachten
Frodo lag auf dem Bauch, stützte sich mit den Ellbogen im weichen Gras ab und ließ das Kinn auf seinen Händen ruhen. Sein feuchtes Haar und die nasse Haut glänzten im Sonnenlicht. Einzelne Wassertropfen lösten sich von seinen Haarspitzen, rannen über seinen Nacken oder tropften zu Boden. "Gib es auf, Pip!" rief er seinem Vetter zu. "Gegen Merry kannst du nicht gewinnen." "Wer sagt das?", wollte Pippin wissen, verlor in diesem Augenblick den Halt unter seinen Füßen und landete rücklings im seichten Wasser des Brandyweins. Merry grinste siegreich auf den empörten Hobbit hinab. "Ich sage das", erklärte er und reichte seinem Vetter die Hand, um ihm wieder aufzuhelfen. Pippin zögerte einen Augenblick, ehe er die ausgestreckte Hand ergriff, um sich nur einen Moment später mit einem erneuten Aufschrei auf Merry zu stürzen. Dieser konnte sich gerade noch auf den Beinen halten, musste sich jedoch mit seinem gesamten Gewicht gegen seinen Vetter stemmen. Frodo grinste in sich hinein und schüttelte den Kopf. Pippin war seit über einer Woche hier und er hatte es noch immer nicht geschafft, Merry zu Boden zu werfen, was verständlich war, war sein Vetter doch über zwei Jahre älter als der junge Tuk. Doch, wie das bei einem Tuk nicht anders zu erwarten war, war dies kein Grund für Pippin, sich geschlagen zu geben. Frodo wusste nicht, wer auf die Idee mit der Rangelei gekommen war, doch er wusste, dass Pippin nicht aufgeben würde, bis er Merry zumindest einmal besiegt hatte. Frodo drehte sich auf den Rücken, wandte das Gesicht dem warmen Licht der Sonne zu und schloss die Augen. Ein Platschen und ein aufgebrachtes Schnauben von Pippin ließen ihn wissen, dass sein Vetter erneut im Wasser gelandet war. Er grinste. Pippin würde es nie lernen.
Die vergangenen Tage mit Pippin waren voller Überraschungen gewesen. Sein Vetter hatte, wie immer, eine dumme Idee nach der anderen und Merry und Frodo, die schließlich erkennen mussten, dass Pippins Ideen dumm genug für einen Beutlin und einen Brandybock waren, außer wenn es um Bauer Maggots Pilze ging, hatten die Einfälle des jungen Tuks mit Freude in die Tat umgesetzt. Das fing mit dem Stibitzen kleinerer Leckereien aus der Küche an, ging mit Heu- und Wasserschlachten weiter und endete beim Verbreiten neuer Gerüchte um Perle und einen angeblichen Liebhaber, dessen Identität noch nicht gelüftet worden war.
Perle war Gerüchte dieser Art zwar von den Großen Smials gewohnt, wo ihnen ohnehin keiner mehr Glauben schenken wollte, vor allem, wenn sie aus dem Munde ihres nichtsnutzigen kleinen Bruders stammten, doch hier im Brandyschloss lagen die Dinge anders. Neue Gerüchte wurden nur zu gerne aufgeschnappt und weiterverbreitet, auch wenn nicht das geringste Körnchen Wahrheit in ihnen verborgen lag. Perle hatte es schließlich aufgegeben, Pippin dafür bestrafen zu wollen, denn der junge Tuk gluckste ohnehin nur in sich hinein und bestritt jegliche Schuld. Noch dazu sah sie ihren Bruder meist nur bei den Mahlzeiten, da sich dieser bei seinem Vetter Meriadoc einquartiert hatte und auch den Rest des Tages mit seinen Vettern verbrachte. Sie hatte sich das wesentlich einfacher vorgestellt, als sie eingewilligt hatte, ihren Bruder mit sich zu nehmen, während sie ihre Tante Esmeralda im Brandyschloss besuchte. Esmeralda beruhigte sie allerdings, erklärte, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Wenn doch etwas passieren sollte, wollte sie sich persönlich um die kleinen Tunichtgute kümmern, war sie schließlich Herrin von Bockland und noch dazu Mutter eines der jungen Hobbits. Seither begnügte sich Perle damit, ihren Bruder bei den Mahlzeiten zu beobachten und zurechtzuweisen, sollte er sich schlecht benehmen, überließ den jungen Hobbit jedoch meist sich selbst. Esmeralda würde schon wissen, was sie tat.
"Frodo Beutlin!" Frodo stöhnte beim Klang der Stimme entnervt auf, öffnete seine Augen jedoch nicht. "Wie kommt es, dass du jedes Mal, wenn ich dich sehe, faul in der Sonne liegst, während andere auf den Feldern arbeiten?" "Wie kommt es", gab Frodo genervt zurück und blinzelte, um nicht geblendet zu werden, "dass ich jedes Mal, wenn ich dich auch nur höre, den unweigerlichen Drang verspüre, laut zu schreien?" "Weil du ein Dummkopf bist!" Nelkes dunkle Gestalt hob sich vom blauen Nachmittagshimmel ab, als Frodos Augen sich schließlich an das Licht gewöhnt hatten. Das Mädchen hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte ernst auf ihn herab. Frodo zog fragend eine Augenbraue hoch. "Ist das alles, was du zu sagen hast? Wenn ja, können wir diesen Teil beim nächsten Mal getrost überspringen, und ich schmeiße dich sofort ins Wasser." Nelke warf die Hände in die Luft, schüttelte den Kopf und stapfte davon. Frodo blickte ihr hinterher, als sie zu einem Baum rannte, wo sie bereits von Viola und Rubinie erwartet wurde, sich das Überkleid auszog und danach zum Steg lief, wo sie mit einem lauten Platschen in den Fluss sprang. Sie waren nahe der Stelle, wo für gewöhnlich die Lithe-Feiertage verbracht wurden, der Teil des Ufers, an dem Frodo und viele andere Kinder des Brandyschlosses den größten Teil ihrer freien Zeit verbrachten, sofern es warm genug war, um im Fluss nach Abkühlung zu suchen. Die meisten waren jedoch beim Steg, der sich wunderbar dazu eignete, ins Wasser zu springen, während Frodo, Merry und Pippin ein wenig weiter nördlich waren, da zumindest Frodo und Pippin nur am seichten Ufer bleiben würden. Frodo allerdings aus einem anderen Grund als Pippin, der nie gelernt hatte, wie man schwamm und, wie die meisten Hobbits, die westlich des Brandyweins lebten, auch kein Interesse dafür zeigte, sehr zu Merrys Bedauern. "Dafür, dass du sie nicht leiden kannst, siehst du ihr ausgesprochen lange hinterher", erklärte Merry mit einem frechen Grinsen im Gesicht. Sein Vetter stand neben ihm und blickte abwechselnd zu ihm und zu den Mädchen, die inzwischen wieder ans Ufer schwammen, um erneut ins Wasser zu springen. Pippin stand im Wasser und kicherte. "Frodo ist verliebt!" "Das bin ich nicht!" brüllte Frodo aufgebracht, funkelte seinen Vetter an und hoffte, dass seine Wangen nicht so rot waren, wie sie sich anfühlten. "Ich habe nur nachgedacht." "Worüber?", wollte Merry sogleich wissen. "Über", Frodo suchte fieberhaft nach einer Antwort und war erleichtert, als er tatsächlich eine fand, "Nelke und ob es sie abschrecken würde, wenn ich das nächste Mal, wenn ich sie sehe, wirklich laut schreie." Merry blickte nachdenklich in Nelkes Richtung und Frodo hoffte inständig, dass sein Vetter ihm glaubte. Weshalb sollte Merry ihm auch nicht glauben? Er war nicht verliebt in Nelke! Um in Nelke verliebt zu sein, müsste er sie mögen und das tat er nicht. Nelke war eine Nervensäge, die immer alles besser wissen musste und noch dazu war sie ein Mädchen! Sie konnte zwar auch recht nett sein, aber das waren Ausnahmesituationen. Sie war und blieb eine Nervensäge. Als sich Merry wieder zu ihm umwandte, war sein Grinsen nicht erloschen. "Ich glaube, du würdest ihr zumindest einen Schrecken einjagen." Frodo nickte und unterdrückte ein erleichtertes Seufzen. Merry glaubte ihm, was ihm zugute kommen würde, sollte Pippin ihm nicht glauben wollen. Mit Merrys Hilfe würde es ihm bestimmt gelingen, seinen Vetter davon zu überzeugen, dass es nicht an der Zeit war, ein neues Gerücht in Umlauf zu bringen. Vor allem nicht ein solches! "Pippin?" flüsterte Frodo, und das Grinsen auf Merrys Gesicht wurde breiter. "Pippin", bestätigte er leise, und einen Moment später stürmte er auf den Jüngeren zu. Frodo eilte sogleich zu seiner Unterstützung herbei und nur Momente später lag Pippin der Länge nach im Wasser.
Der überraschte Aufschrei blieb ihm im Halse stecken, als er sich in einem Anflug von Verzweiflung vor den auf ihn einstürzenden Wassermassen, die von Merry und Frodo in Bewegung gesetzt wurden, zu retten suchte. Das Wasser war nicht besonders tief, reichte ihm nur bis zum Bauchnabel, doch nun, da Pippin keine Möglichkeit fand, den vielen Wellen zu entkommen, gruben sich seine Finger verzweifelt in die schlammige Erde, während er versuchte aufzustehen. Frodo war es, der der Schlacht ein Ende setzte, da er auf Pippins Gesicht zu lesen glaubte, was er selbst empfand, wenn das Wasser um ihn herum zuviel wurde. Er konnte nicht ahnen, dass Pippin bereits einen Racheplan ausgeheckt hatte. Zu spät bemerkte er das tückische Glitzern in den grünen Augen und eh er sich versah, hatte Pippin ihn mit einer handvoll Schlamm beworfen. "Pippin!" rief er entrüstet, doch der junge Hobbit kicherte nur und machte sich bereit, auch Merry mit Schlamm zu bewerfen. "Ich finde, du hast das durchaus verdient, und Merry ebenfalls, wenn ich das anmerken darf." Frodo verdrehte die Augen, überlegte sich einen Augenblick lang, ob er wirklich schreien sollte, entschied sich dann aber dagegen. Nelke stand mit Rubinie und Viola am Flussufer, ihre braunen Locken schimmerten im Sonnenlicht, ebenso wie das dunkle Haar Violas und Rubinies. Wasser rann über ihre Nasen und die dünnen Unterkleider klebten an ihren nassen Körpern. "Was", begann Frodo und holte einmal tief Luft, "machst du hier? Solltest du nicht bei den anderen sein und", er machte eine kreisende Bewegung mit seiner Hand, als würde ihm das Wort, nach dem er suchte, nicht sofort einfallen, "schwimmen." Nelke grinste. "Ich konnte nicht widerstehen zuzusehen, wie du mit Schlamm beworfen wirst." Frodo setzte ein gehässiges Grinsen auf, während seine Augen unentwegt Funken in ihre Richtung sprühten. Warum tauchte sie immer genau dann auf, wenn er sie nicht gebrauchen konnte? Weshalb musste sie überhaupt auftauchen? Er musste sie und die anderen beiden Mädchen dringend loswerden und er wusste auch schon wie. Kurzerhand tauchte er selbst den Arm ins Wasser und griff nach dem Schlamm zu seinen Füßen. Ein hinterlistiges Grinsen trat in sein Gesicht, während er aus den Augenwinkeln zu Merry und Pippin schielte und den Schlamm mit einer raschen Bewegung in Nelkes Gesicht schleuderte. Nelke schaffte es gerade noch, den Kopf wegzudrehen, sodass der Klumpen nicht ihre Nase, sondern ihre linke Wange traf. Frodo nickte zufrieden, kicherte und erwiderte auf ihren entrüsteten Blick hin, dass er nicht widerstehen konnte. Neben ihm glucksten Merry und Pippin, der sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte, in sich hinein, ehe sie ebenfalls nach Schlamm tasteten. Weshalb sollten sie sich gegenseitig damit bewerfen, wenn hier ein viel besseres Ziel förmlich darum bat, mit feuchtem Matsch eingeschmiert zu werden?
Viola kreischte auf, als ein Schlammball sie mitten auf den Bauch traf. Merry grinste siegreich, wollte erneut nach der nassen Erde greifen, als Pippin neben ihm seinen Arm durch die Luft schwang und ein dicker Klumpen braunen Schlammes sich auf Rubinies Oberarm wieder fand. Es dauerte einen Moment, bis die Mädchen sich vom ersten Schreck erholt hatten. Eine Zeit, die Merry, Frodo und Pippin mit Freude nutzten, um weitere Schlammklumpen nach ihnen zu werfen. Doch kaum war der Augenblick des Erstaunens vorüber, stürzten sie sich neben den drei Hobbits in den Fluss und gingen ihrerseits zum Angriff über. Ein wildes Gerangel entbrannte, das immer wieder von lautem Gekreische und übermütigen Ausrufen unterbrochen wurde. Ein Schlammklumpen traf Frodo im Gesicht. Rasch wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen, um wieder sehen zu können, doch die Welt blieb verschwommen. Er blinzelte. Ein Sandkorn war in sein linkes Auge gerutscht und Frodo versuchte verzweifelt, es wieder herauszubekommen, während die Schlacht neben ihm weiter tobte. Wasser spritzte auf, als ein Schlammball neben ihm im Fluss landete und Frodo blinzelte. Für einen kurzen Moment konnte er Nelke erkennen, die mit einer handvoll Matsch auf ihn zutrat, doch dann verschloss sich sein Auge dem Antlitz der Welt wieder. Ein erneutes Blinzeln reichte aus, um mit der linken Hand nach Nelkes Handgelenk zu greifen, sie umzudrehen und ihr den Arm vor dem Körper zu verschränken, während er mit der rechten Hand noch immer sein linkes Auge rieb. "Nicht", bat er und verstärkte den Griff um Nelkes Handgelenk, als sie sich von ihm loswinden wollte. Nelke wandte sich grinsend zu ihm um, erkannte, dass er sie nicht überrumpeln wollte und blieb gehorsam ruhig stehen. Frodo lockerte daraufhin seinen Griff um ihr Handgelenk, ließ sie jedoch nicht los, wohl wissend, dass sie sofort zum Angriff übergehen würde, sobald er sich des lästigen Sandkornes entledigt hatte. Neben ihm kreischte Viola auf und landete der Länge nach im Wasser. Sie war auf einem Stein, der unter dem schlammigen Boden zum Vorschein gekommen war, ausgerutscht. Pippin brach in lautes Gelächter aus, das von angeekeltem Ausspucken beendet wurde, denn einer von Rubinies Schlammklumpen hatte seinen Weg in Pippins Gesicht gefunden.
Eine grobe Hand packte Frodo an der Schulter und drehte ihn um. Frodo wollte protestieren, doch ehe er den Mund aufmachen konnte, wurde er grob neben Nelke ins Wasser gestoßen. "Lass meine Schwester in Ruhe, du kleiner Tunichtgut!" Frodo blinzelte. Das Sandkorn war verschwunden und der wässrige Vorhang, der sich vor die Welt gelegt hatte, öffnete sich, doch was er sah, war ihm zuwider. Reginard, Nelkes Bruder stand über ihm und blickte finster auf ihn herab. Neben ihm stand Marroc, dessen hämisches Grinsen von einem Ohr zum anderen reichte. Frodo schnappte nach Luft, wollte unwillkürlich zurückweichen, doch seine Hand rutschte am matschigen Untergrund ab. Was machte Marroc hier und was hatte Reginard bei ihm zu suchen? Frodo konnte spüren, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Die anderen hatten ihre Schlammschlacht beendet und blickten nun verwirrt auf die Neuankömmlinge. Eine seltsame Stille lag in der Luft. Keiner sagte ein Wort und auch das Gelächter und die freudigen Ausrufe der andern Hobbits am Steg schienen für Frodo verstummt zu sein. Selbst das Wasser, das zuvor mit einem gleichmäßigen, plätschernden Gurgeln nach Süden geflossen war, schien stillzustehen. Frodo hörte nur noch das hämmernde Pochen seines Herzens und blickte mit weit aufgerissenen Augen nach oben, unsicher, auf wem er seinen Blick ruhen lassen sollte. Von wem ging die größere Gefahr aus? Von Marroc, der im Hintergrund stand, oder von Reginard, der ihm zwar noch nie etwas Zuleide getan hatte, aber viel Zeit mit Marroc verbrachte und sich nun beinahe bedrohlich über ihn gebeugt hatte? Frodo wusste es nicht und das machte ihm Angst, ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen.
"Lass ihn in Frieden, Reginard", forderte Nelke. Sie hatte ihren Schlammklumpen fallen gelassen und sich zwischen Frodo und ihren Bruder gestellt. "Wir haben hier unseren Spaß und du verdirbst ihn uns." Frodo blickte sie verwirrt an. Ausgerechnet Nelke verteidigte ihn? Verwunderung und Freude zeigten sich in seinem Gesicht, doch wurden sie von Angst überschattet. Angst, die ihn beinahe wie erstarrt im Wasser sitzen ließ, unfähig sich zu rühren oder auch nur den Mund aufzumachen, um sich zu verteidigen. Ein hohles Gefühl hatte sich in seinem Magen ausgebreitet und er spürte ein Kribbeln in seinem Körper, das einem Zittern gleich kam, doch unterdrückte er dieses. Niemand sollte sehen, wie groß seine Angst wirklich war. Reginard wandte sich zu Nelke um, wobei das gefährliche Funkeln in seinen Augen nachließ. "Nach Spaß sah mir das allerdings nicht aus. Sollte er dir in irgendeiner Weise Schmerz zufügen…" Nelke begann zu lachen. "Frodo soll mir wehtun? Glaub mir, selbst wenn er das tun würde, könnte ich mich selbst verteidigen und bräuchte deine Hilfe nicht." "Das sehe ich", meinte Reginard, blickte kritisch auf ihr schmutziges Kleid und warf einen raschen Blick zu Viola, die sich mit dem Handrücken über ihre schlammige Backe wischte.
Frodo wandte sich von Reginard und Nelke ab, schenkte seine Aufmerksamkeit Marroc, der ihn mit einem verächtlichen Blick ansah. Zwar konnte er seine Angst nicht verbergen, doch er hielt dem Blick tapfer stand. Es war lange her, dass er Marroc in einer solchen Situation gegenübergestanden hatte. Ein Zittern durchlief ihn, als er an jenen Tag vor einem Jahr zurückdachte und er fand sich nicht in der Lage, dieses Zittern wieder abzustellen. Plötzlich bemerkte er, dass er förmlich darauf wartete, dass Marroc sich auf ihn stürzte und ihn verprügelte, doch auch wenn Hass und Wut immer deutlicher aus den Augen des älteren Hobbits sprachen, geschah nichts dergleichen. Ein gefährliches Funkeln leuchtete plötzlich in den Augen seines Peinigers auf und Frodo wandte erschrocken den Blick ab, kniff die Augen angstvoll zusammen. Das letzte Mal, als er dieses Funkeln gesehen hatte, war Marroc mit einem Mal noch kräftiger geworden und hatte blind vor Wut auf ihn eingeprügelt.
"Ich würde trotzdem aufpassen", schaltete Marroc sich schließlich ein und wandte sich an Nelke, die ihm sofort ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. "Du weißt nicht, wozu der Kleine fähig ist." "Ach, und du weißt es?", fragte sie und schüttelte den Kopf. "Lass ihn in Ruhe und überlege dir besser, wen du hier klein nennst, immerhin bin ich nicht viel älter als er." Marroc grinste. "Nein, nicht älter, aber wesentlich richtiger im Kopf."
Frodo biss sich auf die Lippen, hielt den Blick jedoch weiterhin gesenkt. Diese Anschuldigung hatte er sich schon oft anhören müssen und sie war vermutlich auch der Grund, dass es viele junge Hobbits gab, die nichts mit ihm zu tun haben wollten. Allerdings war es lange her, dass diese Beleidigung ihm gegenüber erwähnt worden war. Für gewöhnlich wurde nur getuschelt und Frodo hörte es meist nur zufällig. Es war lange her, dass es so offen ausgesprochen worden war und es tat weh, diese Worte wieder hören zu müssen.
Bevor er sich weitere Gedanken machen konnten, brachen Merry und Pippin die Stille und erklärten wie aus einem Munde, dass dies eine Lüge sei. Frodo hörte ihre Worte, doch nahm er sie kaum wahr. Marroc lachte weiterhin, doch das Grinsen, das zuvor Reginards Gesicht geziert hatte, schwand, als Nelke beide erbost ansah. "Also gut, wir gehen", ließ Reginard sie schließlich wissen und nickte Marroc zu. "Sollte er dir jedoch zu Nahe kommen, oder dir irgendetwas Zuleide tun, werde ich ihn grün und blau prügeln." Nelkes Ausdruck blieb unverändert und auch Frodo blieb weiterhin im Wasser sitzen, auch wenn er den Kopf hob, um sowohl Reginard als auch Marroc einen zornigen Blick zuzuwerfen, nur um sich gleich darauf erschrocken wieder abzuwenden, da das hasserfüllte Funkeln in Marrocs Augen noch nicht erloschen war.
"Einfältige Schwachköpfe", grummelte Merry, als die beiden gegangen waren. Nelke sah ihn ernst an. "Einer davon ist mein Bruder, also pass auf, was du sagst." Merry sah sie aus wütenden Augen an. "Und du glaubst, deshalb würde ich meine Meinung ändern?" Nelke achtete nicht weiter auf ihn und hielt Frodo ihre Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Überrascht drehte Frodo den Kopf, sah nicht länger den älteren Hobbits hinterher, sondern blickte stattdessen verwirrt auf Nelkes Hand. Die Geräusche kehrten zu ihm zurück, vom Fließen des Flusses bis zu den Rufen und dem Gelächter der anderen Hobbits. Das Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals, doch konnte er spüren, wie der Schreck nachließ und nur mehr der bittere Geschmack der Erniedrigung zurückblieb. Für einen Moment blickte er in Nelkes Augen, die ihn stumm um Verzeihung baten, stand schließlich auf, ohne ihre Hand zu ergreifen, blickte von einem zum anderen und rannte davon. "Frodo, warte!" rief Nelke, und wollte ihm hinterher laufen, doch Merry hielt sie zurück und schüttelte den Kopf. "Lass ihn. Für heute haben du und deine Verwandtschaft genug angerichtet."
~*~*~
Eine Kerze auf dem Nachtisch in Frodos Zimmer flackerte. Frodo saß in seinem Bett und blickte trübselig in die Nacht hinaus. Ein blasser, sichelförmiger Mond lugte zwischen den Wolken hervor und die ersten Sterne erleuchteten den Nachthimmel. "Elbereth", flüsterte er und spürte einen Knoten im Hals, den er zu schlucken versuchte. Es misslang ihm.
"Nicht älter, aber wesentlich richtiger im Kopf." "Sollte er dir jedoch zu Nahe kommen, oder dir irgendetwas Zuleide tun, werde ich ihn grün und blau prügeln."
Die Worte des vergangenen Nachmittages hallten in seinem Kopf wider. Er hatte oft gehört, wie manche ihn nach dem Tod seiner Eltern als nicht richtig im Kopf, als verrückt, bezeichnet hatten. In den vergangenen Jahren hatte er jedoch geglaubt, das Interesse an dieser Art der Beleidigung wäre zurückgegangen, denn nur mehr selten hatten andere ihn verspottet. Wer nichts mit ihm zu tun haben wollte, war ihm schweigend aus dem Weg gegangen. Zwar hatte er sich dadurch nicht eben besser gefühlt, doch die Wunde, die Worte dieser Art zurückgelassen hatten, hatte sich langsam zu schließen begonnen. Marroc hatte diese Verletzung heute wieder aufgerissen und der Schmerz, den er nun empfand, ließ ihn beinahe verzweifeln. Lieber ertrug er die stille Zurückweisung, als offene Verachtung. Würde das denn niemals enden? Würde er für den Rest seines Lebens für verrückt gehalten werden, nur weil er… Weil er was? Frodo wusste es nicht. Er war nicht anders als die anderen. Zwar hatte er sein Leben alleine zu meistern, ohne die Hilfe seiner Eltern, doch ließ ihn das so verschieden sein? Machte ihn das verrückt? Frodo blickte zum Bild seiner Eltern, als könne es ihm die ungestellte Frage beantworten. Das Kerzenlicht erleuchtete die lächelnden Gesichter seiner Eltern und auch das des kleinen Jungen, der in ihrer Mitte saß. Er holte tief Luft und spürte, dass seine Atmung stockte. Schwer schluckend, schüttelte er den Kopf und wandte den Blick wieder den Sternen zu. Er würde nicht weinen, nicht einmal, wenn er alleine war. Er wusste, dass Marrocs einzige Absicht darin bestand, ihm wehzutun, dass er nicht auf seine Worte hören sollte. Und doch konnte er nicht vergessen, weder die Worte, noch den Schmerz und den Kummer, der daraus resultierte. Frodo seufzte, schüttelte den Gedanken ab, nur um ihn durch neue zu ersetzen. Weshalb fühlte er sich in Marrocs Gegenwart so schwach und hilflos? Warum konnten die verletzenden Worte des älteren Hobbits noch immer solchen Schaden anrichten? Und was war mit Reginard? Hatte er in ihm einen neuen Gegner gefunden, einen engen Verbündeten Marrocs? Frodo erschauderte. Reginard hatte gesagt, er würde ihn verprügeln, würde er Nelke Schmerzen zufügen. Was glaubte er denn von ihm? Was hatte Marroc ihm erzählt? Er war es gewesen, der von Marroc verprügelt worden war und nicht umgekehrt. Er hatte sich nur verteidigt so gut er es eben gekonnt hatte. Nelke würde er nicht wehtun. Auch wenn er sie packte, tat er ihr dabei nicht weh. Nervensäge, oder nicht, sie alberten nur herum, ohne die Absicht, sich dabei gegenseitig zu verletzen. Er hatte sie nicht halb so grob angefasst, wie Reginard ihn angefasst hatte, dessen war er sich sicher. Nelke hatte versucht, Reginard das klar zu machen, doch ob er ihr glaubte, ob Marroc ihr glaubte, war eine ganz andere Frage. Dennoch hatte sie es versucht und Frodo war ihr dankbar dafür, auch wenn er ihr das weder gesagt, noch gezeigt hatte. Er hatte es nicht gekonnt. Als Marroc und Reginard gegangen waren, musste er alleine sein, musste gehen, bevor seine Angst und der Schmerz ihn überwältigen konnten. Zornig und verletzt wie er war, hätte er es nicht ertragen, den anderen in die Augen zu blicken. Seine Freunde hatten seine Hilflosigkeit bereits gesehen und sollten nicht auch noch erfahren, wie weit seine Schwäche tatsächlich reichte. In seiner Feigheit hatte er nicht einmal versucht, sich selbst zu verteidigen! Verbissen hatte er gegen seine Tränen angekämpft, bis er sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, doch auch dort wollte er sie sich nicht erlauben. Tränen konnten ihm in seiner Lage nicht helfen. Sie waren nur ein weiteres Zeichen von Schwäche und er brauchte das Gegenteil. Trotzdem war er Nelke dankbar und vielleicht würde er ihr das eines Tages sagen. Eigentlich war sie recht nett. Zumindest hielt sie ihn, anders als der Rest ihrer Familie, nicht für verrückt.
"Dafür, dass du sie nicht leiden kannst, siehst du ihr ausgesprochen lange hinterher." Merry hatte das gesagt und erst jetzt wurde ihm klar, dass er Nelke tatsächlich beobachtet hatte. Weshalb? Er wusste es nicht. Vielleicht war zu der Zeit nichts anderes da gewesen, das seine Aufmerksamkeit hätte auf sich lenken können. Oder vielleicht mochte er Nelke ja doch. Frodo schüttelte vehement den Kopf, als könne er seinen Gedanken dadurch abschütteln. Nein, das war es bestimmt nicht. Nelke zog ihn zu oft auf, als dass er sie mögen könnte. Aber vielleicht…
Er stöhnte laut auf und ließ sich in sein Kissen fallen, das er sogleich hinter seinem Kopf hervorzog und sich über das Gesicht legte. Es klopfte und als Frodo den Kopf hob, sah er, dass Hanna vorsichtig die Tür öffnete. "Ist alles in Ordnung?", fragte sie sacht. "Du hörst dich an, als würdest du dir den Kopf zerbrechen." Frodo sah sie erstaunt an. "Bisher ist noch nichts gebrochen", ließ er sie wissen und richtete sich in seinem Bett auf. Hanna schloss die Tür hinter sich und setzte sich neben ihn. "Bist du dir da sicher? Das hörte sich für mich ganz anders an." Frodo lächelte. Er wusste nicht, weshalb, doch es fühlte sich gut an, mit Hanna hier zu sitzen. Er hatte, sehr zum Bedauern von Merry und Pippin, beschlossen, diesen Abend alleine zu verbringen, wollte warten, bis der Wunsch zu weinen nachgelassen hatte und das Gesagte nicht mehr ganz so laut in seinen Ohren klang. Zwar fürchtete er, er könne wider seiner Vorsätze in Tränen ausbrechen, sollte er den Gedanken an die Erniedrigung des Nachmittages nicht bald verdrängen können, doch Hanna bei sich zu haben, erleichterte ihn auf ungeahnte Weise. Seufzend und mit einem Schulterzucken schüttelte er den Kopf. "Ich weiß nicht. Vielleicht ist gerade etwas dabei kaputt zu gehen." "Was ist geschehen?", fragte sie, überrascht, wie leicht es sein konnte, ein Gespräch mit Frodo zu beginnen. Etwas warnte sie jedoch davor, unvorsichtig zu werden. Frodo zuckte erneut mit den Schultern und biss sich auf die Unterlippe. Eben diese Frage hatte er gefürchtet. Marrocs Worte und Reginards Drohung waren noch zu nah, als dass er über die Ereignisse des Nachmittages hätte sprechen können. Er schüttelte den Kopf und schluckte schwer, ohne Hanna anzusehen. Er konnte ihren Blick auf sich spüren, wusste, dass sie die Stirn in Falten gelegt hatte und ihn nun im trüben Licht der Kerze eingehend musterte. Eine Stille umgab sie, die keiner der beiden zu brechen wagte. Frodo seufzte ein drittes Mal und bemerkte, dass seine Finger mit dem Stoff seines Nachthemdes spielten. Er wollte nicht an die Worte der anderen denken, doch er hatte Fragen, die nach Antworten verlangten. Antworten, die Hanna ihm vielleicht geben konnte. Es dauerte einen Augenblick, bis er den nötigen Mut zusammengesammelt hatte und seine Frage kam so unvermittelt, dass Hanna ihn für einen Augenblick sichtlich überrascht ansah. Sie hatte nicht damit gerechnet, doch hätte sie ahnen können, eine Gegenfrage an Stelle einer Antwort zu erhalten. Frodo lenkte seine Gespräche gerne selbst und um ihn auszutricksen benötigte es einiges Geschick. "Warum setzen sich manche für andere ein?" "Nun", Hanna zögerte einen Augenblick. Frodo betrachtete ihr Gesicht im schwachen Licht der Kerze und wartete neugierig auf ihre Antwort. "Für gewöhnlich setzen wir uns für andere ein, wenn wir jemanden mögen, oder weil wir edlen Herzens sind und jemandem helfen wollen, dem Unrecht geschieht." Frodo nickte und legte die Stirn in Falten. Er fragte sich, ob Nelke edlen Herzens war, oder ob vielleicht sie es war, die ihn mochte und ehe Hanna, die ihn aufmerksam beobachtete, fragen konnte, wer sich für wen eingesetzt hatte, stellte er eine weitere Frage, die ihm auf dem Herzen lag. Es war besser, dieses Gespräch schnell zu führen, so lange er den Mut dazu noch aufbringen konnte. "Kann jemand, der anderen ständig auf die Nerven geht, trotzdem edlen Herzens sein?" Hanna lachte, verstand plötzlich, worauf Frodo hinauswollte. "Über wen in allen Auen sprichst du, Frodo? Über eines der Mädchen?" Frodo starrte sie entgeistert an und spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Er wandte rasch den Kopf ab und hoffte, Hanna würde im schwachen Licht nicht bemerken, dass seine Wangen sich dunkler färbten. "Das ist kein Grund rot zu werden", meinte sie und grinste dabei von einem Ohr zum anderen. "Wer ist es? Rubinie? Nelke? Oder vielleicht Viola?" Frodo schüttelte vehement den Kopf. Wie konnte sie wissen, dass er von einem Mädchen sprach, hatte er das doch mit keinem Wort erwähnt? "Es ist Nelke, habe ich nicht Recht?", sagte sie schließlich und grinste noch breiter. "Komm schon, sag mir, was geschehen ist? Ich bin ganz Ohr." Frodo zweifelte nicht daran. Sie schien ausgesprochen aufgeregt und ein entzücktes Glitzern war in ihre Augen getreten, das Frodo nicht zu deuten wusste. Er wollte diesen Nachmittag für sich behalten, wollte nicht, dass noch jemand, außer den Hobbits, die dabei gewesen waren, erfuhr, wie schwach und feige er gewesen war. Es war seine Angelegenheit und er wurde damit fertig, er musste nur darauf warten, dass der Schmerz nachließ. Doch wie sollte dieser nachlassen, wenn seine Gedanken immer wieder zum vergangenen Nachmittag wanderten, wenn Hanna genau danach fragte? Frodo blickte zu Boden und biss sich auf die Lippen. Sein Mut war verflogen und er merkte nicht, wie sich seine Finger beinahe krampfhaft in seine Bettdecke gruben. Der Knoten in seinem Hals schien ihm förmlich die Luft abzuschneiden und er wusste, dass er den Tränen immer näher kam, doch weinen würde er nicht, erst recht nicht, solange Hanna noch bei ihm war. Er wagte nicht sie anzusehen und wusste doch, dass er mit ihr reden musste. Natürlich konnte er auch schweigen, doch dann würde Hanna ebenfalls erfahren, dass etwas vorgefallen war und bei ihm bleiben, bis er es ihr freiwillig sagte oder sie es erraten hatte. Er würde nie dazu kommen, seine Gedanken in Ruhe zu ordnen und früher oder später bräche er seinen Vorsatz, um seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Seine Stimme zitterte, als er beinahe zögernd flüsterte: "Wenn ich dir sage, was geschehen ist, versprichst du mir, es für dich zu behalten?"
Hanna runzelte die Stirn, das Lächeln in ihrem Gesicht verschwand, als Frodo in Schweigen verfiel. Sie hatte geahnt, dass sie vorsichtig sein musste, doch nicht damit gerechnet, dass Frodos Verhalten sich so rasch ändern würde. Das hörte sich nicht nach der ersten Liebe an, wie sie vermutet hatte, sondern nach etwas ernsterem. Hatte sich eines der Mädchen für ihn eingesetzt, um ihn zu schützen? Hatte es Streit gegeben? Plötzlich konnte sie Marrocs Gesicht vor sich sehen und sie schloss beinahe ängstlich die Augen, wünschend, dass nicht Marroc der Grund für diese Unterhaltung war. Zögernd blickte sie Frodo schließlich an, der ebenso zaghaft zu ihr aufsah. Sie nickte, hoffend, dass sie dieses Versprechen auch halten konnte.
Frodo nickte schweigend, wandte den Blick ab und sah weiterhin zu Boden, ehe er schließlich leise zu erzählen begann. Zwar berichtete er, dass Marroc ebenfalls am Fluss gewesen war, ließ seine Beleidigung jedoch bewusst außer Acht, wohl wissend, dass Saradoc dann sofort davon erfahren würde, ganz gleich, was sie ihm versprochen hatte. Die Probleme mit Marroc und Reginard war er gewöhnt, aber er machte sich Sorgen wegen Nelke. Er musste wissen, weshalb sie das für ihn getan hatte. Ob Hanna ihm auch sagen konnte, ob er Nelke nun mögen sollte oder nicht?
Hannas Gesichtsausdruck war ernst, als er ihr von den Ereignissen erzählte, doch lächelte sie, als Frodo berichtete, wie Nelke ihn verteidigt hatte. Während er sprach, hatte Frodo nicht einmal den Kopf gehoben, auch wenn er ab und an zum Bild seiner Eltern schielte, als könne er dadurch ihre Unterstützung erhoffen. Seine Hände waren wieder dazu übergegangen, mit dem Stoff seines Nachthemdes zu spielen. Ein unbehagliches Gefühl hatte sich in seinem Bauch ausgebreitet und obwohl er gespannt auf ihre Antwort wartete, ließ er sich das nicht anmerken. "Ich glaube, sie mag dich", sagte Hanna schließlich und zwinkerte ihm aufmunternd zu. Überrascht hob er den Kopf und blickte in ihr lächelndes Gesicht. "Du magst sie auch, nicht wahr?" Frodo starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, wandte dann jedoch den Blick ab und sah verlegen zu Boden. Er zuckte mit den Schultern. Hanna lächelte und wuschelte ihm durch das Haar. "Das ist kein Grund, verlegen zu sein. Es ist schön, wenn sie sich so für dich einsetzt und was ist dabei, wenn du sie magst?" "Sie ist ein Mädchen", ließ Frodo sie wissen und blickte beinahe bestürzt zu ihr auf. "Ist das ein Problem?" Frodo zuckte mit den Schultern. Es war ein Problem, allerdings eines, das er nicht erklären konnte. "Außerdem nervt sie mich." Hanna grinste nur noch breiter, ging aber nicht weiter darauf ein. Stattdessen stand sie auf und streckte sich. "Du solltest jetzt zu Bett gehen. Zerbrich dir nicht weiter den Kopf über Marroc oder Reginard. Das sind Dummköpfe, die nicht wissen, wovon sie sprechen. Hör nicht auf sie und lass dich nicht von ihnen einschüchtern." Frodo lächelte schwach und nickte, selbst wenn er wusste, dass die Worte der beiden Hobbits ihn nicht so bald wieder loslassen würden. Dazu gingen sie zu tief. Er wünschte ihr eine gute Nacht, legte sich in sein Bett und seufzte erneut. Er wusste nicht, worüber er sich im Augenblick mehr den Kopf zerbrechen sollte: Marroc und Reginard oder Nelke. Mit einer raschen Handbewegung zog er sich die Decke über den Kopf und kämpfte gegen den Drang zu weinen an. Warum konnte sein Leben nicht einfacher verlaufen?
Author notes Entschuldigt, dass das neue Kapitel so lange auf sich hat warten lassen, aber ich bin jetzt in meinem ersten Semester an der Uni und mit der Zeit sieht es nicht immer gut aus. Neben Referaten und sonstigen Arbeiten muss ich mich durch eine ziemlich unfangreiche Lektürenliste durcharbeiten und zum Schreiben bleibt da nicht immer Zeit - vor allem nicht für eine Geschichte wie die Schicksalsjahre. Jede Szene der Schicksalsjahre fordert mich mehr als ein kruzes englisches Ficlet oder dergleichen, ganz einfach, weil ich hier mehr in die Personen eintauchen muss, um Emotionen aufrechtzuerhalten und nicht das Gefühl zu erwecken, dass mitten in der Szene irgendwie eine Bindung bricht. Nichtsdestotrotz arbeite ich so oft ich kann an den Schicksalsjahren und bitte um euer Verständnis, wenn es mal etwas länger dauert mit den Updates.
Zu guter Letzt möchte ich euch allen ein gesegnetes Weihnachtsfest wünschen und einen guten Start in das Jahr 2006. Übrings hat die Geschichte am 2. Januar ihr 3-jähriges Jubiläum. Unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht.
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Kapitel 56: Ich hab dich lieb
Regen prasselte in dicken Tropfen gegen Frodos Zimmerfenster und perlte daran ab, als die Tür mit einem leisen Knarren geöffnet wurde, und eine kleine Gestalt, nur mit einem Nachthemd bekleidet und mit einer flackernden Kerze in der Hand, eintrat. Lautlos stapfte der junge Hobbit an den Schreibtisch, ein vergnügtes Grinsen im Gesicht, und stellte die Kerze ab. In Gedanken war Frodo noch beim vergangenen Nachmittag. Aufgrund des Regens waren er und seine Vettern den ganzen Tag zu Hause geblieben, und hatten sich in Merrys Zimmer einquartiert, wo sie, nach einer langen Suche nach Decken, Stühlen, Kissen und Matratzen ihre eigene kleine Höhle errichtet hatten. Anschließend hatten sie sich einige Äpfel aus der Speisekammer geholt und sich damit verpflegt. Saradoc war davon wenig begeistert gewesen, als er sie zum Abendessen gerufen hatte, hatte ihr mühevoll gebautes Zuhause als ein heilloses Durcheinander bezeichnet und ihnen die wenigen verbliebenen Äpfel wieder weggenommen. Der Herr von Bockland war der Ansicht, dass sie nach dem Essen keine Verwendung mehr dafür haben würden. Außerdem hatte er verlangt, dass die neu gebaute Höhle wieder abgebrochen wurde und alle Decken, Stühle und sonstigen Bauutensilien wieder dorthin zurückgebracht wurden, wo Frodo, Merry und Pippin sie am Nachmittag gefunden hatten. Die jungen Hobbits hatten nur widerwillig gehorcht, waren jedoch fest entschlossen, eine neue Höhle zu bauen, sobald sich ihnen die Möglichkeit bot. Auch nach dem Abendessen war Frodo wieder in Merrys Zimmer verschwunden, wie er es jeden Tag tat, seit Pippin hier angekommen war. Die Stunden vor dem zu Bett gehen, waren die amüsantesten. Die Pläne für den nächsten Tag wurden diskutiert, Kissenschlachten geführt und nicht selten ließ Frodo sich dazu überreden, eine Geschichte zu erzählen, wobei er auf gruslige Enden verzichtete, da er wusste, wie ängstlich Pippin danach sein konnte. Auch heute hatte er eine Geschichte erzählt, eine, die er in einem Buch gelesen hatte. Er hatte sie in eigenen Worten und mit geringen Änderungen an seine Vettern weitergegeben, die, wie immer, voller Begeisterung an seinen Lippen gehangen hatten, bis Esmeralda sie unterbrochen und zu Bett geschickt hatte.
Frodo fröstelte und langte nach seiner Decke, die er sich mit einer schwungvollen Bewegung um die Schultern legte. Die Flamme der Kerze flackerte, ließ dunkle Schatten an den Wänden tanzen und tauchte Frodos Gesicht in ein fahles, rotgoldenes Licht. Frodo wollte sich gerade auf das Bett setzen, als sein Blick auf einen Brief fiel, der ungeöffnet auf seinem Schreibtisch lag. Fragend runzelte er die Stirn und griff danach. Saradoc musste den Brief in sein Zimmer gebracht haben, als er nicht da gewesen war, um ihn in Empfang zu nehmen. Ein Lächeln huschte über seine Züge, die Falten auf seiner Stirn glätteten sich und ein erfreutes Glitzern trat in die ohnehin schon leuchtenden Augen. Der Brief kam aus Hobbingen. Mit Bedacht öffnete Frodo das Siegel der Beutlins und nahm den Brief beinahe zärtlich aus dem Umschlag. Bilbo hatte ihm endlich wieder geschrieben, nachdem er seit über einem Monat nichts mehr von dem alten Hobbit gehört hatte. Frodo vermutete, dass dieser im Augenblick sehr beschäftigt war. So war es auch. Als Frodos Augen der feinen, unruhigen Hand seines Onkels folgten, erfuhr er, dass Bilbo sich im letzten Monat mit einer Gruppe von Zwergen getroffen hatte. Sie waren auf der Durchreise gewesen und für wenige Tage bei ihm in Beutelsend geblieben. Frodos Augen wurden groß. Bilbo hatte ihm unendlich viele Geschichten von Zwergen erzählt, doch getroffen hatte er bisher noch keinen. Wie gerne wäre er ebenfalls in Beutelsend gewesen, um die Zwerge willkommen zu heißen und sich mit ihnen zu unterhalten. Frodo hob den Kopf und blickte voller Sehnsucht in die Flamme der Kerze, stellte sich vor, wie es wohl wäre, in Beutelsend zu sein und gemeinsam mit Bilbo eine Gruppe von Zwergen zu bewirten. Unbemerkt schlich sich dabei wehmütiger Kummer in sein Herz und ließ es schwer werden. Plötzlich waren die Zwerge vollkommen unwichtig und nur noch Beutelsend zählte. Wie lange es her war, dass er Bilbo besucht hatte und wie gerne er nach Hobbingen zurückkehren würde. Leise seufzend schloss Frodo die Augen.
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Das Feuer im Kamin knisterte. Züngelnde Flammen ließen Schatten an den Wänden tanzen. Frodo sog den Duft von Pfeifenkraut tief in sich ein, während seine Augen gespannt auf Bilbo ruhten, der mit einem Gläschen Wein und verträumten Augen in seinem Sessel saß und ihm von seinen Abenteuern mit den Zwergen erzählte. Eine wohlige Wärme umgab ihn. Ein Lächeln huschte über Bilbos Gesicht. "Elben sind nicht böse, mein Junge. Aber sie waren misstrauisch…"
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Frodo zuckte zusammen und wandte sich überrascht um, als ein Windstoß den Regen heftiger gegen sein Fenster prasseln ließ. Er fröstelte erneut, schüttelte den Kopf, wickelte die Decke enger um sich und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Brief zu, vorgebend, er wäre nicht von einer Erinnerung heimgesucht worden, die sein Herz mit einem unerfüllten Wunschtraum zurückließ.
Mit einem Seufzen legte Frodo den Brief schließlich zur Seite, und wandte den leeren Blick wieder der Kerze zu. Seine Augen waren feucht und voller Sehnsucht, doch erlaubte er sich keine Tränen. Sein Herz war schwer und das Glitzern, das seinen Blick zuvor hatte strahlen lassen, war verschwunden. Er war glücklich über den Brief, doch ein Brief war nicht, was er sich wünschte. Er wollte die Zwerge treffen, die in Beutelsend gewesen waren, wollte die Gamdschies wieder sehen. Er wollte Bilbo, wollte die Geborgenheit, die Wärme, die der alte Hobbit ihm geben konnte und doch wusste er, dass ihm all das verwehrt blieb. Rasch stand er auf, wandte sich zu seinem Nachtkästchen um, und kniete davor nieder, ehe er die unterste Schublade öffnete und eine kleine Holztruhe hervor holte, die er sich vorsichtig in den Schoß legte. Er warf einen kurzen Blick auf das Bild seiner Eltern, spitzte die Ohren und sah dann zur Tür. Als er sicher war, dass er nicht gestört werden würde, strich Frodo sanft über das vom Alter dunkel gefärbte Holz der Truhe, und öffnete sie vorsichtig. Die rostenden Eisenscharniere protestierten quietschend, als er den Deckel bis zum Anschlag zurückschob, und ein kleiner Splitter löste sich von einer ohnehin schon mitgenommen Kante. Alles, was ihm wichtig war, abgesehen vom Bild seiner Eltern, bewahrte er in dieser Truhe auf. Sein Blick fiel zuerst auf den Silberpfennig, den er von Fastred erhalten hatte. Er glitzerte im Licht der Kerze. Frodo schob ihn beiseite, wobei seine Finger über die Umschläge von Bilbos Briefen strichen, und holte sein Tagebuch hervor, das er für einen Augenblick beinahe liebevoll betrachtete.
Er setzte sich wieder an den Schreibtisch, schlug das Buch mit achtsamen Fingern auf und griff nach einer Feder, die er vorsichtig in die Tinte tauchte. Draußen pfiff der Wind und ließ den Regen gegen das Fenster peitschen, doch Frodo achtete kaum darauf, als er trübselig zu schreiben begann.
Kein Wort. Er hat es mit keinem Wort erwähnt und das, wo ich doch so sehr darauf gehofft hatte. Nicht ein einziges Wort. Er fragt nicht einmal, ob ich irgendetwas geplant habe, spricht mit keinem Wort von seinen Plänen. Nichts. Er wird nicht kommen. Bilbo wird seinen Geburtstag wieder in Beutelsend feiern und nicht nach Bockland kommen. Weshalb sollte er auch? Es ist sein Geburtstag und auch, wenn es ebenso der meine ist, welches Recht habe ich denn, ihn hierher zu bestellen? Nur weil ich es gerne hätte, kann ich nicht von ihm verlangen, den langen Weg auf sich zu nehmen, erst recht nicht an seinem Geburtstag. Es wäre selbstsüchtig. Aber es ist auch mein Geburtstag und nichts wünsche ich mir mehr, als ihn wieder zu sehen. Warum muss er immer wieder gehen? Weshalb kann er nicht einfach hier bleiben, bei mir? Ihm gelingt es immer, die Schatten in meinem Herzen zu vertreiben, doch wenn ich zu hoffen beginne, verlässt er mich und ich muss mich wieder alleine zurechtfinden. Er hat gesagt, er würde bald wieder kommen. Doch wann ist ‚bald'? Mir scheint es, als würde sein letzter Besuch schon Jahre zurückliegen, dabei kann es nicht länger als fünf Monate her sein, seit er das letzte Mal hier gewesen ist. Wann kommst du zurück, Bilbo? Wird es auch dieses Mal beinahe vier Jahre dauern, bis ich dich wieder sehe?
Frodo wischte mit dem Ärmel die Tränen weg, die sich unweigerlich in seinen Augen sammelten bei dem Gedanken daran, noch so lange auf einen Besuch Bilbos warten zu müssen. Es war eine viel zu lange Zeit und er wusste nicht, ob er in der Lage war, sie zu überbrücken. Dennoch musste er es versuchen. Ihm blieb zumindest die Hoffnung, dass Bilbo mit seinem Besuch nicht zu lange warten würde, und bis dahin konnte er von der Erinnerung leben. Zumindest hoffte er das, denn oft waren es die Erinnerungen, die sein Herz schwerer machten, als es ohnehin schon war. Frodo holte tief Luft und wartete, bis seine Tränen versiegten. Ein Schleier der Traurigkeit überschattete die Freuden des vergangenen Tages bei dem Gedanken daran, seinen Geburtstag ohne Bilbo feiern zu müssen und für den Augenblick fühlte Frodo sich unfähig, weiter zu schreiben. Schweigend steckte er die Feder wieder in die Halterung und schloss das in braunes Leder gebundene Buch.
Erschrocken blickte er auf, als die Tür geöffnet wurde, und ein verirrter Luftzug durch sein Zimmer sauste, der die Kerze auf dem Schreibtisch zornig flackern ließ. Merimas stand in der Tür. Sein weißes Nachthemd leuchtete im Schein der Kerze, als er mit einem verlegenen Lächeln im Gesicht eintrat. "Merimas", flüsterte Frodo überrascht und runzelte die Stirn. "Ist alles in Ordnung?" Er stand auf und ging auf den jungen Hobbit zu, doch dieser rührte sich nicht von der Stelle, blickte nur weiterhin verlegen zu ihm auf, nur um kurz darauf die Augen zu senken und zu Boden zu starren. Frodo kniete sich vor dem Jungen nieder und legte ihm die Hände auf die Schultern. "Wo sind deine Eltern?" Merimas antwortete nicht. "Ist mit deinen Geschwistern alles in Ordnung?" Der junge Hobbit nickte, doch schien er weiterhin unfähig zu sprechen. "Hat deine Mama dich zu mir geschickt?" Das Kind schüttelte den Kopf und blickte verlegen zu Boden. Frodo verstand nicht, was der Junge hier machte und da Merimas scheinbar unwillig war, ihm seinen Besuch zu erklären, musste er den Grund dafür selbst in Erfahrung bringen. Er ging zur Tür und blickte in den Gang hinaus, doch dieser war leer. Kurzerhand ging Frodo zur gegenüberliegenden Tür, dem Zimmer von Hanna und Marmadas, und wollte anklopfen, doch Merimas stoppte ihn, indem er ihm beinahe flüsternd zurief, dass niemand da war. "Minze und Melilot schlafen", erklärte der Junge leise, wobei er den Blick weiterhin gesenkt hielt. Frodo wandte sich wieder zu ihm um. "Weshalb schläfst du nicht?" Merimas antwortete nicht, und so blieb Frodo nichts anderes übrig als zu erraten, weshalb der Junge zu ihm gekommen war. "Hast du schlecht geträumt?" Ein schwaches Nicken bestätigte seine Vermutung, doch Merimas blickte weiterhin verlegen zu Boden. Frodo lächelte und ging zurück in sein Zimmer. "Du willst bei mir schlafen, bis deine Eltern zurückkommen?", schlussfolgerte er weiter und wurde mit erneutem Nicken belohnt. Noch immer lächelnd kniete er sich wieder vor dem Kind nieder und wartete darauf, dass der Junge den Kopf hob, um ihn anzusehen. "Dann sollst du in meinem Bett schlafen, Merimas Brandybock." Ein Grinsen stahl sich über das müde Gesicht des Jungen, als er seine Hände um Frodos Hals schlang und den Hobbit in eine feste Umarmung zog. Frodo war überrascht, doch er lächelte ebenfalls und trug das Kind schließlich zu seinem Bett, wo es sich der Kleine sogleich bequem machte, und sich von Frodo zudecken ließ. "Wo schläfst du?", wollte Merimas wissen, als Frodo sich daran machte, sein Tagebuch zu verräumen. Frodo grinste. "Ich hoffe darauf, dass du mir genügend Decke übrig lässt, sodass ich auch noch ein wenig Platz darunter finde." Merimas kicherte vergnügt und winkte Frodo mit der Bettdecke zu, um zu zeigen, dass er noch mehr als genug Platz für seinen Freund hatte. Frodo lächelte, und verstaute die Truhe wieder in seinem Nachtkästchen, während Merimas zum Fenster blickte, wo unablässig neue Wassertropfen landeten und der Scheibe entlang zu Boden rannen. Ehe Frodo sich jedoch zu dem jungen Hobbit gesellte, ging er noch einmal zur Tür, und blickte in den Gang hinaus. Von Hanna und Marmadas fehlte weiterhin jede Spur und so entschied er, die Türe nur anzulehnen, und die Kerze brennen zu lassen, in der Hoffnung, einer der beiden würde das Licht bemerken, nach dem Rechten sehen und dabei Merimas bei ihm entdecken. Als er sich schließlich in sein Bett legte, war Merimas schon beinahe eingeschlafen. Der kleine Hobbit kuschelte sich eng an Frodo und seufzte zufrieden, als dieser fast zögernd einen Arm um ihn legte. Frodo hatte beinahe um seine Traurigkeit und seine Sehnsucht vergessen, als er leise lächelte. Er mochte den kleinen Hobbit, hatte ihn schon immer gemocht, doch hatte er nicht gewusst, wie gern Merimas ihn hatte und wie sehr der Kleine ihm vertraute. Er hatte nicht einmal bemerkt, wie sehr er selbst an dem kleinen Hobbit hing, doch jetzt, da das Kind an ihn gekuschelt in seinem Bett schlief, wurde ihm dies nur allzu bewusst und er konnte nicht anders, als zu lächeln, als auch er langsam in einen tiefen Schlaf driftete. Er bemerkte nicht, wie Marmadas seinen Sohn nur wenig später aus dem Bett hob, während Hanna ihn wieder zudeckte, einen Kuss auf seine Stirn hauchte, die Kerze, die nun auf Frodos Nachtkästchen stand, ausblies und mit einem letzten liebevollen Blick auf sein zufriedenes Gesicht das Zimmer verließ.
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Pippin blickte zum Himmel. Die Kronen der Laubbäume glitzerten im Sonnenlicht, und die Blätter, die sich bald verfärben würden, warfen verspielte Schatten auf das Gesicht des jungen Hobbits. Der Duft von Erde, Laub und Kiefernadeln hing in der Luft. Ein Zweig brach unter dem Gewicht seines Vetters und Pippin blickte sich zweifelnd um. Sie waren inzwischen ausgesprochen tief in den Wald gegangen, und er konnte die Wiese, die dessen nördlichen Rand säumte, längst nicht mehr erkennen. "Bist du sicher, dass Merry uns hier finden wird?", fragte er beinahe zögernd, ließ sich seine Unsicherheit jedoch kaum anmerken. Frodo spürte es dennoch und schmunzelte in sich hinein. "Merry und ich kennen diesen Wald wie unsere Westentasche. Keine Sorge, er wird uns finden." Er ging zwischen den Stämmen zweier Bäume hindurch und kletterte über die Wurzel eines dritten. Pippin folgte ihm, trat schließlich an seine Seite, während Frodo sich auf einer kleinen Lichtung umsah.
Sie waren im Wald südlich der Straße nach Bockenburg und auf der Suche nach einem geeigneten Standort für ihre eigene Hobbithöhle. Seit sie vor zwei Tagen eine Höhle in Merrys Zimmer gebaut hatten, konnten die jungen Hobbits an nichts anderes mehr denken, als an eine weitere selbst gemachte Höhle und Frodo und Merry waren zu dem Entschluss gekommen, dass sich der Wald am besten dazu eignen würde. Hier fanden sie nicht nur das nötige Holz, sondern waren außerdem in der Lage, ihr neues Zuhause dort zu bauen, wo Saradoc nicht von ihnen verlangen konnte, es wieder abzubrechen. So waren Frodo und Pippin gleich nach dem Mittagessen aufgebrochen. Merry wollte später zu ihnen stoßen, denn er hatte, wie er sagte, wichtige Angelegenheiten mit seinem Vater zu besprechen. Wie wichtig diese Angelegenheiten wirklich waren und worum es sich dabei genau handelte, wollte er seinen Vettern jedoch nicht verraten.
"Ich glaube, das ist ein guter Platz für unsere Höhle", erklärte Frodo mit einem zufriedenen Lächeln. "Der Boden ist zwar noch feucht, aber immerhin trockener als zwischen den Bäumen." Pippin nickte und machte sich auf, die Lichtung auf eigene Faust zu erkunden, während Frodo bereits erste Zweige und Äste für die Höhle zusammensuchte. Die Lichtung war von hohen Laubbäumen und einigen Kiefern gesäumt, an denen Pippin erstaunt nach oben blickte. Der Wind säuselte in den Baumkronen, doch hier unten konnte er kaum einen Luftzug bemerken. "Pippin, hör auf zu träumen und mach den Mund zu, bevor der Spatz da drüben auf die Idee kommt, ein Nest darin zu bauen!" Pippin blickte seinen Vetter entgeistert an, bemerkte dann, dass sein Mund tatsächlich offen stand, und schloss ihn mit einem gekränkten Ausdruck im Gesicht. Seine Augen wanderten zu der Buche, auf die Frodo zuvor gedeutet hatte. Ein Spatz saß auf einem der Äste, hatte den Kopf schief gelegt, und blickte neugierig auf sie herab. Pippin beobachtete ihn einen Augenblick kritisch, wandte sich dann jedoch ab. "Sind wir heute mit dem falschen Bein zuerst aufgestanden, Vetter Frodo?" Frodo, der mit einigen Zweigen auf dem Arm seinen Vetter grinsend beobachtet hatte, lachte. "Eigentlich stand ich mit demselben Fuß auf wie jeden Morgen." "Was?!" rief Pippin entgeistert, konnte sich aber ein Kichern nicht verkneifen. "Du bist immer so freundlich?" Frodo grinste. "Natürlich bin ich das! Fiel dir das denn bisher nicht auf?" "Eigentlich nicht", meinte Pippin und ging in die Knie, um etwas vom Boden aufzuheben. Frodo schüttelte lächelnd den Kopf und lud sich einen weiteren Zweig auf, als Pippin plötzlich in Jubel ausbrach. Überrascht wandte er sich um. Sein Vetter stand unter einem Baum, und hüpfte vergnügt von einem Bein auf das Andere. "Das ist nicht nur ein guter Platz für unsere Höhle, das ist ein ausgezeichneter Platz dafür", meinte er überschwänglich und ließ sich zu Boden plumpsen. "Jetzt brauche ich nur noch einen Stein." "Einen Stein?" Frodo runzelte die Stirn, ließ die Äste, die er gesammelt hatte, fallen und trat verwirrt auf seinen Vetter zu. Wer wusste, welche Verrücktheit dieser nun wieder ausgeheckt hatte? Pippin nickte, und winkte ihm mit einer Haselnuss. Frodos Gesicht hellte sich auf, als er nach oben blickte und erkannte, dass es sich sein Vetter unter einem Haselnussstrauch gemütlich gemacht hatte. Sogleich ließ er sich neben ihm zu Boden fallen und suchte seinerseits nach reifen Nüssen. Verrückt mochten Pippins Ideen zwar manchmal sein, doch sein Gespür, wenn es darum ging, etwas Essbares zu finden, war selbst für einen Hobbit außergewöhnlich. Pippin kaute währenddessen, in Ermangelung eines Steines, an der Schale seiner Haselnuss und versuchte so, diese zu knacken. "Ich glaube, ich weiß, was Merry mit seinem Papa bespricht", sagte er plötzlich unvermittelt. Frodo, der inzwischen selbst mit der Schale einer Haselnuss kämpfte, indem er sie zwischen seinen Händen zu zerdrücken versuchte, zog neugierig eine Augenbraue hoch. "Er wird ihn fragen, ob ich bei dir schlafen kann." Die Haselnuss in seiner Hand vergessend, wandte Frodo sich überrascht zu seinem Vetter um, und runzelte die Stirn, doch noch ehe er etwas fragen konnte, fuhr Pippin fort. "Ich bin jetzt schon zwei Wochen hier und abends musst du immer in dein Zimmer gehen, während Merry und ich uns noch lange unterhalten können. Ich würde mich auch gerne mit dir lange unterhalten können, und da dachte ich mir, dass ich vielleicht die verbleibenden Wochen bei dir schlafe. Dann könnte Merry abends zu uns kommen und unsere Höhlen bauen wir in deinem Zimmer." Pippin sah hoffnungsvoll zu seinem Vetter auf, der ihn aus verwunderten Augen anblickte. "Was sagst du dazu?"
Frodo war sprachlos. Für den Augenblick konnte er nichts weiter tun, als Pippin verblüfft anzusehen. Nie zuvor hatte ihn jemand darum gebeten, bei ihm übernachten zu dürfen. Zum einen, weil sein Zimmer sehr klein war, zum anderen, weil nur Merry darum hätte bitten können und für gewöhnlich war es Frodo, der dann in Merrys Zimmer schlief, und nicht umgekehrt. Doch nun saß Pippin vor ihm und blickte ihn aus hoffnungsvollen Augen an, die versuchten, die Antwort auf seine Frage aus seinem Gesicht zu lesen. Zuerst hatte Frodo geglaubt, er hätte sich vielleicht verhört, doch Pippins Ausdruck überzeugte ihn vom Gegenteil. Sein Herz machte einen Sprung in seiner Brust, und für einen kurzen Augenblick fürchtete er, es würde bersten ob der plötzlichen Freude, doch nichts geschah.
Pippin hatte es zwar keine Überwindung gekostet, seine Frage zu stellen, doch als er nun in das Gesicht seines Vetters blickte, wurde ihm unbehaglich. Er hatte mit einem Ja, oder einem Nein gerechnet, aber nicht mit Verwunderung. Unsicher rutschte er auf dem Boden hin und her und suchte den Blick seines Vetters, war einen Augenblick sogar versucht, Frodo auf dieselbe Weise in die Wirklichkeit zurückzuholen, wie es sein Vetter zuvor mit ihm gemacht hatte. "Frodo?" seine Stimme war leise geworden, als er den Kopf schief legte und seinem Vetter in die Augen blickte. "Darf ich?" Ohne Vorwarnung schlang Frodo plötzlich seine Arme um ihn, und Pippin schnappte überrascht nach Luft, hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten und wäre um ein Haar nach hinten gefallen. "Natürlich darfst du!" rief Frodo und versuchte die Freude, und den Unglauben, die in seiner Stimme mitklangen, zu verbergen. "Wenn wir genügend Platz für dich finden, wäre ich überglücklich, wenn du bei mir übernachten würdest." Nun war es an Pippin, seine Arme freudig um Frodos Hals zu schlingen. Er lächelte. "Ich werde wenig Platz benötigen und den findet Onkel Saradoc bestimmt."
Als Frodo schließlich von Pippin abließ, und sich wieder nach seiner Haselnuss umsah, strahlte er von einem Ohr zum anderen. Pippin grinste ebenfalls. "Ich hätte nicht gedacht, dass dich das so sehr freuen würde." Frodo zuckte mit den Schultern und kicherte. Seine Augen strahlten voller Glück und das Grinsen in seinem Gesicht reichte von einem Ohr zum anderen. "Ich auch nicht." "Aber dass du mich deshalb so erschrecken musst…", Pippin schweifte ab und brach stattdessen in ein vergnügtes Lachen aus, in das Frodo mit einstimmte. Gerade in diesem Augenblick tauchte Merry zwischen den Bäumen auf, und wollte sogleich erfahren, was seine Vettern so erheiterte. Diese winkten jedoch ab und bald darauf machten sie sich daran, eine kleine, instabile, aber gemütliche Hobbithöhle zu bauen.
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Ein Rascheln drang an Frodos Ohr. Er öffnete die Augen, doch die Welt blieb dunkel. Es musste bereits nach Mitternacht sein und eigentlich wollten er und Pippin nun schlafen, doch offensichtlich hatte sein Vetter andere Pläne. Saradoc hatte abends eine Matratze für Pippin in sein Zimmer gebracht, die nun zwischen seinem eigenen Bett und dem Schreibtisch lag, sodass Frodo über seinen Vetter klettern musste, wenn er aufstehen wollte. Auch den Schreibtisch würde er nicht benutzen können so lange Pippin hier war, aber das machte ihm nichts aus, war er doch noch immer überglücklich, seinen Vetter bei sich im Zimmer willkommen heißen zu können. Die Freude, die er am Nachmittag empfunden hatte, hatte nicht nachgelassen. Pippin wollte bei ihm übernachten und Saradoc hatte es tatsächlich erlaubt. Es war ein unglaubliches Gefühl, sein Zimmer mit jemandem teilen zu können, jemanden bei sich zu haben, mit dem er bis spät in der Nacht reden konnte und gleichzeitig im eigenen Bett schlafen zu können. Pippin hatte sich sofort bei ihm einquartiert, als Saradoc die Matratze gebracht hatte. Nach dem Abendessen war Merry bei ihnen gewesen, doch auch als dieser zu Bett geschickt worden war, hatten Frodo und Pippin noch ihren Spaß gehabt und lange Gespräche bis tief in die Nacht geführt. Frodo war schon beinahe eingeschlafen, als das unruhige Rascheln, und ein leises Grummeln an sein Ohr drangen. "Pippin?", flüsterte er und drehte sich in seinem Bett um. "Bist du noch wach?" Die Geräusche verstummten und Frodo beugte den Kopf über den Rand seines Bettes, in der Hoffnung, trotz der Dunkelheit in seinem Zimmer erkennen zu können, ob mit seinem Vetter alles in Ordnung war. Erschrocken zuckte er zusammen, als eine Hand ihn an der Nase traf. Neben ihm sog sein Vetter scharf die Luft ein. "Entschuldige", flüsterte Pippin, "ich dachte, du wärest in deinem Bett und wollte schauen, ob du immer noch so nahe beim Fenster liegst." Frodo runzelte die Stirn, und stützte den Kopf auf den Arm. "Weshalb?" Wieder drang ein Rascheln an sein Ohr. Pippin schien unruhig mit seiner Bettdecke zu spielen. "Ich…", begann er, verstummte jedoch gleich darauf wieder. Eine lange Zeit herrschte Schweigen, das nur vom Rascheln von Pippins Bettdecke gebrochen wurde. "Erinnerst du dich noch an Beutelsend?", fragte der junge Hobbit. Frodo spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen. Wie könnte er diesen längstvergangenen Besuch vergessen? Damals war seine Welt noch im Gleichgewicht, und seine Seele noch heil gewesen. Frodo nickte, vergessend, dass sein Vetter dies in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, doch Pippin sprach dennoch weiter. "Du hast damals gesagt, ich könne jederzeit zu dir kommen, wenn ich mich einsam fühle und, nun ja…", er schweifte ab und sprach nicht weiter. Frodo lächelte, glaubte er doch zu wissen, dass Pippins Wangen eine gesunde Farbe annahmen. "Du fühlst dich einsam", wisperte er und es war keine Frage. Pippin antwortete nicht, nickte stattdessen, und auch wenn Frodo dies nicht erkennen konnte, rutschte er bis ganz an die Wand zurück und machte so Platz für seinen Vetter, der bereitwillig zu ihm ins Bett kletterte. Mit einem zufriedenen Seufzen ließ Pippin sich in die Kissen sinken, und zog sich seine Decke, die er von seinem eigenen Bett mitgenommen hatte, bis unter das Kinn, während Frodo sich neben ihm in die Kissen kuschelte und zufrieden die Augen schloss. Pippin war bei ihm, wollte bei ihm sein und das machte ihn glücklich. "Frodo?" Pippins Stimme war kaum mehr als ein Wispern, und Frodo öffnete widerwillig die Augen. Er wusste, dass Pippin ihn ansah, konnte seinen Blick förmlich spüren. Ein Lächeln, das er in dessen Stimme hören konnte, schlich über die Lippen seines Vetters. "Auch wenn wir uns nur sehr selten sehen, habe ich dich trotzdem sehr lieb."
Frodo fühlte sich für einen Augenblick wie versteinert. Er konnte nicht atmen, konnte sich nicht bewegen, selbst sein Herzschlag schien für einen Moment auszusetzen. Tränen der Rührung und der Freude sammelten sich in seinen Augen. Wann hatte ihm das letzte Mal jemand gesagt, dass er ihn liebte? Hatte das seit dem Tod seiner Eltern überhaupt jemand getan? Frodo wusste es nicht, und das machte diesen Augenblick zu einem ganz Besonderen. Pippin hatte gesagt, was niemand sonst auszusprechen wagte. Er hatte Worte gesprochen, die Frodo zuletzt vor solch langer Zeit gehört hatte, dass er sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, und dafür war er Pippin unendlich dankbar. "Ich", stotterte er und schluckte den Knoten in seinem Hals, während er Tränen aus seinen Augen blinzelte, "Ich habe dich auch lieb, Pip." Pippin murmelte verschlafen, und während stumme Tränen der Freude, der Dankbarkeit und der Liebe sich ihren Weg über Frodos Wangen suchten, schlief der junge Hobbit schließlich ein.
Kapitel 57: Zuhause
Die Zeit verging schnell. Frodo, Merry und Pippin genossen die letzten warmen Tage, waren jedoch häufiger im Bruch anzutreffen als am Flussufer oder unter der großen Eiche, wo sich die meisten anderen Kinder zu dieser Zeit vergnügten. Das Wetter war merklich kühler geworden, nicht selten wehte ein frischer Luftzug über die Felder Bocklands oder ließ die Blätter in den Bäumen rauschen, und Saradoc fürchtete, es würde einen langen, kalten Winter geben. Die Ernte war in vollem Gange und jeder hatte eine Menge Arbeit, die es zu verrichten galt. Junge Hobbits, die nichts besseres zu tun hatten, als sich die Zeit damit zu vertreiben, das mühevoll zusammengetragene Heu unter lautem Schlachtgebrüll und dem Klang aufeinander schlagender Stöcke im Stall zu verteilen, mit der Entschuldigung, die Ponys benötigten ein wenig Unterhaltung, die sie nur dank ihrer lange einstudierten Vorführung der Schlacht auf den Grünfeldern erhielten, wurden unter anderem mit Aufgaben, wie dem Ausmisten von Ställen und dem Auflesen von Äpfeln und Birnen unter den Bäumen, beschäftigt. An diesem Tag jedoch waren Merry, Frodo und Pippin den Arbeiten im Brandyschloss entkommen. Alle drei hatten sich nach dem Frühstück mit ausreichend Proviant ausgerüstet, Brot und Käse in ihren Rucksäcken verstaut, sich von Esmeralda einen Wasserschlauch füllen lassen und die vielen Ermahnungen der Herrin nickend zur Kenntnis genommen, ehe sie lachend und singend zum Bruch gewandert waren.
"Und wie werden wir nun vorgehen?" wollte Merry wissen und blickte dabei neugierig auf Frodo. Die jungen Hobbits standen unter dem Apfelbaum im Bruch, jeder von ihnen mit einem Stock bewaffnet, der ihnen als Schwert dienen sollte und berieten ihr Vorhaben. Frodo warf seinen Rucksack zu Boden, griff nach einem im Gras liegenden Apfel und lehnte sich an den Stamm. Er hatte die Führung ihres Abenteuers übernommen, hatte schließlich die Idee dazu in seinem Kopf zu reifen begonnen. Erst am vergangenen Abend, als Merry bei ihm und Pippin im Zimmer gewesen war, hatte er eine Geschichte über einen Drachen erzählt. Nicht etwa jene, die Bilbo gerne zum Besten gab, sondern eine eigene. Sie handelte von einem einsamen Drachenjäger, dessen Auftrag es war, den letzten und mächtigsten aller Drachen in Mittelerde niederzustrecken. Heute jedoch wollten er, Merry und Pippin die Drachenjäger sein und den gemeinen Lindwurm, der zweifelsohne in den Feldern des Bruchs herumschlich, zu Fall bringen. Dazu mussten sie den Drachen allerdings zuerst finden und genau das teilte Frodo seinen Vettern mit, als er einen Bissen von seinem Apfel nahm. "Wir werden zusammenbleiben", erklärte er, "und uns bereit halten, sollte er plötzlich auftauchen. Aber wir müssen vorsichtig sein. Keiner soll wissen, dass wir auf der Suche nach dem Drachen sind, denn Drachen haben Späher und wenn man uns entdeckt, könnte er uns zuvorkommen. Wir müssen heimlich handeln. Am besten wäre es, wenn uns niemand auch nur bemerken würde." Merry und Pippin nickten eifrig, wobei Pippin seinen Stock etwas fester umklammerte, ängstlich, aber doch entschlossen, dem Drachen entgegenzutreten, sollten sie ihn entdecken. Er würde so vorsichtig sein, wie er konnte. Niemand sollte ihn bemerken. Er kannte genügend Möglichkeiten, nicht aufzufallen und jede Einzelne davon würde er anwenden, sollte es die Situation verlangen. "Es wird keine leichte Suche werden", fuhr Frodo fort und blickte seine Vettern dabei ernst an. Merry nickte. "Das wissen wir, doch wir werden alle Anstrengungen durchstehen…." "… und keine Mühen scheuen, den Drachen zu finden", schloss Pippin aufgeregt. Der junge Hobbit konnte kaum noch stillstehen, verlagerte das Gewicht ständig von einem Bein auf das andere und blickte immer wieder gespannt um sich. Merry war zwar weniger unruhig, doch auch in seinem Gesicht zeigte sich eine gewisse Anspannung. Immerhin ging es hier um einen Drachen. Er war ängstlich, war schon immer ängstlich gewesen, wenn es um Drachen ging, doch wollte er das unter keinen Umständen zeigen. Nicht vor Frodo, der ohnehin um seine Angst wusste und noch weniger vor Pippin, der ihn bestimmt tagelang aufziehen würde, sollte er nur das geringste Anzeichen von Unbehagen bemerken. Auch Merry umklammerte seinen Schwertstock fester. Frodo nickte zufrieden, stand auf und warf den übrig gebliebenen Apfelkern schwungvoll zur Straße hinüber, in der Hoffnung, er würde in der Böschung landen, die das westliche Flussufer säumte, konnte jedoch nicht erkennen, ob ihm dies auch gelungen war. Ein kühler Luftzug spielte mit seinem Haar und ließ das Blätterdach des Apfelbaumes leise säuseln, als er den Rucksack schulterte und einen weiteren Apfel vom Boden aufnahm, den er sich in die Hosentasche steckte. Pippin wollte ebenfalls ein zweites Frühstück einstecken, doch der Apfel, nach dem er griff, faulte bereits und so ließ er es bleiben.
Es war ein herrlicher Tag für eine Drachenjagd. Der Himmel strahlte in einem klaren Blau, das nur von wenigen Schäfchenwolken durchzogen wurde, und die Sonne war gerade stark genug, um die Männer und Frauen auf den Feldern nicht zum Schwitzen zu bringen. Ab und an säuselte der Wind sein leises Lied, spielte mit den zerzausten Locken der Hobbits und ließ das Gras unter ihren Füßen tanzen, während er Blätter in Bäumen und Büschen zum Rauschen brachte. Frodo grinste in sich hinein, als er in die Gesichter seiner Vettern blickte. Er hatte es geschafft, sie in ein Abenteuer zu verwickeln und das freute ihn. Es machte ihm Spaß, mit Merry und Pippin auf Drachenjagd zu gehen und auch wenn er anfangs geglaubt hatte, von der Idee eines Drachen im Bruch weit weniger gefesselt zu sein als seine jungen Vettern, musste er bald feststellen, dass er, dank der entschlossenen Gesichter von Merry und Pippin, deren aufgeregten Worten und seiner eigenen, spannenden Geschichte bald zur Überzeugung gekommen war, wirklich einen Drachen niederstrecken zu müssen. Angespannt schlichen die jungen Hobbits über die Felder, hielten dabei ihre Stöcke fest umklammert und blickten sich immer wieder versichernd nach allen Seiten um. Wann immer sie jemanden entdeckten, gingen sie hinter aufgestapelten Holzscheiten in Deckung, warfen sich flach ins hohe Gras oder versteckten sich in Maisfeldern. Keiner schien ihre Anwesenheit zu bemerken, worauf die drei mächtig stolz waren. Trotz ihrer erheblichen Mühen gelang es ihnen dennoch nicht, den Drachen zu entdecken, was ihnen im Laufe des Nachmittages jedoch vollkommen gleichgültig wurde. Nachdem sie auf einer abgemähten Wiese ihr Mittagslager aufgeschlagen und eine ordentliche Mahlzeit zu sich genommen hatten, war der Gedanke an einen Drachen schon beinahe vergessen. Viel wichtiger war es, auch den Rest des Tages ungesehen durch die Felder zu streifen und den Farmern den einen oder anderen Streich zu spielen. So geschah es, dass Frodo sich an einen Bauer heranschlich, der eine kurze Pause eingelegt hatte und einen Apfel verzehrte. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch nicht dem Hobbit, sondern der Sense, mit der dieser zuvor gearbeitet hatte. Heimlich nahm Frodo sie vom Boden auf, um sie einige Schritte weiter im hohen Gras zu verstecken. Das Herz klopfte ihm dabei bis zum Hals und seine Finger zitterten so stark, dass er fürchtete, das Blatt der Sense würde dadurch zum Schwingen gebracht werden. Merry und Pippin hielten sich im nahe gelegenen Maisfeld versteckt und beobachteten das Geschehen. Kaum hatte Frodo die Sense wieder hingelegt, machte er auf dem Absatz kehrt und eilte so leise wie möglich zurück zu ihnen, blickte sich dabei aber immer wieder angespannt um. Ein dünner Schweißfilm lag auf seiner Stirn, als er sich schließlich wieder im Schutz des Maisfeldes befand und er keuchte vor Aufregung, doch seine Augen glänzten. Er hatte es geschafft, die Sense unbemerkt zu verstecken. Merry und Pippin klopften ihm anerkennend auf die Schulter, ehe sie durch die breiten Blätter der Maisstängel auf die Wiese hinausblickten und darauf warteten, dass sich der Bauer wieder an die Arbeit machte. Nach einiger Zeit wandte sich dieser auch endlich um und blickte zum Himmel, um den Stand der Sonne zu prüfen. Die jungen Hobbits bissen sich angespannt auf die Lippen, die Augen glänzend vor Aufregung. Als der Bauer dann verdutzt auf den Fleck sah, an dem zuvor seine Sense gelegen hatte und sich verwirrt an der Stirn kratzte, konnten die Kinder nicht länger an sich halten und brachen in schallendes Gelächter aus, ehe sie blitzschnell das Weite suchten und kichernd und jubelnd im Maisfeld verschwanden, während der Bauer ihnen wütend hinterher rief. Ein andermal versteckten sich Merry und Pippin hinter einer Vogelscheuche. Die arme Bauersfrau, die das Pech hatte, als Erste an der Strohpuppe vorbeizugehen, ließ vor Schrecken ihren Korb mit eingesammelten Äpfeln fallen, als die Vogelscheuche plötzlich unheimliche Geräusche von sich gab und mit den Armen wedelte. Dann jedoch vernahm sie ein Kichern, und rannte schimpfend hinter Merry und Pippin her, die lachend und Fratzen schneidend davon stürmten.
Erst am Abend, als die Hobbits sich wieder auf den Heimweg begaben und die Sonne tief im Westen stand, kehrten ihre Gedanken zu dem Drachen zurück, und alle drei erfanden die wildesten Geschichten um drei junge Hobbits, die als Drachenjäger in die Welt hinaus zogen. Ein Lachen stand auf ihren Gesichtern und ihre Augen leuchteten, während sie erzählten und die Sonne ihren Wangen einen rötlichen Schimmer verlieh. Sie bogen gerade in den Fährweg ein, als Frodo plötzlich stehen blieb. Merry und Pippin schien das nicht aufzufallen, denn sie gingen weiter, lachten und unterhielten sich, als wäre Frodo noch bei ihnen. Doch plötzlich hielten sie inne und blickten zurück. "Ist alles in Ordnung?", wollte Pippin wissen, während Merry erklärte, dass sie sich beeilen mussten, wenn sie rechtzeitig zu Hause sein wollten.
Doch Frodo achtete nicht auf sie. Er blieb wie angewurzelt stehen und blickte nach Norden. Das Lächeln auf seinem Gesicht war einem verwunderten Ausdruck gewichen. Sein Herz schlug aufgeregt in seiner Brust, unmerklich schneller, als noch Momente zuvor. Seine Gedanken überschlugen sich. Es konnte nicht sein, oder etwa doch? Nein, er hatte es nicht erwähnt, also musste er sich irren. Frodo blickte weiterhin wie versteinert nach Norden, auf die Gestalt, die von Stock kommend auf sie zu wanderte. Sie hielt einen Wanderstab in einer Hand, hatte einen braunen Umhang um die Schultern geschlungen und schien frohen Gemütes zu sein. Es war schon spät und Frodo konnte das Gesicht des Reisenden in der zunehmenden Dunkelheit nicht erkennen, doch sein Herz wusste bereits, wer auf ihn zukam, auch wenn sein Verstand weiterhin das Gegenteil behauptete.
Noch hatte ihn der Wanderer nicht bemerkt, doch plötzlich blieb er stehen. Ein Windstoß ließ die Blätter in den Bäumen, die den Weg zu Frodos Linken säumten, rascheln und brachte ihn zum erschaudern. Frodo wollte sich bewegen, wollte etwas sagen, doch schien er jegliche Kontrolle über seinen Körper verloren zu haben. Sein Mund war trocken und das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Konnte es denn wirklich sein? Konnte es… "Bist du das, Frodo?" Mit einem Mal fiel die Lähmung von ihm ab und Frodo stürmte nach vorne. Wie sehr hatte er diese Stimme vermisst! Wie sehr hatte er gehofft, Bilbo wieder zu sehen und nun stand er plötzlich vor ihm und dass, obwohl er geglaubt hatte, Bilbo so bald nicht wieder zu sehen. Tränen der Freude sammelten sich in seinen Augen, doch Frodo war viel zu beschäftigt damit, wie blind über die Straße zu stolpern, als dass er sie hätte wegblinzeln können.
Bilbo hatte seinen Wanderstab fallen gelassen und war Frodo entgegen geeilt, überrascht und zugleich sehr erfreut, Frodo eher zu sehen, als er gehofft hatte. Mit offenen Armen empfing er den Jungen, als dieser ihm entgegenstolperte, drückte ihn an seine Brust und hielt ihn einfach nur fest, als Frodo sich voller Freude an ihn klammerte. Noch hatten sie keine Worte miteinander gewechselt und doch umgab ihn bereits eine Vertrautheit, die Frodo nur von Bilbo kannte. Tränen der Freude rannen über seine Wangen. Seine Knie waren weich geworden und Frodo war sich sicher, dass er gefallen wäre, hätte Bilbo ihn nicht festgehalten, doch das machte ihm nichts aus. Er vergrub den Kopf in Bilbos Mantel, sog dessen Duft tief in sich ein und schloss die Augen. Der Mantel roch nach Pfeifenkraut und Wein, doch Frodo konnte auch andere Gerüche erkennen, die nicht vom Mantel herrührten, doch zweifelsohne von Bilbo stammten. Keiner roch so stark nach Tinte, altem Pergament und Büchern, wie sein Onkel. Frodo fühlte die Wärme der Umarmung, Bilbos Wärme, und seine Seele sog sie sogleich in sich auf, stillte die Sehnsucht, die zu einem Teil von ihm geworden war und gewährte ihm einen Augenblick des Friedens. "Du bist also doch gekommen", wisperte er mit tränenerstickter Stimme, die zugleich unendlich erleichtert klang. Bilbo strich ihm zärtlich durch die dunklen Locken, hatte bei dem Klang von Frodos Stimme selbst mit den Tränen zu kämpfen. "Ja, mein Junge, ich bin hier. Ich bin hier."
Merry und Pippin waren wieder auf die Landstraße geeilt, als Frodo plötzlich davon gestürmt war. Pippin wollte Bilbo sogleich freudig begrüßen, als er ihn erkannte, doch Merry hielt ihn kopfschüttelnd zurück. Er lächelte, wusste er doch, wie sehr Frodo Bilbo liebte und gönnte ihm diesen Moment des ersten Zusammentreffens alleine. Erst als die beiden zu ihnen kamen, begrüßten auch er und Pippin den alten Hobbit und gemeinsam machten sie sich schließlich auf den Weg zum Brandyschloss, wobei sie Bilbo sogleich in ihr Drachenabenteuer und andere Geschehnisse einweihten.
~*~*~
Frodo hatte die Hände hinter den Kopf gelegt und blickte mit blinden Augen zur Zimmerdecke. Ein blasser Halbmond warf sein schwaches Licht in das kleine Zimmer und ließ Frodos junges Gesicht fahl aussehen. Die Nacht war schon weit fortgeschritten, doch Frodo konnte keinen Schlaf finden. Bilbo hatte ihn nach dem Abendessen zu sich gerufen, und Frodo hatte den ganzen Abend bei ihm verbracht und sich mit ihm unterhalten. Alleine wäre er nicht zu dem alten Hobbit gegangen, ganz gleich, wie sehr sich sein Herz dies wünschte, schließlich hatte Bilbo eine lange, beschwerliche Reise hinter sich und brauchte seine Ruhe. Frodo hätte sich frühestens nach dem Frühstück am nächsten Morgen in das Zimmer seines Onkels gewagt und selbst dies schien unwahrscheinlich, denn er wollte dem alten Hobbit nicht zur Last fallen. Obschon seine Begrüßung bei der Fähre stürmisch gewesen und gleichermaßen erfreut erwidert worden war, hatten sich bereits auf dem Heimweg erste Zweifel eingeschlichen, ob Bilbo wirklich seinetwegen gekommen war. In seinem Brief hatte der alte Hobbit schließlich nichts erwähnt und Frodo hatte sich bereits darauf eingestellt, seinen Geburtstag in zwei Tagen alleine verbringen zu müssen. Vielleicht hatte Bilbo andere Dinge zu erledigen, die weitaus wichtiger waren, als der Geburtstag seines Neffen. Womöglich sollte er seine überschwänglichen Emotionen zügeln, und seinen Onkel nur besuchen, wenn dieser ihn zu sich rief, um ihm nicht zur Plage zu werden. Alleine der Gedanke ließ Frodos Herz bluten. Welchen Grund konnte Bilbo schon haben, so kurz vor seinem eigenen Geburtstag eine solche Reise anzutreten, wenn nicht jenen, ihm eine Freude zu machen? Gequält schloss Frodo die Augen. So gern er dies auch glauben wollte, der Gedanke, dass Bilbo alleine wegen ihm hier war, schien ihm ebenso unwahrscheinlich, wie jener, dass sein Geburtstag überhaupt nichts mit dem Besuch seines Onkels zu tun hatte.
Mit einem leisen Stöhnen drehte er sich auf die rechte Seite. Bilbo war hier und so sehr ihn das freute, so sehr es ihn erleichterte, so sehr ängstigte ihn das auch. In Bilbos Nähe fühlte er sich schwach, klein und hilflos. Hatte er es zuvor geschafft, monatelang nicht zu weinen, abgesehen von einigen wenigen Tränen, so war er heute in Tränen ausgebrochen, noch ehe er Bilbo begrüßt hatte. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er gegen jene Tränen nicht ankämpfen können, denn es waren Tränen der Erleichterung gewesen. Erleichterung, dass sein Onkel zu ihm gekommen war und er auf Verständnis hoffen konnte, auf Geborgenheit. Frodo wusste von seiner Sehnsucht nach Wärme. Jener Wärme, die ihm nur Bilbos Umarmungen gewähren konnte. Er wusste von dieser Sehnsucht, seit jenem Tag, an dem seine Großmutter zu Grabe getragen worden war und der Wunsch nach einer Umarmung stärker gewesen war, als jemals zuvor. Doch schon früher hatte er davon gewusst, wenn auch nicht ganz so klar, wie er es nun tat. Was Frodo jedoch am meisten verwunderte war die Tatsache, dass nur Bilbos Umarmungen jene Wärme auszustrahlen schienen, nach der er sich so sehr sehnte, jene Wärme, die ihn so sehr an seine Mutter erinnerte, und es erschreckte ihn beinahe, wie widerstandslos er sich von Bilbo in die Arme nehmen ließ. Nur in seinen Armen fühlte Frodo sich sicher, geborgen, und fühlte die Wärme, nach der sich sein junges Herz verzehrte. Doch das war nicht alles, was Bilbos Umarmungen in ihm auslösten. In Bilbos Armen fühlte er selbst im Brandyschloss etwas, das er hier seit vielen Jahren nicht mehr zu fühlen imstande war. In Bilbos Armen umfing ihn das unabstreitbare Gefühl…
"Zuhause." Pippins Stimme klang schwach und tränenerstickt. Frodo schreckte aus seinen Gedanken, blinzelte und lauschte. Ein leises Schluchzen drang an sein Ohr, ein Wimmern, das zweifelsohne schon länger anhielt, nur hatte Frodo es zuvor nicht wahrgenommen, da er zu tief in Gedanken gewesen war. Erschrocken wandte er sich um, stützte sich auf den Ellbogen und blickte auf die Matratze neben seinem Bett. "Pippin?", flüsterte er beinahe zögernd. "Warum weinst du?" Frodo hörte, wie sein Vetter scharf die Luft einzog. Das Schluchzen erstarb und die Bettdecke, unter der sich Pippin vollends verkrochen hatte, bewegte sich unmerklich näher an Frodos Bett heran. "Ich weine nicht", antwortete eine Stimme, die ihre eigene Aussage Lügen strafte. Pippin lugte unter der Bettdecke hervor und zog die Nase hoch. Frodo wollte gerade fragen, was ihn so sehr betrübte, als Pippin mit einer raschen Bewegung auf sein Bett kletterte und das Gesicht in seinem Nachthemd vergrub. "Ich weine nicht", wiederholte der junge Tuk noch einmal, doch kullerten Tränen dabei über seine Wangen und tropften auf Frodos Nachthemd. Hilfe suchend und krampfhaft umfassten Pippins Hände den Stoff des weichen Gewandes und nicht enden wollendes Zittern ließ seinen Körper erbeben. Frodo erstarrte vor Schrecken. Was war geschehen? Pippin war eine Frohnatur, wie es im ganzen Auenland keine Zweite gab, doch was hatte seinen Vetter so sehr aus der Fassung gebracht, dass er nun weinend in seinem Bett lag und unaufhörlich in sein Nachthemd schluchzte. Beinahe zögernd legte Frodo einen Arm um Pippins Schulter, strich sanft über die dichten, braunen Locken und drückte seinen Vetter an sich. Er vollbrachte, was keiner für ihn getan hatte, wenn stille Verzagtheit stärker gewesen war als er, und sein Herz schrie auf bei Pippins Weinen, wünschte sich nichts mehr, als seine eigenen Leiden so zu lindern. Doch Frodo brachte die verzweifelte Stimme zum Schweigen, auch wenn es ihn alle Willenskraft kostete, die er aufbringen konnte. Zuerst musste er wissen, weshalb Pippin so bekümmert war, ganz gleich, wie ängstlich ihn diese Situation stimmte, oder wie sehr ihm selbst nach Weinen zumute war. Das Schluchzen wurde zu einem leisen Wimmern und Frodo wagte es schließlich, die Stille, die aufgekommen war, zu brechen. Seine Stimme zitterte, als er Pippin sanft nach dem Grund für seine Tränen fragte. Pippins feuchte grüne Augen blickten in Frodos fragende blaue, als er zögernd zu erklären begann. "Es gefällt mir hier, aber ich will wieder nach Hause", sagte er leise, schüttelte dann aber den Kopf. "Nein, ich wünschte, ich wäre bereits Zuhause." Frodo nickte. Er konnte seinen Vetter verstehen. Pippin war selten so lange von zu Hause fort und wenn, dann wurde er entweder von seiner Mutter oder seinem Vater begleitet. Dieses Mal jedoch war er mit Perle hier, die er ohnehin nur bei den Mahlzeiten sah. Zwar hatte Frodo selbst keine Geschwister, doch war er sich sicher, dass eine ältere Schwester, vor allem jemand wie Perle, nicht dazu in der Lage war, solchen Kummer zu bekämpfen. Jedenfalls konnte sie das bestimmt nicht so gut, wie es Pippins Eltern hätten tun können, denn soweit sich Frodo erinnern konnte, hatte Pippin bei keinem anderen seiner Besuche im Brandyschloss über Heimweh geklagt. Frodo empfand Mitleid für seinen Vetter und seine Umarmung wurde unmerklich fester. Fieberhaft dachte er darüber nach, wie er ihm helfen, wie er ihn aufmuntern konnte, als Pippin ihn geradewegs ansah und ihn fragte: "Hattest du noch nie Heimweh, Frodo? Ich meine, du warst viele Monate bei mir in den Großen Smials, doch du hattest kein Heimweh, oder doch? Das Brandyschloss ist dein Zuhause, vermisst du es denn nicht, wenn du weg bist?" Frodo verkrampfte sich unweigerlich bei dieser Frage. Er hatte nie darüber nachgedacht. Hatte er jemals an Heimweh gelitten? Krampfhaft versuchte er, sich an ein Ereignis zu erinnern, an dem dies der Fall gewesen war, doch ganz gleich, woran er dachte, ob an einen Besuch bei Bilbo mit seinen Eltern, seinen Besuch in Tukland vor beinahe vier Jahren oder an seinen Aufenthalt bei Bilbo nach seinem zwölften Geburtstag, er konnte sich an kein einziges Mal erinnern, an dem ihn Heimweh geplagt hatte. Seine Stirn legte sich verwirrt in Falten und er hoffte, Pippin könne dies in der Dunkelheit nicht erkennen. Damals war ihm das als nichts Besonderes erschienen, doch jetzt, da er daran zurück dachte, kam es ihm seltsam vor.
"Nicht älter, aber wesentlich richtiger im Kopf." Marrocs Worte klangen in seinen Ohren und Frodo wusste mit einem Mal um die Wahrheit, die darin verborgen lag. Er war seltsam, schließlich entsprach es der Ausnahme, kein Heimweh zu haben. Erschrocken biss er sich auf die Lippen. Sollte Marroc am Ende doch Recht behalten? Er spürte, wie er zu zittern begann, doch konnte er nicht sagen, ob vor Wut auf Marroc, oder vor Empörung über seine eigene, erschreckende Feststellung. Plötzlich jedoch drängte sich ein anderer Gedanke in seinen Kopf. Weshalb sollte er Heimweh haben? Als er mit seinen Eltern bei Bilbo gewesen war, hatte es keinen Grund gegeben, sich zu wünschen, woanders zu sein, schließlich waren seine Eltern bei ihm. Der Gedanke daran schmerzte Frodo und er schielte zu seinem Nachtkästchen, wo das Bild seiner Eltern im Mondlicht blass schimmerte. Später, als er alleine gewesen war, hatte es ebenfalls keinen Grund für ihn gegeben, zum Brandyschloss zurück zu wollen. Zwar lebte er hier, doch seit seine Eltern nicht mehr bei ihm waren, war das Brandyschloss auch nicht länger sein Zuhause, ebenso wenig, wie es das Zuhause seiner Eltern war.
Tränen, die er zurückhalten hatte wollen, schossen mit einem Mal in Frodos Augen und eine erschreckende und zugleich erleichternde Erkenntnis traf ihn. Gedanken aus längst vergangenen Tagen kehrten in seinen Kopf zurück. Was immer die anderen auch behaupten mochten, er wusste, dass sein wahres Zuhause nicht mehr im Brandyschloss war, sondern hier, bei Bilbo. Plötzlich wusste er auch, was der Auslöser für jene Sehnsucht war, die ihn schon so lange hungern und verzweifeln ließ. Er wusste, was er neben Geborgenheit und jener Wärme spürte, die ihm sonst nur seine Mutter zu spenden vermochte. In Bilbos Armen fühlte er sich zu Hause. In seinen Armen entdeckte er jenes Zuhause wieder, das er vor sechs Jahren verloren hatte.
Und hätte er es gewusst, hätte Frodo auch den Grund für andere Gefühle gefunden. Er fühlte sich schwach, klein und hilflos, weil er sich Zuhause erlauben konnte, eben dies zu sein. Zuhause konnte er jenes Kind sein, das vor sechs Jahren beinahe mit seinen Eltern gestorben war und sich seither hinter einer Mauer versteckte, vortäuschend ein Herz zu besitzen, das nicht halb so stark war, wie es vorgab zu sein. Er schenkte Liebe, die er zu empfangen hungerte, gewährte Schutz, wo er Schutz suchte, spendete Trost, wenn er Trost benötigte, während Einsamkeit, Kummer und Verzweiflung an seiner zerbrechlichen Seele nagten.
"Ich weiß nicht mehr, ob ich Heimweh hatte", antwortete Frodo schließlich und schluckte schwer. Sein Mund war trocken, seine Kehle wie zugeschnürt. Die Tränen in seinen Augen drohten überzulaufen. "Vielleicht hatte ich welches", sagte er leise, als ihm unerwartet eine Idee kam, seinen Vetter aufzuheitern, "aber weißt du was? Ich glaube, der Drachenjäger hatte kein Heimweh. Stell dir vor, er hätte welches gehabt", Frodo lächelte und versuchte, seine Stimme so fröhlich klingen zu lassen, wie es ihm möglich war, auch wenn er innerlich weinte, doch davon sollte Pippin nichts bemerken. Der junge Tuk hob den Kopf und blickte Frodo mit fragenden Augen an. "Vermutlich hätte er dann kurz vor seinem Ziel umgedreht und wäre nach Hause gegangen." Ein kurzes Lächeln huschte über Pippins Lippen und das war alles, was Frodo benötigte, um fortzufahren, ganz gleich, wie er sich im Augenblick fühlte. Und so erzählte er, redete bis spät in die Nacht, bis Pippin seine alte Fröhlichkeit wieder fand und seine Tränen vergaß.
Kapitel 58: Zurückgewiesen
Bilbo, es war von Anfang an Bilbo. Ich gehöre hier nicht her, das wusste ich schon immer, doch wo mein Platz stattdessen ist, konnte ich nie sagen. Jetzt weiß ich es. Bilbo, ich gehöre zu Bilbo. Mein Platz ist in Beutelsend. Ob Bilbo ahnt, dass ich zu ihm gehöre? Hat er es vielleicht schon lange gewusst und nicht gehandelt? Ist er vielleicht gerade deswegen hier? Nimm mich mit dir, Bilbo! Bring mich weg von hier! Hol mich zu dir nach Beutelsend! Hol mich nach Hause! Ich wünschte, ich könnte es ihm sagen, doch das kann ich nicht. Erst muss ich ganz sicher sein. Was, wenn ich mich irre? Was, wenn mir meine Müdigkeit gestern Nacht Streiche spielte? Nein, das kann nicht sein. Selten war mir etwas bewusster, als jener Gedanke gestern Nacht. Ich gehöre zu Bilbo. Seine Wärme ist das Zuhause, nach dem ich mich sehne. Nimm mich mit dir, Bilbo! Geh nicht noch einmal fort und lass mich verlassen hier zurück! Ich muss es ihn wissen lassen, doch wie? Ich wage nicht, es ihm zu offenbaren. Ich wüsste nicht wie. Meine Gefühle kann ich nicht beschreiben und wie ich es ihm sonst erklären sollte, weiß ich nicht. Frag mich, Bilbo. Ich bitte dich, frag mich, ob ich mit dir kommen will und ich werde dir antworten. Ich würde dir alles sagen, wenn du mich nur wissen ließest, dass du dasselbe fühlst. Fühlst du es nicht, so wären meine Hoffnungen nur Schein und selbst mein Gefühl hätte mich verraten, doch das hat es nicht. Kein Gefühl ist stärker als jene Sehnsucht, die ich empfinde, wenn du nicht hier bist. Heimweh. Ich weiß, wie Pippin sich fühlt. Ich leide an Heimweh, seit ich Beutelsend vor beinahe sechs Jahren verlassen habe, das ist mir jetzt klar. Bitte, Bilbo, nimm mich mit dir!
Frodos Hände zitterten. Er war kaum dazu in der Lage, seine Worte niederzuschreiben. Tränen rannen über seine Wangen und sein Herz pochte, als wolle es ihm aus der Brust springen. Sein Mund war trocken und er keuchte. Er war so aufgeregt, er glaubte, zerspringen zu müssen. Verzweiflung, Erleichterung, Hoffnung, Freude, Angst, alle Gefühle schienen sich in ihm zu überschlagen. In der vergangenen Nacht hatte er keinen Schlaf gefunden. Nur kurz war er neben Pippin eingenickt, doch Erholung hatte es für ihn keine gegeben. Die ganze Nacht über hatte ein einziger Gedanke jeden anderen unmöglich gemacht. Nach so langer Zeit hatte er endlich sein Zuhause gefunden. Endlich wusste er, wo er hingehörte. Verzweifelt blickte er zum Bild seiner Eltern, während immer mehr Tränen sich in seinen Augen sammelten und über seine Wangen liefen. "Sorgt dafür, dass er mich mit sich nimmt", bat er leise schluchzend. "Ich will wieder ein Zuhause haben." Mit zittrigen Fingern schloss er schließlich sein Tagebuch, drückte es an seine Brust und schloss die Augen, darum bemüht, wieder Kontrolle über seine Tränen und das Zittern, das seinen ganzen Körper umklammert hielt, zu erlangen.
Sonnenstrahlen fielen durch das runde Fenster über dem Bett und warfen ihr Licht in die dunklen Ecken des kleinen Zimmers. Frodo saß am Schreibtisch, hatte sich auf seinem Stuhl leicht nach vor gebeugt und hielt sich verkrampft an seinem Tagebuch fest. Seine Haare waren zerzaust, die dunklen Locken zeigten wirr in alle Richtungen. Die Matratze, die für Pippin gedacht war, lehnte am Schrank neben seiner Zimmertür und Decke und Kissen lagen sorgsam zusammengelegt daneben. Frodo hatte Pippins Bett zur Seite räumen müssen, um an seinen Schreibtisch zu kommen, doch sein eigenes Bett hatte er nicht einmal angesehen, seit er aufgestanden war. Die Bettdecke war zur Seite gestrampelt, das Leintuch verzogen und das Kissen zusammengeknetet.
Tief Luft holend, öffnete Frodo schließlich seine Augen. Jetzt, da er jene Gedanken, die ihm in der vergangenen Nacht den Schlaf geraubt hatten, niedergeschrieben hatte, fühlte er sich ein wenig besser. Seine Tränen waren für den Augenblick versiegt und auch das Zittern seiner Hände hatte nachgelassen. Sein Herz klopfte noch immer wie wild, schien ihm gelegentlich bis zum Hals zu schlagen, doch waren seine Schläge nun ruhiger als zuvor. Für einen Augenblick stahl sich sogar der Hauch eines Lächelns über Frodos Gesicht. Er hatte endlich erkannt, wo sein Zuhause war, und nun galt es, Bilbo von der Notwendigkeit eines Umzuges zu überzeugen. Er kniete sich auf den Boden, verräumte sorgsam sein Tagebuch in der Holztruhe, stand schließlich auf und blickte zum Bild seiner Eltern. Er würde mit Bilbo sprechen, würde in Erfahrung bringen, ob der alte Hobbit ähnliche Dinge fühlte wie er selbst, und vielleicht, vielleicht war er dann sogar in der Lage, Bilbo seinen Wunsch mitzuteilen. Sein Herzschlag beschleunigte sich alleine bei dem Gedanken daran, denn trotz all der Erleichterung, die er über seine neu gewonnene Erkenntnis empfand, war er aufgeregter denn je und hatte Angst vor der bevorstehenden Unterhaltung, weil er nicht wusste, wie er seine Worte wählen sollte. Erneut nahm er einen tiefen Atemzug, streckte die Hand aus, und strich zärtlich und mit außergewöhnlicher Vorsicht über den Holzrahmen, der das Bild seiner Eltern hielt. "Helft mir, bitte", wisperte er beinahe tonlos, während die Sonne seine linke Wange wärmte.
~*~*~
Der kühle Wind der vergangenen Tage hielt auch an diesem Nachmittag an und obschon die Sonne vom Himmel lachte, war es längst nicht so warm, wie es den Anschein hatte. Die Blätter rauschten in den Bäumen und Bilbo glaubte, bei manchen bereits eine leichte Verfärbung erkennen zu können. Es war selten, dass er einen Tag vor seinem Geburtstag bereits so deutliche Spuren des Herbstes erkennen konnte und er vermutete, dass Saradoc, mit dem er sich in der vergangenen Nacht lange unterhalten hatte, Recht behalten und es einen langen, harten Winter geben würde. Bilbo hatte den Wind im Rücken, als er mit einem Picknickkorb in der rechten Hand gemächlich nach Süden ging. Er und Frodo, der neben ihm her lief, eine Decke unter den linken Arm geklemmt, folgten dem Lauf des Brandyweins, das gemächliche Plätschern des Flusses in den Ohren. Während er seinen Mantel angezogen hatte, um die Kälte fernzuhalten, trug Frodo nur eine wollene, grüne Jacke, die im nächsten Frühling vermutlich an Merry oder einen anderen jüngeren Hobbit weitergereicht werden würde, da sie Frodo schon beinahe zu klein war.
Bilbo beobachtete den Jungen und fragte sich, was er auf dem Herzen hatte. Frodo machte einen aufgeregten Eindruck, von dem er zweifelsohne überzeugt war, dass er ihn sich nicht anmerken ließ. Obschon seine Augen meist auf das Gras unter seinen Füßen gerichtet waren, schielte der Junge immer wieder heimlich in seine Richtung und Bilbo hatte bald Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass er längst um die verstohlenen Blicke wusste. Es war Frodos Idee gewesen, zu picknicken. Bald nach dem Frühstück hatte der Junge an seiner Zimmertüre geklopft und beinahe zögernd diesen Wunsch geäußert. Schon da schien er ausgesprochen angespannt zu sein, hatte seine Finger festgehalten, als wolle er sie am Zittern hindern und war kaum dazu in der Lage gewesen, Bilbo anzusehen. Dennoch hatte er darauf bestanden, mit ihm alleine zu gehen, auch wenn diese Bitte nur als schüchternes Flüstern über seine Lippen gekommen war. Er hatte sich daran erinnert, was Frodo ihm bei ihrem letzten Picknick nahe dem Brandywein gesagt hatte und hatte ohne zu zögern zugestimmt. In seinen Gedanken hörte er beinahe Frodos Stimme und die Worte, die er damals gesprochen hatte, ließen ihm keine Ruhe. Selbst als er am frühen Nachmittag den Picknickkorb gepackt und mit Frodo an seiner Seite aufgebrochen war, ließen ihn die Worte nicht vollständig los.
"Du hast gemeint, ich würde mich nicht auf das Picknick freuen. Ich habe mich darauf gefreut. Es war nur, dass ich geglaubt hatte, wir würden alleine gehen. Ich hatte geglaubt, wir könnten miteinander reden."
Bilbo war sich sicher, dass es auch dieses Mal darauf hinauslief. Frodo hatte etwas auf dem Herzen und wollte es ihm anvertrauen, nur dass er dieses Mal in der Lage gewesen war, seinen Wunsch, mit ihm alleine zu sein, auch zu äußern, obgleich es ihm sichtlich schwer gefallen war. Nichtsdestotrotz erfüllte es Bilbo mit Stolz und ein Lächeln stahl sich über seine Lippen. Er war neugierig, was Frodo ihm zu sagen hatte, doch drängte er den Jungen nicht. Frodo würde sprechen, sobald er soweit war und noch machte er nicht den Eindruck, für ein Gespräch bereit zu sein. Bilbo lächelte, als er Frodo erneut dabei erwischte, wie er zu ihm herüberschielte, auch wenn ihn die Ruhelosigkeit des Jungen ein wenig beunruhigte. Was erregte ihn so sehr, dass er nicht einmal dazu in der Lage war, ihm in die Augen zu sehen? Mit derselben Heimlichkeit, mit der dieser ihn betrachtete, ließ Bilbo nun seinerseits seinen Blick zu seinem jungen Begleiter wandern, schüttelte seine Unruhe dann aber ab. Frodo teilte ihm im Laufe des Nachmittages bestimmt mit, was ihn so sehr beschäftigte. Zuvor galt es jedoch, die angespannte Stimmung, die zwischen ihnen aufgekommen war, zu lösen und so stimmte Bilbo ein altes Wanderlied an.
Frodo ging neben Bilbo her und hatte alle Mühe, seine Gefühle zu verbergen. Der Wind wehte ihm frisch gegen den Nacken und Frodo begrüßte die Kälte, die ihn dabei durchfuhr. Er glaubte, innerlich zu kochen vor Aufregung, hatte immer wieder das Gefühl, laut schreien zu müssen, wenn Bilbo nicht bald auffiel, was er ihn bemerken lassen wollte. Es war nicht leicht gewesen, ihn um diesen Ausflug zu bitten. Er hatte ihm dabei nicht in die Augen blicken können, aus Angst, er würde erneut zu weinen beginnen. Selbst jetzt konnte er ihn nur mit Mühe ansehen. In seinen Gedanken schrie er immer wieder, flehte Bilbo förmlich an, ihn mit sich zu nehmen, doch die Worte kamen nicht über seine Lippen. Er wagte es nicht, wollte außerdem zuerst sicher gehen, dass Bilbo seine Bitte nicht als den selbstsüchtigen Wunsch eines verwöhnten Kindes abtat, sondern verstand, was er fühlte. Und selbst wenn er diese Sicherheit hatte, bestand noch immer die Gefahr, dass er den nötigen Mut nicht aufbringen konnte und davor war ihm bange. Wenn er auch nur daran dachte, seine Bitte zu äußern, schien sich seine Kehle zuzuschnüren und ihm die Luft zum Sprechen zu rauben.
In Gedanken malte er sich bereits aus, wie Bilbo ihm erwiderte, dass er ihn mit sich nahm. Frodo konnte vor seinen Augen sehen, wie der alte Hobbit ihn in die Arme schloss, konnte die Wärme, die ihn dabei erfüllte, beinahe fühlen und wusste, dass er sie niemals wieder würde gehen lassen, wenn sie ihm noch einmal gewährt wurde. Immer wieder wanderte sein Blick zu Bilbo, vergewisserte sich, ob der alte Hobbit etwas von dem bemerkte, was in ihm vorging, doch selbst wenn er das tat, ließ Bilbo sich das nicht anmerken. Frodo wünschte sich nichts mehr, als diesen Nachmittag bereits hinter sich zu haben, als er einen weiteren Blick zu seinem Onkel warf und dieser ihm entgegen lächelte. Beinahe erschrocken wandte Frodo seine Augen ab, fröstelte, als eine frische Windböe sein Haar zerzauste und war beinahe überrascht, als Bilbo plötzlich zu singen begann. Der Gesang des alten Hobbits erinnerte ihn an vergangene Besuche in Beutelsend, brachte jene Freude, die er damals empfunden hatte, zu ihm zurück und machte sein Herz unmerklich leichter. Bilbo musste dasselbe empfinden wie er. Ein dünnes Lächeln stahl sich über seine Lippen und eh er sichs versah, hatte Frodo in das Lied mit eingestimmt.
In einer Senke zwischen zwei größeren Hügeln breiteten sie schließlich ihre Decke aus. Hier wehte der Wind nur schwach und Bilbo zog seinen Mantel aus, während Frodo sich auf die Decke setzte und die Arme um die Knie schlang. Das Licht der Sonne glitzerte in den blauen Augen des Jungen, während sie jeder von Bilbos Bewegungen folgten, bis dieser sich schließlich ebenfalls auf der Decke niederließ und ein belegtes Brot unter dem rot-weiß karierten Tuch, das den Korb bedeckte, hervorfischte. Frodo sah ihn einige Zeit an, wandte dann jedoch den Blick ab und betrachtete den Brandywein, der zu ihrer Rechten dahin floss und ein beruhigendes Plätschern vernehmen ließ. "Es ist schön hier", bemerkte Bilbo beiläufig, wobei er einen Bissen von seinem Brot nahm. "Ich freue mich sehr, dieses Picknick mit dir verbringen zu können."
Frodo hob den Kopf und zu Bilbos Überraschung und Freude lachte er so hell und warm, als wolle er mit der Sonne wetteifern. Seine Augen glänzten. "Ich freue mich auch sehr, dass du hier bist", antwortete er und langte nach dem Picknickkorb, um sich einen Apfel zu suchen. Das Herz klopfte Frodo bis zum Hals und sein Magen flatterte, sodass ihm im Grunde nicht im Geringsten nach Essen zumute war, doch er fand, dass er etwas zu sich nehmen musste, schließlich hatte er Bilbo um ein Picknick gebeten. Er hatte Angst, wusste noch immer nicht, wie er dieses Gespräch führen sollte. Das aufgeregte Zittern, gegen das er schon den ganzen Tag ankämpfte, ließ sich kaum noch verbergen. Frodo ließ seinen Blick erneut zum Brandywein wandern und lauschte dem Wasser, hoffend, er könne so ein wenig Ruhe finden. Seine Worte waren wahr, er freute sich ungemein, mit Bilbo hier sein zu können, doch im Augenblick wurde diese Freude von Angst und Aufregung überschattet. Er wünschte sich nichts mehr, als dass dieses Gespräch bereits hinter ihm läge, Bilbo geantwortet hatte, und dass er den alten Hobbit nicht wieder würde verlassen müssen. Tief Luft holend, drehte er sich schließlich wieder zu Bilbo um. "Du hast nicht geschrieben, dass du kommst." Seine Stimme war leise, klang beinahe ein wenig anklagend, doch sah er Bilbo dabei nicht an. Bilbo lächelte und zwinkerte ihm zu. "Ich wollte dich überraschen und, wie mir scheint, ist mir das ausgezeichnet gelungen." Frodo hob bei Bilbos Antwort den Kopf, nickte erfreut und erwiderte das Lächeln. Diese Überraschung war ihm gelungen und vielleicht hatte Bilbo noch eine weitere geplant? Machte er gar schon alles bereit, ihn nach Beutelsend mitzunehmen und wartete nur noch den morgigen Tag, seinen Geburtstag, ab, um ihm dies zu verkünden? "Wie lange wirst du bleiben?", fragte Frodo aufgeregt, hatte Mühe, ruhig auf der Decke sitzen zu bleiben. Angespannt blickte er Bilbo an und auch wenn dieser sofort antwortete, schien es Frodo, als würde sich der alte Hobbit ausgesprochen viel Zeit dafür nehmen. Wenn Bilbo tatsächlich bereits Pläne hatte, dann musste er wissen, wann er aufbrechen musste. Nahm Bilbo ihn wirklich mit nach Hause? Konnte es sein, dass seine Sehnsucht endlich gestillt werden sollte und er wieder ein Zuhause bekam? "Nur etwa eine Woche", sagte Bilbo betrübt, und blickte Frodo traurig und forschend zugleich an. "Eine Woche", flüstere Frodo ungehört und wandte seinen Blick wieder dem Fluss zu. Das war nicht viel Zeit, um sich von Merry zu verabschieden und seine Sachen zu packen, doch es würde genügen. Wenn Bilbo nicht länger bleiben konnte, dann würden ihm auch wenige Tage ausreichen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals und Frodo glaubte, kaum genug Luft zu bekommen, um seine nächste Frage zu stellen. Hoffnung erfüllte sein Herz, stärker denn jemals zuvor. Aufgeregt spielte er mit seinen Fingern, hielt sie schließlich fest, um das immer stärker werdende Zittern zu verbergen. Sein Mund war trocken und den Apfel, der inzwischen in seinem Schoß lag, hatte er schon längst vergessen. Frodo konnte nicht länger warten. Er musste wissen, ob er mit seiner Vermutung richtig lag, oder er würde bersten. Seine Stimme klang leise und zitterte, als er den Mund öffnete, und es dauerte einige Momente, bis er tatsächlich in der Lage war zu sprechen. "Warum bist du hier?"
Bilbo hatte Frodo stirnrunzelnd beobachtet. Etwas ging in dem Jungen vor, das so stark war, dass Frodo kaum noch in der Lage war, es zu kontrollieren. Es beunruhigte ihn, den Jungen so aufgewühlt zu erleben, und doch machte er sich keine großen Sorgen, denn die Augen des Kindes schienen förmlich mit der Sonne um die Wette zu leuchten. Hatte er irgendwelche Pläne? Heckte er mit seinen scheinbar harmlosen Fragen etwa einen Streich aus, oder plante eine Geburtstagsüberraschung? Bilbo grinste in sich hinein, während er sein Brot verspeiste und sich ausmalte, was wohl in Frodos Kopf vorging und war beinahe überrascht, als Frodo seine nächste Frage stellte. Das Lächeln in seinem Gesicht verschwand und für einen Augenblick huschte ein beschämter Ausdruck über seine Züge. Er wollte Frodo nicht belügen, wie es zu diesem Besuch gekommen war und so seufzte er schwer, ehe er zu einer längeren Erklärung ansetzte. "Saradoc hatte mir geschrieben. Er meinte, du würdest dich freuen, wenn ich dich besuchen käme und, da es dein Geburtstag ist, wollte ich dir diese Freude machen."
Frodo konnte spüren, wie er blass wurde. Sein freudig aufgeregter Gesichtsausdruck wich purer Enttäuschung. Er fühlte sich wie versteinert, leer. Seine Welt zerbrach in tausende kleiner Scherben, ließ nur mehr Dunkelheit zurück. Der Boden unter seinen Füßen tat sich auf, verschlang ihn und er fiel, fiel, bis ihm schwindelte und er panisch die Augen vor der immer dunkler werdenden Schwärze schloss. Sein Herz schien für einige Augenblicke still zu stehen und erst, als er glaubte, zu ersticken, erinnerte er sich daran, Luft zu holen. Das Leuchten seiner Augen schwand, machte einem trüben, leeren Ausdruck Platz. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn wie die glühende Klinge eines Schwertes und er konnte spüren, wie sein Herz zerbrach und alle seine Hoffnungen, Träume und Wünsche von der Spitze der Klinge durchbohrt wurden. Frodo stützte sich mit den Händen im Gras ab um zu verhindern, tatsächlich zusammenzubrechen und hätte beinahe versagt, da jegliche Kraft aus seinen Armen gewichen zu sein schien. Tränen brannten in seinen Augen, doch Frodo blinzelte sie verzweifelt weg. Bilbo sollte nicht sehen wie er weinte. Bilbo, der ihn verraten hatte. Saradoc! Seine Gedanken schrieen immer wieder jenen Namen. Saradoc! Er kam nur, weil er ihn herbestellt hat. Saradoc! Und ich hatte gehofft, er würde von sich aus kommen. Meinetwegen. Ich hatte gehofft, er würde fühlen, was ich fühle, hatte geglaubt, er könne mir jenes Zuhause wieder geben, nach dem ich mich so lange sehnte. Ich hatte gedacht, Bilbo wäre anders, doch wenn nicht einmal er wegen mir kommt, ohne, dass ihn jemand darum bittet, wer dann? Jegliche Emotion wich aus ihm, ließ nur mehr Enttäuschung und Einsamkeit zurück, die nun die dunkle Leere füllten, die Bilbos Worte in ihm entfesselt hatten. Verzweifelt kniff Frodo die Augen zusammen. Lass es ein böser Traum sein, hörte er sich rufen. Wenn ich aufwache, wird es Morgen sein und dieses Mal wird Bilbo anders antworten. Er muss seine Antwort ändern!
"Frodo? Frodo, hörst du mir zu? Ist alles in Ordnung?" Frodo öffnete überrascht die Augen und fröstelte, als ein Windhauch ihn streifte und seine Haare durcheinander brachte. Verwirrt blickte er in Bilbos sorgenvolles Gesicht. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und die besorgten Augen des alten Hobbits musterten ihn eingehend. "Ja", antwortete Frodo emotionslos und nickte verwirrt, während seine Augen verstört ins Leere blickten. "Ja, ich höre zu." "Geht es dir gut?", fragte Bilbo noch einmal und griff zärtlich nach Frodos Schulter, was dieser widerwillig zuließ. "Du bist blass, mein Junge." Frodo benötigte alle Willenskraft, die ihm noch geblieben war, um Bilbos Hand nicht von seiner Schulter zu stoßen und auf der Stelle davon zu laufen. Wie konnte er ihn "mein Junge" nennen? Er war nicht sein Junge, er war niemandes Junge. Warum musste Bilbo sein falsches Spiel weiterhin spielen? Warum konnte er nicht einfach aufhören, den fürsorglichen, besorgten Onkel zu mimen, wenn er es nicht so meinte? "Ich habe in der letzten Nacht kaum geschlafen", zwang er sich schließlich zu antworten und fügte dann mit leiser Stimme hinzu, dass er sehr müde war und sich sofort hinlegen wolle, sobald sie zurück im Brandyschloss waren.
Frodo begrüßte diese Ausrede. So konnte er sich in sein Zimmer verkriechen und den Rest des Abends alleine verbringen, ohne dass sich irgendwer zu sorgen brauchte. Er würde über alles nachdenken und über sein weiteres Vorgehen entscheiden, bis dahin wollte er vorgeben, dass alles in Ordnung war. Bilbo sollte nicht wissen, dass er ihn verletzt hatte, tiefer vermutlich, als ihn jeder andere hätte verletzen können. Es kostete ihn alles, was er an Willenskraft, an Körperkraft aufbringen konnte, nicht zu weinen, nicht an Bilbos Worten zu zerbrechen und sich nichts von seinem Schmerz anmerken zu lassen, doch er wusste, dass er diese Kraft aufbringen konnte, zumindest, bis er zurück in seinem Zimmer war, und die Welt aussperren konnte. Mit zittrigen Fingern tastete er nach dem Apfel, der noch immer auf seinem Schoß lag, versuchte zu lächeln, was ihm kläglich misslang, und nahm dann einen herzhaften Bissen von der Frucht. Der Apfel schmeckte fahl auf seiner trockenen Zunge. Der Geschmack schien das saftige Fleisch verlassen zu haben, hatte es leer zurückgelassen, genau wie Frodo von all seinen Hoffnungen und Träumen verlassen worden war und nun leer und ohne jegliche Emotion zurückgeblieben war. Bereits nach dem ersten Bissen wurde ihm übel, doch Frodo zwang sich dazu, den ganzen Apfel zu essen und noch ein belegtes Brot zu sich zu nehmen und sei es nur, um Bilbo im Glauben zu lassen, dass wirklich alles in Ordnung und er nur ein wenig übermüdet war.
Bilbo hatte Frodo sorgenvoll beobachtet, als plötzlich jegliche Farbe aus dem Gesicht des Jungen gewichen war. Er schien zu schwindeln, denn plötzlich stützte er sich mit seinen Händen im Gras ab, als könne er das Gewicht seines Körpers nicht halten. Der Anfall schien jedoch vorüber zu gehen und auch wenn Frodos Gesicht im Laufe des Nachmittages nicht wieder an Farbe zunahm und Bilbo ihn die ganze Zeit aufmerksam beobachtete, schien ihm Frodos Erklärung, dass er zu wenig geschlafen hatte, durchaus einleuchtend. Frodo hatte schließlich Pippin bei sich im Zimmer und wer wusste, wie lange die beiden Vettern sich nachts noch unterhielten, nachdem ihnen aufgetragen worden war, zu Bett zu gehen. Er konnte es Frodo nicht übel nehmen, war er schließlich in seinem Alter nicht anders gewesen. Dennoch war etwas an Frodos Verhalten seltsam, ließ ihn immer wieder ins Grübeln verfallen, doch kam er nicht dahinter, was genau es war, das ihm so ungewöhnlich erschien.
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Frodo gab Bescheid, dass er zu müde war, um das Abendessen abzuwarten und stattdessen sofort zu Bett wollte. Merry und Pippin erklärte er, dass er den heutigen Abend nicht mit ihnen verbringen würde, nachdem er sich höflich bei Bilbo für das Picknick bedankt und sich von ihm verabschiedet hatte. Kaum war er jedoch in seinem Zimmer angekommen und hatte die Tür hinter sich geschlossen, brach alles aus ihm heraus und er sank bitterlich weinend zu Boden. Seine Hände klammerten sich verzweifelt in Pippins Kissen fest, das noch immer neben der Tür lag, während er hilflos schluchzte und nach Luft rang. Hatte er sich so sehr irren können? Hatte sein Gefühl ihn so getäuscht? Es schien ihm unmöglich, denn nichts hatte sich jemals so richtig, so wahr angefühlt. Er wusste, dass Bilbo sein Zuhause war und doch hatte er sich geirrt. Bilbo, von dem er geglaubt hatte, dass er ihn liebte, dass er anders war als alle anderen, hatte ihn verraten, ihn im Stich gelassen. Er hatte geglaubt, Bilbo würde ihn verstehen und jede neue Nachricht von ihm hatte sein Herz mit noch mehr Freude gefüllt als die vorangegangene. Seine Worte hatten ihm Trost gespendet und ihm neue Hoffnung gegeben, seine Umarmungen hatten eine Sehnsucht gestillt, die ihm oft hatte das Herz bluten lassen. In seinen Armen hatte er dieselbe Wärme wie in den Armen seiner Mutter gefühlt. Er hatte ihm vertraut wie keinem anderen, hatte mehrere Male darüber nachgedacht, sich ihm anzuvertrauen, nur um jetzt erfahren zu müssen, dass all dies nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Für Bilbo war er vermutlich nicht mehr als eine Bürde, eine Pflicht, zu der er gerufen wurde, wann immer Saradoc es wünschte.
Frodo zitterte am ganzen Leibe. Ihm war kalt, und sein Körper wurde von immer neuen, immer mehr Schluchzer geschüttelt, die aus seinen einsamen, leeren Augen quollen und über seine Wangen liefen, nur um anschließend von seinem Kinn zu tropfen und nasse Flecken auf seinem Hemd und der Hose zu hinterlassen. Er hatte die Arme um seine angezogenen Knie geschlungen und lehnte an der Tür seines Zimmers. Das letzte Tageslicht, das durch das kleine Fenster in das Zimmer drang, erreichte die Gestalt des Kindes nicht, denn obschon die Sonne im Westen noch nicht untergegangen war, hatte ihr Licht das östliche Fenster längst verlassen.
Eine alles verschlingende Leere hatte Besitz von ihm ergriffen. Ein schmerzhaftes Pochen erfüllte ihn bis in die hintersten und dunkelsten Abgründe seiner Seele. Und er fiel, fiel immer noch. Jede Verletzung, die andere Hobbits ihm zugefügt hatten, jede Wunde, die Marrocs Worte und Taten in ihm aufgerissen hatten, waren nicht mehr als kleine Kratzer im Vergleich zu dem, was Bilbo ihm angetan hatte. Er hatte Bilbo geliebt, wie keinen anderen und auch wenn er sich wünschte, er würde ihn nun hassen, konnte er es nicht. Es wäre so viel einfacher, wenn er ihn hassen könnte, doch er liebte ihn, liebte ihn, nach allem, was er ihm angetan hatte. Er liebte ihn mehr als alles andere und selbst jetzt, da er seinetwegen gebrochen und verlassen in seinem Zimmer lag und kaum noch atmen konnte ob der Schluchzer, die ihn immer wieder nach Luft schnappen ließen, wünschte er sich nichts mehr, als in seinen Armen zu liegen und von ihm getröstet zu werden. Es war schwer, eine solch tiefe Wärme zu vergessen, eine Sehnsucht, die stärker war, als jedes Gefühl, das er je empfunden hatte, hungern zu lassen, obschon er wusste, dass er sie stillen konnte.
Sein Herz blutete und wehklagte. Immer wieder schrie es Bilbos Namen und fragte ihn, weshalb er das getan hatte. Weshalb er ihn im Glauben gelassen hatte, ihn zu lieben, wenn er es doch nicht tat und nur hier war, weil Saradoc ihn darum gebeten hatte. Warum hatte er ihm Hoffnungen gemacht, wenn er sie mit einem Schlag zerstörte? Frodo verstand es nicht, würde es nie verstehen. Eines jedoch war ihm klar. Er war alleine und nie, niemals würde jemand seinetwegen kommen und ihm ein Zuhause geben. Er war alleine, musste so zurechtkommen und für sich selbst sorgen.
Doch noch während er jenem Gedanken folgte, während unerschöpfliche Tränen der Einsamkeit und Verzweiflung jeglichen Schmerz zu ertränken versuchten, keimte neue Hoffnung in ihm auf. Vielleicht war Bilbo sein Zuhause und teilte seine Gefühle und möglicherweise war er es, der noch nicht hart genug an sich gearbeitet hatte, um Bilbos Liebe und seine Zuneigung zu verdienen. Frodos ganzes Sein stürzte sich auf jenen kleinen Hoffnungsschimmer und umklammerte ihn, auf dass er nicht wieder erlöschen konnte. So musste es sein. Er verdiente Bilbos Liebe nicht. Er musste stark sein und hart an sich arbeiten, um jene Zuneigung erhalten zu dürfen und genau das würde er tun. Bilbo sollte nichts von all dem erfahren, was heute geschehen war. Frodo würde weitermachen wie bisher. Von nun an jedoch wollte er besser sein. Er würde folgsam sein, würde sich nicht aufdrängen, würde seine Wünsche zurückstellen und nur etwas mit Bilbo unternehmen, wenn der alte Hobbit ihn darum bat, um ganz sicher zu gehen, ihn nicht zu belästigen. Er würde zeigen, wie zufrieden er war, wie wenig er brauchte, um glücklich zu sein und vielleicht, vielleicht würde Bilbo ihn dann nach Hause holen. Vielleicht verdiente er seine Liebe dann.
Frodo klammerte sich verzweifelt an jenen Hoffnungsschimmer. Es würde nicht leicht werden, doch er würde kämpfen, um sein Ziel zu erreichen und eines Tages jene Liebe verdienen, nach der er hungerte. Doch trotz aller Hoffnung wollte der Schmerz nicht ersterben und die Tränen nicht versiegen. Er hatte geglaubt, Bilbo würde ihn so lieben wie er war, war seit der vergangenen Nacht sogar davon überzeugt gewesen. Alles hatte dafür gesprochen und ihn mit unsäglicher Freude und Erleichterung erfüllt und doch hatte er das Gegenteil erfahren müssen. Er war nun einmal nicht mehr, als ein einsamer Hobbit aus dem Auenland, der weder ein Zuhause, noch eine Familie hatte, und er musste lernen damit umzugehen und für sein Glück zu kämpfen.
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Als Pippin bald nach dem Abendessen in das Zimmer kam, lag Frodo unter seiner Bettdecke. Es war dunkel und nur der Schein von Pippins Kerze erleuchtete den kleinen Raum. Leise stellte er den Kerzenhalter auf den Nachttisch und machte sich auf Zehenspitzen daran, die Matratze wieder auf den Boden zu legen und sein Bett fertig zu machen. Auf keinem Fall wollte er Frodo aufwecken. Wenn er sogar zum Abendessen zu müde gewesen war, brauchte er bestimmt sehr viel Schlaf. Er wollte gerade unter seine Decke schlüpfen, als ein leises Wimmern an sein Ohr drang. Überrascht hob Pippin den Kopf und blickte auf Frodos Bett. Die Kerze hatte er noch nicht ausgelöscht und im schwachen Lichtschein konnte er erkennen, dass Frodo sich unter der Bettdecke rührte. "Frodo?", flüsterte er beinahe tonlos. Nichts rührte sich und Pippin vermutete, dass sein Vetter aufgrund eines Traumes unruhig gewesen war, doch plötzlich hörte er, wie Frodo nach Luft schnappte und leise schluchzte. Schnurstracks kletterte er auf das Bett seines Vetters und zog an der Bettdecke. "Lass mich, Pippin! Geh weg!", klagte dieser und seine Stimme klang heiser und war getränkt von Tränen. Pippin ließ die Bettdecke erschrocken los, legte die Stirn in Falten und schluckte schwer. Bei dem Klang von Frodos Stimme traten ihm selbst die Tränen in die Augen. "Du weinst", stellte er traurig fest. Er zupfte erneut an der Bettdecke, und dieses Mal gelang es ihm, sie aus dem schwachen Griff seines Vetters zu lösen. Frodo lag zusammengekauert auf der rechten Seite, hatte die Arme um eines seiner angewinkelten Knie geschlungen und vergrub das Gesicht im Kissen. Kurzerhand schlang Pippin seinen linken Arm um Frodos Brust und drückte seinen Vetter an sich, während er sich ebenfalls in jenes Bett legte, in dem er in den vergangenen Tagen oft geschlafen hatte. "Geh, Pippin!" forderte Frodo noch einmal heiser und konnte dabei ein erneutes Schluchzen nicht unterdrücken. Er verkrampfte sich, als er Pippins Arm um seine Brust und den Atem des jüngeren Hobbits an seinem Nacken spürte. "Nein", beharrte Pippin, während erste Tränen über seine Wangen liefen. "Du weinst und ich werde dich trösten, genau wie du mich getröstet hast."
Das erste Mal, seit er in sein Bett gekrochen war, öffnete Frodo die Augen. Tränen der Rührung mischten sich zu jenen der Verzweiflung. Er mochte einsam sein, doch er hatte Pippin, der, im Gegensatz zu Bilbo, vollkommen freiwillig zu ihm kommen wollte, ihn sogar darum gebeten hatte, bei ihm schlafen zu dürfen. Er wäre nicht weniger herzlos wie Bilbo, würde er ihn jetzt wegschicken. Das hatte sein Vetter nicht verdient. Er schnappte noch einige Male nach Luft, entspannte sich dann und erlaubte sich, von Pippin festgehalten, getröstet zu werden. Es war nicht das, was er suchte, doch es fühlte sich gut an und erlaubte seinem gebrochenen Herzen einen Augenblick der Zufriedenheit. Seine eigene Hand tastete nach Pippins und drückte sie sanft, während er seine geschwollenen Augen zusammenkniff und die letzten Tränen sich ihren Weg über seine aufgeweichten Wangen suchten. Trotz seiner scharfen Worte war er seinem Vetter sehr dankbar, und eine tiefe Liebe erfüllte sein Herz. Aber was konnte Pippin schon ausrichten? Pippin war nur ein Freund, genau wie Merry. Sie konnten ihm die Familie und das Zuhause, das er so sehr vermisste, nicht ersetzen. Doch sie waren für ihn da.
Kapitel 59: Silberschweif und Nelkenblüten
Frodos Geburtstag und auch die folgenden Tage von Bilbos Aufenthalt verliefen ohne weitere Vorkommnisse. Frodo behielt seine Tränen für sich und gab vor, tatsächlich an Übermüdung gelitten zu haben. Bilbo erschien er glücklich und doch wollte ihm das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war, keine Ruhe lassen, auch wenn er den Grund dafür nicht erkannte. Frodo gab sich alle Mühe, zufrieden auszusehen, doch es schmerzte ihn, in Bilbos Nähe zu sein. Der Gedanke an ein mögliches Zuhause in Beutelsend ließ ihn nicht mehr los und manchmal wünschte er sich nichts mehr, als in Bilbos Arme zu stürzen und ihm zu sagen, was er fühlte, in der Hoffnung, Bilbo würde seine Worte noch einmal überdenken, aber er wagte es nicht. Er hatte Angst, erneut enttäuscht zu werden und wusste, das allein genügte, um ihn am Sprechen zu hindern. Nur wenige Tage nach der Geburtstagsfeier, als Bilbo seinen Heimweg antreten wollte, vergaß Frodo seine Vorsätze jedoch. Bilbo nahm ihn zum Abschied in die Arme und Frodo fühlte die Wärme, nach der er sich so sehr sehnte, und wusste doch, dass er alleine war. Gerade in jenem Augenblick, als er sich seiner Sehnsucht hingeben wollte, in der Hoffnung, all der Schmerz der vergangenen Tage wäre nur einem Traum entsprungen, hallten erneut Bilbos Worte in seinen Ohren. "Saradoc hatte mir geschrieben." Bilbo war nur wegen Saradoc hier und nicht, weil er dieselbe Wärme empfand, die Frodo spürte - noch nicht. Erst musste Frodo dieser Liebe würdig werden und dann konnte es geschehen, dass Bilbo seinetwegen kam. Für Bilbo waren die Tränen seines Neffen Abschiedstränen, denn genau das war es, was dieser ihm sagte, und doch wuchsen seine Bedenken noch, als er Frodo in den Armen hielt. Etwas hatte sich verändert.
Pippin kuschelte sich jede Nacht zu Frodo ins Bett. Das Heimweh des jungen Hobbits ließ nicht nach, doch die Nähe seines Vetters schien Pippins Kummer zu lindern. Er war jedoch nicht der Einzige, dem diese Nähe wohl tat, denn auch Frodo dürstete nach jener Art der Zuneigung und war froh, dass der junge Tuk bald gänzlich auf eine eigene Matratze verzichtete. Während Pippin abends oft weinte, um dann in Frodos Armen einzuschlafen, vergoss der Ältere keine weiteren Tränen. Er wollte Pippin nicht noch mehr Kummer bereiten und begnügte sich mit der tröstenden Wärme, die sein Vetter ihm spendete, wenn er heimlich nach seiner Hand tastete und sie fest umklammert hielt, oder sich wieder an ihn herankuschelte, sollte sich einer von ihnen im Laufe der Nacht vom anderen abgewandt haben. Doch auch Pippin musste sich bald verabschieden, denn nach über einem Monat zog es selbst seine Schwester Perle nach Tukland zurück. Merry redete lange vergebens auf seinen jüngeren Vetter ein, und auch Frodo wollte ihn nicht wieder gehen lassen. Er versuchte jedoch nicht, Pippin zum Bleiben zu überreden, denn es schien ihm nicht recht, dass er ihn seines Zuhauses beraubte nur weil er sich selbst nach einem solchen sehnte. War es Frodo nach Bilbos Abschied besser ergangen, da er sich nicht länger hatte verstellen müssen, ging es ihm nach Pippins Aufbruch schlechter. Er vermisste den Trost, den sein Vetter ihm, ohne es zu ahnen, gespendet hatte und lauschte lange vergebens auf das beruhigende Atemgeräusch, das ihn in so manchen schlaflosen Nächten begleitet hatte.
Als der Winter langsam ins Land zog, erholte Frodo sich jedoch von seinem Kummer. Die ersten Blätter waren bereits wenige Tage, nachdem Bilbo das Brandyschloss verlassen hatte, gefallen und nur Tage darauf bedeckte eisiger Tau frühmorgens die Wiesen. Der Wind pfiff und jagte schneidend über die kahl geernteten Felder. Es regnete oft und nicht selten wurden die herabfallenden Wassertropfen von winzigkleinen Schneeflocken begleitet. Saradoc sorgte sich sehr ob der zunehmenden Kälte, fürchtete die Ereignisse des Grausamen Winters im Jahre 1311 könnten sich wiederholen. Viele Bewohner des Brandyschlosses litten an Erkältungen oder Schlimmerem und es war kaum jemand anzutreffen, der ohne ein gelegentliches Husten oder Niesen auskam. An Jul erreichte die Kälte ihren Höhepunkt. In den letzten Tagen des Vorjuls schneite es wie nur selten zuvor und an Jul wären kleine Hobbits wie Melilot, die zu dieser Zeit ihre ersten Schritte tat, beinahe brusttief im Schnee gestanden, wären sie alt genug gewesen, um alleine draußen zu spielen.
Da es im Winter keine Arbeiten auf den Feldern zu verrichten gab, wurden alle jungen Hobbits im Alter von zehn bis fünfundzwanzig vormittags von Saradas und anderen gebildeten Bewohnern des Brandyschlosses im Lesen, Schreiben, Rechnen und in sonstigen nützlichen Dingen unterrichtet. Nur jene Tweens, die bereits eine Lehre angetreten hatten, waren vom Unterricht befreit, denn es lag in den Händen ihrer Meister sie alles zu lehren, was für sie wichtig war. Frodo, Merry und die anderen Kinder waren ob der misslichen Wetterlage wieder dazu übergegangen, in ihrer Freizeit Karten zu spielen und verbrachten ganze Nachmittage an den Wohnzimmertischen, diskutierten wild über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Zuges, straften einander mit bösen Blicken und Worten, sollte jemand es wagen, in die Karten eines anderen zu schielen, lachten über schlaue Taktiken und errungene Siege und genossen die gemeinsame Zeit. Wie jeden Winter musste Frodo häufig an seine Eltern denken und sein Herz war schwer mit Erinnerungen an Zeiten, in die er sich zurücksehnte. Auch an Beutelsend dachte er manchmal und an die Monate, die er im Winter vor sechs Jahren dort erlebt hatte, und auch wenn er sich dorthin zurückwünschte, schmerzten ihn jene Bilder. Zuweilen vergaß er über Bilbos Worte, oder gab vor, sie wären nie gefallen und an anderen Zeiten trafen sie ihn so hart und schmerzvoll, dass er in Tränen ausbrach und lange brauchte, um sich wieder zu beruhigen. Bilbos Briefe empfing er mit derselben Freude und beantwortete sie mit derselben Gewissenhaftigkeit wie eh und je, versuchte jedoch mindestens zwei Seiten mit Berichten und Erlebnissen zu füllen und stellte sich dabei vor, wie jede verfasste Seite Bilbos Liebe für ihn steigerte.
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Frodo saß auf der Holzbank vor dem Kachelofen und lehnte den Kopf mit einem Kissen an die beheizten Kacheln. Im Winter war dies sein Lieblingsplatz und in Momenten wie diesen glaubte er, hier sogar schlafen zu können. Der Raum war warm und verströmte eine angenehme Stimmung. Die flackernden Flammen mehrerer Kerzen erhellten das Zimmer, ebenso wie das Licht eines großen Leuchters, der in der Mitte des Raumes von der Decke hing. Viele Tische, Bänke und Stühle waren aufgestellt worden, um den Bewohnern des Brandyschlosses genügend Platz zu bieten und das Wohnzimmer machte beinahe den Eindruck einer Wirtsstube, wenn nicht der Geruch ein anderer gewesen wäre. Zwar hing auch hier der strenge Duft von Pfeifenkraut in der Luft, doch der Geruch selbst war feiner. Er mischte sich mit dem von Lavendel, Erdnussöl, Kamille und Rosenblüten, dem Duft unzähliger Hobbitfrauen, die viele Stunden in diesem Wohnzimmer verbrachten, um Kleider zu nähen, Decken zu besticken oder Mützen zu stricken. Nur leise Gespräche erfüllten den Raum und ab und an drang ein Niesen oder ein Husten an Frodos Ohr, doch über alle anderen Unterhaltungen hinweg hörte er die tiefe Stimme Gorbadocs, die voller Inbrunst eine Geschichte zum Besten gab. Frodo hörte seinen Worten nur halbherzig zu, doch seine Augen beobachteten die Kleinkinder, die mit großen Augen und offenen Münder völlig begeistert zu Gorbadoc empor blickten. Frodos Großvater saß in einem Schaukelstuhl und die Kinderschar hatte es sich um ihn herum auf dem Fußboden gemütlich gemacht. Ein Lächeln huschte über Frodos Lippen. In Momenten wie diesen schien selbst Gorbadoc wieder so glücklich, wie eh und je. Er war schon immer ein Meister der Geschichten gewesen. Nur Bilbo konnte ihm das Wasser reichen, und so würde es auch immer bleiben.
Frodo wandte den Blick ab. Mit einem tiefen Seufzen zog er die Knie zur Brust und schlang die Arme darum. Nur wenn er Geschichten erzählte, wirkte Gorbadoc so fröhlich, wie er es immer gewesen war, doch selbst dann glaubte Frodo ab und an einen traurigen Glanz in den tiefen braunen Augen erkennen zu können. Er würde seinen Verlust niemals vollständig überwinden können. Ein Stück seines Herzens fehlte, war zerbrochen, genau wie Frodos Herz gebrochen war. Gleich vier große Teile waren ihm genommen worden und nur mehr kleine Scherben schienen übrig geblieben. Drei, die er liebte, hatte er an den Tod verloren und die vierte Person hatte ihn zurückgewiesen, wenn auch nur vorübergehend. Zumindest hoffte er das. Er seufzte erneut. Woher nahm der Winter die Macht, ihm das Herz schwerer zu machen, als es ohnehin schon war?
Überrascht hob Frodo den Kopf, als die Wohnzimmertür schwungvoll geöffnet wurde und brüllendes Gelächter die leisen Gespräche verstummen ließ. Marroc, Ilberic, Sadoc und Reginard betraten grölend den Raum und taten der angenehm warmen Stimmung einen abrupten Abbruch. Auf einige zischende Zurufe von alten Damen und leisen, aber strengen Ermahnungen dämpften sie die Lautstärke ihrer Stimmen und stapften auf einen kleineren Tisch in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes zu. Marroc drehte sich kurz um und entdeckte Frodo. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke, doch Frodo wandte sich ab, als sich Marrocs Augen zu drohenden Schlitzen verengten. Er hatte nicht vor, das Glück, das ihm in den letzten Monaten hold gewesen war, leichtsinnig herauszufordern. Mit einer raschen Bewegung rutschte Frodo von der Holzbank und verließ eiligst das Zimmer, da er wusste, dass es nur schlecht enden konnte, wenn er und Marroc lange in einem Raum waren. Im Grunde kam ihm das plötzliche Auftauchen seines Peinigers gerade recht. Frodo wollte ohnehin nach draußen, in der Hoffnung, die Kälte und der Schnee würden ihn auf andere Gedanken bringen und die trübe Stimmung, die ihn umfing, seit Merry vor zwei Tagen krank geworden war, vertreiben.
In eine dicke Jacke und einen warmen Umhang gehüllt, machte sich Frodo schließlich zu den Ställen auf. Mit einer schwungvollen Bewegung warf er das eine Ende eines orangegrünen Schals über die Schultern, als er durch den Schnee stapfte und der Wind ihn säuselnd begrüßte. Er schauderte unwillkürlich ob der plötzlichen Kälte. Der Schnee unter seinen Füßen fühlte sich eisig an und es dauerte einige Zeit, bis Frodo sich an das kalte Gefühl gewohnt hatte, doch er würde ohnehin reiten. Merimac hatte es ihm erlaubt, und so brauchte er sich keine Gedanken zu machen.
Das Scharnier der Stalltür protestierte mit eisernem Krächzen, als Frodo die Tür knarrend öffnete. Der Wind pfiff durch feine Risse im Holz und doch war es im Innern des Stalles merklich wärmer. Der Duft von Heu hieß den jungen Hobbit willkommen, gemischt mit dem unvergleichlichen Geruch der Ponys. Frodo sog den Duft tief in sich ein, während er sich blinzelnd umblickte, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Eines der Ponys schnaubte aufgeregt und ein Lächeln erschien auf Frodos Lippen, als er schnurstracks auf die hinterste Box zuging.
Das Pony scharrte mit den Hufen und schnaubte erneut, als Frodo langsam auf es zutrat. Es war ein junger Hengst mit schwarzem Fell und weißen Fesseln, der erst im vergangenen Sommer von Merimac zugeritten worden war. Einzelne silberne Haare zogen sich durch das gesamte Fell des Tieres und verliehen ihm eine einzigartige Schönheit. Frodos Finger strichen zärtlich über die weichen Nüstern und die Blesse des Tieres, als er den Hengst mit leisen Worten begrüßte. Seit der Hengst zugeritten worden war, ritt Frodo kein anderes Pony mehr und so hatte sich eine außergewöhnliche Freundschaft zwischen ihm und dem Tier entwickelt. Saradoc gab seinen Tieren keine Namen, doch Frodo hatte dieses Pony Silberschweif getauft und zu seiner Überraschung festgestellt, dass der Hengst seinen Namen zu kennen schien. Frodo holte eine Bürste von der Wand, bevor er in die Box des Ponys trat und sanft über dessen seidiges Fell strich und dessen Hals tätschelte, ehe er es zu bürsten begann. Staub wirbelte auf und kitzelte Frodo in der Nase, brachte ihn zum Niesen, doch Silberschweif erschrak nicht und wartete geduldig darauf, dass sein kleiner Freund seine Arbeit beendete. Während er das Pony bürstete und für den Ausritt fertig machte, sprach Frodo ständig auf das Tier ein. Merry hatte sich oft darüber lustig gemacht und gemeint, er spräche mehr mit dem Pony als mit sonst jemandem und von Zeit zu Zeit glaubte Frodo, dass sein Vetter damit nicht ganz Unrecht hatte. Es war wesentlich einfacher, mit einem Tier zu sprechen als mit einem Hobbit. Personen konnten ihn unterbrechen, ihn verletzen, ein Tier tat das nicht.
Seine Hand glitt erneut über das seidige Fell am Hals des Tieres. Frodo tätschelte den Hengst, ehe er ihm den Sattel auflegte. Er hatte sich nie viele Dinge gewünscht, erst recht nicht solche großen und wertvollen Dinge wie ein Pony, doch bei Silberschweif war das anders. Frodo wünschte sich, der Hengst wäre nicht nur ein Pony im Stall, sondern sein Pony. Mit ihm könnte er ausreiten, wann immer ihm das ständige Kommen und Gehen im Brandyschloss zuviel wurde, oder seine Gedanken ihn zu ersticken drohten. Natürlich konnte er das jetzt auch, doch wenn Silberschweif sein Pony wäre, müsste er nicht erst um Erlaubnis fragen, sondern könnte ihn einfach aus dem Stall führen und mit ihm über die Felder preschen. Frodo liebte es, den Wind in seinem Gesicht zu spüren und die Landschaft an sich vorübersausen zu sehen. Dann glaubte er, alle Sorgen hinter sich lassen zu können und für kurze Augenblicke war er frei und so glücklich, dass er glaubte, weinen zu müssen. Nie hatte er sich beim Reiten so gefühlt, doch seit er im Winterfilth das erste Mal mit Silberschweif ausgeritten war, war er sicher, so zu einer Unbeschwertheit zurückfinden zu können, die ihn jegliche Verzweiflung vergessen ließe. Frodo wollte Silberschweif für sich, doch er würde Saradoc niemals darum bitten. Er war einer der wenigen Hobbits seines Alters, der ein eigenes Zimmer hatte, er konnte nicht auch noch nach einem eigenen Pony verlangen.
Wieder wurde Frodo vom beißenden Wind begrüßt, als er nach draußen trat und er schlotterte noch ehe er daran denken konnte, dass ihm kalt war. Rasch schwang er sich in den Sattel und lenkte Silberschweif nach Südosten. Er hatte vor, seine gewöhnliche Strecke etwas zu ändern. Anstatt am Fluss entlang zu reiten, wollte er dieses Mal die Weiten der südlichen Felder genießen und sollte er danach noch nicht genug haben, konnte er über den Weg nahe dem Flussufer zurück reiten.
Während Silberschweif gemächlich dahin trabte und der kalte Wind Frodos Wangen ein gesundes Rot verlieh, schweiften die Gedanken des jungen Hobbits ab. Er musste an Merry denken, der ihn auf solchen Ausritten meist begleitete, doch daran war im Augenblick nicht zu denken. Seit dem Abend vor zwei Tagen hatte sich sein Vetter ständig erbrechen müssen und lag nun mit Fieber, einem hohlen Magen und der Erkältung, die er schon seit fast einer Woche mit sich herumgeschleppt hatte, im Bett. Saradoc hatte, nach einem längeren Besuch Fastreds, sogar das Besuchsverbot verhängt und Frodo machte sich große Sorgen um Merry. Er kam nicht umhin daran zu denken, was das letzte Mal geschehen war, als Saradoc das Besuchsverbot über jemanden verhängt hatte und immer, wenn er daran dachte, verkrampfte sich sein Magen und eine plötzliche Verzweiflung ergriff ihn, sodass er glaubte, sofort in Merrys Zimmer stürmen zu müssen, um nach dem Rechten zu sehen. Bisher jedoch war es ihm immer gelungen, sich wieder zu beruhigen und auch jetzt schüttelte Frodo den Gedanken ab und trieb Silberschweif an. Wenn er erst einmal die Felder erreicht hatte und in vollem Galopp darüber hinwegfegen konnte, würde er all seine Sorgen vergessen, an nichts denken, genau wie er es vor langer Zeit im Alten Wald getan hatte. Frodo fröstelte unwillkürlich bei der Erinnerung daran.
"Frodo!" Erschrocken zuckte er zusammen und riss dabei ungewollt an den Zügeln. Silberschweif schnaubte verärgert und warf den Kopf zurück. Verwundert drehte Frodo sich um und erkannte Nelke, die in einen blauen Umhang gekleidet auf einem rostbraunen Pony auf ihn zugetrabt kam. Die Kapuze wurde ihr vom Kopf geweht und ihre braunen Locken tanzten im Wind. Frodo verdrehte die Augen. Ausgerechnet ihr musste er hier über den Weg laufen. Einen Augenblick zog er es in Erwägung einfach umzudrehen und davon zu reiten, doch er entschied sich dagegen und wartete, bis ihr Pony neben seinem zum Stehen gekommen war. Nelke lächelte von einem Ohr zum anderen. Ihre Wangen waren nicht weniger rot als seine eigenen und sie schlotterte, als sie ihren Umhang ein wenig enger um sich wickelte. "Was machst du hier?", fragte Frodo und konnte dabei sein Missfallen über ihre Anwesenheit kaum verbergen. Er trieb Silberschweif an, ließ das Pony im Schritt über die schneebedeckte Wiese gehen. Nelke schob die Unterlippe vor und sah ihn einen Augenblick beleidigt an. "Dafür, dass ich mich dieser Kälte aussetze, könntest du ruhig etwas freundlicher sein", ließ sie ihn ernst wissen. Frodo warf ihr einen vielsagenden Blick zu. "Ich habe dich nicht darum gebeten, mich zu begleiten. Es steht dir also frei, wann immer du willst, zu gehen." Seine Stimme klang nicht unfreundlich, doch Frodo wollte alleine sein und schaffte es nicht, dies seiner Stimme nicht anklingen zu lassen. Wenn ihm schon jemand begegnen musste, weshalb ausgerechnet Nelke? Weshalb konnte es nicht jemand sein, der es sich nicht zum Zeitvertreib gemacht hatte, ihn zu verdrießen? Er blickte stur auf Silberschweifs Mähne, trieb den Hengst zu einem etwas schnelleren Tempo an, doch Nelke blieb an seiner Seite. "Ich weiß, dass du mich nicht darum gebeten hast", antwortete sie und ihre Stimme klang sanfter, als Frodo erwartet hätte. Er hatte geglaubt, sie wäre nun beleidigt, würde ihm eine Gehässigkeit an den Kopf werfen und dann erzürnt umdrehen, doch das tat sie nicht. Stattdessen sagte sie: "Ich wollte nicht, dass du noch länger alleine bist. Es ist nicht gut, so lange alleine zu sein." Frodo konnte seine Überraschung kaum verbergen. Ein beißender Wind wehte ihm ins Gesicht und er zügelte die Geschwindigkeit unwillkürlich, als er sie verwundert anblickte. Wie konnte sie das meinen? Glaubte sie nun etwa, auf ihn aufpassen zu müssen? "Ich kann sehr gut auf mich selbst Acht geben", ließ er sie wissen und warf ihr dabei einen scharfen Blick zu. "Außerdem bin ich nicht so lange alleine, wie du vielleicht glaubst." Nelke lachte. Frodo wusste nicht, was daran so amüsant war und auch der Klang ihres Lachens ließ ihn im Dunkeln. Es klang betrübt, spitz, wie es Marrocs Lachen manchmal war, und zugleich amüsiert. Verwirrt sah er sie an. Einen Augenblick war ihm, als würde sie ihn für dumm verkaufen und war beinahe gekränkt. "Nein, du bist wirklich nicht lange allein", meinte sie dann und dieses Mal war Spott deutlich in ihrer Stimme zu hören. "Du warst nur den ganzen Vormittag so schweigsam, dass Saradas glaubte, du wärest eingeschlafen und seit der Unterricht vorüber ist, sitzt du alleine im Wohnzimmer und bist mit deinen Gedanken so weit entfernt, dass du nicht einmal bemerkst, wenn man mit dir spricht. Nun willst du reiten, um selbst jenen, die im Wohnzimmer sitzen, aus dem Weg zu gehen, nicht dass du irgendetwas für die Geschehnisse dort übrig zu haben scheinst." Überrascht sah Frodo sie an, zog wieder an Silberschweifs Zügeln, worauf der Hengst mit einem ungeduldigen Schnauben zum Stehen kam. Das Pony wollte endlich über das vor ihm ausgebreitete Feld galoppieren, wie Frodo es ursprünglich vorgehabt hatte. Beinahe entschuldigend blickte Frodo in Nelkes Augen, denn ihre Stimme war immer betrübter geworden und ihre Augen sprachen Bände. Vielleicht glaubte sie tatsächlich, auf ihn aufpassen zu müssen, und auch wenn ihn das ärgerte, so sprach doch ehrliche Sorge aus ihrer Stimme. Sie sollte sich nicht um ihn sorgen, niemand sollte das. Er senkte beschämt den Kopf. "Du solltest dir um mich keine Sorgen machen", erklärte er schließlich leise. "Ich bin nun einmal gerne allein." Nelke lächelte und dieses Mal war es ein freundliches Lächeln, das Frodo erwiderte, ehe er recht wusste, was er tat. "Also gut, Frodo Beutlin, ich werde mich nicht sorgen", meinte sie und zwinkerte ihm zu, "aber nur, wenn du mich bei einem Wettreiten besiegst." Mit diesen Worten trat sie ihrem Pony in die Flanken und galoppierte durch den Schnee. Silberschweif brauchte gar nicht erst angetrieben zu werden. Er setzte dem anderen Pony blitzartig hinterher, als wisse er, was von ihm verlangt wurde. Frodo hatte kaum Zeit, seine Schenkel gegen den Sattel zu pressen, so schnell war das Pony losgestürmt. Der Wind pfiff in den Ohren des Hobbits und blies ihm die Haare zurück. Er spürte die klirrende Kälte an Händen und Füßen. Seine Wangen pochten, während der kalte Wind Tränen in seine Augen trieb. Schnee wirbelte unter den Ponyhufen auf und spritzte bis zu seinen Waden, während die Landschaft an ihm vorübersauste. Für den Augenblick vergaß er tatsächlich um seine Sorgen, doch nicht auf die Weise, wie er es erhofft hatte. Er war viel zu sehr damit beschäftig, Nelke wieder einzuholen, um sich über etwas anderes Gedanken zu machen. Der blaue Umhang flatterte wild hinter dem Mädchen her, während die Pferde über die Ebene preschten. Silberschweif hatte Nelke schon beinahe eingeholt und strengte sich an, um mit ihrem Pony gleichzuziehen. Die Hufe donnerten über den gefrorenen Boden und ließen eine Wolke aus Schnee hinter den Hobbits aufwirbeln.
Erst als sie die Bocklandstraße erreichten, zügelten die beiden Hobbits ihre Ponys und machten schließlich Halt. "Gar nicht schlecht", ließ Frodo Nelke mit einem Lächeln wissen, denn er war nur wenige Momente vor ihr auf dem zugeschneiten Schotterweg angelangt. Nelke nickte ihm dankend zu. Sie keuchte und ihr Atem schwebte in weißen Wölkchen vor ihrem Gesicht. "Und wohin nun?" Frodo keuchte ebenfalls, als wäre er es gewesen, der den ganzen Weg gerannt war. Nichtsdestotrotz klopfte er Silberschweif anerkennend den Hals, ehe er sich auf der Straße umblickte. Sie war leer und erstreckte sich nach beiden Richtungen in unergründliche Weiten. Er blies die Luft aus seinen Lungen und beobachtete die dünne weiße Wolke, die vor seinen Augen emporstieg. "Lass uns nach Westen reiten", sagte er dann und sah sich um. "Dort erreichen wir den Weg, der das Flussufer säumt. So können wir zurück reiten. Wenn wir noch weiter nach Süden gehen, wird es hügeliger werden, genau wie das am Flussufer auf dieser Höhe bereits der Fall ist. Wir haben uns ein ganzes Stück vom Fluss entfernt und müssen erst durch den Wald, der den Weg an der östlichen Seite säumt. Dort wird es weniger windig sein und mit etwas Glück ist auch der Weg windgeschützt." Nelke folgte seinem Blick. In der Ferne konnte sie bereits den Waldrand erkennen. Sie nickte schweigend und lenkte ihr Pony in diese Richtung. Frodo ließ Silberschweif neben ihr hertraben. Sie sprachen kaum miteinander, erst recht nicht, als sie den Wald erreichten und Frodo voran ritt, um sie auf Wurzeln und Löcher in der Erde hinzuweisen. Immer wieder musste er sich ducken, um sich nicht den Kopf an einem Ast zu stoßen. Für kurze Zeit waren sie sogar gezwungen, ihre Ponys zu führen, da das Dickicht zu verwachsen war, doch schließlich erreichten die beiden Hobbits den Weg und Frodo hörte das vertraute Plätschern des Brandyweins zu seiner Linken. Auf diesem Weg war er schon mit einem Pony unterwegs gewesen, als er noch nicht einmal hatte reiten können und er genoss seine Vertrautheit. Er wollte sofort weiter reiten, doch Nelke bat um eine kurze Pause. Frodo gewährte ihr diese und wies auf eine Bank hin, die ein Stück weiter nördlich unter einer Trauerweide im Wald verborgen lag. "Woher weißt du das alles?", fragte Nelke verwundert, als sie wieder neben ihm her ritt. Frodo zuckte mit den Schultern und grinste verschmitzt. "Ich erkunde die Gegend mit der Leidenschaft eines Abenteurers", erklärte er nicht ganz ohne Stolz und doch senkte er gleich darauf den Kopf. Er hatte sagen wollen, dass er sein Zuhause auskundschaftete, um jeden noch so verborgenen Winkel davon zu kennen, doch Bockland war nicht sein Zuhause, ebenso wenig wie das Brandyschloss, das fühlte er nur zu deutlich. Er spürte einen schmerzhaften Stich in seinem Herzen und mit einem Mal kehrte die Traurigkeit, die er zu vergessen suchte, zurück und umfing ihn wie ein dichter Nebel, dem er nicht entkommen konnte. Unbemerkt biss er sich auf die Lippen, um das leise Wimmern, das sich in seiner Kehle formte, zu unterdrücken. Nelke zog eine Augenbraue hoch und schüttelte verständnislos den Kopf.
Wenig später saßen die beiden jungen Hobbits auf der Bank unter einer Trauerweide. Sie hatten sich ihre Umhänge eng um die Schultern gewickelt und blickten über die verschneite Landschaft. Selbst auf den Waldboden hatten sich einige Schneeflocken verirrt. Die dünnen Äste der Weide hingen trüb zu Boden und tanzten wie verschwörerische Schatten vor ihren Augen, wann immer der Wind sich pfeifend durch den Wald schlich. Frodo und Nelke waren wieder in Schweigen verfallen, was Frodo nur recht war. Er war ausgeritten, um alleine zu sein und vielleicht konnte er das tatsächlich, obwohl Nelke an seiner Seite war. Zumindest schien das Mädchen heute nicht darauf aus, ihn zu ärgern und dafür war er dankbar. Frodo hauchte in seine kalten Hände und rieb die Finger aneinander, während er die Ponys beobachtete, die scheinbar völlig unbeeindruckt von der Kälte zwischen den Bäumen standen und ab und an die Nasen zu Boden streckten, um den Schnee zur Seite zu schieben. Silberschweif hob den Kopf, schien kurz zu ihm herüberzublicken, schnaubte und vergrub seine Nase dann wieder im Schnee. Frodo lächelte einen Augenblick, ehe auch er den Blick wieder senkte und erneut in seine Hände hauchte.
"Du bist unglücklich." Frodo hob überrascht den Kopf und bemerkte erst jetzt, dass Nelke ihn schon längere Zeit zu beobachten schien. Er konnte ihren Blick förmlich am ganzen Körper spüren und verkrampfte sich unwillkürlich. Ein wenig unbehaglich rutschte er auf seinem Platz hin und her. Ihre Bemerkung beunruhigte ihn, ließ ihn vorsichtig werden. Was hatte sie vor? "Wie kommst du darauf?", fragte er scheinbar unbeeindruckt, doch seine Zunge war trocken, seine Stimme leise. Beinahe zögernd sah er sie an. Nelke legte den Kopf ein wenig schief. "Es hat etwas mit deinen Augen zu tun."
Frodo erstarrte. Fern in seinen Gedanken echote die Stimme seiner Großmutter. "Du bist hier unglücklich, Kind. Ich sehe es manchmal in deinen Augen." Mirabella hatte dasselbe gesagt, was ihm Nelke nun offenbarte. Furcht ergriff ihn. Was konnte sie in seinen Augen sehen? Was war es, das sie dazu getrieben hatte, ihn heute zu begleiten? Was wollte sie mit ihrer Bemerkung bezwecken? Verzweifelt unterdrückte er den Drang wegzulaufen, der sich auf einmal so stark in ihm regte, dass er es kaum vermochte, dagegen anzukämpfen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er musste sich einen Moment von ihr abwenden, bis sich sein schneller gewordener Herzschlag wieder beruhigt und seine Anspannung ein wenig nachgelassen hatte. Als Frodo langsam den Kopf hob, runzelte er die Stirn, sah ihr in die Augen, doch senkte er den Blick, als ihm klar wurde, dass er selbst Dinge in den Augen anderer sah. War ihm nicht erst heute die Traurigkeit in Gorbadocs Blick aufgefallen? Wusste er nicht bereits, dass jegliches Lachen, nach Mirabellas Tod aus Gorbadocs Augen gewichen war? Hatte er sich nicht selbst oft gefragt, ob andere ebenso in seinen Augen lesen konnten, wie er es in Gorbadocs tat? War Nelkes Bemerkung die Antwort darauf? "Was meinst du damit?", fragte er schließlich, als er den Kopf erneut hob, und konnte das Zittern seiner Stimme nur mit Mühe verbergen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals und er hoffte, Nelke könne ihm seine Angst nicht ansehen. Die Kälte, die er zuvor empfunden hatte, schien plötzlich nebensächlich, war beinahe vollständig verflogen. "Es gab eine Zeit, in der sie strahlten, doch nun sind sie trübe geworden", wisperte sie betrübt, während ihre Augen traurig in die seinen blickten. Plötzlich spürte er ihre Hand auf seiner Wange. Sie war warm auf seiner kalten Haut, ihre Berührung so sanft wie eine Feder. Frodo fühlte sich wie versteinert, konnte nicht mehr tun, als stumm in ihre Augen zu blicken. "Ich wünschte nichts mehr, als dieses Leuchten wieder zu sehen und dich unbeschwert lachen zu hören", sprach sie leise und ihre Stimme klang wie erstickt, als wäre sie den Tränen nahe. Frodo stockte der Atem. Merry hatte in letzter Zeit oft dasselbe gesagt und selbst Esmeralda schien seine anhaltende Traurigkeit nicht entgangen zu sein. Erst vor einer Woche war sie zu ihm gekommen und hatte ihn danach gefragt.
~*~*~
Frodo blickte schweigend in das flackernde Licht der Kerze auf dem Schreibtisch. Er hatte die Arme auf dem Tisch verschränkt und ließ das Kinn auf seinen Händen ruhen. Ein zu Ende geschriebener Brief lag neben ihm in einem Umschlag, wartete nur noch darauf, versiegelt zu werden. Frodo achtete nicht auf den Brief, sondern blickte starr in die Flamme der Kerze. Er fühlte sich alleine und verlassen. Drei Seiten hatte er Bilbo geschrieben und doch zweifelte er daran, dass dies genügte, um Bilbos Liebe für sich zu gewinnen. Er fühlte sich den Tränen nahe und kämpfte dennoch verbissen dagegen an, als es plötzlich an seiner Zimmertüre klopfte und Esmeralda eintrat. Frodo hob verwundert den Kopf, als Merrys Mutter in das Licht der Kerze trat. Sie lächelte. "Asphodel erzählte mir, du wärest heute Nachmittag geflüchtet, als sie dir die Haare schneiden wollte", sie zwinkerte ihm zu, wusste sie doch, wie ungern er sich seine Haare kürzen ließ. "Sie meinte, deine Lockenpracht würde förmlich darum betteln, abgeschnitten zu werden und da dachte ich mir, ich überprüfe selbst, ob sie damit richtig liegt." Frodo wich zurück, als Esmeralda in die Knie ging und nach seinen Locken langte. Er war am Nachmittag nur knapp einem neuen Haarschnitt entgangen und wollte, dass es auch so blieb. Auf keinem Fall wollte er sich von Asphodel die Haare schneiden lassen. Seine Tante war dafür bekannt, dass sie nicht gerade freundlich mit ihren Schützlingen umging, nachdem sie mit dem zehnten Kind fertig war. Manchmal war ihre Stimmung auch schon nach dem fünften Kind griesgrämig und Frodo konnte nicht verstehen, wie so viele Eltern seiner Tante die Aufgabe des Haare Schneidens überlassen konnten und dies nicht selbst übernahmen, wie es seine Mutter immer getan hatte. Außerdem hatte Asphodel eine Vorliebe für besonders kurze Locken, schnitt sie sogar noch kürzer als Esmeralda, und Frodo passte das überhaupt nicht. Ihm gefiel die Länge seiner Haare, mochte es, wenn sie ihm gerade so weit ins Gesicht hingen, um seine Ohren zu wärmen und hatte nichts dagegen, wenn einige Strähnen ihn am Nacken kitzelten. "Die Haare passen so, wie sie sind", erklärte er trotzig, als Esmeralda an einigen seiner dunklen Locken zupfte. Er hatte keine Lust, dies heute zu diskutieren. Andere Dinge, wichtigere Dinge beschäftigten ihn zurzeit und die Länge von Bilbos Brief war eines davon. Würde es etwas an Bilbos Liebe ändern, wenn er eine weitere Seite füllte, auch wenn er nicht wusste, was er noch schreiben sollte?
Esmeralda lächelte, als sie sich erhob, ihre Hand aber auf dem Kopf des Jungen ruhen ließ. "In Ordnung. Du bekommst eine Gnadenfrist von einem Monat, doch dann wird auch dein Krauskopf gebändigt und wenn ich mich selbst darum kümmern muss", drohte sie, doch Frodo nickte nur und wandte seinen Blick wieder der Kerzenflamme zu, schien förmlich darauf zu warten, dass sie sein Zimmer wieder verließ. Esmeralda brach es das Herz, ihn so zu sehen. Ihre Finger kämmten sanft durch seine dunklen Locken. Sie wollte nicht gehen, noch nicht, ganz gleich, wie angespannt Frodo unter ihren Händen zu sein schien. In der vergangenen Nacht hatte sie geträumt. Sie war in Frodos Zimmer gewesen, hatte ihm durch die Haare gestrichen, wie sie das nun tat, und Frodo hatte es zugelassen. Er hatte den Kopf an ihren Rock gelehnt und sich von ihr in die Arme nehmen lassen. Sie hatte ihn gerne in ihre Arme geschlossen, ihn getröstet und seinen Kummer gelindert, hatte beinahe selbst geweint, als Frodos Tränen ihre Schürze tränkten und sie ihn einfach nur an sich gedrückt und festgehalten hatte. Doch dies war kein Traum. Hier wagte sie nicht, einen Arm um seine Schultern zu legen und ihn in eine Umarmung zu ziehen. Frodo würde es nicht zulassen, war er schließlich jetzt schon so angespannt, dass er förmlich darauf zu warten schien, jeder weiteren Bewegung auszuweichen. Wie gerne würde sie ihn daran hindern, ihn trotzdem in die Arme nehmen, doch sie wusste, Frodo würde sich weigern, würde sich dann noch mehr verschließen und das wollte sie keinesfalls riskieren. Nicht einmal Hanna drang in diesen Tagen zu ihm durch und das bereitet ihr Sorgen.
Frodo spürte Esmeraldas Hand an seinem Kopf, als diese sich wieder erhob, spürte die zärtliche Bewegung ihrer Finger. Er verkrampfte sich unwillkürlich, als er plötzlich bemerkte, dass ihr Rock an seiner Wange lag. Wie eine Welle durchströmte Sehnsucht seinen Körper, füllte ihn bis zur letzten Faser aus. Er schloss erschrocken die Augen und biss sich auf die Lippen. Wie gerne er jener Sehnsucht nachgeben würde. Alles in ihm schrie förmlich danach, sich der Berührung hinzugeben, sich an ihren Rock zu lehnen und ihr zu erlauben, seinen Schmerz zu lindern. Doch Frodo wusste, sobald er dieser Sehnsucht auch nur ein wenig nachgab, würde er zu weinen beginnen und seine Einsamkeit und die Verzweiflung würden unaufhörlich neue Tränen aus ihm herausbrechen lassen und er wollte sie dies nicht sehen lassen. Er wagte nicht, ihr soweit zu vertrauen, denn wer wusste, was geschehen würde, wenn er einmal zu weinen begann. So verkrampfte er sich noch mehr und versuchte, die zärtlichen Finger, die nicht aufhörten, durch seine dunklen Locken zu streichen, nicht länger zu beachten.
"Was ist los, Frodo?", fragte Esmeralda schließlich, wobei sie ihre Finger weiterhin tröstend durch seine Haare gleiten ließ. "Du lachst selten in letzter Zeit." Und das Leuchten, das dich umgab, ist fast erloschen', fügte sie in Gedanken hinzu und stutzte. Jetzt sah sie selbst, wofür sie Primula einst belächelt hatte. "Das trübe Wetter schlägt sich auf mein Gemüt", entgegnete Frodo mit leiser Stimme, sah dabei nicht einmal zu ihr auf. Einen Augenblick hielt Esmeralda inne, ehe ihre Finger mit der sanften Berührung fortfuhren. ‚Ich glaube dir nicht, doch deine Ausreden kommen so rasch und sind so glaubhaft, dass du uns gar nicht erst die Möglichkeit einräumst, sie zu hinterfragen, ganz gleich, was wir zu wissen begehren. Es ist nicht das Wetter, habe ich Recht?', fragte sie in Gedanken, doch kein Wort verließ ihre Lippen.
Frodo hatte beinahe zu zittern begonnen, so stark kämpfte er nun schon gegen seine Sehnsucht an. Er wollte ihr keine weiteren Sorgen aufbürden, doch er wünschte sich nichts mehr, als zu weinen, wollte von ihr getröstet werden, wollte, dass sich ihre Arme schützend um ihn legten, wollte, dass sie nicht wieder damit aufhörte, ihm durch die Haare zu streichen. Hast du mich lieb? In Gedanken fragte er, was ihm auf der Zunge lag, doch fürchtete er die Antwort zu sehr, um seine Frage laut auszusprechen.
Esmeralda schaffte es schließlich, ihre Finger zu stoppen und zog ihre Hand zurück. "Dann lass uns hoffen, dass das Wetter bald besser wird", sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. Frodo gelang es, dieses schwach zu erwidern. Esmeralda schickte sich an, das Zimmer zu verlassen, drehte sich aber noch einmal um, um ihm zu sagen, er solle nicht zu lange aufbleiben. Frodo nickte schwach, als sie das Zimmer verließ. Der Verlust ihrer Berührung hatte ihn wie ein Blitz getroffen und ließ sein Herz nun leer und blutend zurück. Mit einem verzweifelten Seufzen ließ er den Kopf wieder auf seine Arme sinken und schloss die Augen, wobei eine einzelne Träne über seine Wange lief.
~*~*~
Frodo blickte noch immer in Nelkes Augen, während ihre Hand auf seiner Wange ruhte. Er war kaum in der Lage zu atmen, geschweige denn, sich zu bewegen. Ihre grünen Augen und ihre Berührung schienen ihn festzuhalten. Erst jetzt, da er länger in diese Augen blickte, fiel ihm auf, dass sie nicht nur grün waren. Ein brauner Schimmer lag darin, schien tief aus Nelkes Innern zu kommen und ihren Augen eine unvergleichliche Schönheit zu verleihen. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, ebenso wie die spitzen Ohren, die sich unter den braunen Locken versteckt hielten. Ihr Haar, das nun offen auf ihren Schultern ruhte, war heller als sein eigenes, jedoch dunkler als das von Merry. Frodo hatte nie darauf geachtet, doch jetzt fiel ihm auf, wie hübsch sie war. Er spürte ein Kribbeln im Bauch, nicht unangenehm, doch in Nelkes Nähe ließ es ihn sich unwohl fühlen. Er entzog sich ihrer Berührung, als er endlich aus seiner Erstarrung erwachte und blickte verlegen zu Boden. Nelke tat es ihm gleich und vergrub beschämt ihre Hand in ihrem Schoß. Frodos Mund war noch trockener als zuvor. Ihre Berührung hatte ihn ihre Worte beinahe vergessen lassen und nur langsam kehrten sie in seine Gedanken zurück. Das Kribbeln in seinem Bauch ließ nicht sofort nach, doch war es nicht mehr so deutlich zu spüren wie zuvor. Er hatte so etwas noch nie gefühlt und, auch wenn er es als angenehm empfand, behagte es ihm nicht, nicht in Nelkes Nähe. Was war überhaupt in sie gefahren, dass sie ihn plötzlich so ansah, solche Dinge zu ihm sagte und ihn berührte? Was war in ihn gefahren, dass er das zuließ, es beinahe genoss, anstatt zurückzuweichen? Sie war schließlich ein Mädchen und ein ziemlich dummes noch dazu, auch wenn sie heute anders zu sein schien.
Frodo schielte zu ihr hinüber. Nelke hatte den Kopf gesenkt, hielt die Hände in ihrem Schoß fest umklammert. Sie zitterte. Plötzlich wirkte sie sehr verletzlich und für einen Augenblick glaubte Frodo sogar, sie mögen zu können. Diesen letzten Gedanken schlug er sich jedoch rasch wieder aus dem Kopf. Nelke war schon immer eine Nervensäge gewesen, und würde auch eine bleiben, ganz gleich, was eben geschehen war. Und doch kam Frodo nicht umhin, daran denken zu müssen, wie sie ihn im Sommer am Fluss verteidigt hatte. Damals schon hatte er gedacht, dass sie ihn mochte und heute bestätigte sich das für ihn noch einmal, schließlich war sie jetzt mit ihm hier und hatte Dinge gesagt und getan, die ihn berührten, auch wenn ihm das nur langsam klar wurde. Ihre Worte hatten ihn zweifelsohne berührt, ebenso, wie ihre Berührung, oder er hätte sich dessen erwehren können. Es bestand kein Zweifel: Nelke mochte ihn. Und vielleicht, vielleicht mochte er sie auch, allerdings nur ein kleinwenig. Alleine der Gedanke daran trieb ihm die Röte ins Gesicht und er fragte sich, was Merry wohl dazu sagen würde und war erleichtert, dass man ihm seine Verlegenheit ob des schneidenden Windes nicht ansehen konnte.
Frodo holte tief Luft, räusperte sich schließlich unbeholfen und warf sich ein Ende des Schals über die Schultern. Nelke blickte überrascht auf, schien aus ihren eigenen Gedanken zu erwachen, als sie ihn verwirrt ansah. "Wir sollten aufbrechen", bemerkte Frodo. "Es ist kalt." Nelke nickte, lächelte kurz und stand dann auf. "Lass uns aufbrechen."
Kapitel 60: Geheime Gänge
Am nächsten Tag saß Frodo wieder auf der Holzbank vor dem Kachelofen und lehnte den Kopf mit einem Kissen an die warmen Kacheln, wie er es in den vergangenen Nachmittagen ständig getan hatte. Die Wärme und das schwache Licht der Kerzen an den Wänden ließ ihn schläfrig werden. Es hatte wieder zu schneien begonnen und draußen war es noch kälter als am vergangenen Tag und so genoss er die Wärme der Kacheln und die beruhigende Atmosphäre des Wohnzimmers, das sich heute scheinbar keiner großen Beliebtheit erfreute. Nur wenige Frauen saßen an einem Tisch zusammen, tranken Tee und tauschten sich über den neusten Klatsch aus. Hanna, Adamanta und Hilda saßen ebenfalls nahe dem Kachelofen, alle drei mit Nadel, Faden und zerrissenen Kleidungsstücken ihrer Kinder oder Ehemänner bewaffnet. Auch sie unterhielten sich leise, doch Frodo beachtete sie kaum. Seine Aufmerksamkeit galt Gorbadoc, der sich, wie schon am Vortag, in seinen Schaukelstuhl gesetzt hatte und die Geschichte vom Fastitokalon zum Besten gab. Berilac saß auf seinem Schoß und blickte begeistert zu seinem Urgroßvater auf, während Merimas, Minze und viele andere Kinder zu seinen Füßen saßen. Frodo mochte die Geschichte um den riesigen Schildkrötenwalfisch, hatte sie schon unzählige Male von Gorbadoc gehört und war dabei nicht selten selbst auf seinem Schoß gesessen. Das Fastitokalon, ein großer Schildkrötenwalfisch, wurde von den Menschen für eine Insel im Meer gehalten und so hatten sie ihr Lager auf dem Rücken des Tieres aufgeschlagen. Der Fisch wurde jedoch durch das Feuer, das die Menschen auf seinem Rücken entzündet hatten, aufgeschreckt und tauchte in die Tiefe, woraufhin die Menschen mit all ihrem Hab und Gut im Meer versanken. Es war eine alte Legende, die unter den Hobbits schon seit vielen Generationen erzählt wurde, und Frodo wusste nicht, wie viel davon tatsächlich wahr war, doch ihm gefielen Gorbadocs Ausschmückungen und die Art und Weise, wie er die Geschichte präsentierte.
Als Gorbadoc zu Ende erzählt hatte, setzte Frodo sich auf und streckte sich, wobei er ein genüssliches Gähnen nicht unterdrücken konnte. Hanna schielte zu ihm herüber und lächelte kurz. Frodo erwiderte das Lächeln zögernd, eilte dann aus dem Wohnzimmer und machte sich auf den Weg in die Bibliothek. Merry ging es noch nicht besser und Frodo wollte sich die Zeit mit einem Buch vertreiben. Er nahm einen Kerzenhalter vom Regal, das an der rechten Wand des Ganges angebracht war und zündete die Kerze an, ehe er vorsichtig den Türknauf drehte und von dem willkommenen Geruch und der Dunkelheit der Bibliothek begrüßt wurde. "Du bist schon wieder allein", ließ ihn eine Stimme hinter sich wissen. Frodo zuckte kaum merklich zusammen, bevor er sich zu Nelke umdrehte, die mit dem Rücken gegen die Wand lehnte und die Hände vor der Brust verschränkt hielt. "Ich habe dir bereits gesagt, dass ich gerne alleine bin", erklärte er nicht unfreundlich. "Außerdem bist du hier und somit bin ich nicht allein." Nelke lächelte und kam auf ihn zu. "So soll es auch sein", behauptete sie, als sie über seine Schulter hinweg in die Bibliothek blickte und die Nase rümpfte. Ihre braunen Locken hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die nun locker auf ihren Schultern lagen. Sie trug ein schlichtes grünes Kleid über einer weißen Bluse. Während sie neben ihm stand und in die Dunkelheit der Bibliothek sah, bemerkte Frodo plötzlich, dass er sie anstarrte und wandte verlegen den Blick von ihr ab. Was war mit ihm geschehen? Seit dem gestrigen Nachmittag hatte er immer wieder an Nelke denken müssen und nun starrte er sie auch noch an. Sie mochte vielleicht im Augenblick nett sein, doch er durfte nicht vergessen, wie sehr sie ihm für gewöhnlich auf die Nerven ging. Ob Merrys Krankheit dabei eine Rolle spielte? Hatte sie Mitleid mit ihm und war deshalb freundlicher, tauchte auf, wo immer er auch hinging? "Willst du denn nicht hineingehen?", fragte sie plötzlich. "Von mir solltest du dich nicht abhalten lassen. Ich komme gerne mit dir." Frodo zog ein wenig verwirrt eine Augenbraue hoch, sah sie kurz an und trat dann in die Bibliothek, wobei er seinen Blick über die Regale voller Bücher schweifen ließ. Nur schwach ließ das Licht die vielen Buchrücken schimmern und so entzündete Frodo zwei weitere Kerzen, die zu beiden Seiten der Tür an den Wänden hingen. Er musste auf die Zehenspitzen stehen, um sie zu erreichen und Nelke kicherte verstohlen in sich hinein, was Frodo schweigend zur Kenntnis nahm, schließlich war sie nicht viel größer, als er selbst. Anschließend trat er an den großen Tisch, um den zehn Stühle standen, und entzündete die drei Kerzenhalter, die darauf platziert worden waren. Es war unglaublich, was das zusätzliche Licht bewirkte. Die Regale, die zu allen Seiten des Raumes standen, schienen ihm beinahe einladend entgegenzulachen und auch, wenn bei weitem nicht alle dieser Regale mit Büchern und Schriftrollen gefüllt waren, war es doch die größte Bibliothek, die Frodo kannte und er liebte es, hier zu sein. Er seufzte zufrieden und holte tief Luft. Wie sehr er diesen Geruch doch liebte! Leder, vergilbtes Papier und altes Pergament gehörten ebenso zum eigentümlichen Geruch der Bibliothek, wie der Duft von Holz und Staub. Ohne zu zögern ging er auf eines der Regale zu und ließ seine Finger über die gebundenen Buchrücken wandern, ehe er ein Buch mit dem Titel Das Auenland - Gründung und Entwicklung herauszog und es interessiert begutachtete. Auch hier strich Frodo mit seinen Fingern über den Einband, ehe er das Buch vorsichtig aufschlug und die erste Seite kurz überflog. Er hatte in letzter Zeit einiges über die Geschichte des Auenlandes gelesen, ein Bereich, der in der Bibliothek des Brandyschlosses besonders ausführlich behandelt wurde, doch er war sich nicht sicher, ob er sich dieses bestimmte Buch bereits zu Gemüte geführt hatte.
"Ich frage mich wirklich, was an all dem so interessant sein soll, dass du immer wieder hierher kommst." Frodo blickte von seinem Buch auf und wandte sich um. Nelke stand am anderen Ende des Zimmers, legte gerade eine Rolle, die die Stammbäume einer Hobbitfamilie enthielt, wieder in eines der Regale und fröstelte. Sie schlang die Arme um die Brust, als ein Zittern ihren Körper durchlief. "Es ist kalt, es ist staubig und es ist dunkel, trotz der vielen Kerzen", klagte sie, ehe sie den Kopf fragend in seine Richtung drehte. Ein goldener Schimmer lag auf ihrem Haar und ihre Augen funkelten im flackernden Licht der Kerzen. Frodo lächelte von einem Ohr zum anderen, schüttelte kurz den Kopf, schlug das Buch zu und verstaute es wieder im Regal. Er nahm seine Hand jedoch nicht vom ledernen Einband und ließ seine Augen lange darauf ruhen. Eine Stille erfüllte das Zimmer, die Frodo wie einen Mantel einzuhüllen schien und Nelke unruhig werden ließ. "Es sind die Bücher, die den Raum ausmachen", sagte er dann gedankenverloren und ging verträumt am Regal entlang, wobei seine Finger weiterhin über die ledernen Buchrücken strichen. Nelke zog fragend eine Augenbraue hoch und strich ebenfalls gedankenverloren über einige Bücher, als könne sie Frodos Worte dadurch einfangen und ihr Unbehagen abschütteln. "Sie sind es, die dem Raum die nötige Weisheit geben, die ihn mit grenzenloser Freiheit erfüllen, denn nur mit Hilfe der Geschichten kann unser Geist der Enge hier entfliehen. Die Bücher sind es, die dem Raum Erinnerungen geben, eine Vergangenheit, ebenso wie eine Zukunft, denn die Stammbäume werden mit jedem neugeborenen Kind erweitert. Selbst der Geruch der Bücher haftet an diesem Raum, wie an keinem anderen und alleine dieser Geruch erzählt eine Geschichte, noch ehe du in den Seiten eines Buches blätterst." Frodo war in der Ecke angekommen und sah mit fernem Blick am Regal empor. Schließlich blinzelte er, als würde er aus einem Traum erwachen und blickte auf seine Finger, die mit einer dünnen Staubschicht bedeckt waren. Ohne sich von der Stelle zu bewegen, wandte er sich dann zu Nelke um, sah sie beinahe verwirrt an.
Frodo liebte Bücher und ihm war, als hätten sie selbst ihm die Worte in den Mund gelegt, die sie zuvor aus seinem Herzen gestohlen hatten. Er war sich sicher, dass es die Bücher waren, die der Bibliothek ihre Geschichte gaben, doch sie taten es nicht allein. Jener, der in den Büchern las, machte die Bibliothek und deren Inhalt ebenso aus, wie die Bücher selbst. Der Leser war Teil dieser Geschichte, Teil der Faszination, die die Bibliothek für ihn ausstrahlte. Ob Nelke das verstand? Ob er es selbst verstand? Frodo wusste es nicht, denn seine eigenen Worte begannen bereits zu verblassen und, hätte Nelke ihn darum gebeten, er hätte sie nicht wiederholen können.
Nelke sah ihn verwundert und entgeistert zugleich an. Während seine Worte in ihren Ohren klangen, schien sie wie erstarrt. Das flackernde Kerzenlicht hüllte ihn in einen rötlichen Schimmer und sie begann sich zu fragen, ob Frodo wirklich verstand, was er soeben gesagt hatte. Sie selbst war sich nicht wirklich sicher, was seine Worte genau zu bedeuten hatten, denn sie hatte sich nie sonderlich für Bücher interessiert. Sie war praktischer veranlagt und verbrachte lieber einige Stunden damit, Bettwäsche zu besticken oder einen Schal zu stricken, anstatt über Bücher nachzudenken oder gar eines von ihnen zu lesen. Alles, was in dieser Hinsicht wichtig war, wurde ihr ohnehin in den Unterrichtsstunden beigebracht, auch wenn sie damit nicht viel anfangen konnte. Was brachten ihr Bücher und Worte, wenn sie stattdessen lernen konnte, wie sie Kleider zu nähen und Essen zu kochen hatte? Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und Nelke war überrascht, in Frodos Augen dieselbe Verwirrung zu lesen, die sie empfand. Verwundert runzelte sie die Stirn, nickte aber. "Das mag sein", sagte sie schließlich, trat an den Tisch heran und blies die Kerzen aus, "aber kalt bleibt es hier trotzdem. Lass uns gehen!"
Ein Lächeln stahl sich über Frodos Lippen, als auch ihm die Kälte, die ebenso Teil der Bibliothek war wie die Bücher, durch die Glieder kroch und ihn zum Frösteln brachte. Die Lust auf ein Buch war ihm vergangen und stattdessen musste er, sehr zu seiner Verwunderung feststellen, dass er froh darüber war, mit Nelke hier gewesen zu sein, und dass er ihre Anwesenheit schätzte. Sie mochte eine Nervensäge sein, doch im Augenblick schien sie genauso gelangweilt wie er. Was sprach also dagegen, wenn er ein wenig Zeit mit ihr verbrachte, zumindest bis Merry wieder gesund war? Bisher hatte sie immerhin bewiesen, dass sie auch nett sein konnte, auch wenn ihm bei dem Gedanken an den vergangenen Nachmittag noch immer etwas mulmig wurde und seine Wangen sich erwärmten. Nickend kam er schließlich aus der hinteren Ecke der Bibliothek hervor, half ihr, die letzten Kerzen auszupusten und trat schließlich wieder in den Gang hinaus, wo er auch die Kerze auf seinem Halter auspustete. "Und wohin sollen wir gehen?" Nelke grinste von einem Ohr zum anderen. "Das wirst du gleich sehen", meinte sie verschwörerisch. "Komm mit!" Mit diesen Worten eilte sie den Gang entlang und Frodo blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
"Die Bibliothek ist der Ort, an den du dich bei solchem Wetter zurückziehst", erklärte Nelke, während sie Frodo in die westlichen Gänge des Brandyschlosses führte. "Nun möchte ich dir meinen Lieblingsplatz zeigen." Frodo lächelte in sich hinein. Er hatte die Bibliothek nie als seinen Lieblingsplatz im Brandyschloss angesehen, doch wenn er genauer darüber nachdachte, konnte Nelke damit sogar Recht haben, schließlich war er wirklich gerne dort und zog sich nicht selten darin zurück. Dennoch war wohl sein Zimmer mehr ein Lieblingsplatz für ihn, denn dort hatte er alles, was ihm wichtig war: das Bild seiner Eltern, sein Tagebuch, Erinnerungen, die selbst nach so vielen Jahren noch immer an den Wänden hafteten, und zumindest ein wenig das Gefühl, zu Hause zu sein. Bei dem Gedanken an ein Zuhause wurde ihm das Herz schwer und für einen Augenblick biss er sich auf die Lippen, denn jener Gedanke rief zugleich die Erinnerung an Bilbo wach. Bilbo, der ihn geliebt und ihn dann mit seinen Worten so sehr verletzt hatte. Frodo schluckte den Knoten, der sich in seinem Hals bildete und versuchte, den Gedanken an Bilbo abzuschütteln. Nelke hatte ihm bereits am vergangenen Nachmittag aufgezeigt, dass sie sich um ihn sorgte und er wollte verhindern, dass sie dies weiterhin tat. Mit einem tiefen Luftholen gelang es ihm, sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Frodo warf einen kurzen Blick auf Nelke, die ihm einen Schritt voraus war, um ihn an ihr gewünschtes Ziel zu führen, und wusste, dass sie von der Traurigkeit, die ihn überkommen hatte, nichts bemerkt hatte. Er würde sie in dem Glauben lassen, er ziehe sich in die Bibliothek zurück, denn es interessierte ihn ungemein, wo wohl ihr Lieblingsplatz, der Lieblingsplatz eines Mädchens, sein konnte. Während er sich noch fragte, wo Nelke sich gerne aufhalten könnte, öffnete das Mädchen eine Tür und verschwand im dahinter liegenden Zimmer.
Frodo blieb überrascht in der Tür stehen, als er erkannte, wohin sie ihn geführt hatte. Ein mulmiges Gefühl machte sich in seinem Magen breit und er ertappte sich dabei, wie er sich verstohlen nach beiden Richtungen umblickte. Seine Nackenhaare sträubten sich und ehe er wusste, was er tat, war er einen Schritt von der Tür zurückgetreten. "Hast du vor, in der Tür Wurzeln zu schlagen, oder willst du endlich herein kommen?", wollte Nelke wissen, die bereits zum Bett an der rechten Wand des Raumes gelaufen war und ihn nun, verwundert darüber, dass er nicht mehr hinter ihr war, mit in Falten gelegter Stirn, betrachtete. "Das ist dein Zimmer", stellte Frodo leise zögernd fest und schluckte dann schwer, "und das von Reginard." "Ist das ein Problem?", fragte Nelke, nicht recht verstehend, worauf er mit seiner Bemerkung hinaus wollte. "Wenn du dir um Reginard Sorgen machst, kann ich dich beruhigen. Der ist nur hier, um zu schlafen. Wo er den Rest des Tages verbringt, weiß ich nicht." Frodo rührte sich nicht von der Stelle, blickte sich stattdessen noch einmal nach beiden Seiten um. Er konnte sich gut vorstellen, wo Reginard den Tag verbrachte. Vermutlich saß er gleich zwei Türen weiter in dem Zimmer, das sich Marroc mit seinen Eltern teilte, und machte sich über ihn lustig. "Sollte er dir jedoch zu Nahe kommen, werde ich ihn grün und blau prügeln." Reginards Drohung klang in seinen Ohren, ließ Frodo einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Was Reginard wohl mit ihm machen würde, sollte er ihn in dem Zimmer vorfinden, das er sich mit seiner Schwester teilte? Frodo würde mindestens die doppelte Tracht Prügel erhalten, weil er die Dreistigkeit besessen hatte, das Zimmer des älteren Hobbits zu betreten. Ein weiterer Schauer lief ihm über den Rücken. Ihm war noch lebhaft in Erinnerung, wie schlecht er sich gefühlt hatte, als er von Marroc verprügelt worden war und wollte nicht riskieren, dass so etwas noch einmal geschah. Sollte Marroc eine Prügelei beginnen, würde er sich verteidigen, aber keineswegs wollte er weitere Prügel heraufbeschwören, weder von Marroc, der seinem Vetter bestimmt zur Seite stehen würde, noch mit Reginard. Nelke war inzwischen wieder auf ihn zugekommen und musterte ihn eingehend. Die leichte Blässe in seinem Gesicht entging ihr dabei nicht. "Hast du etwa Angst?", fragte sie und auch wenn ihre Stimme mitfühlend klang, lag der Schatten eines Grinsens auf ihrem Gesicht. "Natürlich nicht!" ließ Frodo sie wissen und warf ihr einen beleidigten Blick zu, überrascht, dass seine Stimme nicht halb so viel zitterte, wie er befürchtet hatte. "Na dann, komm. Reginard wird nicht auftauchen. Vertrau mir." Frodo sah sie einige Augenblicke schweigend an, unwillig, seine Angst zu zeigen. Er wusste nicht, ob er ihr vertraute, aber schließlich trat er ein. Nelke schloss die Türe hinter ihm und auch wenn das mulmige Gefühl in Frodos Magen bestehen blieb, schien mit dem Schließen der Tür ein Großteil seiner Angst von ihm abzufallen. Er seufzte erleichtert und Nelke kicherte, als sie wieder zu dem Bett auf der rechten Seite des Raumes eilte.
Etwas unsicher blickte Frodo sich um. Das Zimmer war nicht sonderlich groß, doch schien es klar in zwei Hälften geteilt worden zu sein. Während Nelke offenbar die rechte Seite des Raumes bewohnte, hauste Reginard auf der Linken. Frodo trat unwillkürlich einen Schritt nach rechts, um keinem von Reginards Eigentum zu Nahe zu kommen. Die Betten standen zu beiden Seiten auf Höhe der Tür an den Wänden. Daneben stand jeweils ein Nachtkästchen, das mindestens doppelt so groß war wie jenes, das Frodo in seinem Zimmer stehen hatte und genauso gut als kleines Regal hätte dienen können. Nelke hatte auf ihrem Nachttisch eine kleine Laterne stehen, ebenso eine Schüssel mit Wasser und einem Tuch, mit dem sie sich morgens und abends wusch. Frodo war froh, dass sich sein eigenes Zimmer nicht weit vom östlichen Badezimmer befand und er deshalb keine Wasserschüssel in seinem Zimmer stehen hatte. Er wusste nicht, wo er sie würde hinstellen können. Neben der Laterne lagen ein Wollknäuel aus grünem Faden und die ersten Reihen eines gestrickten Schals. An der Wand, die der Türe gegenüber lag, stand ein großer Schrank, an dessen Seiten, links und rechts jeweils ein Schreibtisch mit einem Stuhl platziert worden war. Auf beiden Schreibtischen standen ein wunderschöner Federhalter mit zwei Schreibfeder und zwei kleinen Fässchen Tinte daneben.
"Frodo?" Der junge Hobbit unterbrach seine Begutachtung des Zimmers, als Nelke ihn an ihre Seite rief. Das Mädchen saß hinter dem Fußende ihres Bettes am Boden und lehnte sich gegen die Wand. Die Laterne, die zuvor auf ihrem Nachttisch gewesen war, hatte sie entzündet und neben sich gestellt. Verwundert runzelte Frodo die Stirn, als er zu ihr trat und sich ebenfalls auf den Boden kniete. Ein Knauf, wie der einer Türe, war an der Wand befestigt worden und Frodo erkannte voller Staunen, dass es sich dabei tatsächlich um einen Türknauf handelte. An der Wand zwischen Nelkes Bett und ihrem Schreibtisch war eine kleine Tür. Sie war gerade so hoch, dass ein ausgewachsener Hobbit bequem hindurch kriechen konnte, doch wo sie hinführte, oder wie sie hierher gelangt war, wusste Frodo nicht. "Was…?", stotterte er verwundert und deutete mit einem völlig verdutzt Gesichtsausdruck auf den Messingknauf. Nelke strahlte von einem Ohr zum anderen, offensichtlich zufrieden mit dem fassungslosen Blick, den Frodo ihr schenkte. "Das ist der Gang zu meinem Lieblingsplatz", erklärte sie dann stolz und ihre Augen leuchteten vor Freude.
Mit einem geschickten Handgriff drehte sie den Knauf und öffnete die niedere Tür, die Frodo gar nicht bemerkt hätte, hätte Nelke ihn nicht auf den Messingknauf aufmerksam gemacht. Erst jetzt erkannte er auch die Messingscharniere, die es erlaubten, die Türe zu öffnen und seine Verwunderung wuchs noch. Er erinnerte sich plötzlich daran, wie er vor langer Zeit in einer der Speisekammern mit Merry nach einem geheimen Gang, der geheimen Drachenhöhle, gesucht hatte und das Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. Damals hatten sie nichts gefunden, doch offensichtlich gab es doch geheime Gänge im Brandyschloss, von denen niemand etwas wusste. Aufgeregt verfolgte er, wie Nelke die Laterne in die Hand nahm, in die Höhle kroch und ihn anwies, ihr zu folgen. Frodo kam dieser Bitte gerne nach und kroch aufgeregt hinter ihr durch die Tür, ohne auch nur einen einzigen Blick zurück zu werfen. Der Gang war schmal und niedrig, doch Frodo konnte bequem hinter Nelke her kriechen. Die Flamme im Innern der Laterne flackerte unruhig und erleuchtete den Gang von allen Seiten. Immer wieder drang ein Klappern und Klirren an sein Ohr, wenn Nelke mit der Lampe den Boden streifte und auch das leise Rascheln ihrer Röcke war sein ständiger Begleiter, während sie ihn immer tiefer in den geheimen Gang führte. "Der geheime Gang, der zum Hort des Drachen führt", flüsterte er andächtig, während er jeden Moment aus Bilbos Geschichte vor sich sah. Dieses Mal war es nicht nur ein Mauseloch. Dieses Mal war es ein geheimer Gang. Frodos Mund war trocken. Er spürte die Anspannung und Aufregung in seinem ganzen Körper, während er vorsichtig hinter Nelke und dem flackernden Licht ihrer Lampe her kroch, immer damit rechnend, jeden Augenblick den Drachenhort und Berge von Gold und Juwelen zu erblicken. "Du wirst niemals aufhören, an Drachen zu glauben, nicht wahr?", stellte Nelke mit einem Lächeln in der Stimme fest. "Wir sind da."
Der Gang machte plötzlich eine Biegung nach links. Bei näherem Betrachten erkannte Frodo jedoch, dass der Gang hier zu Ende und, was er ursprünglich für eine Abzweigung gehalten hatte, nur die äußere Ecke eines kleinen Raumes war. Der Raum selbst war nicht viel größer als ein besonders großes Doppelbett und auch nicht sonderlich höher als der Gang, durch den sie hierher gelangt waren, doch konnten sie sich, ohne sich dabei den Kopf zu stoßen, bequem auf die Wolldecke setzen, die Nelke bei einem ihrer früheren Besuche hierher mitgebracht haben musste. Nelke machte es sich am anderen Ende des kleinen Raumes bequem, während Frodo seinen Blick durch den vermeintlichen Drachenhort schweifen ließ. Es gab kein Gold, keine Juwelen und auch vom Drachen fehlte jede Spur, doch Frodo war weniger enttäuscht als er erwartet hatte. Immerhin war er durch einen geheimen Gang hierher gelangt und dies war ein geheimer Raum, von dem niemand etwas wusste, und wer konnte schon sagen, ob es nicht noch mehr solche geheimen Räume gab? In einem war bestimmt der Schatz eines Drachen versteckt.
Frodo nickte zufrieden, überlegte sich bereits, wo er mit seiner Suche nach geheimen Gängen am besten beginnen sollte, als er es sich schließlich auf der Decke gemütlich machte, die Arme demonstrativ vor der Brust verschränkte und konterte: "Du wirst wohl niemals aufhören, sie als Geschichten zu sehen. Es ist eine Schande, dass ausgerechnet du, die das nicht zu würdigen weiß, einen solchen geheimen Gang haben sollst." Nelke zog eine Augenbraue hoch und sah ihn vielsagend an. Bedrohliche Schatten ragten hinter ihr an der Wand empor, als sie die Laterne zwischen sich und Frodo auf die Decke stellte. Das schwache Licht ließ ihre Augen funkeln. "Glaube mir, ich weiß ihn sehr wohl zu würdigen." "Wenn das mein Gang wäre, würde ich ihn vor allen Augen schützen und niemand würde je davon erfahren", ließ Frodo sie geistesabwesend wissen. Er fragte sich, ob wohl in seinem Zimmer auch ein solcher Gang war und was er damit alles machen konnte. Gleich heute Abend wollte er sich auf die Suche danach begeben und nur Merry würde er von dem geheimen Gang erzählen. "Und wie würdest du das anstellen?", fragte Nelke ungeduldig und dieses Mal war es an ihr, die Arme vor der Brust zu verschränken. Frodo grinste listig. "Ich ließe mir schon etwas einfallen", teilte er ihr mit. Seine Augen glitzerten im Licht der Lampe und als Nelke dies auffiel, stahl sich ein unbemerktes Lächeln über ihre Lippen. "Ich wünschte, ich könnte mein Zimmer gegen deines tauschen." "Liebend gerne!" rief Nelke lachend aus. Ein verträumter Ausdruck trat in ihre Augen, als sie den Kopf schief legte und den Blick auf die tanzenden Schatten an der Decke gerichtet hielt. "Mein eigenes Zimmer. Dann dürftest du dich mit Reginard herum schlagen."
Frodo starrte sie entgeistert an. Das Grinsen in seinem Gesicht war mit einem Mal verschwunden und das mulmige Gefühl in seinem Magen, das er beim Betreten des Ganges vollends hinter sich gelassen hatte, kehrte zurück. Wenn Reginard ihn hier erwischte, dann würde er sich mit ihm herum schlagen müssen und dies in einem anderen Sinne, als es Nelke gemeint hatte. Frodo war sich sicher, dass er dabei würde einstecken müssen, denn auch wenn Reginard nicht Marroc war, so war er doch dessen Vetter und fünf Jahre älter, als er selbst. Er erschauderte alleine beim Gedanken daran und wandte rasch den Blick von Nelke ab, sah stattdessen auf seine Finger, die sich in die weiche Decke gruben.
Auch Nelke wandte erschrocken den Blick ab, als sie den entsetzten Ausdruck in seinen Augen sah. Sie erinnerte sich plötzlich, wie ihr Bruder Frodo gedroht hatte, ihn zu verprügeln und für einen Augenblick glaubte sie, derselbe zornige, erschrockene Blick von damals spiegle sich in Frodos Augen wider und sie bereute ihre Worte. "Verzeih", wisperte sie und spielte verlegen mit einem ihrer Zöpfe ohne Frodo jedoch anzublicken. Für einen langen Augenblick herrschte Schweigen. Nelke wartete unruhig darauf, dass Frodo etwas sagte, doch als ihr klar wurde, dass er das Schweigen nicht brechen würde, hob sie zögernd den Kopf. "Es tut mir Leid, meine Worte waren schlecht gewählt."
Das Licht erhellte nur eine Hälfte seines Gesichtes, ließ die andere in Dunkelheit verschwimmen, doch auch in diesem schwachen Lichtschein konnte sie den verletzten Ausdruck in seinen Augen sehen und es schmerze sie, zu wissen, dass sie einen Teil der Schuld dafür trug. Frodo rührte sich nicht. Seine Finger gruben sich noch immer in die Decke und für kurze Zeit fühlte er sich unfähig, etwas zu erwidern. Sie hatte nichts Böses getan, weshalb also versetzte ihn ihre Aussage so sehr in Schrecken? Reichte nun schon ein Name aus, um ihn zu ängstigen? Doch was er nun fühlte, war nicht nur Angst. Nur langsam wurde Frodo klar, dass Nelkes Worte an jener Traurigkeit gerüttelt hatten, die er seit Monaten mit sich trug und zu unterdrücken suchte. Bilbos Worte hatten ihn tiefer verletzt, als er sich selbst gegenüber zugeben wollte. Bilbo liebte ihn nicht, ebenso, wie alle anderen Bewohner des Brandyschlosses, abgesehen von Merry, und Reginard ging, genau wie Marroc, noch einen Schritt weiter. Sie hassten ihn und würden ihn nur mit Freuden verprügeln und bestimmt waren sie nicht die Einzigen, die so über ihn dachten. Es gab genügend andere, die ihm wortlos aus dem Weg gingen und Frodo zweifelte nicht daran, dass sie an Marrocs Seite kämpfen würden, sollte dieser sie darum bitten. Er war allein, ungeliebt an einem Ort, der nicht sein Zuhause war. Nelkes ungeschickte Aussage hatte ihm das wieder klar gemacht und Frodo spürte bereits, wie sich die Verzweiflung darüber erneut in ihm ausbreitete. Er wollte nicht verzweifelt sein, wollte seine Traurigkeit und seine Angst besiegen, doch wann immer er es versuchte, wurde er von ihr überwältigt und Frodo fragte sich oft, ob die Wunde, die Bilbo ihm zugefügt hatte, jemals heilen würde. Im Augenblick war ihm, als risse sie neu auf, wann immer er glaubte, vergessen zu können.
"Es muss dir nicht Leid tun", sagte er schließlich leise, hob zögernd den Kopf und holte tief Luft. "Ich sollte mich bei dir entschuldigen. Du hast nichts Falsches gesagt, es ist nur, dass ich…", er zögerte, wohl wissend, dass er ihr eine Antwort schuldig war. "Im Augenblick gibt es viele Dinge, die mich beschäftigen. Möglicherweise denke ich zuviel darüber nach, doch ich kann es nicht verhindern." Nelke nickte, wobei sie ihm tief in die Augen sah und enttäuscht feststellen musste, dass das Leuchten, das sie für einen Moment in seinem Blick hatte erkennen können, wieder erloschen war. "Hat es etwas mit Reginard zu tun?", wollte sie wissen und Frodo wusste sofort, auf welches Ereignis sie hinaus wollte. Er schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln, überrascht, dass auch sie noch immer an jenen Tag am Fluss denken musste. Schon damals hatte er sich bei ihr bedanken wollen, doch bis zum heutigen Tag hatte er dies nicht getan, da er auf einen geeigneten Zeitpunkt hatte warten wollen, einen Moment, an dem sie ihm nicht auf die Nerven ging. Frodo entschied, dass dies ein guter Augenblick dafür war. "Ich", begann er stockend und senkte für einen kurzen Moment den Kopf, nur um sie gleich darauf wieder anzusehen. "Ich wollte mich schon lange bei dir dafür bedanken, dass du mich damals verteidigt hast." Nelke lächelte ein so warmes Lächeln, dass Frodo verlegen den Blick senkte und spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg und seine Wangen wärmte. Das Kribbeln, das er schon am vergangenen Nachmittag hatte spüren können, kehrte in seinen Bauch zurück und auch wenn Frodo noch immer nicht wusste, ob er es als angenehm oder unangenehm empfinden sollte, entschloss er, dass er es für ein gutes Zeichen hielt. "Das habe ich gern gemacht", erwiderte Nelke noch immer lächelnd. "Es war nicht recht von meinem Bruder, dich so zu behandeln und auch wenn du manchmal ein ganz schöner Dummkopf bist, bist du mein Freund und sollst nicht in Ärger geraten, für den du nichts kannst." Das Lächeln in ihrem Gesicht wurde noch breiter und ihre Augen leuchteten, als sie plötzlich unter den Rand der Decke griff und einen Stapel Spielkarten hervor holte. "Wir können nicht durch den geheimen Gang kriechen, nur um dann nur dumm dazusitzen. Komm, lass uns Karten spielen." Frodo sah sie voller Staunen an, unsicher, was ihn mehr verwunderte, ihre Aussage, oder die Tatsache, dass sie Spielkarten hier hinten hatte. Ein Lächeln stahl sich über seine Lippen und er nickte eifrig. "Gut, lass uns spielen!"
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Ein Feuer knisterte im Kamin und Frodos Augen blickten verträumt in die züngelnden Flammen. Er saß auf dem Bett in Hannas Zimmer, hatte einen Wollstängel um seine Hände gewickelt und hing seinen Gedanken nach. Hanna hatte ihn nach dem Abendessen darum gebeten, ihr beim Aufwickeln der Wolle behilflich zu sein, während Marmadas mit den Kleinen im Wohnzimmer saß und Frodo hatte gerne zugesagt. Erst vor kurzem hatten Hanna und Marmadas ihr Zimmer ein wenig umgestaltet, hatten neben dem Kamin eine Ecke eingerichtet, in der die Betten aller drei Kinder aufgestellt waren. Diesen Bereich hatten sie mit einem Vorhang vom eigentlichen Zimmer abgetrennt, sodass Merimas, Minze und Melilot abends nicht so leicht gestört wurden. Frodo fand es gemütlich auf Hannas Bett zu sitzen, während sie auf einem Sessel vor ihm saß und Wolle auffädelte. Das rotgoldene Licht des Kamins erhellte das Zimmer und das beruhigende Knistern der Flammen klang in seinen Ohren. Es war beinahe so, als wären seine Eltern noch hier, doch der Geruch war ein anderer und das Zimmer hatte sich zu sehr verändert, um die Erinnerung an jene Zeiten wachzurütteln, wenn Frodo es nicht wollte. Hanna war ungewöhnlich schweigsam, doch wirkte sie auf Frodo fröhlich und so ließ dieser seine Gedanken wandern, erlaubte ihnen, ihn zu Nelke zu führen. Er hatte den ganzen Nachmittag mit ihr verbracht, ehe sie albernd und kichernd den Gang zurück gekrochen waren. Dieses Mal hatte Nelke sich sogar von seiner Vorstellung eines Drachen anstecken lassen, denn sie mochte Geschichten, auch wenn sie kaum welche davon selbst las, und obwohl sie wenig von Drachen hielt, hing sie doch gerne ihren eigenen Vorstellungen nach. Frodo hatte feststellen müssen, dass er sie mochte. Er mochte sie vielleicht sogar mehr, als ihm lieb war. Und Nelke mochte ihn auch. Sie hatte selbst gesagt, dass er ihr Freund war und alleine bei dieser Aussage hatte sein Herz einen solchen Freudensprung vollführt, dass er ihr am liebsten um den Hals gefallen wäre, doch war er zu erstaunt gewesen, um dies auch tatsächlich zu tun. Vielleicht hatte er doch mehr Freunde im Brandyschloss, als er gedacht hatte.
Der Wollstängel war aufgebraucht und zu einem sauberen Knäuel gewickelt worden. Frodo lächelte Hanna kurz an, sah ihr einen Augenblick zu, wie sie alle neuen Wollknäuel verräumte und blickte dann wieder verträumt ins Feuer. Hanna sah Frodo mit gerunzelter Stirn an, ließ ihren Blick dann zum Feuer wandern und setzte sich neben ihn auf das Bett. Sie hatte ihn schon den ganzen Abend beobachtet, auch wenn sie kaum mit ihm gesprochen hatte. Frodo hatte nicht den Eindruck gemacht, sprechen zu wollen und so hatte sie ihn nicht gedrängt, sondern nur ein paar belanglose Fragen gestellt. Kaum waren diese beantwortet worden, hatten sie schweigend gearbeitet. Frodo hatte dabei ständig ins Feuer gesehen, den Blick leer, als wäre er mit seinen Gedanken weit entfernt und selbst jetzt hatten ihn diese Gedanken nicht losgelassen. Was immer ihn beschäftigte, musste ihm sehr wichtig sein, da er noch mehr vor sich hinträumte, als es selbst für ihn üblich war. Dennoch schien es Hanna, als wären seine Augen klarer, als an vielen anderen Abenden, an denen sie Frodo in den letzten Monaten beobachtet hatte. Eine Traurigkeit hatte ihn umgeben, die so tief saß, dass ihre Worte nicht ausreichten, um Frodo aufzuheitern und, welcher Kummer auch immer ihn beschäftigte, zu vertreiben. Heute schien es ihm jedoch besser zu gehen, obschon sein Ausdruck bekümmert blieb und er ebenso verschlossen war, wie in den vergangenen Wochen.
Frodo war so sehr mit seinen eigenen Grübeleien beschäftigt, dass er nicht einmal bemerkte, wie Hanna sich neben ihn setzte. Seine Gedanken waren von Nelke zu Bilbo gewandert. Wie hatte der alte Hobbit, den er einst so sehr geliebt hatte, ihn so tief verletzen können, dass die bloße Nennung eines Namens ausreichte, um ihn verzweifeln zu lassen? Frodo wusste, er würde nie aufhören können, darüber nachzudenken, nicht so lange ihn Verzweiflung so rasch und unvorhergesehen verschlingen konnte. Dennoch musste er aufhören, an Bilbo zu denken, denn dadurch verletzte er sich selbst und gab jener tiefen Wunde nicht einmal die Möglichkeit, zu heilen. Doch wie sollte ihm das gelingen, wenn ihn die Erinnerung an Bilbos Liebe so sehr quälte? Die Stimme der Sehnsucht schrie so laut in seinem Inneren, dass er sie nicht überhören konnte. Sehnsucht nach Wärme, nach einem Zuhause, erfüllte oftmals jede Faser seines Seins und ließen Verzweiflung über den Mangel, den Verlust an beidem die Überhand gewinnen.
Frodo schloss die Augen und gab sich jener Wärme hin, die sein Herz erfüllte, wie die schwache Erinnerung an seine Mutter. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, seine Verzweiflung gespürt, war die Wärme plötzlich bei ihm gewesen und stillte einen geringen Teil seines Hungers. Seine linke Hand klammerte sich an jener Wärme, jener Liebe fest, um zu verhindern, dass sie ihm je wieder entfleuche. Die Finger schlossen sich um einen warmen, weichen Wollstoff--
-- wie jener aus dem Hannas braunes Winterkleid gemacht war. Erschrocken riss Frodo die Augen auf und wollte sich erheben, doch Hände, eine davon auf seiner Stirn, die andere auf seiner Schulter und seiner linken Hand, geboten ihm mit sanftem Druck, sich nicht zu bewegen. "Bleib, Frodo, ich bitte dich", hörte er Hanna flüstern und verkrampfte sich unweigerlich. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er den Kopf in ihrem Schoß liegen hatte. Wie hatte es dazu kommen können? Plötzlich verstand er, dass Hanna nicht so fröhlich gewesen war, wie er vielleicht geglaubt hatte. Ob sie sich wegen seines gedankenverlorenen Schweigens nun sorgte? Er unterdrückte das Gefühl der Wärme, das ihn erfüllte, wollte sich aufsetzen, wollte sehen, ob mit Hanna alles in Ordnung war und sich dann in sein Zimmer zurückziehen, doch noch immer hielten ihre Hände ihn sanft zurück. Sie hatte ihren linken Arm um seine Schultern gelegt, ließ ihre Hand nun auf der seinen ruhen, während ihr Daumen nicht aufhörte, über seinen Handrücken zu streichen. Ihre andere Hand ruhte auf seiner Stirn, strich zärtlich über seine Schläfen, wobei sie einige Locken zurückstrich, und kämmte dann sanft durch sein dunkles Haar. Ein Zittern durchlief seinen Körper und Frodo wusste, dass er gegen seine Sehnsucht nach Liebe machtlos war. Dagegen anzukämpfen, würde sie nur verstärken und so erlaubte er dem Gefühl geliebt zu werden, ihn zu übermannen, entspannte sich schließlich und schloss mit einem leisen Seufzen die Augen. Ohne etwas daran ändern zu können, gab er sich seiner Sehnsucht hin, sog die dargebotene Wärme förmlich in sich auf. Es war nicht die Wärme, die Bilbo ihm geben konnte, oder jene, die seine Mutter ihm geschenkt hatte, doch sie tat wohl und füllte ihn aus, wie das Licht der Sonne. Frodo war Hanna plötzlich unendlich dankbar, dass sie ihn in ihren Armen hielt, hätte ihr das auch gerne gesagt, doch im Augenblick war er nicht dazu in der Lage und wünschte sich nichts mehr, als dass sie ihn nie wieder würde gehen lassen. Nach so vielen Monaten wurde ein Teil seines Schmerzes endlich gelindert und Frodo vermochte es nicht, die Träne der Erleichterung, die ihm dabei über die Wange lief, rechtzeitig wegzublinzeln.
Auch Hanna waren Tränen in die Augen getreten, noch ehe sie die Träne auf Frodos Wangen entdeckt hatte. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, seinen Schmerz fühlen zu können. Für einen kurzen Moment hatte sie ihn vielleicht sogar verstanden, wie sie ihren eigenen Sohn verstanden hätte, doch dieser Moment war verflogen und sie fühlte sich wieder genauso hilflos, wie zuvor. Alles, was sie wusste, war, dass er ihre Nähe brauchte und diese würde sie ihm geben, wann immer er es zuließ.
Author notes: Es ist an der Zeit einer lieben Freundin von mir einen Dank auszusprechen. Habe ich die ersten 50 Kapitel ohne irgendwelche Verbesserungsvorschläge unters Volk gebracht, hilft Ivy mir nun seit über 10 Kapiteln auch die heimlichsten Fehler aufzudecken. Sie macht das mit einer Sorgfalt, die mich zutiefst ehrt. Danke dir,Ivy, du bist mir eine große Unterstützung und ohne lange Kapiteldiskussionen würde ich wohl nicht halb so viele ungeahnte Hintergründe aufdecken.
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Kapitel 61: Bittere Entscheidung
Das Wetter blieb unbeständig und Frodo hatte bald mit den Anfängen einer Erkältung zu kämpfen. Da er jedoch keinerlei Schmerzen verspürte und nur ein gelegentliches Niesen darauf hinwies, dass auch ihm der harte Winter zu schaffen machte, nahm er die aufkommende Krankheit kaum wahr. Er verbrachte die folgenden Tage mit Nelke, die ihn dazu überredete, mit ihr, Marmadoc und Viola, den wenigen Gesundgebliebenen, Karten zu spielen. Frodo war anfangs etwas unsicher, fühlte sich beizeiten unbehaglich, beinahe fehl am Platze, doch mit jeder Runde, die er grübelnd an einem der Wohnzimmertische saß und über seinem Blatt brütete, in der Hoffnung, mit einer ausgeklügelten Taktik auftrumpfen zu können, fühlte er sich wohler. Zwar vermisste er Merry, doch seine Laune besserte sich zusehends und immer häufiger hellte ein Lächeln seine sonst so betrübte Miene auf, ein Lächeln, auf das Nelke meist mit einem ebensolchen antwortete, ganz gleich, ob sie ihn beim Spiel aufzog, oder schweigend ihr eigenes Blatt studierte.
Merry war bereits sechs Tage krank, als Saradoc schließlich das Besuchsverbot aufhob und Frodo ließ es sich nicht nehmen, seinem Vetter als Erster einen Besuch abzustatten. Gleich nach dem Mittagessen war er durch die Gänge des Brandyschlosses zum Zimmer des Jüngeren geeilt, wo er vor der Tür stehen blieb und lauschte. Er erkannte Esmeraldas Stimme, die leise mit ihrem Sohn sprach, als plötzlich ein Besteckstück klimpernd zu Boden fiel. Frodo holte tief Luft und klopfte an der Tür, ehe er vorsichtig den Knauf drehte und zögernd in das Zimmer spähte. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen, ein starker Gegensatz zum warmen Licht des Feuers, das im Kamin an der gegenüberliegenden Seite des Raumes brannte, und ihn sanft willkommen hieß. Merry saß hustend und mit einem angeekelten Gesichtsausdruck auf seinem Bett und hielt eine Teetasse von sich, als wäre deren Inhalt vergiftet. Esmeralda, die auf einem Stuhl neben dem Bett saß, hielt ihm bereits eine andere Tasse hin, die Merry gehorsam trank, um sich dann mit einem Stöhnen, das sowohl erschöpft als auch erleichtert klang, zurückzulehnen und erneut zu husten.
Frodo war versucht, die Türe offen zu lassen, in der Hoffnung, frischere Luft würde ihren Weg in das stickige Zimmer finden, zwang sich aber dazu, sie zu schließen. Esmeralda hatte bestimmt ihre Gründe, die Türe geschlossen zu halten. Frodo ließ seinen Blick auf Merry ruhen, der müde gegen ein aufgeplustertes Kissen lehnte und die Augen geschlossen hielt. Er war blass, die Haare hingen ihm strähnig in die Stirn und das für gewöhnlich gesunde und beinahe pausbäckige Gesicht wirkte mager und eingefallen. Frodo spürte einen Kloß in seinem Hals und ein mulmiges Gefühl machte sich in seinem Bauch breit. Merry sah nicht halb so gesund aus, wie er gehofft hatte. Im Gegenteil. Er wirkte noch kränklicher als an jenem Abend, an dem Saradoc das Besuchsverbot verhängt hatte und Frodo weggeschickt wurde, gerade in dem Augenblick, als Merry sich zum dritten Mal innerhalb kürzester Zeit erbrochen hatte. Auf Frodo machte sein Vetter im Augenblick keinen merklich besseren Eindruck und er begann sich zu fragen, ob Saradoc sich nicht geirrt hatte, als er ihm erlaubt hatte, Merry zu sehen. Er spielte bereits mit dem Gedanken, das Zimmer wieder zu verlassen, ehe sein Vetter oder Esmeralda seine Anwesenheit bemerkten, doch er entschied sich dagegen. All die Tage hatte er darauf gewartet, dass es Merry besser ging und er seine Zeit wieder mit ihm verbringen konnte, denn auch wenn er das Zusammensein mit Nelke und den anderen schätzte, war ihm Merrys Gesellschaft dennoch um einiges lieber, und nun wollte er nicht gehen, nur weil sein Vetter auf ihn weniger gesund wirkte, als Saradoc glauben mochte.
Merry hustete und verzog dabei schmerzvoll das Gesicht. "Ein Schal würde bestimmt helfen", meinte Esmeralda, die einen Suppenteller, zwei Tassen und eine Teekanne, ebenso wie zwei Teelöffel und einen Suppenlöffel auf ein Tablett auf dem Nachttisch lud, unwissend, dass Frodo an der Tür stand und sie beobachtete. Merry stöhnte auf, ohne seine Augen zu öffnen und ließ sich ein wenig tiefer unter seine Decke gleiten. "Ich trage in der Höhle keinen Schal", ließ er sie sturköpfig, aber mit heiserer Stimme wissen, ehe er zu husten begann. "Wenn das so ist, ist dir nicht zu helfen", seufzte Esmeralda kopfschüttelnd und küsste ihn auf die Stirn. "Ich hielte es dennoch für besser, würdest du einen anziehen."
Frodo beobachtete sie schweigend, verlagerte dabei aber sein Gewicht unruhig von einem Bein auf das andere. Er fühlte sich unwohl, kam sich vor, als würde er Merry und dessen Mutter heimlich belauschen und einen vertraulichen Augenblick mit seiner Anwesenheit stören. Ein schmerzhafter Stich brachte sein Herz zum Weinen, denn für einen Moment sah er sich selbst auf dem Bett sitzen. Primula war über ihn gebeugt, plusterte das Kissen auf und strich eine verirrte Haarsträhne aus seiner Stirn. Frodo biss sich schmerzhaft auf die Lippen und verdrängte die Erinnerung an die stille Vertrautheit seiner Mutter, die er einst genossen hatte. Mutter und Sohn hatten noch immer keine Notiz von ihm genommen, als er sich schließlich räusperte, um dezent auf sich aufmerksam zu machen. Merry blinzelte und sein Gesicht hellte sich mit einem Mal auf, als er den heimlichen Besucher entdeckte. Frodo glaubte, ein wenig Farbe in den blassen Wangen zu erkennen. "Frodo!" rief er erfreut aus und winkte ihn eifrig zu sich, auch wenn auf den freudigen Ausruf erneutes Husten folgte. Frodo zögerte einen Augenblick, doch dann glitt ein Lächeln über seine Lippen und jegliches Unbehagen fiel von ihm ab. Als hätte Merrys Ausruf all seine Sorgen vertrieben, huschte er schließlich an das Bett heran, wo ihn Esmeralda lächelnd begrüßte, sich dann aber verabschiedete, das Tablett vom Nachttisch nahm und raschen Schrittes aus dem Zimmer eilte. Überrascht über den plötzlichen Aufbruch sah Frodo ihr stirnrunzelnd hinterher. "Was machst du hier?", fragte Merry aufgeregt, setzte sich in seinem Bett auf und lehnte sich ein wenig bequemer an dessen Kopfende. "Kann ich dich nicht anstecken?" Die Verwunderung in Merrys Augen machte plötzlich einem wissenden Leuchten Platz und er senkte geheimnisvoll die Stimme. "Oder kommst du her, um dich krank machen zu lassen?" Als wolle er seinen Worten Ausdruck verleihen, hustete er. Frodo entfernte sich kopfschüttelnd vom Bett, ging zum Schreibtisch und nahm den grünen Wollschal, der dort auf einem Stuhl lag, an sich. "Ich müsste wahrlich sehr verzweifelt sein, wenn ich mich von dir anstecken lassen wollte", ließ er seinen Vetter wissen. "Saradoc hat das Besuchsverbot aufgehoben", er runzelte die Stirn. "Ich dachte, du wüsstest das." Merry schüttelte den Kopf, während er widerwillig zuließ, dass Frodos Finger seinen Hals sorgfältig mit dem grünen Wollschal einwickelten. "Ich hoffe nicht, dass noch eine Ansteckungsgefahr besteht, denn, bei aller Liebe, Merry, ich möchte nicht so aussehen, wie du es gerade tust", fuhr Frodo fort, wobei ein freches Grinsen sein Gesicht zierte. "Glaub nur nicht, du würdest besser aussehen, nachdem du sechs Tage lang im Bett gelegen hast, nur mit einem feuchten Tuch gewaschen wurdest und dich ständig übergeben musstest", entgegnete der Jüngere mürrisch, konnte sich jedoch ein Lächeln nicht verkneifen. Während Merry missmutig an seinem Schal zupfte und ihn fragend und mit hochgezogenen Brauen ansah, musste Frodo feststellen, dass die Finger seines Vetters zitterten. Tiefes Mitgefühl erfüllte sein Herz, mischte sich mit der Besorgnis, die er trotz seiner unbekümmerten Worte um seinen Vetter empfand. Sehnlichst wünschte er sich, dass Merry bald ganz gesund war und nahm sich fest vor, seinen Vetter jeden Tag zu besuchen und sich um ihn zu kümmern. "Deine Mama hat Recht", ließ er den jungen Hobbit schließlich altklug wissen, wodurch er einen vielsagenden Blick erntete, den er mit einem Grinsen zu kontern wusste, "der Schal wird helfen."
Frodo ließ seinen Blick durch das Zimmer gleiten und entdeckte eine Tasse mit Wasser, die auf dem Kamin stand und wohl dazu dienen sollte, die Luft im Raum frischer zu halten, als sie es im Augenblick war. Auf dem langen Bücherregal, in dem sich sowohl Spielzeug, gesammelte Schätze, wie besonders schöne Steine, als auch das eine oder andere Buch wieder fanden, waren drei große Kerzen gestellt worden, die für zusätzliches Licht sorgten. Auf dem Nachttisch stand neben einer leeren Teetasse und einer Kanne, aus deren Nase Dampf aufstieg, eine Schüssel, die in den vergangenen Tagen wohl als Brechschüssel gedient haben musste. Angewidert verzog Frodo das Gesicht und rümpfte die Nase.
"Setz dich zu mir, Frodo, und erzähl mir, was ich in den vergangenen Tagen verpasst habe." Frodo wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Vetter zu, der einladend mit der Hand auf sein Bett klopfte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Merry etwas weiter an die Wand gerutscht war, sodass Frodo sich bequem neben ihn setzen konnte. Eine Einladung, der er gerne nachkam. "Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich gelangweilt habe", ließ Merry ihn seufzend wissen, während Frodo in das Bett kletterte und es sich neben ihm gemütlich machte. Dabei lehnte er sich so an das Kopfende, dass Merry den Kopf bequem auf seiner Schulter ruhen lassen konnte, eine Gelegenheit, die sich dieser nicht entgehen ließ. Frodo wollte zu einem kurzen Bericht ansetzen, zögerte dann aber und schielte zur Brechschüssel. Ihm wurde plötzlich klar, dass der Suppenteller, den Esmeralda hinausgetragen hatte, einmal Brühe beinhaltet hatte. Sorgenvoll zog er die Stirn in Falten. "Du wirst dich aber nicht übergeben?", fragte er unsicher. "Natürlich nicht", ließ Merry ihn kopfschüttelnd wissen, "denke ich zumindest." Frodo langte schon nach der Schüssel, als Merry ihm eine zittrige Hand auf den linken Arm legte. "Lass sie stehen, Frodo. Ich werde mich nicht übergeben", versicherte er und fügte dann etwas leiser hinzu, "hoffe ich." Frodo, der seine Hand bereits wieder zurückgezogen hatte, warf Merry einen strafenden Blick zu. "Könntest du dann bitte aufhören, deinen Sätzen Dinge wie, ‚hoffe ich' und ‚denke ich' hinterher zu stellen?" Merry kicherte, eine Tat, für die er mit einem weiteren Hustenanfall bezahlte. "Keine Sorge, Frodo, mir geht es gut, wenn man von diesem hartnäckigen Husten und dem Tee, den mir Mama gibt, absieht. Angeblich soll er gegen Übelkeit helfen, bei mir bewirkt er allerdings das Gegenteil." Merry verzog angeekelt das Gesicht. Frodo lächelte mitfühlend. "Eines ist jedenfalls sicher: wenn du weiterhin soviel Gewicht verlierst, wirst du bald ein Geist sein." Er lehnte den Kopf an Merrys und auch wenn ihm der Geruch, der vom fettigen Haar seines Vetters ausging, nicht zusagte und ihn die Nase rümpfen ließ, drückte er seinen Vetter sanft an sich. Ihm wurde klar, wie sehr er ihn vermisst hatte und genoss es, Merry wieder bei sich zu haben, während eine tiefe, innere Ruhe von ihm Besitz ergriff, ohne dass er es bemerkte. "Du hast nicht viel verpasst", erklärte er dann. "Madoc, Minto und Rubinie sind ebenfalls krank und nur noch Marmadoc, Viola, Nelke und ich sind übrig." "Warum bist du immer dann gesund, wenn alle anderen krank sind?", seufzte Merry. Frodo lächelte und zuckte mit den Schultern. "Warum müssen alle immer dann gesund bleiben, wenn ich krank werde?" "Du Ärmster", bemitleidete ihn Merry kichernd. "Ich würde mich sofort von dir anstecken lassen", tat er kund, runzelte dann aber die Stirn, "zumindest, wenn das Wetter schlecht ist und ich nicht Gefahr laufe, etwas Interessantes zu verpassen." "Herzlichen Dank", entgegnete Frodo spitz, hatte aber Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. "Das ist ausgesprochen großzügig von dir."
Schweigend blickte Frodo in die Flammen der Kerzen auf dem Regal, lauschte dem beruhigenden Knistern des Kaminfeuers und den heiseren Atemgeräuschen seines Vetters. Bei Merry zu sitzen mochte zwar nicht so spannend sein wie ein Kartenspiel, doch er fühlte sich so zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Sein Vetter brauchte ihn und es machte ihn glücklich, für ihn da sein zu können. Merry seufzte leise, lehnte seinen Kopf gemütlicher an Frodos Schulter und rutschte etwas tiefer unter seine Decke. Die Augen waren ihm zugefallen und er schien nicht einmal mehr die Kraft zu finden, die Decke etwas weiter zu seiner Brust zu ziehen, denn schon als seine Finger nach den weichen Daunen griffen, gaben sie den Kampf auf und versuchten gar nicht erst, die ursprüngliche Absicht weiterzuverfolgen. "Wenn du schlafen willst, kann ich gehen", ließ Frodo ihn leise wissen, übernahm dabei die Aufgabe, zu der Merrys Finger bereits zu müde waren und packte seinen Vetter in die Decke ein. Merry schüttelte den Kopf. "Nein, bitte bleib." Frodo lächelte, froh um Merrys Antwort. In Wahrheit wollte er das Zimmer nur ungern wieder verlassen, hatte es seinem Vetter nur aus Höflichkeit angeboten. Vorsichtig nahm er ein Ende des Schals, das Merry nach vorne gerutscht war, in die Hand und legte es seinem Vetter noch einmal um den Hals. Das Feuer im Kamin knisterte, während Frodo fürsorglich über Merrys Wange strich und dessen Kopf immer schwerer auf seinen Schultern ruhte. Frodo war sicher, dass sein Vetter bereits eingeschlafen war, als dieser plötzlich mit heiserer, müder Stimme flüsterte: "Du könntest mir eine Geschichte erzählen." Ein Lächeln huschte über Frodos Gesicht. Damit hätte er rechnen müssen. Er erinnerte sich daran, wie Pippin dieselbe Bitte geäußert hatte, als er an dessen Krankenbett gesessen war. Wenn es um Geschichten ging, waren sich Merry und Pippin sehr ähnlich und Frodo war froh, das Talent zu besitzen, sich rasch welche auszudenken. So begann er auch jetzt zu erzählen und berichtete von den Abenteuern des Geistes, der einst ein Hobbit war. Merry schlief bereits nach wenigen Worten ein, was Frodo genug Zeit ließ, sich ein Ende auszudenken, das er seinem Vetter bei dessen Erwachen erzählen konnte.
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Prüfend strichen Frodos Finger über die Holzdielen unter seinem Bett. Sowohl den Fußboden, als auch die Wand wollte er inspizieren, in der Hoffnung, doch noch einen geheimen Gang in seinem Zimmer zu entdecken. Überall hatte er schon nachgesehen, doch an diesem Abend, als er über seinem Tagebuch gesessen und seine Gedanken niedergeschrieben hatte, war ihm eine einzige Stelle eingefallen, die er bisher noch nicht untersucht hatte: die Wand und den Fußboden unter seinem Bett. So hatte Frodo sein Tagebuch geschlossen, hatte sich flach auf den Boden gelegt und war bis zur Wand auf dem staubigen Untergrund entlang gerobbt. Unter seinem Bett war wesentlich weniger Platz, als er vermutet hatte und seine Untersuchung gestaltete sich äußerst schwierig, da er den Kopf nicht hinreichend heben konnte, um zu sehen, wo seine Hände gerade arbeiteen. Noch dazu hatte er kein Licht, denn sein Kerzenhalter war zu hoch, passte nicht unter das Bett und die Gefahr, dass sich etwas entzündete, war zu groß, sodass Frodo ihn auf seinem Nachttisch hatte stehen lassen. Völlig vertieft in seine Untersuchung und in trüber Dunkelheit tauchten plötzlich Bilder von Bilbos Geschichte in seinem Kopf auf. Frodo malte sich aus, wie er mit den Zwergen den geheimen Eingang suchte und stellte sich bereits vor, welche Abenteuer er würde erleben können, hatte er ihn einmal gefunden. Frodo, der große Drachenjäger und Abenteurer aus dem Auenland würde die dunklen Gänge des Brandyschlosses erkunden und das sollte erst der Anfang sein. Hatte er diese einmal durchleuchtet, würde er in die Welt hinausziehen und dort weitere, größere Abenteuer erleben als je ein Hobbit vor ihm. Selbst Bilbos Abenteuer würde klein erscheinen, im Vergleich zu dem, was er erleben sollte und Frodo stellte sich vor, sein Name und seine Erlebnisse wären Auslöser unzähliger Kinderträume. Großväter würden am Feuer sitzen und ihren Enkeln Geschichten von wagemutigen Wanderern erzählen und sein Name würde fallen und Kinderaugen zum Leuchten bringen.
"Frodo?" Er konnte bereits hören, wie sein Name geflüstert wurde, erst nur ganz leise, doch dann lauter und mit mehr Bestimmtheit, die heimliche Frage der Stimme entwichen. Ein schmerzvolles Zischen entwich Frodos Lippen, als er Saradocs Stimme erkannte, hoch schreckte und sich den Kopf stieß. Eine Hand an seinen Hinterkopf haltend, kroch der junge Hobbit unter seinem Bett hervor und blickte überrascht nach oben. Saradoc stand vor ihm, die Stirn fragend in Falten gelegt, und blickte verwirrt auf ihn herab. "Was machst du da unten?", wollte der Herr von Bockland wissen. "Nichts", entgegnete Frodo rasch, unwillig, Saradoc von seinen heimlichen Träumen eines geheimen Ganges und großer Abenteuer in fremden Ländern zu berichten. Der Herr von Bockland würde bestimmt darüber lachen, wie er auch schon darüber gelacht hatte, als er mit Merry das Mauseloch in der Speisekammer zum Eingang einer Drachenhöhle hatte werden lassen. Während er sich weiterhin den Hinterkopf rieb und ihn auf mögliche Beulen prüfte, stand Frodo schließlich auf und klopfte sich mit der anderen Hand den Staub von Hemd und Hose. Saradoc zog eine Augenbraue hoch. "Auf mich machte das einen anderen Eindruck."
Frodo zuckte mit den Schultern und sah den Herrn von Bockland ein wenig argwöhnisch an. Was machte er hier? Saradoc kam selten in sein Zimmer, erst recht nicht ohne Aufforderung. Hatte er sich vielleicht doch geirrt was das Besuchsverbot bei Merry anbelangte und wollte ihm nun offenbaren, dass auch er in den nächsten Tagen damit rechnen musste, krank zu werden? Frodo erschauderte innerlich bei dem Gedanken daran. Es genügte ihm vollkommen, das Brandyschloss wegen des vielen Schnees nur selten verlassen zu können, er musste nicht auch noch an sein Bett gefesselt sein. Etwas verriet ihm allerdings, dass Saradoc nicht deswegen in sein Zimmer gekommen war. Ernstere Angelegenheiten schienen den Herrn von Bockland zu ihm zu führen. Etwas bereitete ihm Kopfzerbrechen und er, Frodo, spielte dabei eine Rolle. Ein unruhiges Gefühl beschlich ihn und Frodo konnte spüren, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Hatte Bilbo etwa Saradoc geschrieben und ihn gebeten, mit ihm zu sprechen? Konnte es sein, dass der alte Hobbit die Veränderung in seinen Briefen gespürt und Saradoc nun angewiesen hatte, ihn darauf anzusprechen, ihn auszufragen? Der Gedanke alleine brachte seinen Atem zum Stocken, denn Frodo wusste, er würde seine Verzweiflung über Bilbos Zurückweisung nicht verbergen können, sollte sie angesprochen werden. Doch noch wollte er nicht verzweifeln und so schluckte er seine Bedenken, ohne den Blick von Saradoc zu nehmen, versuchte Haltung zu bewahren und wartete ab.
Auch wenn Frodo es sich nicht anmerken ließ, fiel Saradoc die Anspannung im Körper des Kindes auf und er seufzte innerlich. Hatte Frodo wirklich so wenig Vertrauen zu ihm, dass er sich verschloss, wenn er nur dessen Zimmer betrat, oder gab es etwas, dass Frodo vor ihm verbergen wollte, von dem er fürchtete, er könne es erraten, wenn er ihn nur lange genug alleine beobachtete? Saradoc wusste es nicht und auch wenn ihm dieses Verhalten bei Frodo schon mehrere Male aufgefallen war, ließ er sich heute nicht davon ablenken. Es gab wichtigere Dinge zu besprechen und er hatte darauf zu hoffen, dass Frodo den Grund für seine Pläne einsah und sich einverstanden erklärte, ihnen zu folgen. Mit einer Handbewegung wies er den jungen Hobbit an, sich auf das Bett zu setzen, während er selbst auf dem niederen Stuhl des Schreibtisches Platz nahm. Frodo leistete der Anweisung wortlos Folge, doch beäugte er ihn weiterhin kritisch und blieb ebenso angespannt, wie zuvor.
"Ich habe vor kurzem einen Brief erhalten", begann Saradoc sachlich, doch seine Worte ließen Frodo das Blut in den Adern gefrieren. Er hatte also richtig vermutet. Bilbo hatte Saradoc geschrieben und nun würde das Unvermeidliche folgen: ein Gespräch, schwerer und länger als jedes andere, das er jemals mit dem Herrn von Bockland geführt hatte. Von plötzlicher Furcht ergriffen, ballten sich seine Hände zu Fäusten und sein Herzschlag beschleunigte sich, während Frodo bereits fieberhaft überlegte, wie er die Fragen, die nun zweifelsohne folgen mussten, umgehen konnte. Aber noch ehe er in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, fuhr der Herr von Bockland fort und sein sachlicher Tonfall brach die kurze Stille, die den Raum für einen Augenblick ausgefüllt hatte. "Dein Vetter Milo hat geschrieben, er wolle wieder in das Brandyschloss zurückkehren." Frodo hatte nicht gewusst, dass er den Atem angehalten hatte, bis er mit einem gerade noch unterdrückten Seufzen aus seinen Lungen entwich. Ein unsagbar schweres Gewicht schien von seinem Herzen genommen und Frodo konnte die Erleichterung, die er empfand, kaum verbergen. Milo war nicht Bilbo und auf einen Brief von Milo würde auch keine unliebsame Unterhaltung folgen. "Tatsächlich?", stellte Frodo verwundert fest, unfähig, seine Überraschung darüber, dass Saradoc ausgerechnet ihm davon berichtete, zu unterdrücken. "Das ist schön."
Auch wenn man es seiner Stimme kaum anmerken konnte, freute sich Frodo über Milos Rückkehr. Als er noch klein war, hatte Milo oft auf ihn Acht gegeben, so wie er jetzt manchmal auf Merimas aufpasste und Frodo erinnerte sich, dass er damals ständig an der Seite seines Vetters gewesen war und jedes Wort, das seine Lippen verlassen hatte, geglaubt hatte. Doch als er älter geworden und Milo eines Tages aufgrund seiner Lehre als Tischler mit seinem Vater nach Hobbingen gegangen war, um dort sein Können unter Beweis zu stellen, ging die Bindung zwischen Frodo und seinem Vetter verloren. Milo hatte bei seinem Aufenthalt im Westviertel Päonie Beutlin kennen gelernt und die beiden besuchten sich für viele Jahre regelmäßig, bis sie vor drei Jahren geheiratet hatten und Milo mit seiner Gattin nach Hobbingen gezogen war.
Saradoc stutzte ein wenig ob Frodos Verhalten. War es ihm nur so vorgekommen, oder hatte der Junge tatsächlich einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen wollen? Er fragte sich, ob Frodo geglaubt hatte, er wäre gekommen, um ihn zu bestrafen, doch wofür Saradoc ihn hätte tadeln sollen, wusste dieser nicht. Ihm war keine Missetat des jungen Hobbits bekannt, doch möglicherweise hoffte Frodo tatsächlich, etwas vor ihm verbergen zu können, und so, wie der Junge auf seine Worte reagiert hatte, konnte er nur vermuten, dass Frodos Missetat weit über die gewöhnlichen Streiche junger Hobbits, denen mit wenigen Worten des Tadels genüge getan war, hinaus ging. Saradoc verdrängte den Gedanken für den Augenblick, beschloss aber, Frodo im Auge zu behalten, auch wenn er nicht ganz glauben wollte, dass dies wirklich der Grund für Frodos Anspannung war. Im schwachen Licht der Kerze konnte Saradoc die Überraschung über seine Aussage in Frodos Augen erkennen und lächelte. "Milo scheint wohl doch mehr an seinem Zuhause zu liegen als wir alle gedacht haben. Päonie erwartet ihr erstes Kind und da die beiden in Hobbingen bei Päonies Eltern gelebt und keine eigene Höhle gefunden haben, haben sie beschlossen, das Kleine im Brandyschloss unter den Augen und guten Ratschlägen vieler großzuziehen." "Ob das eine gute Ideen war?", stellte Frodo mit einem Kichern fest, als wisse er genau, wovon er sprach und Saradoc konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. Dann legte der junge Hobbit jedoch die Stirn in Falten und seine Augen nahmen wieder den argwöhnischen Ausdruck an, den Saradoc schon zuvor bemerkt hatte. "Doch was hat das alles mit mir zu tun?" Mit einem Mal erlosch Saradocs Lächeln. Den leichten Teil dieses Gesprächs hatte er nun hinter sich gelassen und es galt, Frodo die Notwendigkeit seiner Pläne verständlich zu machen. "Um dir das zu erklären, bin ich hier. Doch ich möchte dich bitten, Frodo, dass du mir zuhörst, ehe du mich unterbrichst."
Frodo konnte spüren, wie sich sein Magen verkrampfte. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich noch. Saradocs Worte ließen auf nichts Gutes hoffen und der Ausdruck im Gesicht des Herrn ließ Frodo einen kalten Schauer der Sorge über den Rücken laufen. So hatte Saradoc noch nie mit ihm gesprochen und das beunruhigte Frodo mehr, als ihm lieb war und für einen Augenblick wünschte er sich, trotz seiner Neugier, er hätte seine letzte Frage nicht gestellt. Sein Blick ruhte auf Saradoc, dessen Augen ihn im Licht der Kerze ernst und eingehend musterten. Frodo fühlte sich unbehaglich, verspürte den Drang aufzuspringen und die Spannung, die sich so plötzlich über ihn und den Herrn von Bockland gelegt hatte, zu brechen, doch er besann sich, schluckte den Knoten in seinem Hals und nickte schließlich zögernd, gespannt darauf wartend, was Saradoc ihm wohl sagen würde. Saradoc nickte ebenfalls, ehe er mit seiner Erklärung begann. "Wie du bestimmt weißt, sind im Augenblick so gut wie all unsere Zimmer belegt, da wir mehr oder weniger das ganze Jahr über Gäste zu Besuch haben. Für Milo und Päonie habe ich lange keinen geeigneten Platz gefunden, doch dann fiel mir die Lösung förmlich vor die Füße. Mimosa Braunlock, die bisher in einem geräumigen Zimmer mit ihrem Gatten Togo gelebt hat, hat mir erklärt, dass sie diesen Raum, jetzt da Togo von ihr gegangen ist, nicht mehr benötigte und dass sie das Zimmer gerne Milo und Päonie zur Verfügung stellen will. Das Problem, dass sich mir dadurch auftat, war jenes, dass ich nicht wusste, wo Mimosa hausen sollte, doch auch für dieses habe ich, so denke ich, eine geeignete Lösung gefunden." Frodo hörte schweigend zu, doch nur langsam wurde ihm klar, worauf Saradoc hinaus wollte. Seine Finger gruben sich in die Bettdecke und sein Herzschlag beschleunigte sich, während er angespannt darauf wartete, dass Merrys Vater, der zu einer kurzen Pause angesetzt hatte, weiter sprach. Der Herr von Bockland würde das bestimmt nicht von ihm verlangen. Dies war sein Zimmer, sein Leben. Alles, was ihm lieb und teuer war, befand sich innerhalb dieser vier Wände, ganz gleich ob es sich dabei um kleine Kostbarkeiten oder Erinnerungen handelte. Diese vier Wände, könnten sie sprechen, wüssten mehr über ihn zu berichten, als alle Bewohner des Brandyschlosses gemeinsam. Saradoc konnte nicht von ihm verlangen, das Zimmer aufzugeben und das würde er auch nicht tun. Der Herr von Bockland besaß Vernunft genug, zu wissen, was ihm dieser Raum bedeutete. Der Gedanke beruhigte Frodo, doch sein Unbehagen wollte sich mit einer Vermutung allein nicht zufrieden geben und schlich sich durch jede Faser seines Körpers. "Ich würde dich gerne darum bitten, dein Zimmer in Zukunft mit Merry zu teilen, sodass Mimosa hier ein kleines, neues Zuhause für sich findet."
Noch ehe Frodo wusste, was er tat, war er aufgesprungen und blickte mit funkelnden Augen auf den Herrn von Bockland hinab. Seine Erbitterung brach aus ihm hervor wie das Feuer aus dem Schlund eines Drachen und die Empörung über Saradocs Bitte brachte das Blut in seinen Adern zum Kochen, wandelte sich schließlich in Zorn um. "Was?!" schrie er aufgebracht, unfähig, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Nie hätte er Saradoc zugetraut, eine solche Frage zu stellen. Ahnte er denn nicht, wie wichtig dieser Raum für ihn war? Sah er denn nicht, wie sehr er an diesem Zimmer hing? Woher nahm sich Saradoc überhaupt das Recht, so etwas von ihm zu verlangen. Dies war sein Zimmer, war es schon immer gewesen und würde es auch immer bleiben. Saradoc konnte es ihm nicht nehmen, durfte es nicht! Frodo keuchte, als sich Furcht mit seinem Zorn vermischte. Saradoc war der Herr von Bockland, er konnte ihn aus seinem Zimmer vertreiben, doch Frodo würde das nicht erlauben. Sein Zimmer, sein Zuhause würde er niemals einem anderen überlassen. Niemals! "Setz dich, Frodo!" verlangte Saradoc, und auch wenn seine Stimme ruhig war, ließ sein Tonfall ein Nein nicht als Antwort gelten. Verständnislos ließ Frodo seinen zornigen Blick auf dem Herrn von Bockland ruhen, sah ihm tief in die Augen, senkte dann aber den Kopf, als Saradoc seinem Blick standhielt und die Flamme der Kerze sich gefährlich funkelnd darin spiegelte. Ohne Widerworte ließ er sich schließlich auf sein Bett fallen und starrte zu Boden. Seine Hände zitterten, so krampfhaft ballte er sie zu Fäusten. Er musste es verhindern, irgendwie musste er verhindern, dass Saradoc ihn aus seinem Zimmer vertrieb, doch wie? "Du hast keinen Grund aufbrausend zu reagieren", ließ Saradoc ihn ruhig wissen. "Ich habe dich lediglich darum gebeten. Noch ist nichts entschieden." "Aber im Grunde steht es bereits fest", tat Frodo mit zittriger Stimme kund. "Habe ich nicht Recht?"
Saradoc seufzte. Dies gestaltete sich wesentlich schwieriger, als er erhofft hatte. "Ich wäre froh, wenn du einwilligen würdest." Er konnte Frodos Unwillen verstehen, schließlich hatte der Junge fast sein ganzes Leben in diesem Zimmer verbracht. Allerdings hatte er auch gehofft, Frodo würde seine Gründe einsehen, doch offensichtlich hatte er sich darin getäuscht. Frodo liebte sein Zimmer, dessen war Saradoc sich bewusst, doch er wusste auch, wie oft Merry oder Frodo sich heimlich in das Zimmer des anderen geschlichen hatten und verstand deshalb nicht, dass Frodo auch auf den Vorschlag, sein Zimmer nun mit Merry zu teilen, so heftig reagierte.
Verzweiflung drohte ihn zu übermannen. Frodo erinnerte sich an ein längst vergangenes Gespräch, dass er mit Saradoc geführt hatte. Es war Abend gewesen, als er mit Merry in das Arbeitszimmer des Herrn gegangen war, wo er Saradoc an seinem Schreibtisch sitzend angetroffen hatte. Auch damals war es um ein Zimmer gegangen, doch nicht um sein eigenes. Zu der Zeit hatte er darum gebeten, das Zimmer seiner Eltern zu erhalten und Saradoc hatte ihm diesen Wunsch verwehrt. Frodo war sich beinahe sicher, dass Saradoc ihm auch dieses Mal nicht seinen Willen lassen würde, bis ihm plötzlich ein Gedanke kam. "Was ist mit Krickloch?", fragte er und hob den Kopf, Hoffnung in seinen blauen Augen. "Milo könnte dort einziehen. Das Haus ist im Augenblick nicht bewohnt und bietet genug Platz für eine Familie. Ich könnte mein Zimmer behalten." Zu Frodos bitterer Enttäuschung schüttelte Saradoc den Kopf. "Milo und Päonie möchten bei der Familie sein und diese Nähe ist in Krickloch nicht gegeben." "Was ist mit Mimosa?", wollte Frodo wissen und klammerte sich dabei verzweifelt an seinen letzten Hoffnungsschimmer. Ein gequältes Lächeln glitt über Saradocs Lippen. "Was soll Mimosa denn alleine in einem so großen Haus? Ihr würde die Decke auf den Kopf fallen. Außerdem, wer sollte dann unser Essen zubereiten?" Frodos Augen funkelten und er konnte sich gerade noch zurückhalten, nicht laut auszurufen und erneut aufzuspringen. Stattdessen öffnete er nur den Mund, für den Moment unfähig, ein verständliches Wort zu gebrauchen. Erst jetzt wurde ihm klar, wer Mimosa Braunlock war. Er und alle anderen Kinder im Brandyschloss kannten sie unter einem anderen Namen. Die Küchen-Mimi wurde sie genannt, denn ihre Tätigkeit beschränkte sich auf die Arbeit in der Brandyschlosser Großküche. "Die Küchen-Mimi", stellte er spöttisch fest, sprang schließlich doch auf und funkelte Saradoc zornig an. "Ihr willst du mein Zimmer geben? Du gehst auf die Wünsche der Küchen-Mimi, einer Fremden, ein, während du meine nicht beachtest?"
Frodos Worte und die Art, wie der junge Hobbit ihn ansah, ließen Saradoc beinahe die Geduld verlieren. Das Funkeln in Frodos Augen zeugte von Aufsässigkeit und genau das war es, was Saradoc noch nie ertragen hatte und im Augenblick auch nicht gebrauchen konnte. Dennoch behielt er seine Ruhe, auch wenn er den Blick streng auf Frodo gerichtet hielt. "Setz dich!" verlangte er, wie auch schon zuvor, doch seine Stimme war angespannter. Als Frodo seinen Worten keine Folge leistete, wiederholte er die Aufforderung strenger und lauter, aber auch das schien den jungen Hobbit nicht einzuschüchtern.
"Weshalb sollte ich mich setzen?", fragte er zornig und seine Augen blitzten auf. Saradocs Augen funkelten gefährlich und für einen Augenblick war Frodo versucht nachzugeben. Die Flamme der Kerze auf seinem Nachttisch flackerte, als würde sie die Spannung spüren, die den Raum erfüllte. Frodos Finger gruben sich tief in seine Handflächen. Dieses Mal würde er die Spannung nicht brechen. Dieses Mal würde er Saradocs Blick standhalten und nicht aufgeben. Dies war sein Zimmer und er würde es nicht kampflos aufgeben.
"Es unterhält sich wesentlich besser, wenn du dich hinsetzt", ließ Saradoc ihn wissen und in seinen Augen konnte Frodo erkennen, dass die Ruhe, die noch in seiner Stimme lag, schon lange ihre Grenzen erreicht hatte. Obschon es ihn seinen ganzen Mut kostete, diese Worte auszusprechen, spie Frodo dem Herrn förmlich entgegen, dass er ihm ohnehin nicht zuhörte. Nein, Saradoc hörte nicht zu. Er hatte ihm noch nie zugehört. Saradoc verstand ihn nicht, würde ihn nie verstehen.
"Ich höre dir zu", ließ Saradoc ihn wissen und stand auf, auf dass Frodo nicht länger auf ihn herabblicken konnte, als würde er ein Kind zurechtweisen. Frodo war es, der das Kind war und Saradoc musste dafür sorgen, dass der Junge wieder wusste, wo seine Grenzen lagen, denn diese hatte er bereits überschritten. "Du bist es, der mir nicht zuhört, Frodo, und jetzt setz dich!" Seine letzten Worte waren nicht nur ein Befehl gewesen, denn Saradoc hatte ihnen Taten folgen lassen, hatte beide Hände auf Frodos Schultern gelegt und den Jungen so zurück auf das Bett gedrückt. Er selbst blieb stehen, auf dass Frodo nicht noch einmal auf die Idee kam, seine Autorität zu untergraben. Innerlich seufzte er jedoch. Er hatte nicht geglaubt, dass es so schwierig werden würde. Er würde Frodo seinen Wunsch gewähren, wüsste er eine andere Lösung, doch er hatte sich nun schon mehrere Tage den Kopf darüber zerbrochen und keine gefunden. Seine Gesichtszüge wurden sanfter, als er auf Frodo hinab blickte, der mit Augen voller Traurigkeit und Zorn zu ihm aufsah. Er mochte ein Sturkopf sein, doch er hatte begriffen, dass er seine Grenzen überschritten hatte und schien nun wieder gewillt ihm zuzuhören. "Ich habe gesagt, dass noch nichts entschieden ist und so ist es auch. Ich habe weder deine Wünsche nicht beachtet, noch die von Mimosa in den Vordergrund gestellt. Ich habe dich nur darum gebeten, dein Zimmer aufzugeben und hoffte, die Idee mit Merry zusammenzuziehen, würde dir gefallen. Offensichtlich ist dem nicht so. Ich hatte vor, sein Zimmer neu einzurichten, um es euch beiden gemütlich zu machen. Ich weiß, du hängst sehr an diesem Raum, da du hier gelebt hast, seit du mit sechs Jahren dein eigenes Zimmer bekommen hast und genau deshalb habe ich dich gefragt und deinen Auszug nicht einfach beschlossen. Natürlich wäre es für mich einfacher, wenn du einwilligen würdest, doch ich verstehe auch, wenn du dies nicht tust. Dennoch hoffe ich, dass du deine Worte noch einmal überdenkst, denn du weißt, dass ich nicht weiß, wie ich die Zimmer sonst einteilen sollte. Eines will ich dir aber noch sagen. Du solltest nicht über andere spotten, Frodo, nur weil du sie nicht kennst. Mimosa mag zwar nicht mit den Brandybocks verwandt sein, doch ist sie keine schlechte Person. Auch die Tatsache, dass sie in der Küche arbeitet, ändert daran nichts. Deine Tanten Asphodel und Berylla sind ebenfalls dort tätig. Du willst nicht, dass über dich gespottet wird, also spotte nicht über andere. Dazu hast du nicht das Recht."
Frodo war von Saradocs Tat überrascht gewesen und für einen Augenblick bekam er es mit der Angst zu tun. Er war zu weit gegangen, das ließ ihn Saradoc nun deutlich spüren. Doch was sollte er sonst tun, wenn er sein Zimmer nicht verlieren wollte? Er senkte den Kopf und auch wenn er nicht auf Saradocs Worte reagierte, hatte er jedes einzelne davon in sich aufgenommen. Noch während Saradoc sprach, schwand Frodos Zorn und ließ ihn leer zurück. Er wagte es nicht, dem Herrn noch einmal in die Augen zu sehen, auch nicht, als sie sich schweigend gegenüber saßen, denn Saradoc hatte wieder auf dem Stuhl Platz genommen und musterte ihn eingehend. "Das letzte Wort liegt bei dir", ließ Saradoc ihn schließlich wissen und als Frodo auch darauf nichts erwiderte, wünschte ihm Merrys Vater eine gute Nacht und verließ das Zimmer.
In der Hoffnung, dieses Gespräch nun in gesitteterem Tonfall weiterführen zu können, auch wenn er insgeheim wusste, dass Frodo nichts mehr sagen würde, setzte sich Saradoc zurück auf den Stuhl. Der junge Hobbit hielt den Blick gesenkt, unwillig, ihn noch einmal anzusehen und so gab Saradoc es schließlich auf. Frodo würde über seine Worte nachdenken, dessen war er gewiss, und das genügte ihm, auch wenn es ihn schmerzte, sich vorzustellen, was der junge Hobbit nun fühlen musste. Doch er hatte ihm die Entscheidung überlassen und sollte Frodo bei seiner Meinung bleiben, so würde er diese akzeptieren und gezwungenermaßen nach anderen Lösungen suchen. Saradoc verharrte noch einen Moment länger unter dem dichten Mantel des Schweigens, der sich um sie gelegt hatte, ehe er erneut das Wort ergriff, um sich von Frodo zu verabschieden.
Frodo blieb alleine zurück, verlassen und zitternd vor Verzweiflung. Saradoc hatte Recht, er liebte sein Zimmer, wie kein anderes im Brandyschloss und er wollte es nicht aufgeben, doch was blieb ihm anderes übrig? Mit seinen Worten hatte ihm Saradoc klar gemacht, dass es im Augenblick keinen anderen Weg gab und doch überließ er ihm die scheinbare Entscheidung. ‚Nimm mir nicht auch noch mein Zimmer', bat er im Stillen. ‚Es ist alles, was mir blieb.' Sollte er ausziehen müssen, was blieb ihm dann noch? Er hatte seine Eltern verloren, seine Großmutter hatte ihn verlassen und Bilbo hatte sich von ihm abgewandt. Woran sollte er sich klammern, wenn ihm der einzige Ort genommen wurde, an dem er sich noch Zuhause fühlte? Langsam, beinahe zögernd hob Frodo schließlich den Kopf, griff nach dem Bild seiner Eltern und blickte lange auf die dunklen Kohlestriche, die den Gestalten Leben einhauchten. Ihr Rat war es, den er jetzt brauchte, doch wie schon viele Jahre lang, würde er auch dieses Mal ohne die lieben Worte seiner Mutter oder die weisen Antworten seines Vaters auskommen müssen. Ein leises Seufzen entwich Frodos Lippen, als er spürte, wie die Verzweiflung, die er schon viele Wochen zu bekämpfen suchte, erneut drohte, ihn zu übermannen. Doch er ließ es nicht zu. Stattdessen klammerte er sich an Saradocs letzte Aussage - "Das letzte Wort liegt bei dir." - und traf im Stillen eine Entscheidung, auch wenn er wusste, dass es ihm Kummer bereiten würde, ganz gleich, wozu er sich entschloss.
Seit dem Tod seiner Eltern hatte er sich gewünscht, Saradocs Anerkennung zu erlangen, hatte versucht, ihn glücklich zu machen, doch der erhoffte Erfolg war ausgeblieben. Er hatte bald erkennen müssen, dass Merry bei weitem mehr Anerkennung erhielt, als er selbst. Es hatte ihn geschmerzt, diese Erkenntnis zu gewinnen, doch mit der Zeit hatte er sich damit abgefunden. Merry war Saradocs Sohn, er dagegen war nur ein Junge, dessen Saradoc sich freundlicherweise angenommen hatte. Er sollte Saradocs Güte dankbar sein, anstatt auf sein Lob zu gieren. Und doch war es ihm bei allem was er tat nie gelungen, nicht zumindest auf ein wenig Bestätigung zu hoffen. Nun bot sich ihm die Möglichkeit, Saradocs Anerkennung zu gewinnen, war nur eine einzige Antwort entfernt, und er konnte sie nicht ergreifen. Saradoc brauchte dieses Zimmer und er wäre bestimmt stolz auf ihn, würde er es ihm zur Verfügung stellen, wie die Küchen-Mimi ihm ihr Zimmer überlassen hatte. Doch Frodo konnte das nicht. An allen vier Wänden, an der Decke, am Fußboden und an allen Einrichtungsgegenständen hingen Erinnerungen. Viele davon waren nicht mehr klar, doch behielten sie ihren Wert und machten das Zimmer zu dem, was es war. Es aufzugeben würde bedeuten, ein weiteres Stück seiner selbst zurückzulassen und dazu war Frodo nicht bereit. So sehr es ihn auch schmerzte, er musste Saradocs Wunsch ablehnen und auf die Annerkennung, die ihm möglicherweise zugekommen wäre, verzichten.
Kapitel 62: Getroffene Entschlüsse
Frodo saß im Schneidersitz am Fußende von Merrys Bett und knabberte an einem Keks. Der Duft von Kamille lag in der Luft und das Feuer im Kamin knisterte leise, als die Flammen einen noch frischen Holzscheit züngelnd umringten. Verträumt beobachtete Frodo das Schauspiel, während sich flackernde Schatten über sein Gesicht legten und an den Wänden des Zimmers emporragten. Er hatte sich bereits am vergangenen Abend entschieden, würde jedoch erst nach dem Abendessen dazu kommen, dem Herrn von Bockland seine Entscheidung, sein Zimmer betreffend, mitzuteilen, da Saradoc bereits früh am Morgen nach Steingrube, einer Ortschaft im Süden Bocklands, geritten war. Von Merry hatte er erfahren, dass die Einwohner besorgt waren, da viele, die in der Nähe des Hohen Hags lebten, glaubten, die Bäume im Alten Wald wären an diesen trüben Wintertagen besonders rege und Saradoc hatte dieser Sache nachzugehen. Merry hatte darüber gelacht, war der Ansicht, die Hobbits würden Gespenster sehen, doch Frodo war sich dabei nicht so sicher. Merry mochte vielleicht die Geschichten um den Alten Wald kennen, hatte den Hohen Hag, der dessen Grenze bildete, jedoch niemals überschritten. So unwahrscheinlich die Erzählungen um den Wald und die Bäume alle klingen mochten, zu einem gewissen Teil glaubte jeder daran und seit Frodo sich einmal selbst in die unheimlichen Täler jenseits des Hags verirrt hatte, war er bereit, sie noch weniger in Frage zu stellen. Was immer die Bewohner von Steingrube gesehen haben mochten, sie hatten bestimmt ihre Gründe, den Herrn zu sich zu rufen. Frodo war dies nur Recht. Je länger Saradoc fort war, desto später würde er die Enttäuschung in seinen Augen sehen. Er hatte seine Worte überdacht, war jedoch bei seiner Entscheidung geblieben. Sein Zimmer konnte er nicht verlassen und würde es auch nicht tun, erst recht nicht, damit die Küchen-Mimi dort einziehen konnte.
Frodo blinzelte, blickte in Merrys Augen, die ihn neugierig musterten. Dem jungen Hobbit ging es heute wesentlich besser als noch am Vortag und auch wenn sein Husten geblieben und er noch immer zu schwach zum Aufstehen war, hatten seine Wangen ein wenig Farbe angenommen. Merry lehnte, wie schon am vergangenen Nachmittag, am Kopfende seines Bettes und nippte an einer dampfenden Tasse Kamillentee. Den grünen Schal, welchen Frodo ihm am vergangen Tag angelegt hatte, trug er noch immer, offensichtlich überzeugt von dessen Wirkung. "Woran denkst du?", fragte der junge Hobbit schließlich, wobei er vorsichtig in seinen Tee pustete. Frodo zuckte mit den Schultern. Zwar war er sich sicher, dass Saradoc Merry nichts von seinen Plänen erzählt hatte, doch wie er dazu kam, ausgerechnet über die Küchen-Mimi nachzudenken, wollte er dennoch nicht erklären. Es würde Merry verletzen und das wollte er seinem Vetter nicht antun. Nichtsdestotrotz musste er sich eingestehen, dass er förmlich darauf brannte, mehr über Mimosa zu erfahren. Wer war die Frau, die ihr Zimmer so bereitwillig an andere weiterreichte, obschon sie es mit ihrem geliebten Gatten geteilt hatte, bis der Tod sie trennte? Weshalb war sie gewillt, die Erinnerungen an ihren Mann aufzugeben? Hatte sie Togo Braunlock am Ende gar nicht geliebt? Merry konnte bestimmt einiges über die alte Frau in der Küche erzählen, war er schließlich Sohn des Herrn und wusste oft von Dingen zu berichten, von denen Frodo nicht einmal gehört hatte. Frodo nahm einen weiteren Bissen seines Kekses, blickte ins Feuer und grübelte über seine ungestellten Fragen.
Merry runzelte die Stirn, zuckte dann jedoch ebenfalls mit den Schultern. Er konnte sehen, dass Frodo etwas auf dem Herzen hatte, doch wenn dieser nicht darüber sprechen wollte, konnte er ihn nicht dazu zwingen. Über den Rand seiner Tasse blickte er zu seinem Vetter, unterdrückte den aufkommenden Hustenreiz und versagte. Auch wenn sie einen Großteil des Nachmittages schweigend verbrachten, genoss Merry die Nähe seines Vetters und war gewillt zu warten, sollte Frodo seine Entscheidung doch noch überdenken und kundtun, was ihn beschäftigte.
Zu seiner Freude entwich nur Augenblicke später ein leises Seufzen Frodos Kehle. Sein Vetter blickte zögernd in seine Augen, als hoffe er, dort erkennen zu können, ob er die folgenden Worte wirklich aussprechen sollte. Merry lächelte ihm aufmunternd zu und Frodo schüttelte den Kopf, erwiderte das Lächeln schließlich. "Was weißt du über Mimosa Braunlock, die Küchen-Mimi?" Merry runzelte verdutzt die Stirn. "Die Küchen-Mimi? Wie kommst du denn ausgerechnet auf sie?" Wieder zuckte Frodo mit den Schultern. Er hatte geahnt, dass Merry diese Frage stellen würde, und da sie unumgänglich war, versuchte er, so ahnungslos wie möglich auszusehen. Merry sah ihn einen Augenblick stirnrunzelnd über den Rand seiner Tasse hinweg an, schien dann aber auf eine Antwort Frodos zu verzichten und nahm stattdessen einen weiteren Schluck der dampfenden Flüssigkeit. "Ich wusste nichts über sie", gestand Merry und Frodo runzelte fragend die Stirn. Merry grinste. "Ich würde noch immer nichts über sie wissen, wäre ich vor etwa einem Monat nicht in Papas Arbeitszimmer gewesen, als ihm die Nachricht von Togos Tod überbracht wurde. Togo war zwar schon weit über achtzig, doch sein Tod kam überraschend und Papa war sehr betrübt. Ich wollte ihn trösten, doch da ich Togo kaum kannte, habe ich Papa gebeten, mir etwas über ihn zu erzählen." Frodo staunte. Er wusste um Merrys Neugier, doch dass ihm das Glück so hold war und Merry sich erst vor kurzem ausgerechnet über die Person informiert hatte, über die er nun mehr zu wissen begehrte, hätte er nicht gedacht. Den Keks in seiner Hand vergessend sah er auf seinen Vetter, wartete gespannt bis dieser seinen Bericht über die Braunlocks begann. Merry grinste zufrieden, ob der Erwartung in Frodos Augen. Für einen Moment war er versucht, die Geduld seines Vetters etwas auf die Probe zu stellen, entschied sich dann aber dagegen, schlürfte seinen Tee und erzählte.
Mimosa und Togo gehörten nicht zur Familie, waren nicht einmal entfernt mit den Brandybocks verwandt. Togo aber war ein guter Freund von Frodos Onkel Dodinas gewesen und ein Meister im Anbau von Getreide. Togo war es, der über das Tun auf den Feldern östlich des Brandyweins bestimmte und mit fleißigen Helfern schon viele Jahre für eine gute Ernte sorgte, auch wenn Bestellung und Ernte eigentlich Aufgabe des Herrn waren. Saradoc und auch Gorbadoc hatten sich jedoch gerne von Togo beraten lassen, denn dieser verstand zwar nichts von Handel und Geschäften, wusste jedoch umso mehr über Erde, Korn und deren Zustand. Als Dank für seine Unterstützung hatte Togo vor vielen Jahren ein geräumiges Zimmer im Brandyschloss erhalten, das er seither zusammen mit Mimosa bewohnt hatte. Mimosa wurde in der Küche eingestellt, wo sie zur rechten Hand Asphodels und Beryllas geworden war und nicht nur selbst kochte, sondern auch gemeinsam mit den Frauen das Tun in der Küche überwachte. Das Leben hatte es Mimosa jedoch nicht leicht gemacht. Sie konnte keine Kinder bekommen, auch wenn sich das Paar nichts mehr gewünscht hatte, und mit dem Tod Togos war eine Welt für sie zusammengebrochen.
Merry verstummte und Frodo fand sich außerstande etwas anderes zu tun, als seinen Vetter anzustarren. Der junge Hobbit schlürfte seinen Tee und blickte gedankenverloren auf die Schatten, die auf seiner Bettdecke tanzten, beinahe so, als wäre die Menge an Wissen, die er gerade an seinen Vetter weitergereicht hatte, eine Kleinigkeit gewesen. Frodo hielt es für unmöglich, dass Saradoc Merry all dies erzählt hatte und fragte sich, welch anderer Quellen sich sein Vetter bediente, um seinen Wissensdurst zu stillen. Saradocs Arbeitszimmer war auch für dessen Sohn tabu, wenn der Herr nicht selbst dabei war und doch konnte Frodo sich vorstellen, dass Merry heimlich Dokumente, Schriftrollen und Briefe seines Vaters durchsuchte. Allerdings fragte er sich, welche Art von Unterlage festhalten sollte, wer Togo und Mimosa Braunlock waren, und wozu dies gut sein sollte.
Durch Merrys Husten wurde Frodos Gedankengang unterbrochen. Verwundert sah er in die blauen Augen seines Vetters, auf dessen Gesicht die Schatten des Feuers tanzten. "Woher weißt du das alles?", begehrte er ungläubig zu wissen. Merry grinste von einem Ohr zum anderen, zuckte mit den Schultern und blickte Frodo ebenso ahnungslos an, wie dieser ihn zuvor betrachtet hatte. Frodo wusste nicht weshalb, doch Merrys Verhalten löste ein ungutes Gefühl bei ihm aus. Er versuchte, dieses nicht zu beachten, änderte seine Sitzstellung, zog seine Beine an und schlang die Arme um die Knie. Vielleicht hatte er Mimosa falsch eingeschätzt und verfrüht über sie geurteilt. Er hatte über sie gespottet, noch ehe er gewusst hatte, wer sie überhaupt war und schämte sich nun dafür. Saradoc hatte ihn zu Recht getadelt, denn durch sein Handeln war er nicht besser als jene, die über ihn lästerten. Frodo spürte ein Kribbeln im Nacken und schielte zu Merry, der ihn eingehend musterte. "Ich weiß, warum du nach ihr fragst. Papa hat dir bereits von seinen Plänen berichtet, nicht wahr? Eigentlich sollte ich nicht davon wissen, aber ich habe vor einigen Tagen zufällig ein Gespräch meiner Eltern belauscht. Milos bevorstehender Einzug macht Papa sehr nervös. Aber seine Idee gefällt mir. Stell dir nur einmal vor, was wir alles machen könnten: plaudern bis spät in der Nacht, Höhlen bauen, ohne uns von Papa oder Zubettgehzeiten stören zu lassen, nachts heimlich Kekse essen, den Tag schon mit einer Kissenschlacht beginnen. Wir können auch Madoc und Minto einladen, oder uns heimlich zu ihnen hinüber schleichen. Oh, wie viel Spaß wir haben würden!"
Frodo hatte Mühe, sein Entsetzen zu verbergen. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand einen solch heftigen Schlag verpasst, dass ihm die Ohren klingelten und sich sein Magen umdrehte. Saradoc mochte vielleicht nichts preisgegeben haben, doch Merry wusste davon. Wie konnte er nun in seinem Zimmer bleiben, ohne seinen Vetter zu verletzen? Der Anblick des erfreuten Leuchtens in den Augen des Jüngeren ließ es ihm übel werden. Er würde die Freude daraus, stehlen, sie in tausende Scherben zerschlagen. Eine plötzliche Panik drohte ihn zu übermannen. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Wie hatte es soweit kommen können? Es war schon schwer genug, Saradoc gegenübertreten zu müssen, um ihm seine Entscheidung mitzuteilen, doch Merry dasselbe zu sagen, würde er nicht übers Herz bringen. Merry würde enttäuscht sein und wütend werden, und das vollkommen zu Recht, hatte es doch eine Zeit gegeben, da sie jeden Abend versucht hatten, in das Zimmer des anderen zu gelangen. Und nun, da sich ihnen die Möglichkeit bot sogar zusammenzuziehen, war Frodo dagegen. War dies seine Art, Merry seine Freundschaft zu beweisen? "Du bist davon nicht begeistert?", fragte Merry zögernd und sein Ausdruck der Freude bröckelte, während sich tiefe Falten auf seine Stirn legten. Frodo blickte in die zweifelnden Augen, das Gesicht sorgenvoll und bekümmert. Er hatte lange über seine Entscheidung nachgedacht, in der Hoffnung, niemand außer ihm und Saradoc erfahre jemals davon. Darüber hatte er jedoch vergessen, dass nicht nur sein Zimmer und was es ihm bedeutete wichtig war, sondern auch seine Freundschaft zu Merry. Saradoc hatte ihm zwar gesagt, dass er bei seinem Vetter einziehen würde, doch Frodo hatte niemals über die positiven Seiten nachgedacht, die ein solcher Umzug mit sich brachte. Merry hingegen schien keine negativen Seiten zu sehen, listete lediglich Vorteile auf, die Frodo außerordentlich gefielen. Blickte er seinem Umzug womöglich zu ablehnend entgegen? Nun, da er darüber nachdachte, fielen ihm immer mehr Vorzüge ein. Merry könnte Recht behalten. Ein gemeinsames Zimmer brachte möglicherweise mehr Spaß als verlorene Erinnerungen. Außerdem würde Frodo so die ersehnte Anerkennung Saradocs erlangen und war diese den Preis nicht wert? "Frodo?" Merrys Blick war zweifelnd, beinahe ängstlich. Seine Hände klammerten sich krampfhaft an der Teetasse fest. Frodo begegnete dem Blick seines Vetters und die Sorgenfalten, die sich in seine eigene Stirn gegraben hatten, glätteten sich. Mit einem Mal erschien ein Lächeln auf seinen Lippen, und doch lag ein Schatten der Traurigkeit auf seinen Zügen. "Natürlich bin ich das, allerdings hatte ich gehofft, man könne dich überraschen, du dummer Brandybock!" Merrys Augen strahlten und der junge Hobbit hüpfte aufgeregt auf seinem Bett auf und ab. "Das heißt, du wirst einziehen?" Frodo zögerte einen Augenblick, nickte dann aber. "Noch heute werde ich Saradoc Bescheid sagen." "Wundervoll!" rief Merry aus und hätte in seinem Überschwang beinahe den Rest seines Tees verschüttet.
~*~*~
Frodo umklammerte den Türknauf zu Saradocs Arbeitszimmer so fest, als würde sein Leben davon abhängen. Nie war er so voller Zweifel gewesen, wenn er dem Herrn von Bockland eine Entscheidung hatte mitteilen müssen. War er am Nachmittag noch überzeugt, bei Merry einziehen zu wollen, wurde ihm nun immer unbehaglicher, je länger er darüber nachdachte. Möglicherweise war es doch keine so gute Idee gewesen, seine Meinung so überstürzt zu ändern. Er hatte in der Eile unmöglich alles beachten und das Für und Wider abwägen können. Hatte er sich vielleicht doch nur von einem von Merry aufgedrängten Gefühl leiten lassen, ohne es wirklich zu wollen? Er hatte sich lange mit seinem Vetter unterhalten und gemeinsam hatten sie sich ausgemalt, was sie alles machen konnten, sobald sie erst zusammen wohnten. Frodo war voller Begeisterung gewesen, doch jetzt nagten erneute Bedenken an seinem Herzen. Erst am vergangenen Abend war er entschlossen gewesen, sein Zimmer und die Erinnerungen, die darin verborgen lagen, niemals zu verlassen oder gar freiwillig hinter sich lassen zu können. Hatte der heutige Nachmittag bei Merry ihn all das vergessen lassen, woran er sich noch gestern geklammert hatte? Frodo hörte Stimmen näher kommen und erschrak. Der Gang war hell erleuchtet und ganz gleich, wer um die Ecke treten würde, sollte nicht sehen, wie er zaudernd vor der Türe von Saradocs Arbeitszimmer stand und Löcher in den Knauf starrte, als wäre dieser der Ursprung allen Übels. Am Nachmittag hatte er eine Entscheidung gefasst und den Fehler begangen, diese Merry mitzuteilen. Er konnte nun nicht mehr zurück, ganz gleich, wie überstürzt er gehandelt haben mochte. Er würde bei Merry einziehen, ob er nun an seinem Zimmer und den Erinnerungen hing, oder nicht. Frodo klopfte und trat in das Arbeitszimmer, ohne eine Antwort abzuwarten.
Überrascht hob Saradoc den Kopf, lächelte aber, als er erkannte, wer so überstürzt in sein Zimmer geeilt kam. "Ich habe dich bereits erwartet." Frodo entgegnete nichts darauf, schloss schweigend die Tür und blickte zu Boden. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und der Kummer, den sein Vorhaben unweigerlich mit sich brachte, ließ ihn jeglichen Mut, den er versucht hatte aufzubringen, verlieren. Die Kerzen in den Wandhalterungen waren entzündet, ebenso wie jene auf dem Schreibtisch. Im Kamin knisterte ein Feuer, das dem Zimmer einen rötlichen Schimmer verlieh. Frodo fröstelte dennoch, als er von Saradoc zu sich gewunken wurde. Folgsam nahm er den Stuhl, der an der Wand stand, platzierte ihn vor dem Schreibtisch und blieb dahinter stehen, bis Saradoc ihn mit einem Kopfnicken einlud, Platz zu nehmen. Nicht einmal hob er dabei den Kopf.
Der Herr saß müde in seinem Sessel, paffte an seiner Pfeife und sah den jungen Hobbit erwartungsvoll über einen Stapel Briefe hinweg an. Er war erst zum Abendessen zurückgekehrt und hatte einen langen, anstrengenden Tag hinter sich, an dem er vielen beunruhigten Hobbits in Steingrube hatte Gehör schenken müssen. Frodos betrübter Anblick behagte ihm jedoch gar nicht und er ahnte, was der Junge ihm nun mitteilen wollte. Dennoch sagte er nichts, wollte Frodo die Möglichkeit geben, seinen Entschluss selbst auszusprechen und ihm nicht die Worte aus dem Mund nehmen. Als Frodo jedoch keine Anstalten machte zu sprechen, sondern nur auf den Boden blickte und mit seinen Fingern spielte, legte Saradoc schließlich die Pfeife weg und räusperte sich. "Ich nehme an, du hast über meine Worte nachgedacht", sagte er und Frodo nickte noch ehe er seinen Satz zu Ende gesprochen hatte. Saradoc runzelte die Stirn. Frodo wirkte so verkrampft, als hätte er eben erst damit begonnen, über seine Worte nachzudenken, schien keineswegs bereit, ihm eine Entscheidung mitzuteilen. Er fragte dennoch, ob er einen Entschluss gefasst habe.
Frodo hatte die Hände gefaltet und blickte auf seine Finger, zu zerrissen, um Saradoc anzusehen. Der Herr würde wissen, dass er seine Entscheidung zwar getroffen hatte, sich ihrer aber nicht sicher war. Er würde ihn wieder weg schicken und das wollte er nicht. Frodo musste daran festhalten, schließlich hatte er es versprochen, und Saradoc sollte sehen, dass er zu seinem Entschluss stand. Der Herr sollte stolz auf ihn sein, wie bereitwillig er sein Zimmer aufgab. Doch noch konnte er ihn nicht ansehen, fühlte sich nicht in der Lage, eine solch folgenschwere Nachricht mitzuteilen. Noch war er zu unsicher. "Hast du einen Entschluss gefasst?", hörte er Saradoc fragen und auch wenn seine Stimme ruhig war, klang sie laut in Frodos Ohren. Dies waren jene Worte, die seinem Zaudern ein Ende setzen sollten. Jetzt musste er Saradoc das Ergebnis seines Nachdenkens präsentieren, auf sein Zimmer und seine Erinnerungen verzichten und sich für Merry und Saradocs Anerkennung entscheiden. Jetzt musste er zu seinem Wort stehen und durfte nicht länger über das Richtig oder Falsch nachgrübeln. Frodo schluckte den Knoten in seinem Hals, holte tief Luft und blickte schließlich tief in Saradocs Augen. Dies sollte der Augenblick sein, in dem er den Herrn glücklich machen würde, wie es seinen Vater glücklich gemacht hätte, eine solche Entscheidung aus seinem Munde zu hören. Der Gedanke allein genügte, um ihm ein Lächeln zu entlocken. "Ich habe mich entschieden", verkündete er dann und das Lächeln auf seinen Lippen wurde noch breiter, als er den verwunderten Gesichtsausdruck Saradocs sah. Offensichtlich hatte er nicht mit einer solchen Antwort gerechnet, denn Frodos Stimme klang freudiger und entschlossener, als selbst er es erwartet hatte. "Ich habe mich entschieden", wiederholte er noch einmal. "Ich werde in Merrys Zimmer einziehen, sobald du es von mir verlangst. Mimosa soll mein Zimmer bekommen." Frodo stockte einen Augenblick. "Ich hoffe, es wird ihr Freude bereiten." Ebenso, wie es dir Freude bereiten soll, fügte er in Gedanken hinzu.
Für einen kurzen Moment war Saradoc sprachlos und konnte nichts weiter tun, als verdutzt in die ehrlichen und fest entschlossenen Augen des jungen Hobbits vor sich zu starren. Solche Worte hatte er nicht erwartet, erst recht nicht in solch einer aufrechten Art und Weise, wie Frodo sie ihm eben dargeboten hatte. Was hatte den Jungen umgestimmt, wo er doch am vergangenen Abend so aufbrausend auf den Vorschlag reagierte, dass er selbst den Mut, seine Grenzen zu überschreiten, gefunden hatte? Nichtsdestotrotz war er erleichtert über Frodos Entschluss und er lächelte zufrieden. "Ich danke dir, Frodo. Was immer dich dazu bewogen hat, deine Meinung doch noch zu ändern, hat eine große Last von meinem Herzen genommen." Frodo erwiderte das Lächeln und stand auf, als Saradoc sich erhob und hinter dem Schreibtisch hervortrat. "Ich danke dir", wiederholte der Herr erfreut und legte ihm dabei eine Hand auf die Schulter.
Frodo strahlte von einem Ohr zum anderen, in freudiger Erwartung der Anerkennung, die er nun erhalten sollte. Glücklich blickte er in das zufriedene Gesicht Saradocs, dessen Augen vor Freude und Erleichterung leuchteten. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und er hatte Mühe, nicht aus lauter Aufregung zu zittern. Er hatte sein Zimmer aufgegeben für das Lob und die Anerkennung Saradocs und dies sollte der Augenblick sein, da er beides erhielt. Würde er ihn in die Arme nehmen und dieselben liebevollen, bestätigenden Worte sprechen, mit denen er sich beizeiten an Merry wandte? Würden seine Augen dabei mit demselben Stolz erstrahlen mit dem der Herr seinen Sohn so häufig betrachtete? Das Feuer im Kamin knisterte und ließ ein freudiges Kribbeln durch Frodos Körper laufen.
"Gibt es sonst noch etwas, das ich für dich tun kann?" Vor Überraschung stockte Frodo der Atem. Das konnte unmöglich Saradocs Ernst sein. Es konnte doch nicht sein, dass er ihn wegschicken wollte, ohne Lob, ohne ein Wort des Stolzes. Verzweifelt suchte er in den Augen des Herrn nach einer Antwort, doch Saradocs Blick ließ keine weiteren Absichten erkennen. Sollte es tatsächlich bei Dankbarkeit bleiben? Zu fassungslos für eine Antwort schüttelte Frodo den Kopf. "Dann wäre ich froh, wenn du bald zu Bett gehen würdest", ließ Saradoc verlauten, nahm die Hand von seiner Schulter und setzte sich wieder in den Sessel. Frodo verharrte einen Augenblick reglos. Alle Aufregung war von ihm abgefallen, ließ ihn hohl zurück. Beinahe wie in einem Traum griff er nach seinem Stuhl und stellte ihn an die Wand. Saradoc konnte ihn unmöglich wegschicken. Sollten am Ende all seine Ruhelosigkeit und die Verluste, die seine Entscheidung mit sich gebracht hatten, umsonst gewesen sein? Würde er Saradocs Bestätigung nicht einmal so erhalten? Hatte er sie denn nicht verdient? Frodos Hände klammerten sich plötzlich an der Lehne des Stuhles fest. Er überließ Saradoc sein Zimmer, wenn das nicht genügte, um seine Anerkennung, seine Liebe, zu verdienen, was dann? Er konnte jetzt nicht gehen und aufgeben. Heute würde er dafür kämpfen, denn eine Möglichkeit, wie diese, würde sich ihm nicht wieder bieten. Entschlossen wandte er sich um, sammelte all den Mut zusammen, den er in sich finden konnte und blickte Saradoc in die Augen. Er öffnete den Mund, doch in jenem Augenblick stockte seine Stimme und die Worte kamen nur als ein zaghaftes Flüstern über seine Lippen. "Hast du nicht etwas vergessen?" Verwundert runzelte Saradoc die Stirn, blickte einen langen Moment auf das Kind, das zuvor noch so überzeugt gesprochen hatte. Was hatte ihm seine Entschlossenheit so plötzlich genommen und es so zaudernd sprechen lassen? "Was sollte ich vergessen haben?" Kannst du dir das nicht denken? In Gedanken flehte Frodo darum, dass Saradoc auffalle, was er wollte und wiederholte immer wieder dieselbe Frage, doch über seine Lippen kam nur ein leises: "Nichts." Kaum war dieses eine Wort gesprochen, senkte er erneut das Haupt und ballte seine Hände zu Fäusten. Er war zu schwach, zu feige, fand nicht einmal den Mut eine einfache Bitte zu äußern. Was würde er dafür geben, dass Saradoc erkannte, wonach er sich sehnte. Von sich selbst enttäuscht wandte er sich um und ging zur Tür. Frodo hatte den Türknauf bereits in der Hand, als er Saradoc eine gute Nacht wünschte, ehe er das Arbeitszimmer raschen Schrittes verließ.
Saradoc blieb mit seiner Verwunderung alleine zurück. Erst als sich die Tür hinter Frodo geschlossen hatte, war ihm plötzlich klar geworden, dass Frodo noch etwas von ihm gewollt hatte, doch so sehr er sich auch bemühte, er fand nicht heraus, worum es sich dabei handelte. Beinahe war er versucht, den Jungen zurückzuholen und ihn danach zu fragen, doch ließ er den Gedanken fallen. Er war zu erschöpft, um Frodos verworrenes Verhalten zu ergründen. Sollte es eine wichtige Angelegenheit sein, würde der Junge bestimmt wieder kommen und einen zweiten Versuch wagen und dann würde er sich die Zeit und die Geduld nehmen, Frodos heimlichem Wunsch auf den Grund zu gehen.
Wie blind eilte Frodo durch die Gänge des Brandyschlosses, war froh, dass keiner ihm genügend Aufmerksamkeit schenkte, um seinen verzweifelten Gemütszustand zu bemerken. Verbissen kämpfte er gegen die Tränen an, die in ihm aufzusteigen drohten. Wut auf sich selbst und auf Saradoc mischte sich mit dem bitteren Geschmack der Enttäuschung und der Verzweiflung über den Verlust, den er nun würde hinnehmen müssen. Ihm wurde klar, dass er auf seine Zweifel hätte hören sollen. Als er den östlichen Gang endlich erreicht hatte, begann er zu laufen, wobei die erste Träne ungehindert über seine rechte Wange kullerte. Schnell riss er seine Zimmertür auf, stürmte in den geliebten Raum und ließ sich verzweifelt auf sein Bett fallen, wo er den Kampf gegen seine Tränen endgültig verlor. Verzweifelt vergrub er das Gesicht in seinem Kissen und schluchzte jämmerlich. Ihm waren zwei Möglichkeiten zur Wahl gestanden und ganz gleich für welche er sich entschloss, er hätte sowohl Freude als auch Kummer davon getragen. Also hatte er sich für einen Weg entschieden, doch sein Entschluss war falsch gewesen. Niemals hätte er sich gegen sein Zimmer aussprechen dürfen, ganz gleich, wie hoch der Preis dafür sein mochte. Nun hatte er nichts mehr, kein Zimmer, keine Anerkennung, kein Zuhause. Saradoc hatte ihn verraten, hatte ihm die erhoffte Freude genommen und auch wenn Frodo noch klar vor Augen war, wovon Merry und er am Nachmittag geträumt hatten, schienen diese Dinge nun gering und nichtig im Vergleich zu dem, was er nun aufgeben musste. Er verlor sein Zuhause, den einzigen Ort an dem er sich noch hatte wohl fühlen können und bekam nicht mehr, als ein Wort des Dankes. Insgeheim verachtete er den Herrn, dass er ihm nicht mehr hatte geben wollen und schimpfte sich selbst für die Einfalt, mit der er in Saradocs Arbeitszimmer getreten war. Was hatte er denn erwartet? Saradoc mochte wissen, dass er sein Zimmer liebte, doch er konnte unmöglich begreifen, was es für ihn bedeutete, es aufzugeben. Ebenso würde Saradoc nie verstehen, wie sehr Frodo nach jener Anerkennung hungerte, die der Herr seinem Sohn zuteil werden ließ. Nur ein einziges Mal wollte er so gelobt werden, wie Merry, doch dieser Tag würde niemals kommen. Seine Hoffnungen waren falsch gewesen und der Preis, den er dafür würde bezahlen müssen, war höher, als selbst er begreifen konnte. Die Brust schien ihm wie zugeschnürt und er wollte seinen Kummer hinausschreien, in der Hoffnung, wieder atmen zu können, doch er wagte es nicht. Stattdessen rollte er sich in seinem Bett zusammen, zog sich die Decke über den Kopf und ließ die Geborgenheit, die er hier finden konnte, auf sich wirken. Doch der Trost, den er in dieser Nacht erhalten sollte, war geringer, als Frodo erhofft hatte, denn er wurde von Verzweiflung überschattet und dem Wissen, jene Geborgenheit nicht mehr lange gewährt zu bekommen.
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Zärtlich strich Hanna über die Wange ihrer jüngsten Tochter. Melilot war nach langem Quengeln endlich eingeschlafen und nun hatten auch Minze und Merimas die Ruhe die sie brauchten, auch wenn sich ihr Sohn vom Jammern des Babys schon lange nicht mehr stören ließ. Nach beinahe sechs Jahre im elterlichen Schlafzimmer war der junge Hobbit unempfindlich gegen Geräusche und schlief ein, sobald er müde war, ganz gleich wer noch im Zimmer war. Verwundert hob Hanna den Kopf als sie hörte, wie eine Tür knarrend ins Schloss fiel. "Frodo?", flüsterte sie verwirrt, warf einen letzten Blick auf ihre Tochter und trat dann aus dem kleinen, durch einen Vorhang abgetrennten Bereich ihrer Kinder heraus, ging am Kamin vorbei zur Tür, wobei sie sich die Falten an ihrer Schürze glatt strich. Vorsichtig trat sie in den Gang hinaus und sah sich um. Keiner war zu sehen und so trat sie an die gegenüberliegende Tür und lauschte. Zu ihrem Entsetzen drang leises Schluchzen an ihr Ohr, dessen Klang sie tief in ihrem Herzen berührte und sie traurig stimmte. Entschlossen, Frodo Trost zu spenden, griff sie nach dem Türknauf und wollte anklopfen, als plötzlich ein anderes Geräusch an ihr Ohr drang. Melilot hatte wieder zu weinen begonnen. Hanna brach es das Herz zwischen zwei weinenden Kindern zu stehen und sich für eines entscheiden zu müssen. Verzweifelt biss sie sich auf die Lippen, blickte von einer Tür zur anderen. "Vergib mir, Frodo", flüsterte sie dann, legte eine Hand an die Tür und schloss die Augen. Melilots Klagen wurde lauter und schließlich zögerte Hanna nicht länger und eilte zu ihrer Tochter, doch ihr Herz schmerzte beim Gedanken, Frodo mit seinen Tränen allein zu lassen.
Kapitel 63: Einzug
Nur zwei Tage nach seinem Gespräch mit Frodo war Saradoc nach Bockenburg gefahren, um dort bei einem Tischler ein neues Bett in Auftrag zu geben. Dieser versprach, sich so bald als möglich darum zu kümmern, auch wenn es dennoch mehrere Wochen dauern konnte, bis das Bett fertig war. Saradoc störte das wenig, schließlich hatten Milo und Päonie die ersten Tage des Astrons für ihren Umzug erwählt und bis dahin würden sich sowohl Frodo als auch Mimosa bereits an ihre neuen Zimmer gewöhnt haben. Frodo verbrachte in jenen Tagen viel Zeit bei Merry, der sich nur langsam erholte und rasch ermüdete, wenn er nicht in seinem Bett blieb. Oft ging er schon nach dem Frühstück zu seinem Vetter und blieb bis zum Abendessen, schließlich hatte er sich selbst versprochen, dass er sich um Merry kümmern wollte und daran hielt er fest, auch wenn er ab und an von Nelke gefragt wurde, ob er nicht doch lieber einen Nachmittag Karten spielend verbringen wollte. Frodo ließ sich nicht anmerken, wie betrübt ihn sein bevorstehender Umzug stimmte. In den Tagen nach der Unterhaltung mit Saradoc hatte er sich oft überlegt, noch einmal mit dem Herrn zu sprechen, seine Entscheidung rückgängig zu machen, doch hatte er diesen Gedanken ebenso oft verworfen, wie er aufgekommen war. Sein Entschluss stand fest, hatte festgestanden seit jenem Augenblick, an dem Merry ihm verkündet hatte, dass er von den Plänen seines Vaters wusste. Frodo wollte seinen Vetter nicht verletzen, indem er seine Meinung nun änderte, denn Merrys Freundschaft war ihm sogar lieber als sein Zimmer. Er würde umziehen, wie er es Saradoc gesagt hatte, ungeachtet seiner Befürchtung das letzte Stückchen Zuhause zu verlieren, das ihm im Brandyschloss noch geblieben war. Nichtsdestotrotz hatte er Saradoc nicht vergeben, dass er ihm nicht mehr als ein Wort des Dankes geschenkt hatte, hatte jedoch bald eingesehen, dass er zuviel erwartet hatte, denn Saradoc war nicht sein Vater, würde ihn nie so verstehen, wie Drogo Beutlin es getan hätte. Frodo musste sich mit Dank zufrieden geben und froh sein, dass ihm dieser gewährt worden war, auch wenn sein Herz nach mehr verlangte. Wenn er abends in seinem Zimmer war, versuchte er, die Zeit zu genießen, in der er jene vier Wände noch sein Eigen nennen konnte. In seine Decke eingewickelt, blickte er oft in die Nacht hinaus, betrachtete den Himmel und die Sterne, sofern die dichte Wolkenschicht die Sicht darauf freigab. Er dachte an all die Jahre seines Lebens, die er in jenem Zimmer verbracht hatte und versuchte, jede Erinnerung, sei es ein Erlebnis, ein Geruch oder ein Gefühl in sich aufzunehmen, auf dass sie nie vergessen wurden. Er ließ sich von der Geborgenheit, der Sicherheit, die er empfand, gefangen nehmen, selbst wenn ihn der Gedanke, diese Dinge vielleicht nie wieder so spüren zu können wie in seinem Zimmer, häufig noch trauriger stimmte, als er es ohnehin schon war. Seinem Vetter sagte Frodo nichts von alledem, doch konnte er Merry nicht verheimlichen, dass er seinem Umzug mit gemischten Gefühlen entgegensah. Sein Vetter wusste jene Sorgen jedoch schnell zu vertreiben, indem er seinen müden Kopf auf Frodos Schoß legte und sich lange Nächte voller Geschichten und Gesprächen, eigene Höhlen und heimliche Beschäftigungen bis in die frühen Morgenstunden ausmalte. Frodo geriet dabei ebenfalls ins Träumen und bemerkte bald, dass er es kaum noch erwarten konnte, bis sie all ihre Pläne auch umsetzen konnten. Am Ende freute er sich beinahe auf seinen Einzug, war mindestens genauso aufgeregt wie sein Vetter und konnte es kaum abwarten, dass der Tischler sein neues Bett lieferte.
Es war der Morgen des dritten Rethes, der Schnee war größtenteils geschmolzen, auch wenn hier und da noch einzelne Hügel und halbgeschmolzene Schneehobbits an die weiße Pracht erinnerten, die in diesem Jahr besonders reichlich gefallen war und das Auenland für mehr als zwei Monate unter einem weißen Mantel bedeckt hatte. Der Wind blies kalt, ließ den Herrn von Bockland nicht selten fürchten, dass sein Land von neuen Schneemassen heimgesucht werden würde, und obschon keine weiteren Flocken fielen, wagte der Frühling noch nicht, sein Regiment anzutreten und ließ das Land weiterhin grau und kahl aussehen.
Nichtsdestotrotz erhellte ein Lächeln Frodos Miene, als Esmeralda bald nach dem Frühstück in sein Zimmer kam, um mit seiner Hilfe den Kleiderschrank auszuräumen. Aufbruchsstimmung war eingekehrt im kleinen Zimmer im östlichsten Gang. Das Bett war bereits abgezogen, der Bezug lag auf einem Haufen auf dem Fußboden, wo er nur darauf wartete, in die Wäschekammer getragen zu werden. Die Kerze und die Streichhölzer lagen noch auf dem Nachttisch, doch würden sie von Frodo nicht wieder verwendet werden. Das Bild, die Holztruhe, seinen Federhalter und die beiden Tintenfässchen hatte Frodo auf dem Schreibtisch platziert, um sie später in sein neues Heim zu bringen. Auf der Truhe lagen auch einige von Frodos Schnitzereien, ein Pony bei dem der Schweif abgebrochen war, als er mit dem Messer abgerutscht war, ein Kerzenhalter und einen Stern, der als Anhänger für eine Kette hätte verwendet werden können, ebenso wie drei Steine, die er vor langer Zeit einmal gefunden und danach vergessen hatte. Einer war weiß wie Schnee, ein zweiter schien zu funkeln, wenn er in die Sonne gehalten wurde, und der Dritte hatte die Form eines Drachen. Er hatte sie unter seinem Schal und einigen Kerzen gefunden, die das obere Fach seines Nachttisches besetzt hatten. Dieses war, bis auf die Kerzen, nun ebenfalls ausgeräumt und sauber gemacht worden, wartete nun darauf, mit neuen Habseligkeiten gefüllt zu werden. Neben der Truhe stand ein kleines, ausgestopftes Kaninchen, ein Mathom, das er bei seinem letzten Besuch in den Großen Smials an Pippins Geburtstag erhalten hatte. Esmeralda hatte lange auf Frodos Besitz geblickt, überrascht, wie wenig der junge Hobbit sein Eigen nannte. Sie wusste, dass Frodo nur wenige Spielsachen gehabt hatte und dass Primula und Drogo diese von Zeit zu Zeit an jüngere Kinder weitergereicht hatten, während Frodo meist mit Dingen spielte, die wiederum von älteren Kindern an ihn weitergegeben worden waren. Sie konnte sich erinnern, dass Frodo nie sonderlich anspruchsvoll gewesen war und auch auf Märkten nur selten um etwas gebeten hatte. Einst hatte Frodo einen Rechenschieber besessen, doch Merry war darauf getreten, als Frodo diesen hatte vom Boden aufheben wollen, woraufhin er kaputt gegangen war. Drogo hatte vorgehabt, Frodo an seinem Geburtstag im Solmath einen neuen zu schenken, doch dazu war es nie gekommen. Auch Frodos Sammlerleidenschaft schien, anders als Esmeralda erwartet hatte, nicht sehr ausgeprägt. Hatte Merry sich am vergangenen Abend beklagt, dass Saradoc, der ihm beim Ausräumen seiner Schränke zur Hand gegangen war, all seine mühevoll gesammelten Steine, sonderbar geformten Äste und einen toten Laubfrosch, den er schon seit dem Herbst in einer mit Moos ausgelegten Holzkiste aufbewahrt hatte, weggeworfen hatte, hatten Frodos Schränke, bis auf die wenigen Steine, keine solch unliebsamen Überraschungen für sie bereitgehalten.
Frodo ließ seinen Blick über drei Wäschestapel wandern, die Esmeralda auf sein Bett gelegt hatte. Einer bestand aus Hemden, Nachthemden und Hosen, ein anderer aus Decken, Bettlaken, Jacken und Umhängen und ein dritter aus Kleidungsstücken, von denen sie glaubte, dass sie ihm zu klein geworden waren. Mit Entsetzen bemerkte er, dass Esmeralda seinen grünen Lieblingsmantel ebenfalls auf den dritten Stapel gelegt hatte. Dieser Mantel konnte ihm unmöglich zu klein sein. Mit einer raschen Handbewegung zog er ihn unter den anderen Kleidungsstücken hervor und schlüpfte hinein, doch ganz gleich, wie sehr er am Saum zupfte und den Bauch einzog, der einst so bequeme Mantel wollte ihm nicht mehr passen, war hier zu eng, da zu kurz und warf dort unschöne Falten. "Frodo!" Esmeralda schüttelte den Kopf, als sie sich zu ihm umwandte und bemerkte, wie er sich in seinen Mantel zwängte, in der Hoffnung, er müsse noch nicht an einen anderen weitergereicht werden. Frodo hörte nicht auf sie, bemühte sich stattdessen mit konzentriert herausgestreckter Zunge darum, die Knöpfe zu schließen. Er rutschte jedoch immer wieder ab, brachte sie kaum aneinander. "Wenn du noch lange daran herumzupfst, wirst du ihn kaputt machen", mahnte Esmeralda streng und so gab er den Kampf schließlich mit einem missmutigen Grummeln auf und legte den Mantel trübsinnig zurück auf den dritten Wäschestapel, während ihn Esmeralda wieder an ihre Seite rief, wo sie ihm eine Hose an die Hüften hielt, um zu testen, ob auch sie ihm zu klein geworden war.
"Sehr gut", meinte sie schließlich und legte auch die letzte Hose auf den ersten Stapel. Zufrieden blickte sie auf die leer geräumten Schrankfächer und dann wieder zu den ordentlich aussortierten Kleidungsstücken. Frodo wirkte weniger begeistert, wusste er doch, dass dies der letzte Handgriff gewesen war, ehe er sein Zimmer würde verlassen müssen und schluckte das mulmige Gefühl, das sich trotz seiner erwartungsvollen Aufregung in ihm regte. Um sich abzulenken griff er nach dem Eimer mit Seifenwasser, der neben dem Schrank stand, wohl wissend, dass es nun seine Aufgabe war, die Fächer sauber zu machen, ehe die Küchen-Mimi ihre Kleider darin einräumte. Esmeralda ließ ihn alleine, brachte die schmutzigen Bettbezüge in die Wäschekammer. Frodo blickte sich mit einem wehmütigen Seufzen im Zimmer um. Die Sonne schien durch das östliche Fenster, ließ feinen Staub in der Luft sichtbar werden und Frodo schloss für einen Augenblick die Augen, holte tief Luft. Den Duft, den er dabei in sich aufnahm, konnte er nicht zuordnen und doch wusste er, dass dieser ein Teil von ihm war, ebenso wie der Geruch von Lavendel Teil seiner Mutter oder jener von Pfeifenkraut Teil seines Vaters gewesen war.
"Wie ich sehe, bist du für deinen Umzug bereit." Frodo wandte sich überrascht um, als er Hannas Stimme vernahm. Er nickte lächelnd, machte sich schließlich daran, einen Fetzen aus dem Wasser zu nehmen, um das mittlere Fach zu säubern. Hanna war seit seinem Gespräch mit Saradoc häufig bei ihm gewesen, um nach dem Rechten zu sehen, wie sie sagte. Was genau sie mit ihren abendlichen Besuchen bezweckte, wusste Frodo nicht. Anfangs hatte ihn das beunruhigt, doch dann hatte er sich beinahe daran gewöhnt, dass Hanna noch zu ihm kommen würde, ehe er zu Bett ging und es erfüllte sein Herz mit unsagbarer Freude und tiefer Dankbarkeit. Meist sprachen sie nicht viel miteinander, wechselten nur ein kurzes "gute Nacht", doch manchmal setzte sie sich zu ihm auf das Bett, blickte mit ihm in die Nacht hinaus und einmal, einmal hatte sie sogar einen Arm um ihn gelegt und ihn für einige Zeit festgehalten. Frodo war erschrocken gewesen, hatte zurückweichen wollen, doch ehe ihm klar geworden war, was er tat, hatte er genau das Gegenteil getan, seine Arme um ihren Hals gelegt und auch sie festgehalten. Er hatte sich um Hanna gesorgt, hatte befürchtet, dass sie zu ihm kam, um Trost zu suchen, ebenso wie Pippin in Momenten der Traurigkeit zu ihm ins Bett gekrochen war, doch als er in ihre Augen gesehen hatte, hatte er kein Zeichen von Kummer erkennen können. Dies hatte ihn noch mehr verwundert und doch war er froh gewesen, dass sie ihn in die Arme genommen hatte, denn an diesem Abend hatte er sich sehr nach einer tröstenden Umarmung gesehnt und Hanna schien seinen heimlichen Wunsch gehört zu haben. Frodo wusste, dass er sie vermissen würde. "Du weißt, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, auch wenn ich nicht mehr nebenan wohne", sagte Hanna, als kenne sie seine Gedanken. "Meine Tür wird dir immer offen stehen, ganz gleich, zu welcher Zeit."
Frodo nickte und Hanna konnte erkennen, dass er schwer schluckte, ehe er sich rasch mit seiner Aufgabe ablenkte. Sie konnte sehen, dass sie dem Jungen ebenso fehlen würde, wie er ihr. Natürlich war er nicht aus der Welt, doch hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, auf ihn aufzupassen, ihm Trost zu spenden. Dadurch, dass er ihr gegenüber wohnte, war ihr das häufiger gelungen als manch einem anderen, denn nicht selten war sie zu ihm gekommen, weil sie ihn hatte seufzen hören oder hatte ihn unauffällig in ihr Zimmer bitten können, wenn er eigentlich auf dem Weg in sein eigenes gewesen war, zweifelsohne, um sich dort zu verkriechen. Seit sie ihn im Nachjul weinen hörte ohne zu ihm gegangen zu sein, hatten Gewissensbisse sie gequält und sie war jeden Abend zu ihm gekommen, als könne sie dadurch wiedergutmachen, was sie damals versäumt hatte. Nun bereute sie beinahe, dass sie dies nicht schon früher getan hatte, denn Frodo wurde mit jedem ihrer Besuche weniger misstrauisch, war in den letzten beiden Wochen sogar mit freudiger Erwartung in seinem Bett gelegen, als sie schließlich zu später Stunde nach ihm gesehen hatte. Er hatte sich umarmen lassen, zaghaft zwar, doch er ließ es zu und es kam ihr vor, als hätte Frodo all die Jahre nicht mehr verlangt, als dass sie ab und an nach dem Rechten sah, nur war sie nicht in der Lage gewesen, dies zu erkennen. Sie hatte ihn lieb gewonnen, sah in ihm beinahe einen Sohn und Frodo sollte wissen, dass sich daran nichts änderte, nur weil er nun in den mittleren Bereich des Brandyschlosses zog. Sie würde dennoch für ihn da sein und sie würde auch weiterhin die Augen offen halten, wenn sie ihn sah, denn sie fürchtete, dass Frodo trotz ihrer Worte nicht nach ihrer Hilfe fragen würde. Das hatte er nie getan.
Hanna trat schließlich an seine Seite, bat ihn um den Fetzen und wischte das oberste Fach sauber, das er nicht erreichen konnte. Er bedankte sich mit einem Lächeln, woraufhin sie ihm durch die Haare wuschelte, sich zu ihm herabbeugte und ihm die Stirn küsste. "Du dankst mir mehr, indem du meine Worte nicht vergisst", sagte sie mit einem Lächeln, ehe sie das Zimmer verließ. Frodo blieb vollkommen verdutzt zurück, sah ihr mit verwirrten Augen und offenem Mund hinterher. Die Finger seiner linken Hand strichen zaghaft über seine Stirn, während die der Rechten den Stofffetzen fest umklammert hielten. Er bemerkte erst, dass er den Atem angehalten hatte, als er geräuschvoll nach Luft schnappte und verwirrt auf seine Finger blickte. Neben Bilbo war er von niemandem, außer seinen Eltern jemals auf die Stirn geküsst worden und die Überraschung, dass Hanna dies getan hatte, ließ sein Herz einen freudigen Sprung vollführen. Ein Lächeln brachte seine Mundwinkel zum Zucken, während er auf die Tür blickte, durch die Hanna verschwunden war. Bedeutete ihre liebevolle Tat, dass sie ihn liebte, wie er einst geglaubt hatte, dass Bilbo ihn lieben würde? Frodo verwarf den Gedanken sofort, denn eine plötzliche Furcht bemächtigte sich seiner. Selbst wenn dem so war, durfte er nicht daran glauben, sich nicht an jenen Gedanken klammern, denn nur so konnte er verhindern, dass sein Herz erneut gebrochen wurde, sollte er sich irren.
"Bist du soweit?" Frodo zuckte erschrocken zusammen, als Esmeralda raschen Schrittes in das Zimmer trat. Nickend ließ er den Fetzen in den Eimer fallen, als sie ihn anwies, seine Habseligkeiten in sein neues Zimmer zu tragen, denn dieses hätte Saradoc soeben fertig eingerichtet.
Beladen mit all seinem Besitz, abgesehen von den Kleidungsstücken, derer Esmeralda sich angenommen hatte, und einem mulmigen Gefühl in der Magengegend schlurfte Frodo durch die spärlich beleuchteten Gänge des Brandyschlosses, vorbei am östlichsten Badezimmer, in dem er sich jeden Morgen zurechtgemacht hatte, vorbei an unzähligen Gängen, die zum größten Teil mit ehemaligen Gästezimmern, die längst zu dauerhaft genutzten Räumen geworden waren, aber auch mit einigen kleineren Wohnzimmern und Küchen ausgestattet waren, vorbei an der Empfangshalle und dem großen Kleiderschrank für Mäntel jeglicher Art, wo ihm die Lampen, die im Mittelgang am hellsten schienen, entgegen leuchteten, bis er schließlich in den ersten Gang westlich des Mittelganges abbog, dort wo sich Merrys und nun auch sein Zimmer befand. Das Herz klopfte ihm vor Aufregung bis zum Hals und er wusste nicht, ob er nun glücklich oder traurig sein sollte. Er fiel hinter Esmeralda zurück, die zügigen Schrittes an ihm vorüber huschte, offensichtlich erpicht, den Umzug so bald als möglich hinter sich zu bringen. Auch wenn Frodo wusste, dass er seine Entscheidung nicht würde rückgängig machen können, kehrten seine Zweifel plötzlich wieder und er fragte sich, ob es richtig war, sein Zimmer im östlichen Gang aufzugeben. Drei Frauen liefen lachend und schnatternd an ihm vorüber, nahmen kaum Notiz von ihm, ehe sie in einem der beiden Wohnzimmer, die in diesem Gang lagen, verschwanden. Frodo blickte ihnen mit in Falten gelegter Stirn hinterher. Er vermutete, dass er lange brauchen würde, bis er sich an den Trubel in den mittleren Gängen gewöhnt hatte und vergaß dabei völlig, dass er schon häufiger bei Merry übernachtet und bisher immer Schlaf gefunden hatte.
"Frodo!" Merry kam ihm freudestrahlend entgegen gerannt. Ein Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte, zierte sein Gesicht und seine Augen leuchteten vor Aufregung, als er ihm den ausgestopften Hasen aus der Hand nahm, um ihm beim Tragen zu helfen. Dass er durch seine überschwängliche Freude, die ihn nicht einmal stillstehen ließ, beinahe alles in Frodos Händen zu Boden geworfen hätte, schien ihm vollkommen gleichgültig. Ganz im Gegensatz zu Frodos Gesichtsausdruck, der nicht halb so glücklich aussah, wie er das noch beim Frühstück getan hatte. Der junge Hobbit schob die Unterlippe vor, was ihn beinahe beleidigt aussehen ließ und legte den Kopf schief. "Lächle", meinte er dann und grinste über das ganze Gesicht. "Du wirst es lieben!" Frodo war sich dessen nicht mehr sicher, brachte aber dennoch ein zaghaftes Lächeln zustande, was Merry augenblicklich zufrieden stimmte. Der Jüngere hakte sich bei ihm ein und schwärmte davon, wie phantastisch ihr neues Zimmer war und wie sehr er sich darauf freute, ihn als Mitbewohner zu haben, bis er, wenige Schritte vor der Türe, plötzlich stehen blieb und erklärte, dass Frodo ihm all seine Besitztümer abgeben solle. Frodo zog eine Augenbraue hoch, unsicher, was sein Vetter damit vorhatte, doch brachte ihn der freudig bittende Ausdruck im Gesicht des Jüngeren zum Schmunzeln und so reichte er ihm schließlich alles, bis auf das Bild seiner Eltern. Merry bedankte sich überschwänglich, machte dann auf dem Absatz kehrt und stürmte in sein Zimmer, nicht ohne Frodo anzuweisen, sich nicht von der Stelle zu rühren. "Sei vorsichtig damit!", bat Frodo und zuckte unwillkürlich zusammen, als Merry beinahe gestolpert wäre. Er seufzte, während sein Vetter hinter der Tür verschwand und schüttelte den Kopf. Merrys Freude hatte ihn neugierig gemacht und sein Unbehagen war, in Anbetracht der vielen geschmiedeten Pläne, schon beinahe vergessen. Frodo wagte einen zaghaften Schritt auf die Tür zu, doch gerade, als er in das dahinter liegende Zimmer spähte, kam Esmeralda ihm entgegen, wohl um den letzten Wäschestapel, der noch auf seinem Bett lag, heranzutragen. "Nicht schummeln!" hörte er Merry schimpfen, während sein Blick noch Esmeralda folgte und er lächelte verschmitzt. Endlich trat sein Vetter aus dem Zimmer, stellte sich hinter ihn und hielt ihm die Augen zu. "Merry, was soll das?", beklagte er sich, nicht gerade erfreut, dass sein Vetter ihn vor sich her schob. Mit ausgestreckten Händen versuchte er, sich zu orientieren, während Merry hinter ihm in sich hineingluckste, ihm jedoch weiterhin die Sicht versperrte. Schließlich bekam er den Türrahmen zu fassen, wo Merry ihn anwies, stehen zu bleiben. Er konnte spüren, wie sich sein Vetter neben ihn stellte, wollte bereits nach dessen Händen greifen, als Merry schließlich den Blick auf das Zimmer freigab.
Frodo stockte der Atem. Mit offenem Mund und großen Augen blickte er von einer Ecke in die andere. Ein zaghaftes Lächeln zeichnete sich auf seinen Zügen ab und seine Augen leuchteten voller Staunen. Alles hatte sich verändert. Kaum ein Gegenstand war an seinem Platz geblieben. Ein Feuer brannte im Kamin an der gegenüberliegenden Wand, tauchte den Raum in ein angenehmes, warmes Licht. Der Duft von Zedernholz lag in der Luft, ebenso wie jener von frisch verarbeitetem Holz und alten Möbeln. Merrys Bett stand noch an der selben Stelle, wie zuvor, war jedoch etwas näher zur Tür geschoben worden, sodass das Regal, das zuvor an der linken Wand gestanden hatte, nun rechts, gleich neben dem Kamin und somit über dem Bett hatte platziert werden können. Auf dem Regal standen zwei Kerzen, die für zusätzliches Licht sorgten. Merrys Schlafstätte gegenüber, an der linken Wand, stand das eigens für ihn gezimmerte Bett. Merrys alter Nachttisch war daneben platziert worden und auch darauf stand eine brennende Kerze, die ihr Licht auf seine Holztruhe warf, die Merry dort abgestellt hatte. Der Schreibtisch ruhte wie eh und je in der Ecke links neben der Tür, doch war Merrys alter Schreibtisch durch einen größeren ersetzt worden, der ihnen beiden genügend Platz schenkte, selbst wenn sie zur selben Zeit daran saßen, um zu schreiben oder zu lesen. Zu beiden zugänglichen Seiten stand ein Stuhl. Auch Merrys alter Schrank war durch einen größeren ersetzt worden, der nun gleich neben der Tür an der Wand und nicht etwa, wie zuvor, anschließend an Merrys Bett stand. Beides waren offensichtlich alte Möbelstücke, die Saradoc aus einem der Keller geholt hatte.
Merry ließ seinen Blick voller Freude auf Frodo ruhen, dessen Augen immer wieder staunend von einer Seite zur anderen wanderten. Er selbst hatte sich nicht anders in seinem neuen Zimmer umgesehen, als sein Vater nach dem Frühstück alle Möbel herangetragen hatte. Seine Mutter hatte eben erst die Betten frisch bezogen, um dem Raum eine noch wohnlichere Stimmung zu geben. Er selbst hatte sich sofort wohl gefühlt und er hoffte, dass es seinem Vetter ebenso ging, denn in den vergangenen Wochen war er beizeiten ein wenig beunruhigt gewesen, da Frodo nicht selten einen beinahe betrübten Eindruck gemacht hatte, wenn vom Umzug gesprochen worden war. Nun glaubte er jedoch, in Frodos Gesicht erkennen zu können, dass dieser sowohl ungläubig und überrascht, als auch hoffnungsvoll und in einem angenehmen Sinne erleichtert war. "Es gefällt dir", stellte Merry schließlich fest und das Grinsen, für einen Augenblick zu einem zaghaften Lächeln verkümmert, kehrte in aller Breite zurück. Er sprang übermütig in das Zimmer, drehte sich einmal um sich selbst und nahm dann einen tiefen Atemzug der sowohl neuen als auch alten Düfte auf, die nun Teil seines und Frodos Zimmers waren. "Willst du denn nicht hereinkommen?", fragte er, griff dann kurzerhand nach Frodos Handgelenk und zog ihn herein, da sein Vetter wie angewurzelt in der Tür stehen blieb.
Frodos Griff um sein Bild verstärkte sich unweigerlich, während seine Augen immer wieder von einer Seite zur anderen wanderten, unfähig zu begreifen, wie sehr sich das Zimmer verändert hatte. Es war nicht mehr nur Merrys Zimmer, es war jetzt auch seines und, anders, als er gefürchtete hatte, fühlte er sich willkommen, beinahe so, wie er dies in seinem alten Zimmer getan hatte. In den vergangenen Wochen hatte er sich oft vorzustellen versucht, wie das Zimmer sich verändern würde, wenn auch für ihn Platz geschaffen wurde, doch nie hätte er sich so etwas erträumen lassen. Obschon nun mehr Möbel den Raum schmückten, hatte dieser nichts von seiner Freundlichkeit eingebüßt, bot selbst jetzt noch Platz für mindestens zwei Matratzen, sollte Pippin sie wieder besuchen kommen. Ein Gewicht, von dem er nicht gewusst hatte, dass er es trug, schien von seinem Herzen genommen und er war plötzlich überzeugt, dass er sich hier ebenso wohl fühlen würde wie in seinem alten Zimmer.
"Frodo?" Merrys Stimme klang nun beinahe beunruhigt. Der junge Hobbit stand an seiner Seite, betrachtete ihn fragend und mit in Falten gelegter Stirn. "Es gefällt dir doch, oder etwa nicht?" Mit einem Lächeln im Gesicht wandte sich Frodo endlich seinem Vetter zu und schloss ihn in die Arme, von Erleichterung und Freude gleichermaßen überwältigt. "Und wie es mir gefällt!" rief er glücklich, wirbelte dann selbst einmal herum, um sich schließlich auf sein Bett fallen zu lassen. Mit einem zufriedenen Seufzen ließ er seinen Blick noch einmal durch den Raum wandern, nahm schließlich die Holztruhe vom Nachttisch und stellte sein Bild darauf. Liebevoll strichen seine Finger über den Rahmen und sein Lächeln wurde noch fröhlicher. Er brauchte sich nicht länger zu sorgen, er würde sich hier rasch einleben.
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Nachdem Esmeralda sie angewiesen hatte, zu Bett zu gehen, war Merry noch einmal aus dem Zimmer verschwunden. Frodo war alleine zurückgeblieben, im Licht dreier Kerzen und dem rötlichen Schein der ausgehenden Glut. Merry und er hatten den ganzen Nachmittag damit verbracht, geeignete Plätze für all ihre Schätze zu finden und somit den Umzug abzuschließen. Sein Bild hatte Frodo auf dem Nachtkästchen stehen lassen, denn nur dort gehörte es hin. Die Holzkiste hatte er, wie schon zuvor, im untersten Fach des Nachttisches verräumt und auch seine Steine und die Schnitzereien hatten nach langem überlegen ebenfalls einen Platz auf dem Nachttisch bekommen, wo sie nun neben und hinter seinem Bild standen. Einzig Pippins Hase, der zuvor im Schrank verstaubt war, fand keinen geeigneten Platz, bis Merry schließlich erlaubte, diesen in das Regal zu stellen, von wo aus es das Geschehen im Zimmer überwachen konnte. Im Laufe des Nachmittages war Frodo noch einmal in den östlichen Gang gegangen, um einen letzten Blick in sein Zimmer zu werfen. Er hatte nicht damit gerechnet, die Küchen-Mimi beim Einräumen ihrer Kleider zu stören. Erschrocken hatte er sich entschuldigt, wollte den Raum schon wieder verlassen, als sie ihn zurückrief. Zaghaft war er eingetreten, hatte sich mit einer Mischung aus Schrecken und Verwunderung im Zimmer umgesehen, denn dieses hatte sich bereits den Wünschen Mimosas angepasst. Statt des Schreibtisches stand ein kleines Tischchen mit einer gehäkelten Decke in der Ecke und daneben war ein Schaukelstuhl platziert worden, der unter dem Gewicht eines darüber gelegten Kleides leicht vor und zurück wippte. Frodo hatte geschluckt, plötzlich bemerkend, dass dies nicht länger ein Ort war, den er als Zuhause bezeichnen konnte, und für einen Augenblick war ein trauriger Ausdruck über seine Züge geschlichen. Dieser war jedoch verschwunden als seine Augen auf Mimosa Braunlock, der Küchen-Mimi, zur Ruhe kamen. Ihr graues Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Strähnen hatten sich daraus gelöst, waren in spröden Locken über ihre Schultern gefallen. Sie hatte nicht gelächelt, war offensichtlich nicht erfreut gewesen, dass er hereingeplatzt war. Dennoch bedankte sie sich bei ihm, dass er dem Herrn und somit ihr sein Zimmer zur Verfügung gestellt hatte. Mehr sagte sie nicht und auch Frodo entgegnete nichts weiter, sondern ließ sie, nach einem letzten Blick in sein altes Zimmer, allein. Er verspürte nicht den Drang, länger an jenem Ort zu bleiben, doch auch wenn der Anblick der neuen Einrichtung einen bitteren Beigeschmack auf seiner Zunge hinterließ, störte es ihn weniger, als er erwartet hatte.
Überrascht sah er auf, als sich die Tür öffnete und Merry mit zwei Schüsseln eintrat. In einer waren Kekse, in der anderen Nüsse, die der junge Hobbit zweifelsohne aus der Speisekammer stibitzt hatte. "Was…", rief er überrascht aus und sprang vom Bett um seinem Vetter eine Schüssel abzunehmen und sie auf den Boden zu stellen. Merry strahlte über das ganze Gesicht, warf ihm einen verschmitzten Blick zu. "Danken kannst du mir später, wenn ich auch die Milch habe." Frodo runzelte die Stirn, wollte fragen, was es damit auf sich hatte, doch da war sein Vetter schon wieder aus dem Zimmer verschwunden, nicht ohne sich zuvor versichernd umzusehen. Ein Lächeln stahl sich über seine Züge. Er vermutete, Merrys Absichten zu kennen und so stellte er auch eine der Kerzen in der Mitte des großen Raumes auf. Sein Atem stockte, als plötzlich etwas gegen die Tür pochte. Zögernd drehte er den Knauf, spähte vorsichtig hinaus, hoffend, dass weder Saradoc, noch Esmeralda im Gang standen. Zu seiner Erleichterung war es nur Merry, beladen mit zwei Tassen Milch, die er aus der Küche geholt haben musste. Ein beunruhigter Ausdruck lag im Gesicht des jüngeren Hobbits, als er mit einem erleichterten "Das war knapp!" auf die Holzdielen kniete. Frodo ließ sich neben ihm zu Boden sinken, während Merry nach einer Stärkung, bestehend aus drei Walnüssen, zu erklären begann. "Onkel Merimac hat mich gesehen und sein Blick war so kritisch, dass ich glaubte, er würde mich gleich darauf ansprechen, doch er ließ mich wortlos an sich vorüber gehen." Frodo atmete erleichtert auf. Merimac, der einige Jahre jünger war als Saradoc, ließ sich zwar häufiger zu Späßen hinreißen und drückte beizeiten auch zwei Augen zu, durfte aber dennoch nicht unterschätzt werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Bruder des Herrn eine ihrer Missetaten an eben jenen weiterleitete, denn nicht selten war es Merimac, der für Saradoc die Augen offen hielt, wenn dieser nicht zugegen war. Nichtsdestotrotz schmunzelte er, als er die Beine verschränkte und sich zu einem Keks verhalf. Er wusste bereits, weshalb Merry ihnen jene späte Zwischenmahlzeit beschert hatte, doch das sollte nicht heißen, dass er sich nicht einen Spaß erlauben konnte. "Und wozu die ganze Aufregung, werter Vetter?", fragte er und hatte Mühe, sich auf Merrys verdutzten Gesichtsausdruck das Lachen zu verkneifen. "Ich weiß deine Mühen durchaus zu schätzen", tat er mit einem herzhaften Biss in einen Keks kund, "doch,…" "… du hast keine Ahnung von einem Einweihungsfest!" konterte Merry kopfschüttelnd und beinahe beleidigt, lächelte dann aber, als er Frodos Schmunzeln bemerkte, und langte nach seiner Milchtasse. Die Flamme der Kerze spiegelte sich in seinen Augen, während er die Tasse in die Höhe hielt, als wäre sie ein Bierkrug. Frodo zog kichernd eine Augenbraue hoch, tat es ihm aber gleich. "Auf unser neues Zuhause!" prostete Merry schließlich. "Und viele glückliche Stunden!" fügte Frodo hinzu, ehe sie die Milchtassen geräuschvoll aneinander schlugen. Ein Lächeln lag auf den jungen Gesichtern, als sich beide zufrieden den Milchschaum von den Lippen leckten und sich zu den Leckereien verhalfen, die hoffentlich niemand vermissen würde.
Merry war zufrieden, in Frodos Gesicht dasselbe Grinsen zu sehen, das schon den ganzen Tag nicht aus seinem eigenen weichen wollte. Ihr Zusammenzug war eine gute Idee gewesen und doch kam er nicht umhin, sich um Frodo zu sorgen. Frodo hatte ihm gesagt, dass er nicht sicher war, ob er sich auf den Umzug freute und Merry hatte angenommen, dass sein Vetter deshalb so still gewesen war. Dennoch war Frodo schon zuvor, als er noch nicht einmal von den Plänen seines Vaters hatte wissen können, sehr zurückgezogen gewesen, hatte mehr Zeit alleine verbracht als gewöhnlich und manchmal glaubte Merry, in den Augen seines Vetters eine unbestimmte Traurigkeit zu sehen, die selbst ihm das Herz schwer machte. "Bist du wirklich glücklich?", platzte es plötzlich beinahe furchtsam aus ihm hervor, ehe er wusste, dass er überhaupt etwas hatte sagen wollen.
Verwundert sah Frodo seinen Vetter an und für einen Augenblick verschwand das Lächeln in seinem Gesicht, machte einem nachdenklichen Ausdruck Platz. Merrys Stirn legte sich in Falten und Frodo war gleichermaßen gerührt und entsetzt von der Sorge, die er im Gesicht seines Vetters erkennen konnte. Sein Vetter sollte sich seinetwegen nicht sorgen, niemand sollte das. Die tiefen Falten auf Merrys Stirn mussten eiligst geglättet werden, auf dass sie niemals wiederkehrten. "Ja, das bin ich", sagte er dann, als sich ihre Blicke trafen und sein Lächeln lag nicht nur auf seinen Lippen, sondern auch in seinen Augen. "Das bin ich", wiederholte er noch einmal und war froh, seine Antwort ehrlich zu meinen. Es gab vieles, das ihn beizeiten bedrückte und in den vergangenen Monaten war ihm das Herz mit jedem Tag schwerer geworden, doch im Augenblick war er zufrieden und er hoffte, dass sich daran nichts ändern würde.
Merrys Miene hellte sich auf, was Frodo ungemein erleichterte und während leise Stimmen aus dem Wohnzimmer ihr Beisammensein untermalten, prosteten sich die jungen Hobbits erneut zu und genossen ihren ersten Abend im gemeinsamen Zimmer.
Kapitel 64: Erkenntnisse
Sie hat gesagt, ich wäre ihr Freund. Es tut gut das zu wissen, doch die Blicke, die sie mir beim Kartenspielen schenkt, lassen mich unruhig werden. Etwas ist anders. Ihre Blicke machen mich verlegen, was sie zuvor nie taten. Selbst ihre Sticheleien haben sich irgendwie verändert. Ich weiß nicht genau, was daran anders ist, doch manchmal weiß ich nichts darauf zu erwidern und auch das war früher nie der Fall. Manchmal, wenn ich sie ansehe, kehrt das Kribbeln in meinen Bauch zurück. Es ist kein unangenehmes Gefühl, doch… Sie mag meine Freundin sein, doch soll sie nichts zum Kribbeln bringen, schließlich macht Merry das auch nicht. Trotzdem ist bei ihr etwas anders. Vielleicht ist dieses Gefühl nur da, weil ich erst seit kurzem weiß, dass sie meine Freundin ist? Vielleicht liegt es daran, dass sie ein Mädchen ist? Vielleicht…
"Was schreibst du da? Mit einer raschen Handbewegung klappte Frodo das Buch zu und überkreuzte die Arme darüber. Die Kerze, die vor ihm auf dem Schreibtisch stand, flackerte, ließ sowohl seinen, als auch Merrys langen Schatten an der Wand tanzen. Drei Monate waren seit dem Umzug vergangen und Frodo hatte sich inzwischen daran gewöhnt, nicht mehr alleine zu sein, auch wenn Merrys ständige Präsenz ihm bisweilen etwas unbehaglich war, vor allem dann, wenn er in sein Tagebuch schrieb. "Nichts", entgegnete er, wobei er sich mit einem möglichst unschuldigen Lächeln an Merry wandte, der ihn mit einem ungläubigen Blick betrachtete. Sein Vetter hatte ihn in den vergangenen Wochen häufig beobachtet, wenn er in sein Tagebuch geschrieben hatte und obwohl er ihn gewähren ließ, war er zunehmend neugieriger geworden, was Frodos Unruhe noch verstärkte. Es war nicht so, dass er seinem Vetter nicht vertraute, doch zu wissen, dass Merry wusste, wo er sein Tagebuch aufbewahrte, hatte es ihm in den vergangenen Tagen immer mulmiger werden lassen. "Es ist mein Tagebuch", fügte er schließlich ernst hinzu, "und es geht dich nichts an. Ebenso, wie mich die Eintragungen in deinem Tagebuch nichts angehen würden, hättest du eines." Merry ließ sich auf den anderen Stuhl sinken und stützte beleidigt den Kopf in die Hände. Das Kerzenlicht warf verspielte Schatten auf seinen zerzausten Lockenkopf und den verletzten Gesichtsausdruck des Jüngeren. "Traust du mir wirklich zu, dein Tagebuch zu lesen?" Frodo taten seine strengen Worte beinahe Leid und er legte entschuldigend den Kopf schief, während er die Feder zurück in die Halterung steckte. Eine Hand ließ er dennoch auf dem ledernen Einband ruhen. Er vertraute Merry und er vertraute auf ihre Freundschaft, doch gerade deshalb glaubte er daran, dass Merry sein Tagebuch lesen würde, wenn sich ihm eine Möglichkeit dazu bot. Einst hatte er seinem Vetter all seine Sorgen anvertraut und auch wenn Merry noch immer mehr wusste, als jeder andere, hätte sein Tagebuch auch ihm eine Reihe wohl gehüteter Geheimnisse offenbart und Frodo wusste, dass Merry sich dessen durchaus klar war. "Wenn du dort hineinschreibst, heißt das, dass du unglücklich bist?" Inzwischen war Merry dazu übergegangen, mit dem Wachs der Kerze zu spielen und dadurch das gleichmäßige Licht der Flamme zu stören. Auch wenn sein Vetter ihn nicht ansah, wusste Frodo um dessen besorgten Gesichtsausdruck. Es bekümmerte ihn, Merry so zu sehen und er legte einen Arm auf dessen Schulter. Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen, ließ sein Gesicht freudig erstrahlen. "Glaub mir, es wären wesentlich weniger Seiten gefüllt, wenn dem so wäre." Merry lächelte zufrieden und Frodo war erleichtert, keine Sorge in seinem Blick zu erkennen. Frodo hatte den bedrückten Blick seines Vetters, wenn er in sein Tagebuch schrieb, selbst dann spüren können, wenn er ihm den Rücken zugewandt hatte. Es schmerzte ihn, dies zu sehen, machte ihm manchmal sogar Angst. Was, wenn Merry mit Saradoc über seine Sorge um ihn sprach und dieser daraufhin eine Nachricht an Bilbo schickte? Bilbo würde erfahren, dass er nicht so stark war, wie er ihn in seinen Briefen glauben lassen wollte, sich noch mehr von ihm abwenden und er würde die Liebe seines Onkels niemals gewinnen und für den Rest seines Lebens ohne ein Zuhause bleiben. Frodo fürchtete diesen Gedanken und setzte alles daran, jegliche Sorgen aus Merrys Gesicht zu wischen und auch sonst niemandem den Kummer seines Herzens aufzubürden. Die anderen hatten mit ihren eigenen Lasten genug zu tragen und er wollte zeigen, dass er auch ohne ihre Hilfe zurechtkam, selbst wenn das hieß, dass er sein Tagebuch an einen anderen Ort bringen musste. Er vertraute Merry, doch sein Vetter sollte sich nicht jedes Mal Gedanken machen, wenn er die leeren Seiten des Buches mit Worten füllte, schließlich zeugten seine Einträge nicht immer von Kummer. Dennoch gab es genügend Zeilen, die Merry betrüben würden und Frodo wollte sicher gehen, dass er diese niemals zu Gesicht bekam. Er würde ein anderes Versteck für sein Tagebuch finden, wusste sogar schon wo.
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Milo und Päonie waren in den ersten Tagen des Astron eingezogen, doch Frodo hatte feststellen müssen, dass, welches Band auch immer ihn einmal mit seinem älteren Vetter verbunden hatte, nicht länger vorhanden war. Schon vor Milos Umzug ins Westviertel war dieses nicht mehr besonders stark gewesen, doch jetzt, da er zurück war, schien es Frodo, als hätte dieses Band nie existiert. Zwar hatte Milo ihn mit einem freundlich gemeinten durch die Haare wuscheln begrüßt, sich seither jedoch nicht ein einziges Mal mit ihm unterhalten. Er sprach viel lieber mit Merimac, Seredic und Saradoc über Geschäfte, von denen Frodo seiner Meinung nach ohnehin nichts verstand. Zu allem Überfluss war Päonie bereits bei ihrer Ankunft hochschwanger gewesen und hatte schon zwei Wochen nach ihrem Einzug ihren ersten Sohn, Mosco, geboren. Die Geburt war ohne Probleme verlaufen, doch Fastred, der zu der Zeit häufig im Brandyschloss gewesen war, hatte bei einem seiner Besuche dennoch einen Blick auf Mutter und Kind geworfen. Lily, seine jüngste Tochter, hatte ihn, wie auch schon an vielen anderen kalten Wintertagen, begleitet. Offensichtlich war sie bei ihm in die Lehre gegangen. Frodo wusste noch genau, wie das Mädchen ihn vor mehr als einem Jahr gemustert hatte, als er dem Heiler Salben brachte. Er erinnerte sich noch gut an das unbehagliche Gefühl, da er zitternd auf der Schwelle gestanden und dem urteilenden Blick in den grünen Augen hilflos ausgesetzt gewesen war. Sie mochte nett sein, doch er konnte sich nicht vorstellen, sich freiwillig von ihr untersuchen zu lassen, war er ihrem kritischen Blick dann doch noch schutzloser ausgeliefert. Die Augen, denen er seine Aufmerksamkeit hingegen sehr viel lieber schenkte, gehörten Nelke. Seine Blicke waren in den vergangenen Wochen immer häufiger zu ihr gewandert und nicht selten hatte er sie dabei ertappt, wie auch sie zu ihm herüber sah. Wann immer sich ihre Blicke kreuzten, zierte ein breites Lächeln ihre Lippen und eben jenes Lächeln war oft Grund für das Kribbeln in seinem Bauch. Selbst beim Kartenspielen bedachte sie ihn manchmal mit diesem Blick, oder rutschte näher an ihn heran als ihm lieb war. Sie mochte seine Freundin sein, doch sie blieb immer noch ein Mädchen.
Auch als er nun an den Regalen der Bibliothek entlang schritt, ein Bündel, das er mit sanften Fingern an seine Brust drückte, in der rechten Hand, waren seine Gedanken bei Nelke. Er erinnerte sich daran, wie sie mit ihm hier gewesen war, am selben Tag, als sie ihm auch den geheimen Gang gezeigt hatte, den er seither nicht wieder betreten hatte, auch wenn er mehr Zeit mit Nelke verbrachte als zuvor. Manchmal tauchte sie plötzlich neben ihm auf, wenn er ein Buch las und schielte über seine Schultern oder schloss sich mit ihren Freundinnen den Kartenspielen der Jungen an. Ein seltsames Mädchen, auch wenn er sich eingestehen musste, dass ihm ihre Nähe lieb war. Die Finger seiner linken Hand strichen beinahe zärtlich über die Buchrücken im Regal. Bis auf den Schein einer einzelnen Kerze, die er von draußen mit herein getragen und auf dem Tisch abgestellt hatte, war es dunkel im Raum und hätte er in den Büchern lesen wollen, hätte er kaum ein Wort erkennen können. Doch Frodo ging es nicht um die Bücher, auch wenn ihn deren Duft und deren bloßes Vorhandensein sofort in ihren Bann zogen. Er konnte diesen Raum nicht verlassen, ohne zumindest einmal über die ledernen Buchrücken zu streichen. Seine Absichten waren jedoch andere. Erst vor wenigen Tagen, als er, auf der Suche nach einem Buch, an den Regalen entlang gegangen war, hatte er in der linken, hinteren Ecke eine lose Diele entdeckt. Die Diele schloss mit der Wand ab, ebenso, wie es das raumhohe Regal tat, und Frodo hätte nicht einmal bemerkt, dass sie nicht fest saß, hätte er sich nicht auf den Zehenspitzen abgemüht, ein Buch, zwei Regale oberhalb seines Kopfes zu erreichen. Lautes Knarren, ein Geräusch, das sich gefährlich nach einem drohenden Einbrechen des Bodens angehört hatte, hatte ihn darauf aufmerksam werden lassen. Neugierig war er zurückgetreten, hatte den Boden untersucht und war auf einen Hohlraum unter der Diele gestoßen. Die lose Holzplatte war nicht besonders breit und Frodo hatte schon gefürchtet, dass ihm dieser vermeintliche Eingang zu einem weiteren Geheimgang nichts nutzen würde, als ihm aufgefallen war, dass der Hohlraum sich über die gesamte Bibliothek erstreckte - zumindest über die lose Diele und jene in ihrer unmittelbaren Umgebung, jenen Teil, den er mit dem spärlichen Licht einer Kerze beleuchten und mit seiner Hand ertasten hatte können. An eben jene Holzplatte hatte er am vergangenen Abend gedacht. Der Hohlraum darunter erschien ihm das beste Versteck für sein Tagebuch. Niemand würde es hier vermuten und keiner würde sich Gedanken machen, wenn er ab und an in der Bibliothek verschwand, tat er dies schließlich häufig. Hier würde er auch ungestört schreiben können, denn auf dem Tisch standen bereits eine Feder und die dazugehörigen Tintenfässchen, eigentlich dazu gedacht, einem eifrigen Leser die Möglichkeit zu bieten, sich wichtige Dinge zu notieren. Frodo erinnerte sich daran, dass seine Großmutter bisweilen Gebrauch davon gemacht hatte, wenn sie in einem der älteren Bücher über das Auenland Notizen zu irgendwelchen Kräutern gefunden hatte. Hier wäre sein Tagebuch wohl aufgehoben, er würde wieder die nötige Ruhe haben, um seine Einträge zu schreiben und Merry würde sich keine Sorgen mehr machen.
Er wandte sich versichernd um. Nichts rührte sich in der Dunkelheit, nicht einmal das sanfte Licht der Kerze wurde durch einen verirrten Windhauch gestört wie es manchmal der Fall war. Unwillkürlich schloss Frodo seine Finger fester um das Bündel, während er sich hinkniete und mit seiner linken Hand den Boden abtastete. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er die lose Diele fand, das Bündel schließlich zur Seite legte und die Holzplatte vorsichtig löste. Ein leises Knarren hallte durch den Raum, ließ Frodo erschrocken zusammenzucken. Wieder wandte er sich um, sah sich beinahe ängstlich in der Bibliothek um, doch war nichts zu erkennen, außer dem schwachen Licht der Kerze. Das Küchentuch, das er zuvor aus dem Stapel frisch gewaschener Wäsche hatte mitgehen lassen, zurückschlagend, holte er tief Luft und offenbarte sein Tagebuch. Schweigend betrachtete er es, die Stirn sorgenvoll in Falten gelegt. Eine unbestimmte Angst bemächtigte sich seiner und immer wieder blickte er sich um, als fürchte er, erwischt zu werden. Die kühle Luft der Bibliothek machte ihn frösteln und er schloss für einen Augenblick die Augen. Er hatte Angst davor, sein Tagebuch hier zurückzulassen, unbewacht und in einem Raum, in dem er nicht halb so oft war, wie in seinem Zimmer. Ein Raum, zu dem jeder freien Zugang hatte. Frodo glaubte nicht, dass jemand von der losen Diele wusste, hatte er sie schließlich selbst nur durch Zufall entdeckt, doch was, wenn dem nicht so war? Was, wenn er eines Tages her kam und sein Tagebuch verschwunden war? Wieder wanderten seine Augen durch den Raum, während seine Hand Besitz ergreifend auf dem Buch ruhte. Plötzliche Zweifel schlichen sich in sein Herz. Jeder konnte hierher kommen und niemand würde Verdacht schöpfen, verließ er das Zimmer mit einem Buch in der Hand. Wollte er sein Tagebuch wirklich hier aufbewahren, unbewacht? Frodo schüttelte den Kopf. Er musste es hier verstecken, denn einen sichereren Ort gab es nicht. Früher oder später würde Merrys Neugier über seine Vernunft siegen und er würde darin lesen, wenn es weiterhin in seinem Nachttisch ruhte. Jene Einträge waren für keine Augen, außer für seine eigenen, bestimmt, denn sollte sie dennoch ein anderer zu Gesicht bekommen, wäre der daraus resultierende Ärger groß. Das Tagebuch musste hier bleiben, oder vernichtet werden. Der Gedanke, sein Buch zu verbrennen, war Frodo schon einmal gekommen. Auch das war ihm anfangs als eine gute Lösung erschienen. Es gehörte sich für einen Jungen nicht, Tagebuch zu schreiben und mit der Vernichtung desselben hätte er zwei Probleme auf einmal beseitigt. Niemand konnte mehr darin lesen und die anderen hatten einen Grund weniger, ihn als anders, als verrückt zu bezeichnen. Doch diese Tat hätte er niemals über sein Herz gebracht. Sein Tagebuch war ihm beinahe ebenso wichtig wie das Bild seiner Eltern. Es war ein Teil von ihm. Er konnte über seine Sorgen nicht sprechen, seinen Gedanken nicht entfliehen, doch er vermochte sie niederzuschreiben und seinen eigenen Schmerz dadurch zu lindern, selbst wenn er nicht vergessen konnte. Das Tagebuch musste hier bleiben. Entschlossen, doch nicht völlig angstfrei wickelte er es wieder in das Tuch und legte es behutsam in den Hohlraum unter der Diele. Beinahe zufrieden betrachtete er sein Werk, versicherte sich erneut, dass das Buch hier gut aufgehoben war, sah sich ein letztes Mal um und legte die Diele wieder an ihren Platz, ehe er sich erhob und sich den Staub von den Hosen klopfte. Erleichtert atmete er auf, auch wenn er das konstante Pochen seines Herzens deutlich spüren konnte. Besorgt trat er einige Schritte zurück, den Blick sorgenvoll auf dem Fußboden ruhend. Nichts deutete darauf hin, dass hier eben noch eine Platte gelöst gewesen war und das beruhigte ihn. Er hatte sich ein gutes Versteck ausgesucht.
Ohne erneut zurückzublicken, wandte er sich schließlich um, ging raschen Schrittes am Regal entlang, nahm die Kerze vom Tisch und ging zur Tür. Vom schwachen Licht einer Wandlampe willkommen geheißen, pustete er die Kerze aus und stellte den Halter auf das dafür vorgesehene Regal. "Ich hätte auch gleich darauf kommen können, in der Bibliothek nachzusehen als du nicht draußen warst. Das hätte mir eine lange Suche erspart." Frodo lächelte in sich hinein, den Blick nicht von der Wand nehmend. Niemand war zu sehen, doch er wusste, dass sie sich hinter der Biegung im Schatten versteckt hielt, vermutlich hoffend, ihn durch ihre, wenn auch sanft gesprochenen Worte, zu erschrecken. Wenn dem so war, sollten ihre eigenen Waffen sie nun zur Strecke bringen. So leise es ihm möglich war, schlich er sich an der Wand entlang und gerade als er um die Biegung spähte, sagte er: "Du hättest es wissen müssen, hast du sie schließlich selbst als meinen Lieblingsplatz erkannt." Nelke sog scharf die Luft ein, wich erschrocken einen Schritt zurück, die rechte Hand überrascht auf ihrer Brust ruhend. "Du Dummkopf!" schimpfte sie, was Frodo ein siegreiches Grinsen entlockte. "Bist du des Wahnsinns, mich so zu erschrecken?!" Er sah sie beinahe beleidigt an, nicht ohne den goldenen Schimmer der Lampe in ihrem offen getragenen Haar zu bemerken. Mit einem sehr selbstzufriedenen Grinsen ging er an ihr vorüber, angestrengt darum bemüht, das Kribbeln, das ihr Anblick hervorrief, nicht zu beachten. "Nicht weniger wahnsinnig, als du", bemerkte er dann, "schließlich wolltest du mich zuerst erschrecken." Nelke sah ihm entrüstet hinterher und auch wenn er sich nicht zu ihr umdrehte, konnte er ihren Blick auf sich spüren und es erfüllte ihn mit einer heimlichen Freude, sie ärgern zu können. Die Sorge um sein Tagebuch hatte er schon fast wieder vergessen. Sein Lächeln verschwand jedoch, als sich das Mädchen plötzlich bei ihm einhakte, sich verschwörerisch den Zeigefinger an die Lippen legte und ihn mit einem hinterlistigen Lächeln bedachte, das ihn nicht wenig an Marroc erinnerte. Verwundert runzelte er die Stirn, doch noch sie reagierte nicht darauf, ergriff stattdessen seine Hand und eilte raschen Schrittes durch einen der hinteren und wenig benutzten Gänge in jenen, in dem ihr Zimmer lag. Sie begegnetem niemandem, was Frodo erleichterte, denn so aufgeregt und neugierig ihn ihre Heimlichtuerei auch machte, so unbehaglich ließ sie ihn werden. "Was hast du vor?", fragte er mit leisem Ton und entzog ihr seine Hand, kaum dass sich ihm eine Möglichkeit dazu bot. Sie standen vor ihrer Zimmertür und Nelke blickte sich erst verschwörerisch nach beiden Seiten um, ehe sie vorsichtig in das Zimmer spähte. Ohne seine Frage zu beachten, sprang sie hinein und zog ihn mit sich. Frodo war gar nicht erst dazu gekommen, sich seiner Lage klar zu werden und sich ebenfalls umzublicken, als sich seine Hand erneut in der ihren wieder fand. Die zarte Berührung wärmte seine kalten, noch immer mit einer dünnen Staubschicht bedeckten Finger. Mit einem erfreuten Lächeln, das Frodo mehr in ihrer Stimme hörte als dass er es sah, wandte sich Nelke zu ihm um. "Der erste Teil wäre geschafft." Dieses Mal war sie es, die ihre Finger von den seinen gleiten ließ und er ertappte sich dabei, wie er ihre Hand für einen Augenblick festhielt, plötzlich Gefallen daran findend. Nelke verharrte reglos, ihre Haltung eine aufgeregter Überraschung, die ihm das Blut zu Kopfe steigen ließ. Rot bis zu den Ohrenspitzen zog er seine Hand eiligst zurück, im Stillen dankbar, dass der Raum dunkel war und nur ein blasser, kaum Licht spendender Schein durch den Spalt unter der Tür hereindrang. Das Kribbeln in seinem Bauch ließ sich nicht länger verschweigen. Es kam einer wohligen Wärme gleich, die sich wie eine knisternde Flamme in seinem Innern ausbreitete. Frodo ließ seinen Blick heimlich zu Nelke wandern, die die Lampe auf ihrem Nachttisch entzündete. Ein leises Zischen war zu hören, als das Streichholz Feuer fing und ein schwacher, rötlicher Lichtschein für einen Augenblick ihr Gesicht erhellte. Wie nicht selten zuvor, fiel ihm die Schönheit auf, die in ihren Zügen lag und er wandte erschrocken den Blick ab, als er sich dessen bewusst wurde und sie sich lächelnd zu ihm umdrehte. Seine Wangen glühten, seine Atmung zitterte. Was war nur mit ihm los? Es schien ihm, als hätte Nelke eine geheimnisvolle Macht über ihn. Nur sie konnte ihn so verlegen machen. Nur ihr Anblick ließ ihm das Herz vor Aufregung bis zum Hals schlagen. Dabei gab es nicht einmal einen Grund, aufgeregt zu sein und auch keinen, seine Hand länger in der ihren ruhen lassen zu wollen. Was dachte er sich überhaupt dabei?
"Frodo ist verliebt!" Pippins Gekicher in seinen Ohren, riss er die Augen auf. Sein Vetter hatte ihn mit seiner Aussage necken wollen, doch was, wenn er im Recht war? War er verliebt? Unwillkürlich schüttelte Frodo den Kopf. Nelke war eine Freundin und er konnte unmöglich in sie verliebt sein.
"Frodo?" Er war nicht überrascht, als er erkannte, dass Nelke nun wieder vor ihm stand, den Kopf fragend zur Seite gelegt, die Brauen verwirrt zusammengezogen. "Ist alles in Ordnung?" Ein zaghaftes Lächeln huschte über seine Züge und er nickte eiligst. "Komm mit", sagte sie dann und kniete sich hinter ihrem Bett auf den Boden, um den Gang, der hinter der kleinen Tür mit dem Messingknauf verborgen lag, zu betreten. Seiner Lage plötzlich bewusst, blickte Frodo sich unruhig um. Er war in Reginards Zimmer und, anders als Marroc, der in diesem Frühjahr seine ersten Lehrtage als zukünftiger Stallbursche des Brandyschlosses angetreten hatte und ihm nicht mehr allzu schnell zu nahe kommen würde, konnte Nelkes Bruder jederzeit in sein Zimmer treten. Frodo schluckte schwer, ließ seinen Blick beunruhigt zur Tür wandern, als befürchte er, Reginard stünde bereits dahinter. Mit klopfendem Herzen beeilte er sich, hinter Nelke her zu kriechen. Wie schon beim ersten Mal wurde das Rascheln von ihren Röcken zu seinem ständigen Begleiter, während der Schein der Lampe vor ihm jede Ecke des niedrigen Ganges ausleuchtete, bis sie schließlich den kleinen Raum erreichten und es sich auf der ausgebreiteten Decke gemütlich machen konnten. Frodo blickte sich staunend um. Das Licht der Lampe tauchte die Wände in einen goldgelben Schimmer, ließ lange Schatten daran tanzen. Die Faszination, die dieser Ort auf ihn ausübte, war auch bei seinem zweiten Besuch nicht weniger geworden, auch wenn sich seither nichts verändert hatte. Ein Gefühl von Abenteuer schien dem Raum beizuwohnen und Frodo konnte es sich nur mit Mühe verkneifen, Nelke mit einer neuerlichen Geschichte über den geheimen Gang zu einem Drachenhort zu ärgern. Ein Kribbeln in seinem Nacken gebot ihm sich umzuwenden. Das Mädchen musterte ihn eingehend, ein Lächeln auf ihren Zügen und ein freudiger Glanz in den grünen Augen. Sie war glücklich und eh Frodo wusste, wie ihm geschah, ging ihr Entzücken auf ihn über und er konnte nicht anders als ihr Lächeln zu erwidern, wenn auch nur zaghaft und mit verlegen niedergeschlagenen Augen.
"Du magst sie auch, nicht wahr?" Hannas Worte hallten plötzlich in seinen Ohren. Jene Unterhaltung vor fast einem Jahr hatte er vergessen geglaubt. Damals hatte er Hanna nicht ganz glauben können, war sich seiner Empfindungen zu unsicher gewesen, doch nun wurde ihm plötzlich klar, dass er Nelke nicht nur mochte, sondern sie sogar sehr gern hatte. Nach Merry schätzte er sie am meisten, wenn auch auf eine etwas andere Art, denn schließlich war sie ein Mädchen und besaß diese geheimnisvolle Macht über ihn. "Frodo ist verliebt!" Er schüttelte den Gedanken vehement ab. "Was hast du vor?", fragte er stattdessen noch einmal. "Weshalb bin ich hier?" Nun war es an Nelke, den Blick abzuwenden und selbst im schwachen Licht der Lampe, glaubte Frodo erkennen zu können, wie sich ihre Wangen röteten. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, so als wisse er nicht, ob ihre Verlegenheit Unbehagen oder ein schadenfrohes Lächeln hervorrufen sollte. Verwirrt legte er den Kopf schief, betrachtete sie eingehend, ohne zu wissen, was er noch sagen sollte, denn immerhin war sie es, die ihn hierher gebracht hatte. "Ich wollte reden", sagte sie plötzlich und hob zaghaft den Kopf. Jene Aussage genügte, um einen Pfeil der Anspannung durch Frodos Körper zu senden und jegliches Kribbeln durch Misstrauen zu ersetzen. Seine Augen verengten sich, doch er bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. Sie wollte reden. Er wusste nicht worüber und deshalb gab es auch keinen Grund, unruhig zu werden. Sie wollte nur reden, weder über ihn, noch über Bilbo. Dies war keines der problematischen Gespräche, die Saradoc und Esmeralda häufig zu führen versuchten, sondern eine Unterhaltung mit Nelke, nicht schlimmer als jedes ernste Gespräch mit Merry. Vielleicht war sie nicht so glücklich wie es den Anschein hatte und wollte nun ihre Sorgen mit ihm teilen. Er war gerne bereit, ihr den nötigen Trost zu spenden. "Ich wollte über dein Zimmer sprechen." "Über mein…", Frodo legte verwundert die Stirn in Falten. "Warum denn das?" Sie zuckte mit den Schultern, sah ihn mit einem Ausdruck verwirrter Entschuldigung an und brachte ein kaum sichtbares Lächeln zustande. Jegliche Anspannung wich aus seinem Körper, während er ihr Gesicht betrachtete als wäre es das einer Fremden. Er verstand sie nicht, wusste nicht, worauf sie mit ihrer Aussage hinaus wollte. Hatte sie ihn am Ende nur hierher gebracht, um ihn zu ärgern? Nelke war es, die das unangenehme Schweigen, das zwischen ihnen aufgekommen war, zuerst brach. Sie war auf ihren Knien gesessen, hatte sich nun jedoch zur Seite gleiten und ihre Füße unter ihren Röcken verschwinden lassen. "Ich wollte wissen wie es dir gefällt, dein Zimmer zu teilen, denn schließlich hast du zuvor alleine gelebt", sagte sie schließlich, ohne den geringsten Hauch von Verwirrung, der sich zuvor noch auf ihrem Gesicht abgezeichnet hatte. "Das letzte Mal hast du dein Zimmer noch mit mir tauschen wollen, um nicht mehr alleine zu sein und ich habe mich gefragt, ob es jetzt besser ist, da du mit Merry zusammenlebst." Frodo konnte seine Überraschung über ihre Aussage kaum verbergen. Mit leicht geöffnetem Mund starrte er sie an. Er hatte ihr nicht zugetraut, dass sie über solche Dinge nachdachte. Dennoch ließen ihn ihre Worte schmunzeln bis er schließlich in leises Gekicher verfiel. "Dein Zimmer wollte ich doch nicht, weil du es mit deinem Bruder teilst, sondern wegen dem Geheimgang!" Er lachte, während er seinen Blick durch eben jenen wandern ließ. "Ich habe dir schon mehrmals gesagt, dass ich gerne alleine bin und auch mein Einzug bei Merry hat daran nichts geändert." Für einen Augenblick wirkte sie sowohl geknickt, als auch überrascht, ehe sie schließlich voller Überzeugung kundtat, dass er in diesem Fall wohl lieber in seinem alten Zimmer, als bei seinem Vetter leben würde.
Jene Worte schienen ihn wie einen Schlag zu treffen, denn er wandte den Blick von ihr ab und das Lachen war mit einem Mal aus seinem Gesicht verschwunden. Nelke beunruhigte das. Eigentlich hatte sie nur nach einer Ausrede gesucht, ihn mit sich hierher zu bringen und nicht damit gerechnet, auf ihre nicht ernst gemeinte Bemerkung eine solche Reaktion zu erhalten. In den letzten Monaten hatte sie geglaubt, Frodo wäre zunehmend glücklicher geworden, doch nun fragte sie sich, ob sie sich geirrt hatte. Mit besorgtem Ausdruck betrachtete sie den Jungen, dessen Gesicht schmeichelnd vom Licht der Kerze umspielt wurde. Sie wollte etwas sagen, doch als er den Kopf hob und ihre Blicke sich für einen kurzen Augenblick trafen, fand sie sich unfähig, den Mund zu öffnen. "Ich bin glücklich dort wo ich jetzt bin", ließ er sie wissen und die Ehrlichkeit in seinen Augen wurde durch seine leise Stimme nicht völlig bestätigt, "doch manchmal wünsche ich mir mein altes Zimmer zurück und die Ruhe, die mir dort vergönnt war."
Frodo wusste nicht, weshalb er ihr das sagte, doch eine plötzliche Welle des Vertrauens hatte es ihm aufgetragen und als er nun in ihre Augen blickte, wusste er, dass sie diese Worte für sich behalten würde. Ein zaghaftes Lächeln huschte über seine Züge. Nelke hatte tatsächlich Macht über ihn, brachte ihn nicht nur in Verlegenheit, sondern auch zum Ausplaudern seiner Gedanken. Nicht einmal Merry wusste davon und er würde sich hüten, seinem Vetter jemals davon zu berichten. Er hatte einen Teil seiner Ruhe zurück gewonnen, indem er sein Tagebuch in der Bibliothek versteckt hatte und das war alles, was er im Augenblick brauchte.
Nelke erwiderte sein Lächeln, überrascht und zugleich erleichtert über seine Worte. Ihr ganzes Leben hatte sie damit verbracht, ihn zu ärgern, auch wenn sie nach dem Tod seiner Eltern ab und an das Gefühl gehabt hatte, auf ihn aufpassen zu müssen. Sie hatte gehört, was die anderen sagten und Frodo verteidigt, wann immer sie den nötigen Mut dazu aufgebracht hatte. Schon damals war etwas an ihm gewesen, das sie nicht losgelassen hatte, auch nicht nachdem er sich nach dem Tod seiner Eltern verändert hatte und zurückgezogener geworden war. Seit ihrem Sieg am Mittjahrstag war ihr Interesse an Frodo noch gestiegen und sie hatte sich immer häufiger dabei ertappt, wie sie ihn heimlich beobachtete und sich schließlich eingestehen müssen, dass sie verliebt war. Sie wusste nicht, ob es Frodo ebenso ging und hatte ihn hierher gebracht, um eben dies zu erfahren. Er mochte sie, dessen war sie sich bewusst, doch… "Wie sehr magst du mich?" Frodos Augen weiteten sich, sein Ausdruck eine Mischung aus Überraschung, Verwunderung und purer Erschütterung. "Ich…", stotterte er hilflos und wandte verlegen den Blick, der zuvor nicht von ihrem Gesicht gewichen war, von ihr ab.
"Frodo ist verliebt!" Das Kribbeln war mit einem Mal wieder da und er spürte, wie seine Wangen sich röteten. Das Herz klopfte ihm plötzlich bis zum Hals, als eine aufgeregte Neugier ihn erfüllte. Wusste sie bereits, wie sehr er sie mochte und wie froh es ihn stimmte, wenn er mit ihr zusammen sein konnte, auch wenn er sie das nicht wissen ließ? Hatte Pippin schon damals gesehen, was er selbst jetzt noch für beinahe unmöglich hielt? Aus den Augenwinkeln sah er, wie Nelke sich bewegte und nur einen Augenblick später spürte er das Kitzeln einer Haarsträhne, die ihr nach vor gerutscht war, an seinem Hals und ihre Lippen auf seiner Wange. Die Flämmchen in seinem Bauch vereinten sich zu einer großen Flamme, die ihre Wärme und ihr Knistern durch seinen ganzen Körper sandte und ihn aufgeregt die Luft anhalten ließ. Er fühlte sich unfähig, sich zu rühren. Freudige Überraschung erfüllte ihn, versetzte jede Faser seines Körpers in Aufregung. "Ich mag dich nämlich sehr", hörte er Nelke flüstern.
Sie hatte sich nicht zurückhalten können. Etwas in ihr hatte seine Reaktion gedeutet, noch ehe sie sich dessen bewusst geworden war und ein zaghafter Kuss auf die Wange erschien ihr die beste Antwort darauf. Außer ihrem Bruder hatte sie noch keinen anderen Jungen geküsst und selbst dieser war schon viele Jahre lang nicht mehr in den Genuss eines Gute-Nacht-Kusses gekommen. Sie schluckte, während sie seine Augen fragend auf ihm ruhend ließ. Frodo rührte sich nicht und das ließ sie unsicher werden, bis sie fast davon überzeugt war, einen Fehler begangen zu haben. Sie hatte es geschafft, Frodo zum Freund zu gewinnen und nun küsste sie ihn, ohne überhaupt zu wissen, ob ihm das recht war. Verlegen ließ sie ihren Blick von einer Ecke in die andere wandern, darum bemüht, Frodo nicht anzusehen. Sie fürchtete seine Reaktion, war beinahe froh, dass er nicht geantwortet hatte, doch zugleich konnte sie es kaum erwarten, dass er aus seiner scheinbaren Erstarrung erwachte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Pippin hatte Recht gehabt und Hanna hatte es gewusst. Er war verliebt. Ein Grinsen stahl sich über seine Lippen. Jetzt war er sich sicher: das Kribbeln war alles andere als unangenehm und hatte ihm schon seit langer Zeit verständlich machen wollen, was ihm erst jetzt klar wurde. Er war verliebt. Aufgeregt nahm er einen Atemzug, während seine Hand zögernd über jene Stelle strich, wo eben noch ihre Lippen geruht hatten. Die Haut war warm, doch schien sie unverändert. Er konnte das Blut in seinen Ohren Rauschen hören, ebenso, wie das Pochen seines Herzens. Seine Gedanken waren wirr und er glaubte, Tage zu benötigen, bis er sie wieder geordnet hatte, doch vergingen nur wenige Momente, ehe er mit zitternder Stimme gestand: "Ich habe dich auch sehr gern." Überrascht hob Nelke den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Ihre Augen schienen im Licht der Lampe zu schimmern. Verlegen strich sie sich eine Haarsträhne zurück, lächelte zaghaft. Frodo konnte den Blick nicht von ihr nehmen und in all der Zeit, wurde sein Lächeln noch breiter. Er hatte nicht vorgehabt, jemals eine feste Freundin zu haben, doch jetzt, da er eine hatte, störte ihn das nicht. Nelke war bestimmt eine gute Freundin und er würde sich auch bemühen, dasselbe für sie zu sein, auch wenn er nicht wusste, was einen guten Freund ausmachte. Im Augenblick störte ihn das jedoch wenig und es hätte ihm genügt, sie für den Rest des Tages anzusehen.
~*~*~
Zwei Wochen waren seit jener Erkenntnis im Geheimgang vergangen. Die ersten Vorbereitungen für die Lithe-Tage hatten bereits begonnen, doch noch schien die Zeit des Feierns fern und der Herr von Bockland war vollends mit der Heuernte beschäftigt. Frodo und Merry waren dieser beschwerlichen Arbeit nur knapp entkommen, indem sie sich freiwillig dazu gemeldet hatten, die Schafe zu hüten. Da die Weiden unweit des Brandyschlosses bereits von den vielen Nutztieren des Herrn abgefressen oder abgemäht worden waren, mussten Frodo und Merry die Schafe auf eine Wiese weit im Süden führen. Es war nicht immer leicht, die Mutterschafe und ihre Lämmer beisammen zu halten, doch die beiden Hobbits hatten inzwischen viel Erfahrung und meisterten diese Aufgabe mit Leichtigkeit.
Die Sonne lachte warm vom Himmel, als Frodo sich im Schatten einer Buche niederließ und sich einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche gönnte. Merry wischte sich erschöpft den Schweiß von der Stirn und lehnte sich an den kräftigen Stamm des Baumes, um müde die Augen zu schließen. "Solche Schwäche schon am frühen Morgen?", gab Frodo zu bedenken, obwohl von früh längst nicht mehr die Rede sein konnte, war es doch schon fast Zeit für den Elf-Uhr-Imbiss. "Ich bin enttäuscht." Er kicherte in sich hinein, während er seine heruntergerutschten Ärmel wieder hoch krempelte und sich der Länge nach im Gras ausstreckte. Der Duft von abgemähten Wiesen mischte sich mit dem der Schafe und stieg ihm in die Nase, bis ein Stück Stoff auf seinem Gesicht landete und er die eben noch entspannt geschlossenen Augen erschrocken aufschlug. Merry hatte sich seines Hemdes entledigt und ihm dieses trotzig angeworfen. "Wenn du glaubst, um so vieles ausdauernder und wacher zu sein, darfst du dich gerne um unser Essen kümmern, anstatt hier faul in der Sonne zu liegen", ließ sein Vetter ihn frech wissen, während er zu ihren Rucksäcken nickte und sich gemütlicher an den Stamm lehnte. Frodo gähnte herzhaft, warf Merrys Hemd zur Seite und legte die Hände hinter den Kopf. "Später", tat er kund, denn der Schatten und das kühle Gras waren nach dem anstrengenden Marsch eine Verlockung, der er gerne nachgab. Merrys Zeh berührte ihn am Kopf, ließ Frodo gestört murren, was seinen Vetter zum Kichern brachte. "Wer selbst zu faul zum Essen ist, soll hungrig bleiben", meinte dieser erheitert, ehe er nach seinem Rucksack langte und sich ein Brot herausfischte, das er genüsslich und geräuschvoll verzehrte, zweifellos, um Frodo zu ärgern.
Frodo ließ sich davon jedoch nicht stören, sondern hing seinen Gedanken nach. In den letzten Tagen hatte er sich häufig mit Nelke getroffen, war beim Kartenspielen unauffällig näher an sie herangerutscht, oder hatte ihre Hand gehalten, wenn keiner hinsah. Jene Hand mit der weichen, blassen Haut, die die Seine in einer solch warmen Berührung umklammert hielt. Die Berührung ihrer Hand war jedoch nichts im Vergleich zu der Sanftheit ihrer Lippen. Nelke hatte ihn nur dieses eine Mal auf die Wange geküsst und alleine die Erinnerung daran ließ ihn erröten. Obwohl er diesen Augenblick genossen hatte, war er froh, dass sie das nicht noch einmal wiederholt hatte. Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Natürlich hatte er schon häufig gesehen, wie ein Paar einen Kuss getauscht hatte, nicht zuletzt seine Eltern, doch hatte es nie zu den Dingen gehört, die er selbst tun wollte, erst recht nicht das, was die Tweens beizeiten taten. Die Art wie ihre Lippen sich fanden, empfand er beinahe als widerlich und er war fest entschlossen, seine Lippen niemals in solch einen Kuss zu verwickeln.
"Was geht eigentlich zwischen dir und Nelke vor?" Frodo schlug überrascht die Augen auf und konnte ein ertapptes nach Luft schnappen gerade noch verhindern. Merry hatte sich unbemerkt auf den Bauch gelegt und stützte seine Hände nun neben seinem Kopf ab, während er die Augen neugierig auf ihm ruhen ließ. "Nichts", beeilte sich Frodo zu sagen, doch musste er mit Grauen feststellen, dass sich ein wissendes Grinsen auf Merrys Gesicht abzeichnete.
Merry waren die Blicke, die Nelke und sein Vetter tauschten, nicht entgangen. In den vergangenen Tagen war dies noch häufiger der Fall gewesen, als in den Monaten zuvor. Etwas war in Gange, von dem er noch nicht wusste, doch er war fest entschlossen, dies herauszufinden und er würde nicht eher Ruhe geben, bis Frodo ihm alles erzählt hatte. "Dann hat also nichts sie gestern Abend nach deiner Hand tasten lassen?" Frodos Wangen färbten sich dunkler und für einen kurzen Augenblick schien er darauf keine Erklärung zu wissen, was Merry ungemein verzückte. Er konnte die Aufregung seines Vetters förmlich in dessen Augen erkennen, als dieser sich aufzurappeln suchte und sich schließlich mit den Ellbogen vom Gras abstützte. Einige Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch das Blätterdach gefunden hatten, ließen verspielte Lichtpunkte über seinen Körper tanzen, verliehen den dunklen Locken hier und da einen hellen Schimmer. Frodo spürte, wie sein Mund trocken wurde und sein Herz zu pochen begann. Wusste Merry etwa auch schon davon? War seine Nähe zu Nelke denn so offensichtlich? Angespannt dachte er an die vergangenen Tage und kam zu dem Schluss, dass er Nelke zwar häufig getroffen hatte - im Wohnzimmer, im Garten oder beim Kartenspiel - aber selten mit ihr alleine gewesen war. Merry mochte vieles erkennen, doch über seine neu gefundene Liebe hatte er bestimmt nichts in Erfahrung bringen können. Dennoch fürchtete er, dass seine Stimme zittern würde, wenn er antwortete und war beinahe überrascht, als dem nicht so war und seine Worte stattdessen gleichgültig und fast ein wenig verwundert klangen. "Was Nelke mit ihren Händen macht, kann mir gleich sein." Er hätte nicht weiter sprechen sollen, doch die Worte, weshalb ihn das interessieren sollte, waren aus seinem Mund getreten, noch ehe er es hatte verhindern können. Merrys Augen blitzten mit plötzlicher Erkenntnis und Frodo hätte sich fast auf die Lippen gebissen, als ihn die Ahnung, durchschaut zu sein, beschlich. Er hielt den Blick seines Vetters fest, doch was sich in dessen grinsendem Gesicht abzeichnete, gefiel ihm nicht. Er war erwischt worden! Merry hatte ihn ertappt! Konnte er denn nicht einmal so etwas für sich behalten? War er so leicht zu durchschauen?
"Sag mir nicht, dass du dich in sie verliebt hast!" Merry brachte es fertig, seine Stimme entrüstet, überrascht und erheitert zugleich klingen zu lassen und Frodo wandte geschlagen den Blick ab. "Nelke?!" rief Merry aus, unfähig, sich länger liegend mit seinem Vetter zu unterhalten, sodass er sich in eine sitzende Position aufrappelte. Er hatte etwas in dieser Art befürchtet, doch nicht geglaubt, dass es tatsächlich eintreffen würde. Nelke war immerhin eines der lästigsten Mädchen, das er kannte und noch dazu Marrocs Cousine und Reginards Schwester. "Sie ist eine Nervensäge!" Frodo ließ sich zurück ins Gras sinken. Er hatte verhindern wollen, dass Merry es erfuhr, zumindest vorerst, doch offensichtlich war ihm das nicht gelungen. Merry würde ihn nun Tag und Nacht damit necken, ihm keine Ruhe mehr lassen. Wenn er Pech hatte, würde sein Vetter Nelke ebenfalls ärgern. Es war bereits zu spät, etwas anderes zu behaupten und er musste das Beste daraus machen. Merry war schließlich nicht dumm und wenn er ihm seine Gründe erklärte, würde er ihn vielleicht sogar verstehen. Dass dieser Fall eintraf, glaubte er jedoch nicht wirklich, verstand er es schließlich selbst noch nicht ganz, doch er konnte es versuchen und an Merrys Freundschaft appellieren, in der Hoffnung, er würde sich zumindest ein wenig zurückhalten und nicht sofort das ganze Brandyschloss in die Neuigkeit einweihen, wie es Pippin zweifelsohne tun würde. "Sie ist eine liebenswerte Nervensäge", versuchte er, das Mädchen zu verteidigen und blickte sowohl hoffnungsvoll als auch entschuldigend zu seinem Vetter auf. Merry verdrehte die Augen. "Wenn du dich schon verlieben musst, warum dann nicht in ein vernünftiges Mädchen wie… wie…", er warf die Hände in die Luft, plötzlich bemerkend, dass es keine vernünftigen Mädchen gab. Seine laute, entrüstete Stimme brach, wurde zu einer leisen, verzweifelten. "Warum musst du dich überhaupt verlieben?" Frodo zuckte mit den Schultern, einen ahnungslosen Ausdruck im Gesicht.
Kopfschüttelnd ließ sich Merry neben seinem Vetter ins Gras fallen, legte den Kopf auf dessen Brust und ließ den Blick auf der Baumkrone ruhen. Er wollte Frodo nicht verlieren, nicht an Nelke. Was fand er überhaupt an ihr? Vor einem Jahr hatte er schließlich noch gejammert, als er sie zur Spielpartnerin bekommen hatte und nun war er der Ansicht, sie zu lieben? Konnte das überhaupt sein? Er seufzte schwer.
Frodo runzelte die Stirn. Merrys Reaktion war nicht die, die er erwartet hatte und für einen Augenblick fragte er sich, ob er sich darüber freuen oder besorgt sein sollte. Als Merry laut aufseufzte, entschied er sich für letzteres, legte die Stirn in Falten und versuchte, einen Blick auf seinen Vetter werfen zu können, was ihm nur schwer gelingen wollte. "Ist alles in Ordnung?", wollte er wissen. Merry entgegnete nichts, schien mit einem Mal erzürnt und betrübt, als hätte er soeben die schlimmste Nachricht seit langem erhalten. Für einen Augenblick schloss Frodo bekümmert die Augen. Es schmerzte ihn, dass sein Glück Merry traurig stimmte. "Ist das denn so schlimm?"
Enttäuscht, dass sein Vetter nicht länger der war, der ihm zur Seite stand, wenn es darum ging, die Mädchen zu ärgern, war Merry nicht gewillt, ihm zu antworten. Eine Weile blickte er stur zum Himmel, bis ihm klar wurde, dass er keinen Grund hatte, auf Frodo wütend zu sein, denn schließlich hatte sein Vetter ihm soeben sein neustes Geheimnis offenbart, wenn auch nicht ganz freiwillig. Zwar konnte er nicht verstehen, weshalb Frodo seine Meinung über Mädchen geändert hatte, und noch weniger was er an einem Mädchen wie Nelke fand, doch übel nehmen konnte er es ihm auch nicht. Frodo war nun einmal Frodo und auch wenn ihm vieles an seinem Vetter unverständlich erschien, war und blieb er doch sein bester Freund. Er nahm einen tiefen Atemzug der frischen Luft, während sich ein Lächeln über seine Lippen stahl. "Nein, das ist es nicht."
Kapitel 65: Neues Glück und alte Sorgen
Anfang Wedmath 1387 AZ
Ein freundlicher Sommer zog ins Land. Regen und Sonne wechselten sich ab, sodass es nicht zu unangenehmer Hitze kam und eine reiche Ernte gesichert war. Für Frodo war es ein anstrengender Sommer, denn er musste fleißig bei der Feldarbeit mithelfen oder bei der Heuernte zur Hand gehen, doch das machte ihm nichts aus. Sein Herz war so leicht wie schon lange nicht mehr und ganz gleich, ob er seine Zeit nun mit Merry oder Nelke verbrachte, er war glücklich. Mit Nelke traf er sich jedoch nur selten allein, denn weder er, noch sie wollten, dass eines der anderen Kinder von ihrer engen Freundschaft erfuhr, denn beide wussten um das Gerede, das dann zweifelsohne aufkommen würde. Einzig Merry war darin eingeweiht und der behielt es für sich, auch wenn er es sich nicht nehmen ließ, Frodo manchmal am Abend damit aufzuziehen.
Silberschweif versuchte, nach Frodos Hand zu schnappen, als dieser ihm über die Nüstern strich. Es war ein sonniger, warmer Tag und der Duft von frisch abgemähtem Gras und Mohnblumen hing in der Luft. Frodo lächelte. Er war den ganzen Morgen bei der Heuernte behilflich gewesen und hatte sich nach dem Mittagessen einen Apfel gegönnt. Vermutlich lag der Geruch des Obstes noch auf seiner Hand und Silberschweif hoffte, einen Bissen davon zu ergattern. "Hier gibt es nichts für dich zu finden, mein Freund", meinte er, strich noch einmal über die Blesse, klopfte dem Tier dann den Hals und beobachtete, wie der Hengst über die Koppel galoppierte. Die Sonne brachte das silberschwarze Fell zum Schimmern und Frodo blickte dem Tier wie gebannt hinterher, legte schließlich die Arme auf den unteren der beiden Balken und ließ seinen Kopf darauf ruhen. Das Pony verkörperte für ihn die Freiheit, nach der er sich sehnte. Seit er sich dessen gewahr war, ritt er noch häufiger aus und bisher war es ihm fast immer gelungen, seine Sorgen und Gedanken hinter sich zu lassen. Silberschweif und seine schnellen Hufe hatten ihm dies ermöglicht und es gab kein Tier in den Ställen des Herrn, das Frodo mehr liebte, als den schwarzen Hengst, dessen Fell von silbernen Haaren durchzogen war. Ein leichter Wind kam auf, strich ihm sanft über den Nacken und Frodo schloss für einen kurzen Moment die Augen. Merry war bereits in den frühen Morgenstunden mit seinem Vater zum Brückengauer Markt geritten. Brückengau war eine Gegend nördlich der Großen Oststraße, dort, wo die Wässer in den Brandywein mündete. Der dortige Markt war einer der größten im ganzen Auenland, denn das Volk von Balgfurt und Weißfurchen tat sich zusammen, um mit einigen Händlern aus Stock und Froschmoorstetten ihre Waren anzupreisen. Merry war aufgeregt gewesen, seit Saradoc ihm mitteilte, dass er ihn begleiten durfte. Der Herr hoffte dort, wie jedes Jahr, zu erfahren, wie es in anderen Bereichen des Auenlandes, vor allem im Ostviertel, mit der Ernte voran ging und ob mit vollen Vorratskammern gerechnet werden konnte. Auch Frodo hätte mitkommen können, doch zog es ihn nicht auf einen Markt und selbst die Aussicht, dass er dort möglicherweise Fredegar Bolger treffen würde, änderte daran nichts. Er sah lieber einem Tag ohne seinen Vetter entgegen, an dem er ungestört ein wenig Zeit mit Nelke verbringen konnte, die er in der letzten Woche ausgesprochen selten gesehen hatte. Merry hatte dies enttäuscht und Frodo ahnte, dass sein Vetter genau wusste, dass Nelke der Grund für sein Daheimbleiben war. Zwar hatte Merry nichts gesagt, doch hatte er ihm jenen Blick geschenkt, den Frodo nicht recht zu deuten wusste, der jedoch immer häufiger in den Augen seines Vetters lag, wenn von Nelke die Rede war. Er dachte sich jedoch nichts weiter dabei, denn am Morgen schien er seine Entscheidung akzeptiert zu haben, da er ihn ohne ein weiteres Wort der Überredung verlassen hatte.
"Wie immer treffe ich dich nichts tuend an." Frodo verkniff sich ein Lächeln, als er die Stimme vernahm, die er zu hören gehofft hatte. Ohne sich umzuwenden bemerkte er spitz: "Wie immer erkennst du erst die Faulheit anderer, ehe du den Blick auf deine eigene richtest." Nelke lehnte sich mit einem verträumten Lächeln neben ihn an den Zaun, um ihre Augen auf den Ponys ruhen zu lassen. Eines wälzte sich im Gras, während zwei andere über die Koppel preschten, als veranstalteten sie ein Wettrennen. Frodo schielte zu ihr hinüber. Sie trug ein braunes Kleid über einer dünnen Bluse, deren Ärmel sie zurückgeschoben hatte. Das Haar hatte sie sich mit einer Spange hochgesteckt und nur eine einzelne Strähne hing ihr über die Ohren und umspielte ihr Kinn. Vor einem Jahr noch war er um einiges frecher gewesen und Nelke ebenso. Er fragte sich insgeheim, wie es dazu gekommen war, dass aus den Neckereien von damals eine Freundschaft wie die ihre geworden war. Nicht, dass er sie nicht noch immer manchmal ärgerte, doch das Gefühl, dass er nun empfand, war ein anderes. Früher hatte er seine Worte beizeiten durchaus ernst gemeint und der bloße Gedanke, mit Nelke zusammen sein zu müssen, hatte ihn mit Grauen und Abneigung erfüllt. Heute waren seine Worte jedoch nichts weiter als Mittel, sie zum Lachen zu bringen und ihr zu zeigen, dass er ihr in Sachen Frechheit noch immer in nichts nachstand. Manchmal, so wie jetzt, legte er es sogar darauf an, mit ihr alleine sein zu können, denn dann war das Kribbeln am stärksten und er konnte sich offen mit ihr unterhalten. "Ich habe gehört, du hast Merry und den Herrn nicht begleiten wollen." Frodo wandte sich ihr zu, ein verschmitztes Lächeln im Gesicht. "Märkte sind langweilig." Nelke nickte zustimmend, doch ihr Gesichtsausdruck gab klar zu verstehen, dass sie ihm kein Wort glaubte. Sie wusste, weshalb er hier geblieben war und auch wenn es sie mit einer überschwänglichen Freude erfüllte, hütete sie sich davor, den Grund auszusprechen. Frodo richtete sich auf, ließ seinen Blick zum Brandyschloss wandern, das am nördlichen Horizont aufragte. In der Ferne konnten sie einige Hobbits sehen, die noch immer mit dem Einsammeln der Heumahden beschäftigt waren. Manche schienen sich jedoch auf sie zu zu bewegen und Frodo entschied, dass es besser war, nicht länger hier zu bleiben. Das Gerede der Kinder würde schon schlimm genug sein, doch nichts im Vergleich zu dem der Erwachsenen. "Komm", sagte er schließlich und ergriff ihre Hand. Frodos Herz schlug schneller, als sich ein Lächeln über Nelkes Lippen legte und ihre Augen funkelten. Ihre Finger schlossen sich sanft um die seinen. Es kam selten vor, dass Frodo es war, der ihre Hand zuerst ergriff und es erfüllte ihn mit einer ungemeinen Freude, gemischt mit einem Hauch von Verlegenheit, dieses Mal vor ihr gehandelt zu haben.
Unweit der Koppel, verborgen im Schatten eines einzelnen Apfelbaumes, stand Reginard. Die dichten Locken seines kastanienbraunen Haares verbargen die dunklen Augen, die voller Missgunst auf Frodo ruhten. Wie konnte er es wagen, seiner Schwester so nahe zu kommen? Glaubte der Junge tatsächlich, er würde tatenlos zusehen und erlauben, dass er sich mit seiner Schwester traf? Reginard und sein Vetter waren sich in vielen Dingen uneins, doch ihre Meinung über Frodo war dieselbe, nur dass Marroc sich dieser Tatsache schneller gewahr geworden war als er. Nelke war zu gut für ein wimmerndes Muttersöhnchen wie ihn. Sobald sich ihm die Möglichkeit dazu bot, würde er sich selbst darum kümmern, dass Frodo ihr nicht noch einmal zu nahe kam, doch bis dahin hatte er andere Pläne für den Jammerlappen. Seine Augen verengten sich zu gefährlichen Schlitzen, folgten den beiden, bis er sie in der Ferne kaum noch erkennen konnte, ehe er sich schließlich umwandte und zum Brandyschloss zurückging.
"Viola und Rubinie sind mit einigen anderen am Fluss", erklärte Nelke, als Frodo plötzlich stehen blieb und sich zufrieden umsah. "Ich werde später noch zu ihnen müssen." Er wusste, dass sie nicht den ganzen Nachmittag miteinander verbringen konnten, doch zumindest für eine Weile würde sie ihm das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein. Ihm war klar, dass sie sich dessen nicht bewusst war, doch alleine dass sie seine Freundin war, ließ ihn so empfinden. Von allen Jungen in Bockland hatte sie sich für ihn entschieden, ohne dass er dafür etwas hätte tun oder sein müssen. Bilbos Liebe mochte er nicht verdienen und vielleicht verdiente er ihre ebenso wenig, doch Nelke ließ sie ihm dennoch zuteil werden und dafür war Frodo dankbar. "Es ist schön hier", sagte sie nach einer Weile und er lächelte zufrieden, während sie mit leuchtenden Augen um sich blickte. Sie hatten den Platz erreicht, an dem Drogo seinem Sohn einst versprochen hatte, mit ihm Pfeife zu rauchen, wenn dieser alt genug war. Die Erinnerung daran erfüllte Frodo mit Trübsinn, doch ließ er sich das Herz nicht schwer machen. Der Brandywein, auf dessen braunem Wasser sich das Licht der Sonne spiegelte, plätscherte nicht weit entfernt gemächlich dahin. Ein sanfter Wind wehte über die Hügel, brachte nicht nur das Gras, sondern auch Nelkes Haar und den Rock ihres braunen Kleides zum Tanzen. Kaum ein Geräusch war zu hören und nur gelegentlich drang das Zwitschern eines Vogels oder das Summen einer Biene an ihre Ohren. Um sie herum wölbten sich kleinere und größere Hügel empor, manche von ihnen mit roten Mohnblumen bedeckt. Sie waren auf einem schmalen Weg hierher gelangt, dessen östlicher Rand von einem Waldstück gesäumt war, doch hatten sie diesen inzwischen verlassen. "Ich komme gern hierher", ließ Frodo sie wissen und verzichtete darauf hinzuzufügen, dass er seit dem Tod seiner Eltern nur ein einziges Mal hier gewesen war, ganz gleich, wie häufig und gern er diese Gegend früher besucht hatte. Hierher war er mit seinem Vater gekommen, wenn er dessen Rat gebraucht oder dessen Nähe gesucht hatte. Seine Mutter hatte oft gelächelt und gescherzt, die beiden Beutlins wären zu sehr an Ruhe und Gemächlichkeit gewöhnt, die ihnen bei den aufgeweckten und fleißigen Brandybocks verwehrt blieben. Häufig hatte sie lachend kundgetan, Drogo hätte in die falsche Familie geheiratet, doch Frodo fand, dass sein Vater sich genau richtig entschieden hatte.
"Träumst du?" Frodo schreckte aus seinen Gedanken, als Nelke vor seinem Gesicht herumfuchtelte. Lächelnd schüttelte er den Kopf, doch Nelke winkte ab, seufzte und ließ sich ins Gras fallen. "Manchmal wünschte ich, ich könnte deine Gedanken lesen." Lachend legte sich Frodo neben sie hin, stützte sich mit dem linken Ellbogen ab, um sie ansehen zu können. "Glaub mir, so interessant sind sie nicht." "Ach nein? Und woran hast du gedacht?" Frodo betrachtete ihr fragendes Gesicht für einen Augenblick, rollte sich dann auf den Rücken und blickte zum Himmel. Nur wenige flauschigweiße Wolken störten das tiefe Blau. "Was glaubst du, liegt über den Wolken?" "Frodo Beutlin!" schimpfte sie und kniff ihn in die Seite. "Du weichst vom Thema ab!" "Ich weiß nicht, wovon du redest", lachte Frodo, zuckte zusammen und schob ihre Finger von sich weg, als sie ihn erneut kneifen wollte. Es dauerte einen Moment, bis er ihre Hände zu fassen bekam, doch wurde er sofort wieder ernst, als sie von einem weiteren Angriff absah. "Was meinst du, liegt darüber?" Nelke folgte schließlich seinem Blick und legte die linke Hand hinter den Kopf, während die Rechte auf ihrem Bauch ruhte. Lange Zeit herrschte Schweigen und Frodo konnte das leise Säuseln des Windes hören, während einzelne Grashalme seine Ohren kitzelten, bis Nelke plötzlich voller Überzeugung kundtat, dass es die Sterne wären. Frodo brach in schallendes Gelächter aus. "Natürlich!" rief er aus, als er glaubte, genug Luft zum Sprechen gefunden zu haben, wurde jedoch sofort von einem weiteren Lachanfall geschüttelt. "Und der Mond ist auf der anderen Seite der Sonne!" "Natürlich nicht!" ließ Nelke ihn gekränkt wissen und stieß ihn in die Seite. Als dies nichts an Frodos Gelächter änderte, kniff sie ihn erneut, ließ ihn dadurch überrascht zusammenzucken, doch lachte er noch immer. Beleidigt richtete sie sich auf, ein verschmitztes Grinsen auf ihren Zügen. Was glaubte er denn? Er könne sie Dinge fragen, zu denen er selbst keine Lösung wusste und dann ihre Antwort belächeln? Frodo wusste nicht, wie ihm geschah, als sie sich plötzlich auf ihn stürzte und ihn überall dort kitzelte, wo er sich gerade nicht zu schützen wusste. Er hatte alle Mühe, ihre Hände von ihrem kleinen Racheakt abzuhalten, doch nach einigem Gerangel bekam er schließlich ihre Handgelenke zu fassen. Nelke schmunzelte, während er sich die Lachtränen aus den Augen blinzelte und die letzten Gluckser zu verhindern suchte. "Wenn du so viel klüger bist, dann sag mir doch, was über den Wolken ist?", forderte Nelke ihn heraus und bedachte ihn mit einem überlegenen Blick, den Frodo zu ihrer Überraschung erwiderte. Offensichtlich sehr mit sich selbst zufrieden, ließ er von ihren Handgelenken ab, wischte sich schmunzelnd die Spuren seines Lachanfalles aus dem Gesicht und legte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zurück ins Gras. Sein Blick ruhte auf einer Wolke, die über ihm dahin zog und einen blassen, kaum sichtbaren Schatten über die Hügel gleiten ließ. "Ich weiß es nicht", gestand er dann mit einem Lächeln und nahm gerne in Kauf, dass er einem weiteren Kneifen von Nelke hilflos ausgeliefert war.
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Die Sonne stand bereits im Westen, als Marroc vier Heugabeln in der Scheune verstaute und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Seit dem Frühling stand er unter der Aufsicht von Merimac, Marmadas und vielen Stallburschen, die alle einen höheren Rang zu haben schienen als er, denn scheinbar war es jedem vergönnt, ihn herumzuordern. Er hatte lange damit gewartet, sich eine Lehrstelle zu suchen, und dass auch seine Eltern dieser Sache nicht nachgegangen waren, war ihm nur Recht gewesen. Doch als der Winter in den Frühling übergegangen war, hatte Saradoc mit seinem Vater gesprochen und ihm eingeredet, er müsse arbeiten. Der Herr war der Ansicht gewesen, dass er seine Kraft im Stall am sinnvollsten einsetzen konnte. Marroc selbst hielt von dieser Idee überhaupt nichts, und hätte sein Vater dies vorgeschlagen, hätte er sich aufgelehnt, doch gegen Saradocs Wort kam er nicht an, nicht in dieser Angelegenheit. Er hasste den Herrn dafür und war fest entschlossen, seine Arbeit schlecht zu machen, doch ständig war jemand an seiner Seite, trieb ihn zur Eile oder wies ihn zurecht, wenn er unordentlich wurde. Noch mehr als den Herrn von Bockland hasste Marroc die Ställe und jenen, dem er diese Arbeit zu verdanken hatte. Zweifelsohne war der Herr nur wegen dem kleinen Jammerlappen auf die Idee gekommen, ihn hier zur Arbeit zu verpflichten und Marroc konnte den Tag seiner Rache kaum abwarten. Frodo würde dafür bezahlen, dass er jetzt von allen die Arbeit aufgeladen bekam, für die sie zu faul waren.
Überrascht wandte er sich um, als er ein leises Zischen vernahm. Sein Vetter trat aus den Schatten hinter dem Heuboden und Marroc grüßte ihn mit einem Kopfnicken. Seit er nicht mehr dazu in der Lage war, immer wieder ein Auge auf Frodo zu werfen und so den richtigen Augenblick für seine Rache zu wählen, hatte er Reginard mit dieser Aufgabe betraut. Mit seiner Hilfe wollte Marroc einen Zeitpunkt wählen, an dem Frodo sowohl alleine, als auch leicht angreifbar war. Der heutige Tag war ihm dafür gut geeignet erschienen, denn der Sohn des Herrn, der wie eine Klette am Muttersöhnchen hing, war endlich fort. Doch er hatte Frodo nur morgens bei der Ernte beobachten können und es hatte ihn verärgert, dass ein zufriedenes Lächeln sein armseliges Gesicht geziert hatte. Anders als ihm, schien Frodo diese Schinderei auch noch Spaß zu machen und das hatte Marroc nur noch mehr Hass empfinden lassen. Sofort hatte er Reginard damit beauftragt, Frodo zu beobachten. Er würde seine Rache kriegen, und er würde sie heute bekommen. "Wo ist er?", zischte Marroc, während er die Gabeln an die Wand lehnte. Reginard blickte sich versichernd um, ein Anflug von Unruhe in seinem Ausdruck. Marroc war wegen Frodo schon häufig in Schwierigkeiten mit dem Herrn geraten, doch ihm schien das offensichtlich nichts auszumachen. Im Gegensatz zu seinem Vetter war Reginard jedoch nicht dazu bereit, sich wegen jemandem wie Frodo Ärger einzuhandeln und wollte dies, zumindest vorerst, Marroc überlassen. Sollte der Kleine seine Lektion dann noch immer nicht begriffen haben und seine Schwester weiterhin auch nur ansehen, würde ihm jedoch nichts anderes übrig bleiben, als ebenfalls einzugreifen. Und dann würde es nicht bei einer Drohung bleiben. "Heute Nachmittag ging er nach Süden", erklärte er. "Ich vermute, dass er sich irgendwo dort am Flussufer herumtreibt, denn bisher habe ich ihn nicht zurückkehren sehen." Den ganzen Nachmittag hatte er immer wieder nach Süden geblickt. Seine Schwester war zur Teezeit zurückgekehrt, um sich mit ihren Freundinnen am Fluss zu treffen, doch von Frodo fehlte jede Spur. Ein gemeines Grinsen zeigte sich auf den Zügen seines Vetters und Reginard war froh, dass er nicht Ziel dieser funkelnden Augen war. Früher war er es manchmal gewesen, der Opfer von Marrocs Zorn geworden war, doch hatte sich das geändert, seit dessen Hass auf Frodo zugenommen hatte. Da Frodo es war, der auch Ziel seiner eigenen Wut war, zumindest seit er es gewagt hatte, seine Schwester anzufassen, empfand Reginard kein Mitleid mit ihm, hätte Marroc auf seinem Rachefeldzug am liebsten begleitet und sei es nur, um zuzusehen, wie der Kleine um Gnade bettelte, wie er es scheinbar schon einmal getan hatte. "Ich werde mich um ihn kümmern", sagte Marroc schließlich und das Licht, das durch die Risse im Holz hereindrang, malte unheimliche Schatten auf sein Gesicht. Zufrieden klopfte der Ältere seinem Vetter auf die Schultern, ehe er in die Sonne hinaustrat, zumindest für heute verfrüht mit der Arbeit fertig.
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Frodo saß auf einem Stein am Ufer des Flusses und ließ die Füße baumeln. Nur kurz war er im Wasser gewesen, hatte den Fluss jedoch wieder verlassen, nachdem er nur zwei Schritte von dem Stein entfernt, auf dem er es sich nun gemütlich gemacht hatte, bis über dem Bauchnabel im Wasser gestanden war. Frodo mochte einen Großteil seiner Angst vor dem Fluss verloren haben, doch er war nicht gewillt, zu testen, wie tief er wohl im Wasser stehen würde, wenn er zwei weitere Schritte tat. So begnügte er sich damit, seine Füße abzukühlen, während er verträumt den Fluss beobachtete. Verspielt kräuselte sich das braune Nass um einen Felsen, der unweit seiner Uferseite aus dem Wasser ragte. Einige Wasserläufer bewegten sich mit ihren langen Beinen flink über den Fluss und Frodo fragte sich im Stillen, weshalb sie nicht untergingen. Die Sonne hatte ihren Weg nach Westen fortgesetzt und er würde bald aufbrechen müssen, wenn er nicht zu spät zum Abendessen kommen wollte. Doch Frodo war unwillig, diesen Ort zu verlassen, denn er genoss die Ruhe, die ihm hier zuteil wurde. Den ganzen Nachmittag hatte er mit Nelke hier verbracht, doch das Mädchen war schon lange zu ihren Freundinnen gegangen, hatte ihn alleine zurückgelassen, was ihn jedoch nicht störte. Er hatte diesen Ort viel zu lange gemieden, denn die Erinnerung hatte ihn geschmerzt. Sie schmerzte noch, doch war es keine Qual mehr, auch wenn manche Bilder, die ihn hier unweigerlich heimsuchten, einen schwermütigen, fast schon bitteren Beigeschmack besaßen.
"Ich weiß zwar nicht, was du an diesem Ort findest, doch ich bin dir dankbar, dass du die Einsamkeit suchst. So machst du es mir leichter." Erschrocken fuhr Frodo herum. Er hatte nicht damit gerechnet, hier auf jemanden zu treffen, erst recht nicht auf Marroc, dessen Stimme er erkannt hatte, noch ehe er ihn sah. Breitbeinig hatte sich dieser hinter ihm aufgebaut und Frodos Augen weiteten sich sorgenvoll, während er sich beeilte, die Füße aus dem Wasser zu nehmen und sich dem Älteren zuzuwenden. Sein Peiniger hatte sich lange im Hintergrund gehalten, zu lange. Mit wachsender Unruhe wurde Frodo plötzlich klar, wie unvorsichtig er geworden war und fürchtete bereits, dass er nun dafür bezahlen musste. "Was willst du?", fragte er mit einer Stimme, die zu seiner Überraschung nichts von dem Unbehagen, das seinen Körper ergriffen hatte, preisgab, und fügte in Gedanken noch hinzu, Wie hast du mich gefunden? Einzig Nelke wusste, dass er hier war, doch sie würde ihn nie verraten. "Ich will viele Dinge", erklärte Marroc mit einer Gleichgültigkeit, die seiner Stimme einen unheilvollen Unterton verlieh, "doch nur wenige werden mir zuteil." Angespannt musterte Frodo den älteren Hobbit, der vor dem Stein auf und ab ging, ohne ihn auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen. Die Abendsonne spielte mit dem nussbraunen Haar und Frodo wusste mit Übelkeit erregender Gewissheit, dass dieser Ruhe ein Sturm folgen würde, sollte er Marroc nicht schnell genug entgehen können. Er schalt sich selbst für seine Dummheit. Seit Marroc in den Ställen arbeitete, war Frodo ihm noch seltener begegnet und er hatte geglaubt, dass nun keine Gefahr mehr drohte. Wie hatte er nur so leichtsinnig sein können? "Etwas werde ich mir gleich selbst gönnen", fuhr Marroc in demselben ruhigen Ton, der Frodo das Blut in den Adern gefrieren ließ, fort "während anderes von dir…", er machte eine kurze Pause, als müsse er seine Wortwahl bedenken, "… besorgt werden kann." Frodos aufkeimende Angst schärfte seine Sinne. Er hörte den Wind säuseln, hörte das gemächliche Plätschern des Flusses, hörte wie sein rechter Fuß auf dem Gras zu ruhen kam, nachdem er sich endlich vollends vom Brandywein abgewandt hatte. Er biss sich auf die Lippen, hoffend, dass Marroc dieser Dinge nicht ebenfalls gewahr war, denn er wollte jenen Augenblick zur Flucht nutzen, an dem sein Peiniger am weitesten von ihm entfernt stand. Doch Marrocs Augen ruhten auf ihm, schienen ihn mit ihrem Blick an dieser Stelle festzunageln. Seine Atmung ging schwer, zitterte mit jedem Luftholen mehr. Die Zeit des Redens würde nicht mehr lange anhalten und Frodo war nicht erpicht, zu erfahren, was Marrocs Worten folgen sollte.
Ruckartig stieß er sich vom Stein ab und stürmte davon, doch wie er es gefürchtet hatte, hatte Marrocs Aufmerksamkeit nicht nachgelassen und ehe Frodo mehr als fünf Schritte getan hatte, hatte Marroc seine Arme um seine Brust geschlungen, beraubte ihn dadurch der Luft in seinen Lungen und seiner Bewegungsfreiheit. Die Furcht, die er zuvor unter Kontrolle hatte halten können, brach wie eine Welle über ihn herein. Wie wild geworden trat er um sich, keuchte, versuchte mit aller Gewalt, sich aus Marrocs Griff zu winden, doch dieser hielt ihn nur noch fester. Er war gefangen wie eine Fliege im Netz der Spinne. Ein hohles Gefühl breitete sich in seinem Bauchraum aus. Er konnte das wilde Pochen seines Herzens am Hals spüren, hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. "Lass mich gehen!" verlangte er, doch konnte er die Angst auch in seiner Stimme nicht länger verbergen. Die Worte klangen schrill in seinen Ohren. Schrill und hilflos. "Weshalb sollte ich das tun, jetzt da ich dich endlich habe?" Marrocs Worte ließen ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen und Frodo war nicht in der Lage, das angstvolle Zittern, das diesen begleitete, zu unterdrücken. Er konnte Marrocs hämisches Grinsen mehr spüren, als dass er es sah. Verzweifelt versuchte er, seinen Gegner ins Schienbein zu treten, doch Marroc war schneller, trat ihm erst auf die Zehen, sodass er ins Straucheln geriet und verpasste ihm dann mit dem Knie einen heftigen Stoß, woraufhin er der Länge nach zu Boden fiel.
Frodo biss sich auf die Lippen, hatte jedoch keine Zeit, Schmerz zu empfinden, sondern rappelte sich sogleich auf, um einen erneuten Fluchtversuch zu wagen. Wieder war Marroc schneller. Frodo hatte nicht einmal Zeit, zu sehen, wo sein Peiniger war, als dieser ihn erneut packte und zu Boden warf. Dieses Mal schlug er mit dem Hinterkopf im Gras auf. Neben sich konnte Frodo den Fluss hören und als er sich mit der linken Hand aufzustützen suchte, griff er ins Wasser. Von entsetzlicher Furcht ergriffen, war er zu keinem klaren Gedanken fähig, wusste nur, dass er Marroc nicht entkommen konnte. Inzwischen hatte sich sein Peiniger vor ihm aufgebaut und die Sonne schien golden in sein Gesicht. Mit dem letzten bisschen Verstand, das ihm in seiner Lage noch geblieben war, zwang Frodo sich dazu, sich zusammenzureißen. Wenn Marroc ihn verprügeln wollte, sollte er das tun und er würde sich verteidigen, so gut er es eben konnte, aber aufgeben würde er nicht. Entschlossen blickte er zu seinem Gegner auf, bereit, seinem Schicksal entgegenzutreten, ganz gleich, wie sehr es ihn ängstigte.
Marrocs Augen verengten sich zu wutentbrannten Schlitzen. Wie konnte er es wagen, ihn selbst jetzt noch so anzusehen. Wie er diesen Blick hasste! Dieses entschlossene Glimmen, das ihm trotz der Angst, die Frodos jämmerlicher Gestalt deutlich anhaftete, immer wieder entgegen trat. Er würde das Glühen auslöschen, doch noch nicht. Der Kleine wollte sich erneut aufrappeln, aber Marroc wusste dies zu verhindern, kniete sich mit all seinem Gewicht auf die Brust des Jungen und tastete nach dessen Handgelenken, die Frodo ihm jedoch zu entwinden suchte.
Frodo war fest entschlossen, kein Geräusch von sich zu geben. Weder ein Jammern, noch eine trotzige Antwort oder eine Aufforderung, ihn in Frieden zu lassen. Seine Hoffnungen waren zwar gering, doch vielleicht würde Marroc dadurch das Interesse verlieren. Diesen Vorsatz vergaß er jedoch fast, als ein gefährliches Funkeln in Marrocs Augen trat. Eben jenes Funkeln, das Frodo zuletzt bei ihrem letzten großen Streit gesehen hatte, Momente bevor Marroc wie blind vor Wut auf ihn eingeprügelt hatte. Seine Furcht lähmte ihn, ließ kalte Schweißperlen auf seiner Stirn sichtbar werden. Es war zu spät, jenem Zorn noch zu entfliehen und auch wenn er einen letzten zaghaften Versuch wagte, sich aufzurichten, wusste er, dass er bereits verloren hatte. Marrocs Knie bohrten sich in seine Brust, während er seine Hände zu Boden drückte, sodass er sich nicht verteidigen konnte.
"Weißt du, dass es allein deine Schuld ist, dass ich in diesem verfluchten Stall arbeite?", zischte Marroc durch zusammengepresste Zähne. Frodo war verwundert, dass er eine Erklärung erhielt, weshalb er verprügelt werden sollte, denn für gewöhnlich bedurfte sein Peiniger dessen nicht. Noch überraschter war er jedoch von Marrocs Worten. War er jetzt völlig verrückt geworden oder suchte er nur nach einer Ausrede, mit der er sich selbst weiß machen konnte, er hätte einen Grund ihn zu verprügeln? Marroc war schließlich ein Tween und jeder Tween musste früher oder später arbeiten. Was konnte er dafür, dass ihm diese Arbeit nicht gefiel? Die lähmende Angst fiel von ihm ab, machte verständnisloser Wut Platz. Er wollte seinen Vorsatz gerade brechen, als Marroc die Antwort auf seine Frage von alleine preisgab. "Mein Vater hätte sich nie um eine Lehrstelle gekümmert, hätte nicht der Herr den nötigen Druck ausgeübt. Er meinte, dort käme ich nicht wieder auf die Idee, andere quälen zu müssen. Er will nicht einsehen, dass ich ihm einen Gefallen tue, wenn ich dich aus dem Weg schaffe, will nicht begreifen, dass ein wimmerndes Muttersöhnchen wie keinen Wert hat." Frodo versuchte, seine Hände aus Marrocs Griff zu winden, doch dessen Finger umklammerten seine Handgelenke nur noch fester, erweckten pochende Schmerzen, die sich bis in seine Finger zogen. Seine Augen funkelten zornig, doch Frodo war zu keiner Antwort fähig, denn jeder Atemzug kostete ihn Mühe und er glaubte, Marrocs Gewicht nicht mehr lange auf seiner Brust aushalten zu können. Er keuchte, versuchte, sich von Marroc wegzudrehen, doch sein Peiniger erlaubte ihm nicht die kleinste Bewegung und Frodo spürte, wie sich eine neue Welle der Angst in ihm ausbreitete. Wenn Marroc nicht sofort von ihm abließ, würde er ihn erdrücken. Das Atmen fiel ihm plötzlich noch schwerer und Frodo kniff angstvoll die Augen zusammen, um nicht in Panik zu geraten. Er musste ruhig bleiben, ruhig bleiben. Völlig verkrampft versuchte er, sich auf die Geräusche des Sommerabends zu konzentrieren, doch nichts drang an sein Ohr, außer Marrocs Stimme. "Ich könnte dir neuen Wert geben", versprach sie voller Hohn. Frodo öffnete die Augen, um Marrocs Gesicht zu begegnen, das nun dicht vor seinem lag. Ein unangenehmes Kribbeln durchzog seinen angespannten Körper, während er mühevoll dem stechenden, kalten Blick standhielt. "Du könntest deine Schuld bei mir abtragen", schlug Marroc vor. "Da du es warst, der mich in diese missliche Lage gebracht hat, bist auch du es, der diesen Zustand angenehmer gestalten kann." Frodos zitternde Atemzüge stockten und ein hämisches Grinsen zeichnete sich auf Marrocs Gesicht ab, als dieser sich dessen Aufmerksamkeit sicher war. Noch besser, als dem Jungen Schmerz zuzufügen war, ihn für sich arbeiten zu lassen. "Du wirst mir den Tag versüßen, indem du mir einige Kleinigkeiten besorgst", fuhr er mit sachlichem Tonfall fort, ließ seine Worte jedoch zugleich wie eine Drohung klingen. "Mal wird es ein Apfel sein, mal ein Kuchenstück, mal etwas anderes. Das werde ich aus dem Bauch heraus entscheiden." Das Grinsen in seinem Gesicht wurde noch breiter, als er sah, wie sich Frodos Augen in purem Unglauben weiteten. Dann verdunkelte sich seine Miene jedoch und er verstärkte den Griff um die Handgelenke des Jungen, bis seine Knöchel weiß hervortraten. "Arbeite für mich, oder du wirst deines Lebens nicht mehr froh."
Frodo konnte nicht glauben, was er hörte. Einst mochte er getan haben, was Marroc verlangte, doch diese Zeiten waren vorüber. So leicht würde er sich nicht wieder in die dunklen Machenschaften des Älteren ziehen lassen, erst recht nicht für etwas, wofür er keine Schuld trug. "Lieber sterbe ich, als dass ich für dich stehle!" brachte er keuchend hervor, ohne sich über die Konsequenzen seiner Worte im Klaren zu sein. Ein Blitzen trat in Marrocs Augen, das Frodo hätte zurückweichen lassen, wäre er ihm gegenübergestanden und nicht bereits hilflos vor ihm auf dem Boden gelegen. "Das sollst du haben!" fauchte er und ehe Frodo wusste, wie ihm geschah, war Marroc aufgestanden, hatte ihn am Kragen gepackt und ihn hochgehoben. Frodo schlug um sich, versuchte, Marrocs Finger zu lösen, doch seine Kraft reichte nicht aus. Jenes unberechenbare Funkeln war in die Augen seines Peinigers zurückgekehrt und Frodo wusste, dass ihn jetzt nichts mehr aufhalten konnte. Kalte Angst ergriff ihn, schnürte ihm die Luft ab und breitete sich, einem unaufhaltbaren Gift gleich, in seinem Körper aus, machte ihn für alles unempfänglich, außer für Marrocs todverheißende Augen. Er schnappte nach Luft, als er plötzlich das kalte Wasser des Brandyweins an seinen Füßen spürte, das langsam aber bestimmt immer weiter anstieg. Erst umspielte es seine Knöchel, dann seine Kniekehlen, dann war es bereits auf Höhe seiner Hüften. Zu spät verstand Frodo, was Marroc vorhatte. Er begann zu strampeln, denn er hatte keinen Boden unter den Füßen. Er traf Marroc, der inzwischen ebenfalls im hüfthohen Wasser stand, mindestens zwei Mal, doch schien ihm dies nichts auszumachen. Frodo wusste, dass ihm das Wasser hier bis zum Bauchnabel reichte, doch der Grund schien ihm unerreichbar. Seine Stimme endlich wieder findend, schrie er auf, grub seine Finger verzweifelt in Marrocs Arme, doch jegliche Gegenwehr kam zu spät. Plötzlich konnte er den sandigen Untergrund und die wenigen Steine unter seinen Füßen spüren, doch noch ehe er Halt finden konnte, wurde er tiefer unter Wasser gedrückt. Er schloss die Augen und die Welt verschwamm in Dunkelheit. Nur das Sprudeln des Wassers drang an sein Ohr. Das Wasser war kalt an seinem Nacken und am Kopf. Er strampelte, schlug sich dabei die Ferse an einem spitzen Stein auf, doch er gelangte nicht zurück an die Oberfläche. Marroc hielt ihn erbarmungslos unter Wasser. Frodo griff nach dessen Hand, doch der klammernde Griff des Älteren wollte sich nicht lockern. Er würde ihn umbringen!
Ruckartig wurde er aus dem Wasser gerissen und Frodo schnappte verzweifelt nach Luft. Er war nicht in der Lage, die Augen zu öffnen, ehe Marrocs Stimme erneut an sein Ohr drang. "Wirst du für mich arbeiten?" Niemals! Frodo schüttelte entschlossen den Kopf, während er sich nur schwach bewusst wurde, dass Kleider und Haare nass und kalt an seinem Körper klebten und ein dumpfes Pochen sich seines rechten Fußes bemächtigt hatte. Für einen kurzen Augenblick spürte er die Kälte eines schwachen Luftzuges, doch noch ehe er ausreichend Luft geholt hatte, wurden diese Eindrücke wieder durch die dumpfen, beinahe schwerfälligen Laute unter Wasser ersetzt. Er hörte das undeutliche Rauschen seiner strampelnden Bewegungen, hörte das Blubbern der letzten Luftbläschen, die aus seinem Mund entwichen. Das Wasser schmeckte schleimig, war mit einzelnen Sandkörnchen versehen. Wenn er nicht immer wieder mit den Füßen an den Boden geschlagen wäre, hätte er geglaubt, er würde schweben. Frodo spürte ein Brennen in der Lunge. Er musste atmen - sofort! Verzweifelt biss er sich auf die Lippen, um der Versuchung, nach Luft zu schnappen, nicht nachzugeben, atmete jedoch zugleich durch die Nase ein wenig des Wassers ein.
Hustend und strauchelnd wurde er wieder an die Oberfläche gerissen. Er sog die Luft in sich auf, nur um sich ihrer hustend wieder zu entledigen. "Deine Antwort?" Frodo kniff Marroc schmerzhaft in den Unterarm. Er würde nicht stehlen. Seinem Peiniger war dies offensichtlich Antwort genug, denn gerade als Frodo den ersten vernünftigen Atemzug hatte nehmen können, schloss sich der Fluss erneut über seinem Kopf. Dieses Mal öffnete er die Augen. Das Wasser hatte hier eine grünlichbraune Farbe, die immer dunkler wurde, je weiter er nach unten sah. Er hatte Sand aufgewirbelt, der nun vor seinen Augen tanzte, während sich die Sonne spottend an der sich kräuselnden Oberfläche spiegelte. Wieder trat er um sich, in einem verzweifelten Versuch sich zu befreien, doch seine Kräfte reichten nicht aus. Dieses Mal befand sich weitaus weniger Luft in seinen Lungen als zuvor und Frodo begann sich plötzlich zu fragen, ob seine Eltern vor ihrem Tod ebenso empfunden hatten. Hatten sie dasselbe Brennen in ihren Lungen gefühlt, denselben Drang verspürt, zu atmen? Ein Verlangen, so stark, dass es nicht verwehrt werden konnte. Hatten auch sie noch die letzten Strahlen der Sonne gesehen, die ihnen wie zum Hohn den Weg zu einer Oberfläche gezeigt hatten, die sie aus eigener Kraft nicht länger erreichen konnten? Starb er nun auf dieselbe Weise, wie sie es getan hatten? Tränen stiegen in ihm auf. Er wollte nicht sterben, nicht im Brandywein. Nie hätte er geglaubt, dass Marroc ihn wirklich töten würde, doch hätte er es wissen müssen, als er das gefährliche Funkeln in dessen Augen gesehen hatte. Seine Augen brannten und als er seine Lider schloss, sah er seine Eltern. Sie trieben im Fluss, schwebten, wie er es nun tat, denn seine Füße hatten aufgegeben, sich vom Grund abstoßen zu wollen. Ihre Kleider bauschten sich um ihre Körper und das dünne, blaue Tuch, das seine Mutter in der einen Hand hielt, wurde vom Wasser zu ihm herüber getragen und legte sich um seinen Hals. Leise wimmernd, ließ Frodo nun auch von Marrocs Unterarm ab und nahm einen tiefen Atemzug.
Author notes: Erst einmal möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich bei Andrea für ihre treuen Reviews zu bedanken. Wenn es dich nicht gäbe, hätte ich wirklich das Gefühl nur für mich allein zu schreiben. Danke dir.
Zum Zweiten möchte ich kundtun, dass ich eine Homepage für meine Geschichten gemacht habe. Noch kann sie nicht besucht werden, doch wird sie spätestens innerhalb der nächten paar Tage online gehen. Natürlich werde ich auch weiterhin hier bei Stories of Arda updaten, doch ich würde mich freuen, wenn ihr auch auf der Homepage vorbei schaut. Zu finden ist sie hier: Lily's Smial
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Kapitel 66: Schmerz
Marroc spürte, wie Frodo den Kampf gegen ihn aufgab und erst da wurde ihm klar, wie lange er sein Opfer bereits unter Wasser hielt. Der Funke in seinen Augen erlosch und von plötzlichem Unbehagen ergriffen, riss er den Körper, der ihm hilflos unterlegen war, wieder aus dem Fluss. Wie leblos sank dieser gegen seine Brust. Von plötzlichem Schrecken ergriffen, umklammerte Marroc die Oberarme des Jüngeren, schüttelte ihn, um Farbe, Leben, in das Gesicht des Jungen zurückzulocken.
Gefangen vom schmerzlichen Anblick seiner Eltern erlaubte Frodo seinem Geist ihn zu verlassen. Er gab sich auf, wissend, dass Marroc ihn nie würde gehen lassen. Das Wasser brannte sich seinen Hals hinab. Seine Lungen füllten sich damit und bald verklang auch das Verlangen zu Husten. Er bemerkte kaum, wie er hochgehoben wurde, bis Schwindel ihn überfiel und er erneut zu husten begann. Anstelle des befürchteten Wassers füllte jedoch Luft seine Nase und Frodo riss vor Überraschung die Augen auf. Würgend und keuchend hustete er die Flüssigkeit aus seinen Lungen, begierig den ersehnten Lebenshauch an deren statt zu fühlen. Der erste Atemzug brannte in seinen Lungen wie eine lodernde Flamme, doch es war ihm gleich. Sollte er brennen, so lange er nur wieder atmen konnte. Sein Körper zog sich krampfhaft zusammen unter der Macht dieses Verlangens und als er verzweifelt einen weiteren Zug nahm, drängte sich das Wasser seinen Hals empor. Der grausige Geschmack von Sand und Algen legte sich auf seine Zunge, der faule Geruch des Todes füllte seine Nase und er spuckte und spie, um sich dessen zu entledigen.
Er blinzelte, ob dem Gras, das seine Wangen und Arme kitzelte. Die Sonne blendete ihn und immer wieder schlossen sich seine Lider, als einzelne Wassertropfen in die empfindlichen Augen zu rinnen drohten. Schwerfällig stützte er sich auf seinen linken Arm, würgte einige Male trocken, als könne er sich dadurch des schleimigen Geschmackes, der noch auf seiner Zunge lag, entledigen, doch es gelang ihm nicht und so ließ er sich schwer zurück ins Gras sinken. Eine Hand ruhte auf seiner Brust, die andere lag wie leblos neben seinem Körper. Nur langsam beruhigten sich seine ruckartigen, flachen Atemzüge, die aus reiner Verzweiflung geboren waren, bis sich seine Brust schließlich in gleichmäßigen Bewegungen hob und senkte. Er konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören, spürte jeden verzweifelten Herzschlag, doch noch würde er nicht sterben.
"Du bleibst also bei deiner Antwort?" Frodos Augen weiteten sich in blankem Entsetzen. Unbeholfen setzte er sich auf, schwindelte kurz und wich zurück, ehe seine zitternden Arme wieder unter ihm weg brachen. Kalte Angst spiegelte sich in seinen Augen wider. Jegliche Entschlossenheit war erloschen, hatte nur mehr Furcht zurückgelassen. Er spürte deren grobe Finger, die sich kalt um seine Eingeweide schlossen, sie zusammenzogen, bis seine Atmung stockte und er einen Anflug von Übelkeit empfand. Seine Finger gruben sich in die weiche, warme Erde, als könne sie ihn festhalten, sollte Marroc ihn erneut hochheben. Angstvoll kniff er die Augen zusammen, als sich Marrocs kräftige Gestalt vor ihm aufbaute und das Licht der Sonne verdeckte. Er konnte ihn schlagen, konnte ihn treten, so lange er ihn nicht wieder unter Wasser hielt. Er wagte kaum zu nicken, brachte die zaghafte Bewegung nur durch Zwang zustande. Die feinen Härchen an seinem Nacken richteten sich auf, ebenso wie jene an seinen Armen und Beinen. Er konnte hören, wie Marroc sich zu ihm herabbeugte, wagte jedoch nicht, die Augen zu öffnen. Nur durch einen schmerzhaften Biss auf die Unterlippe konnte er sich daran hindern, zu wimmern und Marroc um Gnade zu bitten, als dieser ihn plötzlich erneut am Kragen packte, seinen Oberkörper anhob. Erschrocken schnappte er nach Luft, riss die Augen auf. Marrocs Gesicht ruhte vor dem seinen und die dunklen Augen schienen ihn förmlich zu durchbohren. Frodo war wehrlos gegen diesen Blick, doch hob er eine Hand, um Marrocs Arm zu umklammern. Eine nutzlose Berührung, kaum in der Lage, was immer auch kommen mochte, abzuwenden. "Geh", knurrte Marroc und stieß ihn kraftvoll zurück zu Boden. "Geh mir aus den Augen, ehe ich es mir anders überlege."
Frodo wusste nicht, woher dieser Sinneswandel stammte, doch er dachte nicht einmal daran, ihn zu hinterfragen. Marroc bot ihm die Möglichkeit, das zu tun, was er im Augenblick am meisten ersehnte, und diese würde er ergreifen, so lange er noch dazu in der Lage war. Er rappelte sich auf, stolperte mit weichen Knien vom Ufer weg und den Hang hinauf. Oben angekommen, blickte er noch einmal zurück. Marroc saß an derselben Stelle wie zuvor, sah nicht einmal zu ihm herauf. Für einen Augenblick fragte Frodo sich, was ihm jetzt wohl durch den Kopf ging, dann begann er zu laufen, so schnell es seine zitternden Beine erlaubten.
Er bebte, doch ob vor Kälte oder Furcht wusste er nicht zu sagen. Die nasse Kleidung klebte an seinem Körper. Kleine Rinnsale liefen von seinen Haaren über seinen Nacken oder tropften von seiner Kleidung, um in einer zarten Berührung über seine Beine zu gleiten. Im leichten Wind trockneten diese jedoch rasch. Seine Lungen brannten wie Feuer und ihm war, als würden tausende Nadeln in seine Brust gebohrt. Heißes Blut tropfte von einem Kratzer an seiner rechten Ferse und mit jedem Tritt ging ein pochender Schmerz davon aus. Dennoch rannte Frodo weiter, flüchtete vor Marroc und dem unberechenbaren Funkeln in dessen Augen. Er hatte einmal erlebt, wie Marroc sich vergaß, doch Schläge waren nichts im Vergleich zu dem, was der ältere Hobbit ihm heute angetan hatte. Um ein Haar hätte er ihn umgebracht. Und all das nur, weil Marroc glaubte, er wäre Schuld an dessen ungeliebter Arbeit.
Frodos Schritte verlangsamten sich, ehe er schließlich keuchend auf die Knie sank. Der Kopf schwamm ihm. Ihm war übel und ein dünner Schweißfilm bedeckte seine Stirn. Sein Herz drohte zu bersten, so wild schlug es in seiner Brust. Verzweifelt gegen den Brechreiz ankämpfend, schloss Frodo die Augen. Silberschweif. Sein erster, klarer Gedanke galt dem jungen Hengst. Er würde reiten. Nur für eine kurze Weile würde er mit dem Pony davon reiten und dem Gedanken an Marroc entfliehen. Er würde das Abendessen versäumen, doch er hatte ohnehin keinen Hunger, nicht mehr. Er musste nur fort von hier, fort und wieder zu sich kommen. Schnaufend kam er wieder auf die Beine, richtete den Blick auf die Pferdekoppel, die ein Stück weiter nördlich lag, ehe er sich strauchelnd in Bewegung setzte, fest entschlossen, sein Vorhaben umzusetzen.
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Es war ihm ein Leichtes gewesen, Silberschweif mit einem der Halfter, die am Zaun hingen, einzufangen und ihn mit sich zum Brandyschloss zu führen. Dort hatte er ihn aufzäumen wollen, doch Merimac hatte seinen Plan durchkreuzt, war auf ihn zugekommen, ehe Frodo dem Pony den Sattel hatte anlegen können. Der Bruder des Herrn hatte wissen wollen, was er um diese Zeit noch vorhabe und weshalb er nicht fragte, ehe er sich ein Pony auslieh. Frodo hatte diese Fragen weder beantworten können, noch wollen und so hatte er auf den Sattel verzichtet, sich mit etwas Mühe auf den Rücken des Tieres geschwungen, nach den Zügeln gegriffen und war davon galoppiert, ehe Merimac ihn hatte aufhalten können.
Der Wind peitschte ihm ins Gesicht, pfiff in seinen Ohren. Er hatte Silberschweif nach Südosten gelenkt und galoppierte nun mitten durch frisch abgemähte Wiesen. Schweine in ihren Schmutzlöchern, Schafe und Ziegen hoben die Köpfe, als Frodo mit seinem Reittier an ihnen vorüber preschte, während einige Ponys sie wiehernd begrüßten und sie am Zaun entlang ein Stück weit begleiteten. Frodo nahm all dies kaum wahr. Tränen waren in seine gereizten Augen getreten und da er ohnehin kein bestimmtes Ziel zu erreichen hoffte, war es ihm gleich, wohin der Hengst ihn führte. Er presste seine Schenkel an den Körper des Tieres, um ausreichend Halt zu finden, spürte, wie sich die Muskeln des Ponys bei jeder Bewegung anspannten. Silberschweif schien zu spüren, dass es ihn fortdrängte, denn Frodo brauchte ihn nicht anzutreiben. Dennoch glaubte er bald, jeden Muskel in seinen Beinen zu spüren, biss jedoch die Zähne zusammen, unwillig, jetzt schon anzuhalten. Er war noch nicht weit genug geritten, auch wenn er nur mehr selten auf Bauern oder Feldarbeiter traf, deren Felder und Wiesen er passierte. Der Wind hatte seine Kleidung und Haare beinahe getrocknet, doch hatte er nichts, womit er den sandigschleimigen Geschmack in seinem Mund wieder hätte loswerden können. War dies das Letzte gewesen, was seine Eltern vor ihrem Tod geschmeckt hatten?
Frodos tränenden Augen schlossen sich, während seine Beine um ihren Halt vergaßen und hätte Silberschweif die Veränderung nicht gespürt und wäre in einen gemütlichen Schritt verfallen, wäre Frodo von dessen Rücken gerutscht. Vor seinen geschlossenen Lidern trieb das blaue Tuch seiner Mutter, das eine Ende noch immer um blasse, feingliedrige Finger gewickelt, während das andere seinen Hals liebkoste. Seine Eltern schwebten vor ihm im Wasser, die Gesichter, deren Ausdruck er nicht zu lesen vermochte, ihm zugewandt XXeXX. Seine Augen suchten die ihren, als er einen tiefen Atemzug nahm.
Frodo spürte, wie der Brechreiz ihn übermannte, riss unbeabsichtigt grob an den Zügeln und ließ sich von Silberschweifs Rücken gleiten, noch während der Hengst den Kopf in die Höhe warf. Kaum berührten seine Füße das weiche Gras, sank er auf die Knie, würgte trocken. Seine Finger schlossen sich beinahe krampfhaft um die Grashalme, wobei sein ganzer Körper unkontrolliert zu zittern begann. Tränen liefen über seine Wangen, begleitet von leisen Schluchzern. Er war gelähmt gewesen, seit Marroc ihn aus dem Fluss gezogen hatte, doch jetzt brach alles aus ihm hervor. Er hatte Angst, schreckliche Angst. Nie zuvor hatte er sich so sehr gefürchtet wie in jenem Augenblick, an dem Marroc ihn das erste Mal unter Wasser gehalten hatte. Es war ein entsetzliches Gefühl gewesen, atmen zu wollen, doch keine Luft zu finden, den Grund unter seinen Füßen zu spüren und doch nicht in der Lage zu sein, sich an die Oberfläche zu stoßen, das Licht zu sehen und es doch nicht erreichen zu können.
Immer neue Schluchzer brachten seinen Körper zum Beben, bis er sich schließlich zur Seite sinken ließ und den Kopf ins Gras legte. Seine rechte Hand strich immer wieder über die saftigen Halme, als könnten sie ihm die Ruhe spenden, die sein verängstigter Geist benötigte. Um ein Haar wäre er erstickt, hätte denselben Tod gefunden wie seine Eltern. Welch schreckliches Ende sie doch ereilt hatte. Er konnte sie sehen, wie sie vom Wasser verschlungen wurden, spürte ihren Schmerz, ihre Verzweiflung während sie vergebens versuchten, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Er roch den algenartigen, beinahe modrigen Geruch des Flusses, der alsbald durch kaltes Wasser in seiner Nase ersetzt wurde, um sich mit dem sandigschleimigen Geschmack auf seiner Zunge zu vereinen und sich einen Pfad in seine brennenden Lungen zu suchen. War dies der Augenblick gewesen, an dem der Tod sie ereilt hatte?
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, während er verzweifelt darum bemüht war, den Gedanken abzuschütteln. Er wollte nicht über ihren Tod nachdenken, nicht auf diese entsetzliche Weise. Mühevoll stützte er sich auf und spie aus. Er musste diesen Geschmack loswerden. Mit zitternden Knien erhob er sich schließlich, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen, nur um diese sogleich durch neue zu ersetzen. Silberschweif stand neben ihm, genoss offensichtlich die Abendsonne. Frodo griff unter dem Hals des Tieres nach den Zügeln und führte ihn neben sich her. Auch seine Finger zitterten, gaben ihm das Gefühl, völlig schwach und wehrlos zu sein. Sein Atem stockte, wurde immer wieder durch leise Schluchzer unterbrochen. Silberschweif schnaubte, als wolle er fragen, weshalb er so betrübt war und Frodo strich ihm zärtlich über die Nüstern. Die Anwesenheit des jungen Hengstes beruhigte ihn ein wenig, auch wenn das Pony ihm in seiner Lage nicht helfen konnte. Nur langsam lief er über die Wiese, auf einen Baum zu, von dem er hoffte, dass er um diese Jahreszeit Früchte trug. Er hatte Glück, denn im Schatten der kräftigen Äste lagen heruntergefallene Pflaumen. Frodo war froh, dass am Nachmittag offensichtlich niemand hier gewesen war, um das Fallobst aufzulesen, denn er wäre nicht in der Lage gewesen, den Baum zu erklimmen. Silberschweifs Zügel loslassend, griff er nach einer Pflaume, nahm einen Bissen, kaute und spuckte ihn dann aus. Der scheußliche Geschmack hielt sich hartnäckig, doch wurde er mit jedem Bissen weniger und als Frodo mit der ganzen Pflaume so verfahren war, war er durch einen leicht süßlichen, rauen Geschmack ersetzt worden. Erleichtert und zumindest ein wenig beruhigt, lehnte Frodo sich gegen den Stamm, ließ sich langsam daran zu Boden gleiten.
Ein roter Streifen schimmerte am westlichen Horizont, kündigte das Ende des Tages an. In den raschelnden Blättern des Baumes hatten sich einige Vögel eingefunden, die ihr letztes Lied sangen, ehe sie sich zur Ruhe begeben würden. Neben ihm roch Silberschweif ebenfalls an einer Pflaume, war von der Frucht jedoch wenig angetan. Frodo ließ den Hengst wortlos gewähren. Erschöpft schloss er die Augen. Er hatte sich auf diesen Tag gefreut, war glücklich gewesen. Weshalb hatte Marroc dieses Glück zerstören müssen? Was hatte er ihm denn getan? Hatte der Ältere nun jeglichen Skrupel verloren? Was mit Drohungen und kleineren Handgreiflichkeiten begonnen hatte, war vor zwei Jahren zu einem blutigen Kampf ausgeartet, in dem keine Rücksicht genommen worden war. Frodo hatte geglaubt, Marroc hätte dabei den Höhepunkt seiner Grausamkeit erreicht, doch heute hatte er am eigenen Leibe das Gegenteil erfahren müssen. Nur ein kleines Bisschen hatte gefehlt und Marroc wäre nicht einmal vor Mord zurückgeschreckt. Frodo wusste, dass er mit Saradoc darüber sprechen sollte, doch er fürchtete sich davor. Wenn Marroc erfuhr, dass er geredet hatte, ehe Saradoc handeln konnte, würde dieser auch seine letzten Hemmungen verlieren und zu Ende bringen, was er am Fluss begonnen hatte. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, brachte seinen Körper zum Erzittern. Ohne sich dessen bewusst zu sein, schüttelte er den Kopf. So etwas wollte er nie wieder durchmachen. Was würde es schon ändern, wenn er mit Saradoc sprach? Er hatte bereits oft genug erleben müssen, wie wenig der Herr ihm helfen konnte, wenn es um Marroc ging. Hätte Saradoc wirklich Einfluss, wäre so etwas wie an diesem Tag nie geschehen. Frodo schluckte, während sich Tränen in seinen Augenwinkeln sammelten Er würde schweigen, in der Hoffnung, dadurch Schlimmerem zu entgehen. Müde schloss er die Augen, erlaubte einer Träne, über seine Wange zu gleiten. Er würde warten, bis er sich ausreichend beruhigt hatte. Mit etwas Glück war Saradoc noch nicht wieder daheim, wenn er zum Brandyschloss zurückkehrte und er würde, zumindest vorerst, lästigen Fragen entgehen.
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Die Sonne hinterließ nur mehr einen blassen, hellblauen Streifen am westlichen Horizont, als Frodo aus der Sattelkammer trat und sich bereit machte, die Gänge des Brandyschlosses zu betreten. Er war mit Silberschweif bis zur Koppel geritten, hatte ihm dort das Halfter abgenommen und ihn wieder zu den anderen Ponys traben lassen, ehe er sich zu Fuß auf den Heimweg gemacht hatte. Die Zügel an ihren Platz hängend, wollte er nichts weiter, als sich in sein Bett zu legen. Er fühlte sich kraftlos und auch wenn er die Zeit davor genossen hatte, brannte er darauf, diesem Abend ein Ende zu setzen. Tief Luft holend trat er in die Nacht hinaus, als sich plötzlich die Hintertür des Brandyschlosses öffnete. Eine große, dunkle Gestalt zeichnete sich im Lichtschein ab, der durch die Tür nach draußen drang. "Wo warst du?" Frodo verkrampfte sich, biss sich auf die Lippen. Das Glück, von dem er vor kurzem noch geglaubt hatte, es wieder gefunden zu haben, war ihm nicht länger hold. Der Herr von Bockland trat an ihn heran und Frodo senkte den Kopf, hoffte, Saradoc möge sich kurz fassen und ihm weiteren Schmerz ersparen.
Saradoc war müde. Er war erst vor wenigen Augenblicken von seinem Marktbesuch zurückgekehrt und hatte sich auf ein entspannendes Bad gefreut, als Esmeralda ihm beunruhigt offenbart hatte, dass Frodo nicht zum Abendessen erschienen war und dass sie ihn schon seit dem Mittag nicht mehr gesehen hatte. Von seinem Bruder hatte er erfahren, dass der Junge früh am Abend mit einem Pony davon geritten war, es offensichtlich so eilig gehabt hatte, dass er sich nicht einmal die Zeit genommen hatte, dem Tier einen Sattel anzulegen. Mit einer Mischung aus Sorge und Wut hatte er sich aufmachen wollen, den Jungen zu suchen, da offenbar keiner seiner Familie und Freunde auf die Idee gekommen war, dies auch ohne seine Anweisung zu tun. Eine Tatsache, die ihn zusätzlich reizte. Er brauchte nicht weit zu gehen, und obschon er erleichtert war, Frodo hinter der Höhle vorzufinden, gelang es ihm nicht, seine Verärgerung über dessen unvermittelte Entscheidung, ohne eine Erklärung wegzugehen, zu verbergen.
"Ausreiten." "Und wohin?" Der fordernde Tonfall ließ Frodo kaum merklich zusammenzucken. Er wusste, dass Saradoc seine knappe Antwort nicht genügen würde, doch der Herr würde sich damit zufrieden geben müssen. "Fort." "Das habe ich gesehen", meinte Saradoc ernst. "Du weißt, dass du dir ohne Erlaubnis kein Pony nehmen darfst, erst recht nicht, wenn keiner weiß, wo du hin willst. Weshalb bist du so plötzlich gegangen, obwohl du genau wusstest, dass du zum Abendessen zu Hause sein solltest?" Frodo zuckte mit den Schultern und Saradoc spürte den Zorn in sich erwachen. "Sieh mich an, Frodo", forderte er streng. "Wo warst du heute Abend?" Zaghaft hob Frodo den Kopf, doch schien er darum bemüht, ihn nicht anzusehen, denn seine Augen sahen durch ihn hindurch. Etwas an diesem Blick gefiel Saradoc nicht, ließ ihn stutzig werden, doch er konnte nicht sagen, was es war. "Fort", wiederholte Frodo noch einmal in leisem, gleichgültigem Tonfall. Saradoc seufzte schwer. Frodos Sturkopf war eine Mauer, die er nur selten zu durchbrechen vermochte, doch selbst für einen Versuch reichte seine Kraft heute nicht mehr aus. Einen langen Augenblick sah er den Jungen vor sich an. Etwas stimmte nicht. "Ist alles in Ordnung?" Frodo nickte. In der Dunkelheit konnte Saradoc sein Gesicht kaum erkennen, doch für einen kurzen Augenblick glaubte er, auf den Zügen des Jungen dieselbe Müdigkeit zu erkennen, die auch seinen Gliedern anhaftete. Kaum merklich schüttelte er den Kopf, griff sich unwillkürlich mit den Fingern zwischen die Augen. Es hatte keinen Sinn, ihn länger auszufragen. Er war zurück und das war die Hauptsache. "Geh auf dein Zimmer", verlangte er dann, woraufhin Frodo schweigend an ihm vorüber schritt, scheinbar erleichtert, endlich in die Höhle treten zu dürfen. Saradoc beobachtete ihn einen Moment schweigend und folgte ihm schließlich.
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Mit leisem Zischen fing das Streichholz Feuer. Die Flamme flackerte, als Frodo seine Hand vorsichtig zur Kerze bewegte, um den Docht zu entzünden. Inzwischen fand er sich hier ebenso gut zurecht wie in seinem alten Zimmer, selbst in völliger Dunkelheit. Der sanfte Lichtschein tauchte sein Gesicht in einen goldenen Schimmer. Tränen, zuvor in der kühlen Finsternis verborgen, legten einen feuchten Glanz über seine traurigen, blauen Augen, deren Blick auf dem Bild ruhte, das ihn mit seinen Eltern zeigte. "Ich möchte niemals ertrinken müssen", flüsterte er tonlos, wobei seine Finger zärtlich über den Rahmen strichen. "Nie." Das Klicken der Tür ließ ihn überrascht zusammenzucken. Eiligst wischte er sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen und wandte sich um. Merry trat leise und mit erschöpftem Gesichtsausdruck ein. "Frodo", rief er überrascht aus, als er ihn erkannte. "Wo warst du? Mama, Papa und ich haben uns Sorgen gemacht." Frodo zuckte mit den Schultern. "Ich war fort." Merry bedachte ihn mit einem fragenden Blick, eine Augenbraue hochgezogen, die Lippen leicht geöffnet, als wolle er etwas sagen. Das schwache Licht, das vom Gang hereindrang, erlosch, als der jüngere Hobbit die Tür hinter sich schloss. Um seinen Vetter von weiteren Fragen abzuhalten, rang Frodo sich ein gequältes Lächeln ab, das, zu seiner eigenen Überraschung ausreichte, den Jüngeren zufrieden zu stellen. Mit einem Kopfnicken setzte sich Merry in Bewegung, taumelte gähnend auf sein Bett zu und ließ sich müde auf die Matratze sinken. "Du hast so viel verpasst!" tat er dann kund und knöpfte sich im Liegen das Hemd auf. "Dick und Estella waren dort und jemand hat einen riesigen, hölzernen Drachen mitten auf dem Marktplatz aufgestellt. Wir sind die ganze Zeit darauf herumgeklettert, bis uns Papa auf einen großen Krug Holdersaft eingeladen hat. Später durfte ich sogar ein Glas Beerenmilch haben. Köstlich!" Er leckte sich die Lippen, um seinen Worten Ausdruck zu verleihen und schälte sich aus seinem Hemd.
Frodo hörte ihm schweigend zu. Die Worte seines Vetters erfüllten ihn mit Schwermut und er wünschte sich insgeheim, er wäre auch auf den Markt gegangen und Marroc dadurch entkommen, doch zumindest brauchte er nicht zu reden, solange Merry das tat. Während er sich ebenfalls seiner Kleider entledigte und in sein Nachtgewand schlüpfte, fuhr Merry fort. "Es gab so viele schöne Dinge: Schnitzereien, an denen jede Einzelheit ausgearbeitet war, Messer, um diese Kunstwerke selbst zu machen, Lederbeutel, Glücksbringer, Kuchen und Pasteten. Alles, was das Herz begehrt. Es war herrlich!"
Die Tür öffnete sich und Saradoc trat ein, wie er es jeden Abend tat. Diese Tatsache war Frodo gleich nach seinem Umzug aufgefallen, war er es doch gewohnt gewesen, abends allein zu sein, bis Hanna angefangen hatte, ab und an nach ihm zu sehen. Es hatte ihn verärgert, dass sowohl Saradoc, als auch Esmeralda die Zeit fanden, jeden Abend noch einmal zu ihrem Sohn zu gehen, während sie in all den Jahren nie daran gedacht hatten, auch bei ihm noch einmal nach dem Rechten zu sehen. Der Herr und seine Gattin waren eben doch nur für ihn verantwortlich und ersetzten nicht die Familie, die er auf so grausame Art verloren hatte. Ihre Blicke trafen sich, noch ehe Frodo sich hatte abwenden können, um sich mit dem Gesicht zur Wand in sein Bett zu legen. Er konnte hören, wie Merry ebenfalls unter seine Decke kroch. Saradoc ging zu ihm hinüber, setzte sich auf dessen Bettkante. Frodo brauchte es nicht zu sehen, um zu wissen, dass der Herr seinem Sohn durch die Haare strich, während dieser sich für den ereignisreichen Tag bedankte. "Ich bin stolz auf dich", hörte er Saradoc antworten und verkrampfte sich innerlich. Seine Finger gruben sich in das Laken, bis seine Hand zitterte. "Du hast dich heute sehr gut benommen und ich war glücklich, dich bei mir zu haben." Frodo biss sich auf die Lippen. Merry brauchte nicht mehr zu tun, als sich gut zu benehmen, um Saradoc stolz zu machen, während er dessen Lob nicht einmal bekam, wenn er bei der Heuernte fleißig zur Hand ging oder sich freiwillig von seinem geliebten Zimmer trennte. War Merry denn um so vieles besser, als er? Hatte er Saradocs Anerkennung nicht ebenso verdient? Rasch zog Frodo die Decke über seinen Kopf, als er hörte, wie der Herr sich erhob. Er wusste, dass Saradoc für ihn kein Lob bereithielt, denn er hatte ihn heute verärgert. Auf ihn warteten nur neue Fragen. Fragen, deren Antworten er dem Herrn schuldig bleiben würde, um ihn dadurch vermutlich noch mehr zu enttäuschen.
Als Saradoc sich von Merry abwandte, sah er, wie Frodo sich das Laken über den Kopf zog. Er seufzte leise, wohl wissend, dass dies Frodos Art war, ihm zu sagen, dass er seine Anwesenheit nicht wünschte. Dennoch trat er an das Bett heran und setzte sich auf dessen Kante. Das seltsame Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war, hatte ihn noch immer nicht losgelassen. Sein Blick fiel auf das Bild des Jungen und er fragte sich, ob Primula und Drogo wüssten, wie er Frodo dazu bringen konnte, sich ihm anzuvertrauen, sich zu öffnen. Er hatte schließlich versucht, für ihn da zu sein, ihn zu trösten, wenn er Sorgen hatte, hatte ihm immer die Möglichkeit gegeben, mit ihm zu reden, wenn er Probleme hatte, doch anstatt ihm näher zu kommen, schien sich Frodo immer weiter von ihm zu entfernen. Was hatte er falsch gemacht? "Gute Nacht, Frodo", sagte er schließlich und tätschelte ihn dort, wo er seine Schulter vermutete. Als er keine Antwort erhielt, verließ er das Zimmer schweigend.
Frodo blieb reglos liegen, selbst als er hörte, wie Merry sich aufrichtete. Tränen, die er verzweifelt zu schlucken suchte, lagen in seinen Augen. Warum tat Saradoc ihm das an? Wusste er überhaupt, was er ihm durch seine Worte antat? "Was ist los mit dir, Frodo?", fragte Merry mit verärgertem Tonfall. "Wenn Nelke dir die Laune verdorben hat, brauchst du das nicht an meinem Papa auszulassen. Er kann nichts dafür." Frodo spürte Zorn in sich aufflammen, biss sich auf die Zunge, um sich am Antworten zu hindern. Merry verstand gar nichts und dass er die Schuld für seinen Gemütszustand bei Nelke suchte, machte dies nur noch deutlicher. Bemerkte er denn nicht, wie unterschiedlich sie in manchen Dingen behandelt wurden? Er hätte nicht übel Lust gehabt, seinem Vetter die Meinung zu sagen und sich so eines Teiles seines Frustes zu entledigen, doch er hielt sich zurück, obgleich es ihn einige Überwindung kostete. Wenn er jetzt seine Wut an Merry ausließ, würde ihn das nicht glücklicher machen und der Tag würde noch schlimmer enden, als er es ohnehin schon tat. So blieb er seinem Vetter die Antwort schuldig, schluckte seinen Zorn und ersehnte den Schlaf, auch wenn jener in dieser Nacht lange auf sich warten ließ.
Kapitel 67: Unentdeckt, doch aufgeflogen
"Achtung!" Merrys Ausruf hallte zwischen den Bäumen wider, doch kaum jemand schenkte ihm Beachtung. Nichtsdestotrotz setzte sich der junge Hobbit in Bewegung, spurtete über den Steg, wobei er beinahe über Marmadoc gestolpert wäre, der dösend auf den warmen Holzleisten lag, und landete mit einem lauten Platschen im Fluss. Wasserspritzer, die im Licht der Sonne in allen Farben funkelten, flogen durch die Luft, ehe Merry prustend zwischen Minto und Madoc auftauchte und die Haare, die im Sommer einen fast goldenen Glanz annahmen, zurückwarf. "Merry!" schimpfte Rubinie, die ebenfalls auf dem Steg geruht hatte, und schenkte ihm einen nicht allzu freundlichen Blick. Sie war durch seinen wenig eleganten Sprung nass und in ihrem Sonnenbad gestört geworden. Merry kümmerte das jedoch wenig und er sandte frech eine handvoll Wasser in ihre Richtung, wofür er Jubel und fleißige Unterstützung von Madoc und Minto erntete. Überrascht schrie Rubinie auf, ebenso wie Viola, die dank der vereinten Kräfte der Jungen ebenfalls mit dem kühlen Nass bespritzt wurde.
Kreischend und schimpfend entfernte sich die Ältere der beiden Schwestern schließlich vom Steg, strich sich über ihr nun wieder feuchtes Unterkleid und ließ sich neben Nelke ins Gras fallen. Diese lag unweit des Ufers auf dem Bauch, den Kopf auf ihren Armen ruhend. Auch sie war nur in ein Unterkleid gehüllt, hatte Bluse und Rock neben sich im Gras liegen. Die Haare trug sie offen. Braune Locken, durchzogen von einigen feuchten Strähnen, bedeckten ihren Rücken bis zu den Schulterblättern. Rubinie sah wütend zurück und schüttelte den Kopf. "Dieser Merry!" Ihr Blick fiel auf ihre Freundin, doch diese hatte nur Augen für Frodo Beutlin, der nur wenige Schritte von ihr entfernt im Gras saß und sich, auf seine Ellbogen zurückgelehnt, von der Sonne bräunen ließ. Ab und an wanderte sein Blick herüber und wann immer er das tat, erschien ein Lächeln auf seinen Lippen, das Nelke alsbald erwiderte. Rubinie beobachtete dies einige Zeit, bis Frodo der zusätzlichen Aufmerksamkeit gewahr wurde. Wie zufällig ließ er seinen Blick zurück zum Fluss gleiten, auch wenn sie die Überraschung deutlich in seinen Augen erkennen konnte. Bildete sie sich das nur ein oder hatte sich die sonnengebräunte Haut seiner Wangen tatsächlich gerötet? Ein wissendes Grinsen stahl sich über ihr Gesicht, und, welcher Zauber auch immer Frodo und ihre Freundin verbunden hatte, war gebrochen, denn Nelke wandte sich ihr plötzlich zu, Verwunderung in den Augen. "Rubinie", bemerkte sie überrascht, "seit wann bist du schon hier?" "Lange genug", entgegnete das Mädchen verschmitzt und stützte sich auf ihre Ellbogen, um Nelke besser ansehen zu können. "Und du willst mir wirklich noch immer weiß machen, dass das zwischen dir und Frodo keine ausgesprochen enge Freundschaft ist?" Nelkes Gesicht wurde erst rot, dann blass, nur um sich kurz darauf erneut für die gesündere Farbe zu entscheiden. Verlegen schlug sie die Augen nieder. "Ausgerechnet Frodo?!" rief Rubinie so laut aus, dass Frodo überrascht in ihre Richtung sah und Nelke zusammenzuckte. Ein sowohl frecher, als auch neugieriger Glanz der Erheiterung trat in ihre Augen, als sie Nelkes abgewandtes Gesicht betrachtete. Beinahe verschwörerisch beugte sie sich zu ihrer Freundin, flüsterte mit gesenkter Stimme: "Hast du ihn etwa auch schon geküsst?"
"Ruby!" Entrüstet richtete Nelke sich auf, starrte ihre Freundin voll Unglauben, Überraschung und Verlegenheit an. Ihr Blick wanderte heimlich zu Frodo, der ihren hilflosen Ausdruck mit einem Augenzwinkern erwiderte und sich schließlich räuspernd erhob. Rubinie warf er dabei einen scharfen Blick zu, den diese jedoch mit einem zuckersüßen Lächeln konterte, wohl wissend, dass sie bereits mehr wusste, als ihm lieb war, und noch mehr erfahren würde. Scheinbar gleichgültig schlenderte er an die Mädchen heran, ein hinterhältiges Funkeln in seinen Augen. Er hatte genug gehört und Rubinie ging eindeutig zu weit. Frodo hatte nicht verstanden, was sie von Nelke gewollt hatte, doch offensichtlich waren ihre Worte seiner Freundin unangenehm, denn sie blickte zu Boden und kaute auf ihrer Unterlippe, als suche sie nach den richtigen Worten. Außerdem hatten schon ihre ersten Worte ausgereicht, um ihn wütend zu machen, denn schließlich war es allein Nelkes Entscheidung, mit wem sie zusammen sein wollte und mit wem nicht. Andererseits konnte er ihr nicht wirklich böse sein, hatte Merry schließlich dieselbe Einstellung, wie die junge Pausbacken und Frodo spielte bereits mit dem Gedanken, ihr ebendies zu sagen, entschied sich dann aber dagegen. Das wollte er Merry nicht antun. "Ich habe gehört, freche Mädchen, die ihre neugierigen Knollennasen zu tief in Angelegenheiten stecken, die sie nichts angehen, leben gefährlich", bemerkte er stattdessen beiläufig, während er Rubinie umkreiste, als plane er, sie zum Abendessen zu verspeisen. "Und ich habe gehört", entgegnete die ältere der Pausbackenschwestern spitz, kam jedoch nicht dazu, ihren Gedanken zu Ende zu führen, denn Frodo packte sie plötzlich von hinten und zog sie auf die Beine. Überrascht schrie sie auf, wollte sich befreien, doch Frodo hatte ihre Handgelenke bereits zu fassen bekommen und so konnte sie sich seiner nicht erwehren, als er sie neben sich her zum Flussufer zog. Sie begnügte sich damit, ihm ins Schienbein zu treten und ihn wüst zu beschimpfen, während sie um die Hilfe ihrer Schwester und Nelke bat, doch Viola war bereits wieder in den Fluss gesprungen und Nelke hatte sich zwar erhoben und tapste hinter Frodo her, musste sich jedoch auf die Lippen beißen, um sich ein verschmitztes Lächeln zu verkneifen. Frodo war sich seiner Sache sicher, stolzierte förmlich zum Ufer, während ein breites Grinsen seine Züge erhellte. Dieses Mal würde es ihm noch mehr Vergnügen bereiten, das Mädchen in den Fluss zu schmeißen, geschah es schließlich nicht nur aus Eigeninteresse. Das aufgeweichte Gras am Ufer gab sumpfige Geräusche von sich und die schmutzigen, von der Sonne erwärmten Pfützen umschlossen seine Zehen, als er Rubinie ins Wasser stieß, wo diese prompt nach vor stolperte, um der Länge nach im Fluss zu landen.
Frodo klopfte siegreich die Hände aneinander, schenkte dem Mädchen dasselbe zuckersüße Lächeln, das sie ihm zuvor zugeworfen hatte, ehe auch er plötzlich überrascht nach vor stolperte, um im knietiefen Wasser zu stehen zu kommen. Verwundert wandte er sich um, um den Übeltäter zurechtzuweisen. Zu seiner Verwunderung fand er jedoch nur Nelke, deren Lächeln sein Herz Sprünge vollführen ließ. Entschuldigend sah sie ihn an, als er fragend die Stirn in Falten legte. "Sie ist meine Freundin", erklärte das Mädchen knapp. "Ich muss zu ihr halten." Beinahe hätte er erwidert, dass er auch ihr Freund war und sie demnach auch ihm beistehen müsse, als er plötzlich der Länge nach im Wasser landete. Rubinie hatte sich unbemerkt wieder aufgerappelt und sich auf ihn geworfen. Er wusste, dass der Boden nur wenige Schritte vom Ufer entfernt rapide abfiel, und als er sich nun mit den Händen abfing und sein Kopf für einen kurzen Augenblick mit dem Wasser in Berührung kam, ergriff plötzliche Panik Besitz von ihm. Seine Augen weiteten sich und er wollte sich aufrichten, doch Rubinie hinderte ihn daran, während Nelke bereits heraneilte, zweifelsohne, um ihre Freundin zu unterstützen. "Dafür kommst du nicht ungestraft davon", hörte er Rubinie sagen und noch ehe sie ihn nass gespritzt hatte, schmeckte Frodo den sandigen Schleim in seinem Mund, spürte das Brennen in seinem Hals, als sich seine Kehle plötzlich zuschnürte und er nicht mehr atmen konnte. Kalte Angst hielt seine Eingeweide umklammert, erschwerte das Denken, ließ jedoch zugleich ungeahnte Kräfte zum Leben erwachen. Als der erste Wasserspritzer sein Gesicht berührte, stieß er mit der einen Hand Rubinie von sich, während die andere Nelkes Handgelenk grob umklammerte. Mit blinden Augen sah er zu ihr auf, ehe er auch sie zur Seite stieß, sich schwankend aufrappelte und aus dem Fluss stürmte. Keuchend und zitternd sank er schließlich wenige Schritte vom Ufer entfernt auf die Knie.
Ein kalter Schauer war Nelke über den Rücken gelaufen, ehe Frodo sie weggestoßen hatte. Nachdem sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte, eilte sie dem Jungen sofort hinterher und ließ sich neben ihm ins Gras sinken, wobei sie eine Hand auf seine Schulter legte. Frodo war kreidebleich und schnaufte, als hätte er einen langen, anstrengenden Lauf hinter sich. Die Muskeln unter ihrer Hand waren angespannt und zitterten. Sie hatte dies für ein Spiel gehalten, einen Spaß, doch als er plötzlich ihr Handgelenk so fest umklammert hatte, wie nie zuvor, hatte sie etwas in seinen Augen gesehen. Nackte Angst war darin gelegen, so kalt und rein, dass ihr der Atem stockte. Seinen Augen hatte plötzlich eine andere Farbe innegewohnt. Es war nicht länger ein tiefes, dunkles Blau gewesen, sondern eine blasse, flüchtige Zeichnung dessen, was sie sonst darin zu sehen glaubte. Beinahe so, als wäre ein Schleier vorgezogen worden. Mit einem Mal hatte sie gewusst, dass dies bitterer Ernst war. "Frodo?", fragte sie besorgt, die Stimme kaum mehr als ein Flüstern. "Ist alles in Ordnung?" Frodo antwortete nicht, bedachte sie jedoch mit einem Ausdruck, der ihr Herz bluten machte. "Bist du verrückt geworden, du Dummkopf?", schimpfte Rubinie wutentbrannt, als sie an die beiden herantrat. Ihr Kleid klebte an ihrem Körper und selbst ein Teil ihrer Haare war vom Wasser nicht verschont geblieben. Ihre Augen funkelten, als sie zornig auf Frodo hinabblickte und die Hände in die Hüften stemmte. Sie sah aus, als wolle sie ihre Beschimpfungen weiter ausführen, doch als Frodo nichts weiter tat, als sie entschuldigend anzusehen, winkte sie ab, schüttelte den Kopf und ging schließlich zurück zum Steg. Frodos Augen folgten ihr, während seine Atmung sich langsam wieder beruhigte. Nelke zog ihn in eine zögerliche Umarmung, die er wortlos geschehen ließ. "Was ist geschehen?", fragte sie sanft.
Frodo konnte fühlen, wie die Angst, nun, da er wieder Gras unter den Füßen hatte und nur vereinzelte Wassertropfen über seine Wangen liefen, von ihm abließ. Das wilde Pochen seines Herzens wurde langsamer und der Geschmack des Wassers, eben noch klar auf seiner Zunge, verblasste. Er war nicht sicher, was geschehen war, doch noch während das Zittern seines Körpers abklang, traf ihn die Erkenntnis wie ein Hammerschlag. Seine Angst vor dem Fluss, die er beinahe überwunden hatte, war zurückgekehrt. Die Furcht, ertrinken zu müssen, wenn der Wasserpegel einen bestimmten Punkt überschritt, hielt ihn wieder umklammert. Und das war alles Marrocs Schuld. Betrübt schloss er die Augen, schüttelte unmerklich den Kopf und seufzte tief. Ein zarter, lieblicher Duft, ein Hauch von Bienenwachs, umschmeichelte seine Nase, vertrieb schließlich die schrecklichen Gedanken an Fluss und Tod. Weiche Hände lagen auf der nassen Haut zwischen seinen Schulterblättern und erst, als er die Augen langsam öffnete, wurde ihm klar, dass sein Kopf an Nelkes Schulter ruhte. Erschrocken wich er zurück, stieß sie beinahe von sich. War er von allen guten Geistern verlassen, sie zu umarmen? Hier, wo jeder sie sehen konnte? Blut schoss in seine Wangen, färbte diese von den Lachgrübchen bis zu den Ohren rot, noch ehe er verlegen den Blick von ihr hatte abwenden können. Nie zuvor hatten sie sich auf diese Weise umarmt, eine Tatsache, die seiner Gesichtsfarbe nicht eben zugute kam.
Nelke wurde sich ihrer Tat ebenso plötzlich bewusst, wie er es getan hatte und schlug die Augen nieder, ein verlegenes Lächeln im Gesicht. "Es… es tut mir Leid." Sie war es, die ihre Stimme zuerst wieder fand. Frodo, eifrig damit beschäftig, das Gras neben seinen Beinen abzuzupfen, hob überrascht den Kopf. Ein Funkeln lag in seinen Augen, die, sehr zu Nelkes Freude, wieder von einem dunklen Blau waren. "Das muss es nicht", gestand er mit einem schüchternen Lächeln, erhob sich dann aber mit einer raschen Bewegung und wandte sich von ihr ab. Nelke stockte der Atem. Sie hatte bereits bemerkt, dass mehr in Frodo steckte, als das Auge sah, doch dass er so kühn war, hatte sie nicht gedacht. Beinahe hätte sie ihn mit offenem Mund angestiert, doch schaffte sie es mühevoll, ihr Kinn an Ort und Stelle zu behalten und beschränkte sich darauf, zu starren. "Keine Sorge, mir geht es gut", versicherte er ihr dann und eilte davon, um sich sein Hemd zu holen. Lächelnd sah er noch einmal zu ihr zurück, ehe er sich gemächlichen Schrittes vom Ufer entfernte. Nelke schien wie versteinert. Für einen langen Augenblick konnte sie nichts weiter tun, als still zu sitzen und dem aufgeregten Pochen ihres Herzens zu lauschen, ihre Wangen noch immer rot und erhitzt.
Merry war gerade aus dem Wasser geklettert, als er sah, wie Frodo in Nelkes Armen lag. In ihren Armen! Erst hielt er es für eine Täuschung, doch ganz gleich, wie oft er blinzelte, das Bild wollte sich nicht ändern. Vollkommen aus der Fassung gebracht, starrte er zu den beiden hinüber. Etwas in ihm begann zu brodeln. Eine gefährliche Hitze, die sich auf Frodo, doch noch mehr auf Nelke richtete. Wie konnte sie es wagen? Auf solch schäbige Art und Weise wollte sie sich seines besten Freundes bemächtigen. Was konnte sie Frodo schon geben? Nelke war nichts im Vergleich zu ihm. Sie kannte Frodo nicht halb so gut wie er es tat. Er allein war es, der schon seit eh und je Frodos Geheimnisse wusste und so sollte es auch bleiben. Er durfte Frodo nicht verlieren, nicht an sie! Nelke durfte ihm seinen Vetter nicht wegnehmen! "Hinein mit dir!" Mit einem überraschten Ausruf taumelte Merry rückwärts, verlor schließlich das Gleichgewicht und landete im Fluss. Minto und Madoc sprangen neben ihm hinein, tauchten ihn kurz unter, als er ihnen entfliehen wollte und zogen ihn dann unter den Steg. Merry hatte beinahe vergessen, wie angenehm kühl und schattig es unter den Holzleisten war, seit Marroc und seine Freunde den Steg in den letzten Jahren ständig für sich beansprucht hatten. Dieses Jahr waren jedoch alle, außer Reginard, in Lehrberufe eingetreten und Marrocs Freunde waren nur mehr selten im Brandyschloss gesehen, denn Ilberic arbeitete in Weißfurchen als Hufschmied, während Sadoc in Tiefenhain einem Bauer zur Hand ging, dessen Sohn sich im vergangenen Jahr das Bein gebrochen hatte und seither schlecht zu Fuß war. Einen letzten Blick auf seinen Vetter werfend, ließ Merry sich schließlich von Madoc und Minto zu abenteuerlichen Tauchgängen auf den Grund des Flusses hinreißen. Mit Nelke würde er später sprechen, ebenso mit Frodo. Sein Vetter musste dringend einsehen, dass es nicht gut war, sich mit Mädchen einzulassen, da dadurch nur allzu leicht in Vergessenheit geriet, was wirklich von Bedeutung war. Und eine Umarmung wie jene, die er eben noch zu Gesicht bekommen hatte, gehörte ganz gewiss nicht dazu! Merry konnte nicht ahnen, dass er nicht der Einzige gewesen war, der die flüchtige Zärtlichkeit der jungen Hobbits beobachtet hatte und dass es jemanden gab, den diese Freundschaft noch zorniger stimmte, als ihn.
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Das Herz schlug ihm vor Aufregung bis zum Hals. Ein Lächeln, gleichermaßen aus Freude und Verlegenheit geboren, erhellte seine Züge, während er sich das Hemd überstreifte. Er hatte laut gedacht und damit nicht nur Nelke überrascht. Frodo hätte sich seine Worte niemals zugetraut, nicht in einer solch prekären Lage, wie jener, in der er sich eben erst befunden hatte. Alleine der Gedanke daran trieb ihm die Schamesröte ins Gesicht. Sie hatte ihre Arme um ihn gelegt und er hatte es zugelassen. Sie hatte ihn umarmt, wie ihn nie zuvor ein Mädchen umarmt hatte, nicht zuletzt deshalb, weil er niemals auch nur daran gedacht hatte, sich von einem Mädchen umarmen zu lassen, und das Gefühl, das dabei in ihm aufgekommen war, war ihm völlig neu. Es war Wärme, ebenso angenehm wie jene, die er vor vielen Jahren in den Armen seiner Eltern empfunden hatte, jene, von der er einst geglaubt hatte, sie in Bilbos Umarmungen wieder finden zu können. Und doch war sie anders, fremd. Sie hatte das Kribbeln zu neuem Leben erweckt und Frodo legte nun eine Hand auf seinen Bauch, während er das Hemd in den Hosenbund stopfte, doch einfangen konnte er das Gefühl nicht.
Frodo blickte zurück. Inzwischen hatte er den flachen Hang erklommen, konnte in der Ferne nur mehr das schwache Schimmern der westlichen Hälfte des Flusses erkennen, das trotz des dunklen Wassers das Blau des Himmels und das Grün des Schilfs und Gebüschs widerspiegelte. Nelke und die anderen Kinder waren aus seinem Blickfeld gewichen und auch deren Gelächter und ihre gelegentlichen Ausrufe drangen nicht länger an sein Ohr. Tief durchatmend versuchte Frodo, seiner Gefühle wieder Herr zu werden. Er hatte laut gedacht und die Worte waren über seine Lippen gekommen, noch ehe er gewusst hatte, was er ihr entgegnen würde. Er war verrückt, sich von ihr umarmen zu lassen, doch noch verrückter war, dass er scheinbar Gefallen daran fand. Frodo schüttelte den Gedanken ab. Bestimmt genoss er ihre Umarmung nicht, sondern hatte sich in einem Augenblick der Verwirrung dazu hinreißen lassen. Es war die Schuld des Flusses - Marrocs Schuld - und Nelke hatte seine vorübergehende Schwäche schamlos ausgenutzt. In diesem Falle war sie jedoch sehr geschickt vorgegangen und Frodo konnte sich ein anerkennendes Lächeln nicht verkneifen, schüttelte jedoch sogleich den Kopf, als er sich dessen bewusst wurde. Entschlossen setzte er seinen Weg zum Brandyschloss fort. Für heute hatte er genug von Nelke und der Macht, die sie über ihn besaß.
Seine Gedanken wanderten dennoch zurück, kreisten jedoch nicht länger um das Mädchen, sondern um den Fluss. Seit dem Vorfall mit Marroc waren beinahe drei Wochen vergangen und Frodo hatte geglaubt, den Schrecken jenes Abends hinter sich gelassen zu haben. Er war eines Besseren belehrt worden und alleine der Gedanke an das Gefühl, im Wasser unterzutauchen, ließ ihn erschaudern. Die kalte Angst, die sich seiner bemächtigt hatte, war schlimmer gewesen als alles, das ihn nach dem Tod seiner Eltern nicht hatte in den Fluss gehen lassen. Es war mehr als nur Furcht gewesen, er hatte um sein Leben gebangt.
Tief in Gedanken achtete Frodo nicht länger auf den Weg, ging mit gesenktem Kopf über die Wiesen. Ein sanfter Nordwind strich über seine linke Wange und spielte mit seinen Locken. Vogelgezwitscher erfüllte den wolkenlosen Nachmittag, war selbst in Frodos Grübeleien noch gegenwärtig. Die Blätter eines Apfelbaumes raschelten, als Frodo daran vorüber ging. Auf beinahe allen Wiesen unweit des Brandyschlosses standen Apfel- und Birnenbäume, manche von ihnen eingezäunt, damit sich das Vieh nicht an den Stämmen kratzen konnte und dadurch die Ernte verdarb. Frodo hätte auch diesem Baum keine große Beachtung geschenkt, hätte er nicht aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen. Überrascht hob er den Kopf, doch wurde er grob an den Haaren gepackt, noch ehe er sich dem Baum vollends hatte zuwenden können. Er wusste nicht, wie ihm geschah, als sein Kopf plötzlich nach vorne gedrückt und sein linkes Knie hochgerissen wurde, fühlte nur den Schmerz, der durch seinen Kopf dröhnte, wie der Donner nach dem Blitzschlag den Himmel ergrollen ließ. Er schrie auf und Tränen schossen in seine Augen. Die Welt verschwamm in Dunkelheit und blinkende Sterne tanzten vor seinem Gesicht, als sein Kopf wieder zurückgerissen wurde. Sein Magen drehte sich ob der ruckartigen Bewegung, doch Frodo konnte sich nicht einmal dessen gewahr werden, bevor er erneut aufschrie, da sein Rücken schmerzhaft gegen den Baumstamm prallte. Hände legten sich grob auf seine Schultern, gruben sich in sein Fleisch, während die Daumen zu beiden Seiten gegen seinen Hals drückten und ihm das Atmen erschwerten. "Wenn es nach mir ginge, würde ich dich jetzt grün und blau prügeln, wie ich es dir versprochen hatte", drohte eine Stimme, "doch ich denke, das werde ich mir auf ein anderes Mal aufsparen." Frodo spürte das Blut aus seiner Nase laufen, schmeckte es auf seinen Lippen. Seine Ohren klingelten, sein Kopf pulsierte. Ihm schwindelte und während er benommen auf sein Gegenüber blickte, tauchte Reginards wutentbranntes Gesicht vor seinen tränenverschleierten Augen auf. Von Furcht ergriffen, wollte sich Frodo von ihm abwenden, doch die Bewegung sandte eine neue Welle des Schwindels durch seinen Körper und er musste bald einsehen, dass er ohne den Griff seines Angreifers, längst zu Boden gegangen wäre.
Reginard zitterte, so sehr musste er sich zusammenreißen, um sein Wort zu halten. Anstatt ihn zu schlagen, presste er seine Daumen noch fester gegen Frodos Hals, bis dessen flache Atmung zu einem Röcheln überging, das beizeiten von einem Gurgeln unterbrochen wurde, wenn der Jüngere mühevoll versuchte, sein eigenes Blut hinunterzuschlucken. Seit Reginard den Jungen heute mit seiner Schwester gesehen hatte, konnte er seine Wut kaum mehr kontrollieren. Es war schon zuviel gewesen, dass Frodo ihre Hand genommen hatte, doch sich auch noch in ihre Arme zu legen, war ungeheuerlich. Was glaubte er denn, wer er war? "Nelke hat etwas Besseres verdient, als dich", zischte er giftig, während Frodo ihn aus geweiteten Augen anstarrte, jedoch keine Anstallten machte, sich zu verteidigen oder gar zu befreien. "Was soll sie mit einem Jammerlappen, einem Träumer, der seine Nase nur in Bücher steckt und über sein eigenes Leid klagt? Da sie das nicht einsehen will, werde ich dafür sorgen, dass du es verstehst." Reginard drückte noch fester gegen Frodos Hals, bis das Röcheln erstarb und sein Opfer ihn in die Arme kniff. Der geringe Schmerz führte jedoch nicht dazu, dass er innehielt, was einen panischen Ausdruck auf dem Gesicht des Jüngeren erscheinen ließ. Beinahe hätte Reginard siegreich gegrinst, doch da trat Frodo ihn schmerzhaft gegen das Schienbein und er sog scharf die Luft ein. Seine Finger ließen vom Hals seines Opfers ab, drückten stattdessen gegen dessen Schlüsselbein, doch sollte Frodos Tat keineswegs ungestraft bleiben. Für einen kurzen Moment zog Reginard den Jungen vom Baum weg, was diesen beinahe stolpern ließ, um ihn dann noch einmal kräftig dagegen zu stoßen. Ein Wimmern entwich Frodos Lippen und auch wenn der Junge keinen weiteren Laut von sich gab, konnte Reginard in dessen schmerzverzerrtem Gesicht erkennen, dass seine Tat ihre Wirkung nicht verfehlt hatte.
Während Frodo verzweifelt versuchte, die Luft, die durch den schmerzlichen Aufprall aus seinen Lungen gewichen war, wieder einzuatmen, starrte Reginard ihn grimmig an, zeigte keine Regung. "Wenn ich euch noch einmal zusammen sehe, wirst du deines Lebens nicht mehr froh", drohte der Ältere und Frodo wich zurück, als ein gefährliches Funkeln in die dunklen Augen trat, das dem in Marrocs Blick nicht unähnlich war. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und sein Kopf schien auf jedes Pochen mit einem Hammerschlag zu antworten. Er war benebelt und sich seiner Angst kaum bewusst, während er starr in die Augen seines Gegners blickte, unfähig, etwas zu erwidern. Unaufhörlich lief ihm Blut aus der Nase. Frodo schmeckte es auf seiner Zunge, spürte, wie es über sein Kinn lief, um auf sein Hemd zu tropfen. "Du wirst ihr klar machen, dass du nichts von ihr wissen willst", fuhr Reginard mit bedrohlicher Stimme fort, "und danach wirst du sie in Frieden lassen, oder eine blutende Nase wird das Kleinste deiner Probleme sein."
"Frodo!" Besagter Hobbit wäre beinahe strauchelnd nach vor gefallen, als Reginard beim Klang der Stimme plötzlich von ihm abließ, um, mit einem letzten drohenden Blick, davonzueilen. Frodo schwindelte, lehnte sich Halt suchend an den Stamm, nur um schließlich doch zu Boden zu gleiten. Mit dem Handrücken wischte er sich das Blut von Kinn und Lippen, verschmierte dieses jedoch nur. Seine Augen füllten sich nicht länger mit Tränen, doch einzelne Tränenperlen, stumme Zeugen seines Schmerzes, suchten weiterhin ihren Weg über seine Wangen. Vorsichtig legte Frodo eine Hand auf seine Nase, um den Blutfluss zu bremsen, zuckte jedoch schmerzvoll zusammen, als er das Ziel von Reginards Überraschungsangriff berührte. Nur langsam wurde ihm klar, was geschehen war und ein eisiger Schauer der Furcht und des Schreckens brachte seinen Körper zum Erzittern.
Merry rannte an seines Vetters Seite, erlaubte ihm, sich an seine Brust zu lehnen. "Was ist geschehen?", fragte er sorgenvoll und voller Entsetzen, doch im Grunde war keine Antwort mehr vonnöten. Sein Blick wanderte nach Nordosten, wo Reginards Gestalt in einiger Entfernung noch zu erkennen war. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Nelkes Bruder seinen Zorn an Frodo auslassen würde und wenn dieser ihn schon verprügelte, wollte Merry nicht wissen, was Marroc tun würde, sollte er von der Freundschaft zwischen Frodo und Nelke erfahren. Er erschauderte unweigerlich. Frodo entgegnete nichts und so bettete Merry den Kopf seines Vetters schließlich auf seinen Schoß und strich ihm tröstend über die Stirn, wischte mit dem Handrücken eine Träne weg. Die Farbe war aus Frodos Gesicht gewichen und durch die Blutspuren wirkten dessen Wangen noch blasser. Er hielt die Augen geschlossen. Sein Ausdruck sprach von Schmerz und Schrecken. Merry spürte, wie sich seine Brust zusammenzog. Frodos Anblick ließ ihn lodernden Zorn empfinden, den er auf Reginard und Nelke richtete. Hätte er gewusst, was Reginard mit seinem Vetter vorhatte, wäre er nicht wortlos an Nelke vorübergegangen, als er das Flussufer verlassen hatte. Wenn sie nicht wäre, wäre Frodo niemals von Reginard verprügelt worden, dessen war Merry sich sicher. Er hatte Frodo bereits zu warnen versucht, hatte ihn gebeten, auf der Hut zu sein, doch sein Vetter hatte nicht hören wollen. So sehr ihn das damals verärgert hatte, so Leid tat ihm Frodo nun. Vielleicht mochte er Nelke wirklich, doch weshalb sah er nicht ein, dass es ihm nur Ärger brachte, wenn er mit ihr zusammen war? Sie und ihre ganze Familie waren nicht gut für ihn. "Ich weiß, was du denkst", hörte er Frodo sagen und blickte verwundert auf ihn hinab. "Sie hat damit nichts zu tun." "Aber…", begann Merry, doch Frodo brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Schwankend richtete er sich auf, wäre erneut zu Boden gesunken, hätte Merry ihn nicht stützend am Arm ergriffen. "Ich weiß, was du von Nelke denkst", fuhr Frodo fort, wobei er sich in Bewegung setzte und sich noch einmal über die Lippen wischte. Seine Nase hatte aufgehört zu bluten. "Ich will nicht, dass du sie in meinen Streit mit Reginard hineinziehst. Nelke kann nichts dafür." Merry konnte kaum glauben, was sein Vetter von sich gab, starrte ihn entgeistert an. Wollte er denn noch immer nicht begreifen? War er denn schon so blind geworden? Beinahe wäre er stehen geblieben, hätte dadurch auch Frodo zum Halt gezwungen, doch er hielt sich zurück. Sollte sein Vetter glauben, was er wollte, spätestens wenn seine Eltern das Blut sahen, würde Frodo eine Erklärung bereithalten müssen.
Frodo mochte benommen gewesen sein, doch er hatte Reginards Worte verstanden, hatte sie sehr gut verstanden. Nelke hatte nichts vom Vorhaben ihres Bruders gewusst. Reginard war es, der gegen ihre Freundschaft war. Reginard hatte allein entschieden, ihn zu schlagen, um ihn dadurch von Nelke fernzuhalten, doch das würde ihm nicht gelingen. Frodo würde den Schmerz ertragen, selbst wenn Reginard ihn noch einmal verprügelte, wie er es gedroht hatte, denn er wollte ebenso mit Nelke zusammen sein, wie sie mit ihm und nur weil einem halbstarken Hobbit dies nicht passte, würde er sie und sich selbst nicht darunter leiden lassen. Sollte Reginard tun, was er nicht lassen konnte, aber Frodo würde sich weder von Nelke fern halten, noch jemandem den Grund für diese Auseinandersetzung verraten, auf dass die Erwachsenen dafür sorgten, dass er seine Freundin nicht mehr sah.
Die Vettern sprachen nicht miteinander, während sie ihren Heimweg fortsetzten. Frodo war es, der das Schweigen brach, während er sich am Pumpbrunnen vorsichtig das Gesicht wusch. Er wollte, dass sein Vetter für sich behielt, was er gesehen hatte, doch Merry war von dieser Idee wenig angetan. "Er hat dich verprügelt!" versuchte er, seinem Vetter klar zu machen. Ungläubig schüttelte er den Kopf, bekam langsam den Eindruck, dass Frodos Verstand weitaus mehr an Reginards Schlägen gelitten hatte, als seine Nase. "Willst du ihn etwa ungestraft lassen?" Frodo entgegnete nichts, warf ihm jedoch einen vielsagenden Blick zu, ehe er starrköpfig zur Hintertür der großen Höhle ging. Merry folgte ihm mit den Augen, unfähig, die Gründe seines Vetters zu verstehen. Welche Gründe hatte er denn? Frodo hatte keinen genannt, doch in dessen Augen konnte Merry lesen, dass er auf sein Stillschweigen hoffte und nicht vorhatte, Reginard zu verraten. Aufgebracht schlug er mit der Faust auf das Brunnenrohr, nicht wissend, auf wen er zorniger war. Nelke war ihm schon lange ein Dorn im Auge und Reginard war zu einem geworden, seit er Frodo im letzten Sommer gedroht hatte. Dass Frodo nun weder den einen bestrafen, noch sich von der anderen fernhalten, sondern stattdessen seinen Sturkopf durchsetzen wollte, ließ Merry auch auf ihn wütend werden. Was musste denn noch geschehen, damit Frodo verstand, dass Nelke kein Umgang für jemanden wie ihn war? Genügte es denn nicht, dass sie ein Mädchen war und offensichtlich jeder in ihrer Familie ein Gräuel gegen ihn hegte? "Frodo!" Merry eilte seinem Vetter hinterher, während er sich darüber aufregte, dass er in solche Dinge hineingeraten musste. Natürlich war es gut gewesen, dass er Reginard hatte aufhalten können, ehe Schlimmeres geschehen war, doch wenn er nur etwas später gekommen wäre, wäre er nun nicht gezwungen, für Frodo zu lügen. Jetzt stand er vor der Wahl seine Eltern zu betrügen oder seinen Vetter zu verraten und beides behagte ihm nicht. Er seufzte schwer, als er in Frodos bittende Augen blickte und schüttelte den Kopf. "Tu, was du tun musst", sagte er dann traurig, "aber rechne nicht mit meiner Unterstützung. Ich werde deine Geschichte weder bejahen, noch verneinen." Frodo nickte und für einen kurzen Augenblick stahl sich ein Lächeln über seine Züge. "Danke." Wäre Frodo nicht sein bester Freund gewesen und hätte er nicht gewusst, dass dieser dasselbe für ihn täte, hätte Merry dieses Lächeln nicht erwidern können. "Lass uns zu Mama gehen", seufzte er dann. "Sie soll sich deine Nase ansehen."
Kapitel 68: Zwistigkeiten
Frodo entzündete die Kerze auf seinem Nachttisch, blickte dann zu Merry, der auf seiner Seite des Zimmers dasselbe tat. Sein Vetter war den ganzen Abend über sehr schweigsam gewesen, hatte, wie er es versprochen hatte, weder für, noch gegen ihn gesprochen. Esmeralda hatte ihm geglaubt, als er gesagt hatte, er wäre hingefallen, hatte ihn jedoch damit aufgezogen, dass er besser aufpassen sollte, wo er seine Nase hineinsteckte. Auch Saradoc hatte den Grund für seine Verletzung nicht in Frage gestellt und so atmete Frodo tief durch, als er sich schließlich auf sein Bett setzte, sich das Hemd aufknöpfte und mit den Ereignissen des Tages abschloss. Sein Blick glitt zum Bild seiner Eltern und zu einer neuen Schnitzerei, die auf dem Nachttisch ihren Platz gefunden hatte. Es war ein Mathom, das Merry ihm an seinem Geburtstag gegeben hatte. Im Grunde war es mehr als das, denn Merry hatte die Schnitzerei, die einen Hobbit beim Schnitzen zeigte, auf dem Brückengauer Markt erstanden. Als Frodo die Figur ausgepackt hatte, hatte sein Vetter gelacht und gemeint, dass jener Hobbit aus Holz ihm nicht unähnlich sah. Müde schob sich Frodo die Hosenträger von den Schultern, glitt schließlich auch aus dem blutigen Leinenhemd, das er auf den Boden schmiss. Morgen würde er es in die Wäsche geben. Als er sich umdrehte, um sein Nachthemd zu holen, öffnete sich die Tür und der warme Lichtschein der Lampen im Gang drang herein. Merry sog überrascht die Luft ein. Verwundert wandte Frodo sich um. Saradoc stand in der Tür, sah ihn fassungslos an. Unweigerlich hielt Frodo sich das Nachthemd vor den Körper, blickte erst verwirrt an sich herab, sah dann von einem erschütterten Gesicht in das andere.
Saradoc öffnete die Tür zum Zimmer der Jungen, als sich ihm im schwachen Lichtschein ein Anblick bot, der ihm den Atem stocken ließ. Drei große blaue Flecken zierten Frodos Rücken. Zwei waren ein Stück über dem Hosenbund zu beiden Seiten gelegen, während sich der dritte knapp unter dem linken Schulterblatt befand. Frodo hatte erzählt, er wäre gestolpert und dabei ungeschickt gefallen, doch was Saradoc für einen kurzen Augenblick zu Gesicht bekommen hatte, waren weit mehr als die Spuren eines tollpatschigen Sturzes. Rasch schloss er die Türe hinter sich, eilte zu dem Jungen, der völlig verwirrt zwischen ihm und seinem Sohn hin und her blickte, und fasste seine Vermutung in Worte. "Wer hat dich geschlagen, Frodo?"
Frodo spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Seine Augen weiteten sich, alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Stechend spürte er seinen Herzschlag bis in den Hals, als ihm plötzlich klar wurde, dass er bei seiner Ausrede eine wichtige Kleinigkeit vergessen hatte: seinen Rücken. Immer wieder hatte er am Abend ein leichtes Pochen in seinen Muskeln gespürt, doch hatte er dem keine weitere Beachtung geschenkt. Erst jetzt verstand er, dass sein Körper nicht unbeschadet gegen den Baum geprallt war. Er hatte zu früh aufgeatmet und musste jetzt schnell handeln. "Geschlagen?" All seine Überraschung über Saradocs ungeahnte Entdeckung ließ er in seine Stimme fließen, wobei er fragend die Stirn in Falten legte und ahnungslos zum Herrn von Bockland aufblickte. "Ich bin gefallen." Saradoc ließ sich neben ihm auf dem Bett nieder und stoppte seinen Versuch, in sein Nachtgewand zu schlüpfen, indem er eine Hand auf die seinen legte und ihn mit der anderen sanft, aber bestimmt umdrehte, sodass er sich seinen Rücken genauer ansehen konnte. Frodo spannte den Oberkörper an, bemüht, seine Aufregung zu verbergen. "Wenn ich deinen Worten Glauben schenken darf, bist du auf dein Gesicht gefallen", erklärte der Herr. "Und auf den Rücken!" beeilte sich Frodo hinzuzufügen, während Saradocs Finger hier und da über die verletzte Haut glitten und ihn unweigerlich zusammenzucken ließen. Saradocs Aufmerksamkeit behagte ihm nicht, ließ ihn um seine Ausrede bangen. "Und du hast ganz zufällig vergessen, dies heute Abend zu erwähnen", bemerkte Saradoc mit bestimmtem, doch undeutbarem Ton, wobei er den Jungen wieder umdrehte. Frodo wusste nicht recht, ob er darauf etwas erwidern sollte, doch erleichterte ihm der Herr die Entscheidung, indem er ihn eingehend, beinahe fordernd betrachtete. Das Licht der Kerze spiegelte sich in den grünen Augen und der junge Hobbit fand sich nicht in der Lage, dem Blick lange standzuhalten. Wortlos senkte er den Kopf. "Wer hat dich geschlagen?"
Frodo hatte die Hände auf seinen Schoß sinken lassen, grub nun die Finger in das Nachtgewand, bis sie zitterten. Der bittere Geschmack einer Niederlage lag auf seiner Zunge. Saradoc hatte ihn durchschaut, doch hieß das noch lange nicht, dass er nun sagen würde, was geschehen war. Er hatte seine Gründe, dies geheim zu halten und an diesen hielt er fest. Ein angespanntes Kribbeln ging durch seinen Körper, als er entschlossen die Lippen zusammenpresste. Saradoc mochte glauben, dass seine Probleme gelöst werden konnten, indem er ihm verriet, mit wem er seine Meinungen nicht teilte, doch sah der Herr nicht ein, dass es manchmal besser war, solche Dinge für sich zu behalten. Glaubte er denn, Reginard würde nicht noch einmal zuschlagen, nur weil er ihn zur Rede stellte, ihn bestrafte? Frodo wusste, dass genau das Gegenteil der Fall sein würde. Saradoc konnte ihm nicht helfen, hatte ihm noch nie helfen können und auch wenn er nicht wagte, ihm das ins Gesicht zu sagen, konnte er zumindest schweigen.
Merry klammerte sich mit den Händen an der Bettdecke fest. Er kannte den Blick, mit dem sein Vater Frodo bedachte. Eine stumme Aufforderung zu antworten. Die Stille war es, die diesen Blick so gefährlich machte. Jeder Atemzug hallte in seinen Ohren wider und manchmal glaubte er sogar, die Kerze brennen zu hören. Er hatte Frodo versichert, nichts zu sagen, weder zum Guten, noch zum Schlechten und das nagte nun an seinem Herzen. Es hatte ihn Überwindung gekostet zu schweigen, als seine Mutter nachgefragt hatte und noch mehr, als sein Vater sich über die Gründe für Frodos geschwollene Nase erkundigt hatte. Doch nun wusste Saradoc die Wahrheit. Frodo hatte keinen Grund mehr, seinen Streit mit Reginard zu leugnen. Dass er es trotzdem tat, ließ die Wut des späten Nachmittages neu in Merry auflodern. Selbst jetzt schwieg Frodo lieber, anstatt preiszugeben, dass seine Freundschaft zu Nelke schuld an der Misere war. Merry war froh, dass das Mädchen im Augenblick nicht anwesend war, denn er glaubte nicht, dass er seine Wut hätte kontrollieren können, hätte er sie gesehen. Wie hatte sie seinen Vetter so rasch so sehr verderben können? "Frodo?" Saradocs Stimme verlangte nach einer Antwort und Merry zitterte aus lauter Verärgerung über jene drei Hobbits, die ihn in diese Lage gebracht hatten. Nicht zuletzt richtete er seinen Zorn jedoch auch gegen sich selbst, denn schließlich war er es gewesen, der eingewilligt hatte zu schweigen. Er biss sich auf die Lippen, grub seine Finger fester in die Decke.
"Es war Reginard!" Frodo zuckte förmlich zusammen, als die Worte aus seinem Vetter herausplatzten. Entrüstet und mit offenem Mund starrte er Merry an, der keuchend auf dem Bett saß und entschuldigend zu ihm herüberblickte. Er hatte ihn verraten! Frodo konnte es kaum fassen. Merry hatte sein Versprechen gebrochen und Saradoc schien darüber nicht weniger überrascht als Frodo selbst. Zu seinem Unglück erholte sich der Herr jedoch, während er noch darüber nachdachte, ob er enttäuscht oder wütend sein sollte. Er hatte immer geglaubt, er könne Merry vertrauen und die Erkenntnis, dass dem nicht so war, versetzte ihm einen Stich ins Herz, raubte ihm die Stimme.
"Reginard Boffin?", Saradoc blickte verwundert von einem zum anderen. "Worum ging es?" "Um…", begann Merry, unfähig, länger zu schweigen, doch fiel ihm Frodo ungehalten ins Wort. "Um nichts!" rief er wütend. "Du warst nicht einmal da, also tu nicht so, als wüsstest du, wovon du sprichst!" Ein zorniges Funkeln trat in Frodos Augen, eben jenes Licht, das Saradoc schon häufig gesehen hatte, wenn dieser sich gegen seine Entscheidungen stellte. Es war ein Ausdruck, der ihm nicht gefiel, doch noch weniger sagte ihm der Tonfall zu, mit dem der junge Hobbit seinen Sohn zurechtwies. Beschwichtigend legte er eine Hand auf Frodos Brust, als der Junge sich aus seiner kauernden Haltung aufrichtete, um böse Blicke ans andere Ende des Zimmers zu werfen. "Frodo!" wies er ihn streng zurecht, blickte dann zu seinem Sohn und zog fragend eine Augenbraue hoch. "Merry?" Saradoc hofft, wenigstens von ihm die Antworten zu erhalten, die Frodo ihm nicht geben wollte, doch nachdem dieser einen langen, wütenden Blick mit seinem Vetter gewechselt hatte, schlug er die Augen nieder und schüttelte kaum merklich den Kopf. "Frodo hat Recht", sagte er beinahe tonlos. "Ich war nicht dort." Saradoc schloss entnervt die Augen. Er spürte mehr, als dass er hörte, wie Frodo erleichtert aufatmete und nahm schließlich die Hand vom wild pochenden Herzen des Jungen. Er war sich nicht sicher, ob Merry die Wahrheit sprach, oder ob Frodo ihn durch seine Blicke eingeschüchtert hatte, doch er wusste, dass er es noch herausfinden würde.
Schweigen breitete sich im Zimmer aus. Frodo war zwar erleichtert, dass Merry nicht vorgab, mehr zu wissen, als er es tatsächlich tat, doch in seinem Inneren brodelte es. Wie hatte er ihm so etwas antun können? Weshalb hatte er ihn nicht einfach gewähren lassen können? Schließlich wusste er, was er tat, doch Merry schien das nicht verstehen zu wollen. Zornig und enttäuscht zugleich, blickte er seinen Vetter an. Dieser hatte zwar den Blick gesenkt, spielte unruhig mit seiner Bettdecke, hob aber ab und an den Kopf. Eine wütende Flamme loderte in den Augen, die ebenso blau waren, wie seine eigenen, doch lag auch Schmerz darin. Schmerz! Frodo hätte beinahe verbittert gelacht. Welchen Grund hatte Merry denn schon, verletzt zu sein? Er war nicht von seinem besten Freund verraten worden, nur weil dieser glaubte, alles besser zu wissen. Dabei wusste Merry gar nichts. Merry war beliebt, wurde von vielen für das gemocht, was er war. Bei ihm war es anders. Bisher hatte nur Merry ihn so gemocht, wie er war und alle anderen hatten ihn zwar geduldet, sahen in ihm jedoch ebenso wenig einen Freund, wie Frodo sie als solche bezeichnete. Bis Nelke kam. Nelke mochte ihn um seinetwillen. Und nun sollte er das alles aufgeben, nur weil Reginard damit nicht einverstanden war? Frodo wusste, dass Saradoc mit Reginard sprechen würde, sollte er ihm von der Prügelei erzählen. Wenn dies geschah, war es nur eine Frage der Zeit, bis auch Nelke davon erfuhr, und sie würde bestimmt nicht wollen, dass er noch einmal geschlagen wurde, und sich von ihm fernhalten. Reginard hätte gewonnen, und dies sollte keinesfalls geschehen, denn Frodo genoss es, ab und an mit einem anderen außer Merry über das zu sprechen, was ihn beschäftigte, auch wenn Nelke ihn bei weitem nicht so gut verstand wie sein Vetter. Mit Merry konnte er über alles sprechen, doch nicht über Nelke. Je mehr Zeit vergangen war, desto klarer war ihm geworden, dass Merry eine ähnliche Einstellung hatte, wie Reginard. Er war der Ansicht, Nelke wäre nicht gut für ihn, würde ihn nur in Schwierigkeiten bringen, wollte jedoch nicht einsehen, dass sie für ihn auch wichtig war. Und nun hatte er ihn verraten, gefährdete dadurch seine Freundschaft zu dem Mädchen und ließ zusätzlich Saradoc auf ihn wütend werden. Der Herr hätte nie erfahren, dass er ihn belogen hatte, wenn Merry geschwiegen hätte. Nun hatte er sich einen weiteren Schritt von Annerkennung und Stolz wegbewegt. Würde etwa auch Bilbo davon erfahren? Sollte er sich am Ende auch von dessen Liebe weiter entfernen? Zitternd vor Bitterkeit starrte er Merry an. Seine Finger gruben sich krampfhaft in das Nachtgewand. Er wusste nicht, was er mit seinem Vetter machen würde, wenn er ihm durch seine Untreue all dies genommen hatte.
Saradoc seufzte, rieb sich mit den Fingern zwischen den Augen. Sein Blick glitt von Frodo zu seinem Sohn und wieder zurück. Er konnte die Spannung, die in der Luft lag, spüren und hielt es für das Beste, wenn er mit Frodo alleine sprach. Mit ruhiger Stimme wandte er sich an seinen Sohn, bat ihn, sie alleine zu lassen. Nickend ließ sich Merry vom Bett gleiten, blickte noch einmal wütend zu seinem Vetter, ehe er das Zimmer wortlos verließ. Saradoc wartete, bis die Tür mit einem leisen Knacken ins Schloss fiel, ehe er sich an Frodo wandte. Der Junge hatte sich von ihm abgewandt, die Hände auf dem Schoß zu verkrampften Fäusten geballt, die er unter seinem Nachtgewand zu verstecken suchte. Saradoc war wütend, doch sein Schmerz, dass Frodo ihn lieber belog, anstatt mit ihm zu sprechen, war stärker. Schweigend holte er einen Stuhl vom Schreibtisch, den er vor den Jungen stellte, ehe er sich darauf niederließ und sanft seine Hände auf Frodos legte, obwohl dieser erschrocken zusammenzuckte, sich der Berührung entziehen wollte. "Mir scheint, Merrys Anwesenheit regt dich auf", sagte er mit Bedacht. "Wirst du denn mit mir sprechen, jetzt, da er fort ist?" Der Schatten des Kerzenlichts tanzte über Frodos rechte Wange, verliehen ihr einen goldenen Glanz, doch der Junge zeigte keine Regung. Schweigen legte sich über sie wie ein unsichtbarer Schleier und wieder war es Saradoc, der das Wort ergriff. "Du weißt, dass ich hier bleiben werde, bis du mir sagst, was geschehen ist." Ruckartig drehte Frodo den Kopf, die Augen voller Zorn und Verbitterung. Er entzog ihm seine Hände, rutschte auf dem Bett zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand lehnte. "Was willst du denn hören?!", zischte er aufgebracht, legte ohne es anzusehen sein Nachthemd zurecht. "Dass ich Reginard wütend gemacht habe? Dass ich es verdient habe? Dass ich…" "Die Wahrheit, Frodo!" unterbrach Saradoc, die Stimme lauter als beabsichtigt. "Ich möchte die Wahrheit hören."
Frodo starrte den Herrn einen Augenblick wortlos an, zog sich dann das Nachthemd an, um die Spuren des Streites zu verbergen. Was nutzte Saradoc die Wahrheit? Die Wahrheit war, dass er schweigen musste, um das Wenige, das ihm geblieben war, zu schützen. Merry verstand das nicht und Saradoc noch weniger. "Es war nichts", sagte er dann, zog die Knie an und legte die Arme darum. Saradoc sah ihn überrascht an. "Dann geht ihr also immer so miteinander um?" An der Stimme des Herrn konnte Frodo erkennen, dass dieser weit wütender war, als er zugab. Seine Worte jedoch ließen wiederum ihn zornig werden. Saradoc wusste noch weniger, als er gedacht hatte. Seine Augen funkelten voller Zorn. "Wir gehen überhaupt nicht miteinander um!" "Das habe ich auch gedacht", entgegnete der Herr knapp, "bis mir ein kleiner, verletzter Junge weiß machen wollte, dass nichts war." Entrüstet starrte er Saradoc an. Er hielt ihn also für klein? Glaubte er deshalb, sich in alles einmischen zu müssen? Er war nicht so klein, wie der Herr glauben mochte und er konnte sehr gut auf sich selbst aufpassen. Trotzig, doch mit Bedacht antwortete er: "Es war ein Versehen."
"Ein Versehen?!" rief Saradoc erzürnt, bemerkte nicht, wie Frodo erschrocken zusammenzuckte. "Ein solches Versehen, dass er dir die Nase blutig schlug und deinen Rücken in ein Schlachtfeld verwandelte? Nein, Frodo, das war kein Versehen!" Nie zuvor hatte er erlebt, dass der Geschlagene den Schläger verteidigte und die Sturheit, mit der Frodo das tat, ließ ihn zornig werden. Er wusste, was er Frodo zutrauen konnte, wusste, dass er frech sein konnte und das eine oder andere Mal schneller sprach oder handelte, als gut für ihn war. Er wusste jedoch auch, dass er Marroc und seinen Freunden nur mit respektvollem Abstand begegnete, der beinahe an Angst grenzte. Reginard war ein Rüpel von Marrocs Schlag, hielt sich jedoch gerne im Schatten seines Vetters verborgen. Saradoc war klar, dass er einen Grund gehabt haben musste, um Frodo zu verprügeln, denn er war kein Schläger wie Marroc, der, zumindest bei Frodo, schon aus reiner Lust und Laune zugeschlagen hatte, auch wenn sich das seit seinem Lehrantritt im Frühjahr gebessert hatte. "Worum ging es bei dem Streit?" "Das ist unwichtig", entgegnete Frodo sofort, den Blick starr, entschlossen. Saradoc verdrehte entnervt die Augen. Er hatte sich immer für einen geduldigen Hobbit gehalten, doch Frodos Starrköpfigkeit ließ ihn verzweifeln. Mit dem Ellbogen stützte er sich am Schoß ab und rieb sich zwischen den Augen. Er verstand den Jungen nicht und das bereitete ihm Kopfzerbrechen. Wie schon einmal in diesem Monat fiel sein Blick auf das Bild von Frodos Eltern und wieder fragte er sich, wie sie an seiner Stelle handeln würden. Esmeralda hatte einst gesagt, Frodo wäre ein Buch mit sieben Siegeln und Saradoc fragte sich unwillkürlich, wann sich der Junge so sehr verschlossen hatte. War er schon immer so gewesen? Hatte Primula einst mit denselben Sorgen zu kämpfen, die ihn nun plagten oder war es erst über die Jahre so gekommen? Ihm schien, dass es mit jedem Jahr schlimmer wurde. Frodo zog sich immer mehr zurück und Saradoc vermutete, dass ihm dieser Sturkopf das Leben schwer machen würde, sollte es ihm nicht gelingen, irgendwie zu ihm durchzudringen, ihn irgendwie zu verstehen. "Warum, Frodo?", seufzte er, wobei er dem Jungen tief in die Augen sah. "Warum lässt du so mit dir umgehen? Weshalb erlaubst du mir nicht, dir zu helfen? Was verbirgst du? Welches Geheimnis ist dir so wichtig, dass es dich mich belügen lässt? Muss ich dich auf Schritt und Tritt beobachten, um sicher zu sein, dass ich dir glauben kann?"
Erschrocken wich Frodo dem geraden Blick aus, lehnte die Stirn gegen die Knie und ließ die Hände auf sein Bett sinken. Er fühlte sich schrecklich. Wenn diese Unterhaltung beendet war, würde Saradoc enttäuschter von ihm sein, als jemals zuvor. Der Herr war jetzt schon traurig und verletzt, ganz gleich wie zornig seine Stimme zuvor noch geklungen hatte. Das hatte er nicht gewollt, ebenso wenig, wie er Saradoc hatte belügen wollen. Er log nicht wirklich, verschwieg nur die Wahrheit. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Weshalb hatte Reginard ihn schlagen und sein Leben dadurch noch schwerer machen müssen? Es war nicht der Schmerz der ihn quälte, es war der Ausdruck in Saradocs Augen. Manchmal wünschte er, er könnte sprechen, könnte all die Last der vergangenen Jahre ablegen, doch er wusste, dass die Worte nie über seine Lippen kommen würden. Er hatte sich einst geschworen, dass er schweigen würde, bis die richtige Person und der richtige Zeitpunkt gekommen waren, doch manchmal glaubte er, dass es keine richtige Person gab, nicht für ihn. Zumindest nicht im Brandyschloss. Er liebte Saradoc, sah zu ihm auf wie zu einem Vater und wusste doch, dass er nicht dessen Sohn war. Saradoc gab ihm ein Zuhause, bot ihm eine Familie, doch sein Zuhause war es nicht. Frodo wusste, dass er nicht sprechen konnte, bis er jene Geborgenheit, jene Liebe, die ihn einst auf Schritt und Tritt begleitet hatte, wieder gefunden hatte, fürchtete jedoch zugleich, dass es so etwas für ihn nicht gab. Sein Herz würde hungern und eines Tages an seinem Hunger sterben. Er schluckte Tränen, die seine Augen nie erreichen sollten, während sich Stille im Zimmer ausbreitete. Es war zu spät, um umzukehren. Saradoc war bereits verletzt und er hielt es für besser, es dabei zu belassen, als zusätzlich auch seine Freundschaft zu Nelke zu gefährden. Zögernd hob er den Kopf, schlug jedoch die Augen nieder, als er bemerkte, dass Saradoc ihn noch immer mit demselben traurigen Blick ansah. Lachen, wohl aus dem Wohnzimmer kommend, drang an sein Ohr. Die Kerze flackerte, als er geräuschvoll ausatmete. "Bestraf ihn nicht", bat er schließlich leise. "Es wird nicht wieder vorkommen." Saradoc schüttelte den Kopf, betrachtete ihn ernst. Frodo konnte seinen Blick auf sich spüren, fühlte sich unbehaglich. "Ich weiß nicht, ob ich das kann." "Bitte." Beinahe flehend sah Frodo zum Herrn auf, auch wenn es ihn Überwindung kostete, in das ernste Gesicht zu sehen, dessen betrübte, grüne Augen das Licht der Kerze auf seltsame Weise spiegelten. "Ich kann das selbst in Ordnung bringen."
Wieder breitete sich Schweigen im Zimmer aus, während sich Ziehvater und angenommener Sohn lange in die Augen sahen. Beide wussten um ihre Liebe zueinander und doch fürchtete jeder, damit allein zu sein. Frodo glaubte, Saradoc sehe in ihm keinen Sohn, während der Herr vermutete, dass der Junge nur schwieg, weil er seine Nähe nicht wünschte. Schließlich erhob sich der Herr von Bockland, stellte den Stuhl zurück an den Schreibtisch. Frodo folgte ihm mit den Augen, unsicher, ob er ihm antworten würde. Umso erleichterter war er, als Merrys Vater kundtat, dass er es sich durch den Kopf gehen lassen wollte. Seine Miene hellte sich auf, doch war dies nur ein flüchtiger Schatten, der binnen eines Wimpernschlages wieder verblasste. Frodo spürte, wie ein Teil seiner Anspannung von ihm abfiel. Mit zaghafter Stimme rief er Saradoc zurück. Der Herr hatte bereits den Türknauf umklammert, als er sich umwandte. Der Junge hatte wieder die Arme um die Knie gelegt, sah hoffnungsvoll zu ihm auf. "Danke", wisperte er. Saradoc nickte mit dem Kopf, wünschte ihm dann eine gute Nacht und verließ das Zimmer.
Müde schloss Frodo die Augen, froh, der Enttäuschung in Saradocs Blick nicht länger begegnen zu müssen. In einem tiefen Seufzer stieß er die Luft aus seinen Lungen und entledigte sich seiner Hose, die er alsbald über einen Stuhl am Schreibtisch legte. Weshalb endeten Gespräche mit Saradoc meist damit, dass er das Gefühl hatte, versagt zu haben? Ein hartnäckiger, hohler Schmerz, der an seinem Herzen nagte und ihm klar machte, dass er sich immer weiter von dem entfernte, was er zu erlangen hoffte. Es war ein Kampf, den er verzweifelt zu gewinnen suchte und doch immer wieder verlor. Die Traurigkeit in Saradocs Augen hatte ihm gezeigt, wie sehr er versagt hatte. Er hatte sich nicht nur weiter von Stolz und Annerkennung entfernt, indem er den Herrn durch seine Worte verletzte, sondern hatte auch seine Freundschaft zu Nelke nicht schützen können. Sollte Saradoc sich trotz allem dazu entscheiden, Reginard zur Rede zu stellen, hätte er alles verloren, was er durch sein Schweigen hatte retten wollen. Und all dies war nur Merrys Schuld. Frodo ballte die Hände zu zitternden Fäusten und biss sich auf die Lippen, während die Wut auf seinen Vetter, die er zuvor gespürt hatte, zurückkehrte. Hätte Merry zu ihm gehalten, hätte Saradoc nie erfahren, dass er gelogen hatte und jene Unterhaltung, die ihm nur noch mehr Leid gebracht hatte, wäre niemals geführt worden. Seine Finger gruben sich in seine Handflächen, als sich plötzlich die Tür öffnete und Merry im hellen Licht des Ganges das Zimmer betrat. Sein Vetter bedachte ihn mit einem Blick, den Frodo zornig erwiderte. Er konnte den Schmerz von zuvor in den Augen des Jüngeren erkennen, ebenso wie Wut und Unverständnis. Merry hatte kein Recht, ihn so anzusehen. Er besaß, was Frodo zu schützen gesucht hatte, erhielt Saradocs Stolz ohne darum kämpfen zu müssen. Frodos Wangen glühten vor Zorn. Seine Atmung stockte. Ruckartig wandte er sich von Merry ab, pustete die Kerze aus und legte sich mit dem Gesicht zur Wand in sein Bett. Mit seinem Vetter wollte er nichts mehr zu tun haben.
Merry schüttelte verständnislos den Kopf, schloss schweigend die Tür hinter sich und zog sich um. Er hatte gehofft, Frodo würde die Wahrheit sagen, wenn er mit Saradoc alleine sprach, doch in den Augen seines Vaters hatte er erkennen können, dass dem nicht so war. Kurzerhand wollte er klären, was Frodo nicht hatte in Ordnung bringen können, doch er hielt sich zurück. Der Zorn und die Enttäuschung in Frodos Augen hatten sich tief in sein Inneres gebohrt. Er hatte ihn betrogen und fühlte sich denkbar schlecht dabei. Dass er nun jedoch mit demselben Blick noch einmal bedacht wurde, hatte er nicht erwartet. Zorn. Enttäuschung. Schmerz! Frodo verstand nichts von Schmerz! Er hatte nicht zusehen müssen, wie sein Vater wohlweislich belogen wurde und das, obwohl der Herr bereits geahnt hatte, was vorgefallen war. Er spürte den Zorn in sich brodeln und wünschte, er hätte gesagt, was er wusste, damit Nelke wieder zu einem lästigen Mädchen wurde mit dem sich gut Streiten ließ und Frodo zur Vernunft kam. "Du hast nichts gesagt", stellte er fest, weil er fühlte, dass er etwas sagen musste, wenn er nicht wollte, dass seine Wut ihn innerlich zerriss. Den abfälligen Tonfall, der dabei in seiner Stimme lag, konnte er nicht verhindern. Als Frodo nicht antwortete, schüttelte er erneut den Kopf, pustete seine Kerze aus und kroch unter seine Decke. Schlafen konnte er nicht und so begnügte er sich damit, zur Decke zu starren.
Merrys Aussage führte dazu, dass sich alles in ihm zusammenzog. Seine Finger krallten sich in das Kissen. Er konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören. Mit einem Mal war Frodo sich sicher, dass Merry geredet hatte, dass sein Vetter die Anerkennung geerntet hatte, die er schweren Herzens opferte. Er spürte einen Zorn in sich, den er nie zuvor empfunden hatte und versuchte, ihn mit der Enttäuschung über Merrys Handeln zu erdrücken. "Du hintergehst mich also", stellte er im selben verletzenden Tonfall fest, mit dem Merry ihn zuvor bedacht hatte. "Du ließest mir keine andere Wahl." Merrys Antwort kam so rasch und ausdruckslos, dass Frodo nicht länger an sich halten konnte. Mit vor Erbitterung funkelnden Augen setzte er sich auf und rief mit aufgebrachter Stimme: "Du hättest schweigen können!" "So wie du?!" Im schwachen Licht, das unter der Tür hereindrang, konnte Frodo kaum erkennen, wie Merry sich aufrichtete, doch er hörte es, ebenso wie er die Klage, die sein Vetter gegen ihn erhob, aus dessen schriller Stimme vernahm. "Ich hab geschwiegen!" erklärte Merry scharf. "Ich habe zugehört, wie du meine Eltern belogen hast! Ich habe sie ebenfalls belogen, indem ich deine Aussagen nicht richtig stellte! Aber das ist dir wohl vollkommen gleich!" Merry schnappte nach Luft und ein Zittern lag in seiner Stimme. "Ich habe geschwiegen, bis ich sah, was er mit deinem Rücken gemacht hat." Frodo wandte den Blick ab. Merrys Worte bohrten sich einem Pfeil gleich in sein Herz, ließen es blutend zurück. Musste sein Vetter nach allem, was er getan hatte, noch mehr Leid über ihn bringen? Sein Körper zitterte vor Anspannung. Entschlossen kniff er die Augen zusammen, ballte, wie schon so häufig an diesem Abend, die Hände zu Fäusten. So würde er nicht mit sich umgehen lassen. "Dir geht es doch nicht um meinen Rücken", sagte er barsch. "Dir geht es nur um Nelke. Du willst nicht, dass sie meine Freundin ist."
"Weil sie nicht gut für dich ist!" Merry konnte kaum fassen, dass Frodo das noch immer nicht erkannte. Was musste denn noch geschehen, dass er verstand? Die Starrköpfigkeit, mit der Frodo das Mädchen verteidigte, brachte seinen Zorn nur noch stärker zum Brennen, auch wenn Mutlosigkeit ihn zu übermannen drohte. Was hatte Nelke nur aus seinem Vetter gemacht? Er unternahm einen letzten, verzweifelten Versuch, Frodo klar zu machen, was vor sich ging. "Heute wurdest du von ihrem Bruder verprügelt und wer weiß, was morgen kommt? Ihr Vetter und ihr Bruder finden Gefallen daran, dich zu schlagen. Lohnt es sich da wirklich, sie heimlich zu treffen?" "Sie weiß davon nichts", entgegnete Frodo knapp und kalt, "und sie mag mich." "Sie mag dich?! Sie hat dich blind werden lassen für das, was wirklich zählt!" schrie er, unfähig, seinen Zorn länger zu kontrollieren. Die Wut brach aus ihm heraus, rann wie heißes Öl über seine Haut. Eine Flamme loderte in seinem Innern, die seinen Körper zum Erzittern brachte. Hätte er annehmen dürfen, dass Frodo zur Vernunft käme, wenn er ihn schlug, hätte er es getan, doch er hatte bereits gesehen, dass Prügel keine Wirkung zeigten. Oh, wie dumm war er gewesen, dass er diese Freundschaft nicht von Anfang an verhindert hatte! Zornig schlug er mit der Faust gegen die Wand, bis der Schmerz ihm die Tränen in die Augen trieb. Er vernahm, wie Frodo aufgeregt seinen Namen rief, doch er war zu wütend, zu verletzt, als dass er hätte aufhören können. Er musste etwas schlagen und da Nelke nicht zur Verfügung stand und er seinem Vetter das nicht antun wollte, prügelte er immer weiter auf die Wand ein, bis seine Hand zurückgehalten wurde. "Merry?", hörte er die beunruhigte Stimme Frodos. Schnaufend drehte er sich um, blickte in die nun sorgenvollen Augen seines Vetters, was ihn nur noch verzweifelter werden ließ. Was hatte Nelke nur aus ihm gemacht? Er entwand sich Frodos Griff, stieß ihn kraftvoll von sich, ehe er an das Kopfende seines Bettes rutschte, die Knie anzog und sich in seine Decke einwickelte. "Nichts ist dir mehr wichtig", stellte er traurig fest, "nicht einmal mehr du selbst. Du lässt dich verprügeln und bittest sogar darum, deinen Angreifer nicht zu bestrafen. Ich bin dir nicht mehr wichtig, denn du zwingst mich dazu, meine Familie zu belügen und zum Dank schreist du mich an." Er spürte, dass noch nicht aller Zorn ihn verlassen hatte und verkrampfte sich, um Schlimmeres zu verhindern, als er schluchzend zu seinem Vetter aufblickte, der auf dem Bettrand saß und ihn schweigend ansah. "Ich war also nicht da? Ich weiß nicht, wovon ich rede?" Merry schüttelte den Kopf. "Mir scheint, ich weiß weitaus mehr als du. Nelke gibt dir etwas, das ich dir nicht geben kann. Was ist es, Frodo, das du nur mehr mit ihr zusammen sein willst? Ist es nur, weil sie ein Mädchen ist? Seit du mit ihr befreundet bist, habe ich das Gefühl, dass du nicht länger mein Freund sein willst."
Frodo blieb sprachlos zurück, als sich Merry schließlich von ihm abwandte, sich in seinem Bett einem Igel gleich zusammenrollte und die Decke über den Kopf zog. Als leises Schluchzen an sein Ohr drang, war er versucht, tröstend eine Hand auf Merrys Schulter zu legen, ließ es jedoch bleiben. Es hätte nichts gebracht. Verwirrt und mit schwerem Herzen ging er schließlich zurück in sein eigenes Bett, ließ sich wortlos unter seine Decke gleiten. Sein Zorn war mit einem Mal erloschen, ließ ihn nun zitternd zurück. Erst hatten Merrys Worte frische Scheite in das Feuer seines erhitzten Gemüts gelegt und er hatte ihn zurechtweisen wollen, doch dann war Schrecken an Stelle der Verärgerung getreten. Er hatte Merry noch nie so zornig erlebt, ebenso, wie er sich selbst nie zugetraut hätte, so mit seinem Vetter umzugehen. Was hatte er nur getan? Wozu hatte er ihn getrieben? Noch immer pochte ihm das Herz wild in der Brust. Furcht begann sich in ihm auszubreiten, ließ ihn sich leer und hilflos fühlen. Er kannte jenes Leiden, denn es war schon vor langer Zeit zu einem Teil von ihm geworden. Es war die entsetzliche Angst, verlassen zu werden. "Seit du mit ihr befreundet bist, habe ich das Gefühl, dass du nicht länger mein Freund sein willst." Hatte er Merry tatsächlich dieses Gefühl vermittelt? Waren jene verzweifelten Schläge gegen die Wand aus derselben Furcht entstanden, die er nun empfand? Hilflos blickte Frodo zu seinem Vetter, doch dessen Schluchzer waren inzwischen von tiefen, gleichmäßigen Atemzügen abgelöst worden. Schwer schluckend rollte auch er sich in seinem Bett zusammen, umschloss mit der linken Hand den Zipfel der Bettdecke, als könne er ihn vor weiterem Leid schützen. In seinen Gedanken hörte er noch einmal die Worte, die Merry so verzweifelt an ihn gerichtet hatte und sie verunsicherten ihn. Er hatte Merry verletzt, mehr als jemals zuvor und der heutige Abend war nur der Höhepunkt einer langen Qual gewesen. Als er von seinem Vetter verlangt hatte, für ihn zu lügen, hatte er nicht geahnt, dass er ihm dadurch wehtun würde. Hatte Merry am Ende Recht? Hatte er den Blick für das, was wichtig war, verloren? Es stimmte, Nelke mochte ihn mögen, doch rechtfertigte dies, dass er seinen Vetter zum Lügen anstiftete und ihm das Gefühl gab, nicht länger sein Freund sein zu wollen? Frodo wusste, dass dies nicht der Fall war und vergrub schuldbewusst den Kopf in seinem Kissen. Was hatte er nur getan? Welch Wahnsinn hatte ihn so handeln lassen, wie er es getan hatte? Weder Saradoc, noch Merry hatten Schuld an dem, was geschehen war. Er hatte sich mit seinem Verhalten, alles, was er gewollt hatte, selbst genommen. Er war zum Lügner geworden. Und was noch viel schlimmer war: er hatte auch Merry zum Lügen angestiftet. Er war zu dem geworden, was Marroc einst aus ihm hatte machen wollen, nur dass es dieses Mal keiner Drohungen bedurft hatte. Es war ihm ganz allein gelungen, den Herrn zu enttäuschen, Merry zu verletzen und sich selbst das Leben zu erschweren. Was war nur aus ihm geworden? Traurig schloss Frodo die Augen und holte tief Luft. Solch einen Abend wollte er nicht wieder durchleben und er nahm sich fest vor, Saradoc nicht wieder zu belügen, sollte er noch einmal in dieselbe Lage geraten, die ihm heute zum Verhängnis geworden war.
Author notes: Es tut mir Leid, dass es im Augenblick etwas schleppend voran geht mit den Updates. Im Moment klappt es auch mit dem Schreiben nicht so richtig, zumindest nicht an dieser Geschichte, und nächste Woche gönne ich mir einen kurzen Urlaub in Schottland. Danach, so hoffe ich, wird es mit alter Frische weitergehen... auch an den Schicksalsjahren... ehe das neue Semester beginnt.
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Kapitel 69: Neue Karten
Frodo ließ sich von Silberschweifs Rücken gleiten und klopfte dem Tier den Hals. Etwas verunsichert schaute er nach Norden, in die Richtung, aus der er soeben gekommen war. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn. War es richtig gewesen, her zu kommen? Eine Biene summte an ihm vorüber, landete im roten Kelch einer Mohnblume, nachdem sie einmal um Frodos Kopf geschwirrt war. Die Blumen, zwischen denen er vor einem Monat mit Nelke gesessen war, waren beinahe verblüht. Anders als zu Beginn des Wedmath, war er heute jedoch auf dem Pfad unweit des Flusses geblieben und nicht über die hügelige Landschaft nach Westen gewandert, um sich am Ufer des Brandyweins niederzulassen. Eben jener Fluss war nun durch die Hügel verdeckt und Frodo hatte statt des gemächlich plätschernden Wassers das sanfte Rauschen des Waldes, der am östlichen Wegrand seinen Anfang fand, im Ohr. Er seufzte leise und strich Silberschweif über die Nüstern.
Merimas war nach dem Mittagessen zu ihm gekommen, ein strahlendes Lächeln im pausbäckigen Gesicht. Nur knapp war er seiner Mutter entkommen, die bereits nach ihm gerufen hatte, weil sie ihn für seinen Mittagsschlaf zu Bett bringen wollte. Frodo hatte den Jungen lächelnd in die Arme geschlossen, seltsam beruhigt, dass der kleine Hobbit ihn trotz der Ereignisse des letzten Tages so bereitwillig umarmte. Natürlich wusste Merimas nichts von den Geschehnissen und selbst wenn, hätte er nichts von alledem verstanden. "Ich habe eine Nachricht", hatte der inzwischen sechsjährige Hobbit stolz verkündet und die Arme ausgestreckt, um hochgehoben zu werden. Kaum auf Frodos Schoß sitzend, hatte er sich verschwörerisch umgeblickt und ihm schließlich ins Ohr geflüstert: "Nelke sagt, du sollst zu den Mohnblumen am Wald kommen, mit deinem Pony, zum Teetrinken!" Er kicherte, ohne zu ahnen, dass er Frodo dadurch noch mehr kitzelte als mit seinem warmen Atem. "Sie ist lieb", fügte er hinzu und fragt dann, mit plötzlicher Verwirrung im Gesicht: "Gibt es auch bei den Mohnblumen Kuchen? Und wozu brauchst du ein Pony?" Frodo zuckte nur mit den Schultern und rieb sich das kribbelnde Ohr, denn er wusste mit Merimas' Nachricht nichts anzufangen. "Du Lausebengel!" tadelte eine strenge Stimme, woraufhin Merimas kichernd die Augen niederschlug. Überrascht wandte Frodo sich um. Hanna stand hinter ihm und forderte ihren Sohn stumm auf, mit ihr zu kommen. Frodo lächelte unschuldig, obschon er bei ihrem Anblick am liebsten geweint hätte. Seine Bindung zu Merimas hatte nicht unter seinem Umzug gelitten, doch jene zu Hanna sehr. Seit er nicht mehr im östlichen Gang lebte, hatte er sie nur noch abends in den Wohnzimmern getroffen und dabei nie mehr als wenige Worte mit ihr gewechselt. Er vermisste sie, vermisste ihre allabendlichen Besuche, denn bei ihr hatte er gewusst, dass sie seinetwegen gekommen war und nicht wegen Merry. Zwar hatte er den Gedanken, dass sie ihn liebte, wie Bilbo es einst getan hatte, verdrängt, doch in Momenten wie diesem, da er mit Merry im Streit stand und sich undenkbar einsam und verlassen fühlte, wünschte er sich nichts mehr, als ihre tröstliche Nähe wieder zu spüren. "Du weißt, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, auch wenn ich nicht mehr nebenan wohne. Meine Tür wird dir immer offen stehen, ganz gleich, zu welcher Zeit." Ihre Tür mochte offen stehen, doch sein Mut war zu gering. Er wollte sie nicht mit seinen Sorgen belasten und sie ebenso enttäuschen, wie er Saradoc enttäuscht hatte. "Und du bist kein geringerer, Frodo Beutlin", lachte Hanna und zerzauste ihm das Haar, ehe sie Merimas mit einem Kopfnicken andeutete, mit ihr zu kommen. Der junge Hobbit umarmte ihn noch einmal und ging dann mit seiner Mutter und seinen Schwestern. Frodo beobachtete sie, bis er plötzlich die Augen eines anderen auf sich spürte und Nelkes Blick auffing. Mohnblumen am Wald. Plötzlich hatte er gewusst, welchen Ort sie ausgesucht hatte und doch verwunderte es ihn, dass sie Merimas mit einer Nachricht schickte, anstatt selbst zu ihm zu kommen. Kaum merklich nickte er ihr zu, ehe sie den Blickkontakt wieder abbrachen.
Und nun stand er hier, zwischen Mohnblumen und Wald und streichelte Silberschweifs Blesse, doch von Nelke fehlte jede Spur. Ohne es zu wollen, begann er zu zweifeln. War es richtig gewesen, hierher zu kommen? Weshalb machte das Mädchen ein solches Geheimnis um das Treffen? Frodo beobachtete, wie die Biene den letzten offenen Blütenkelch hinter sich ließ und über die Wiese summte. Es war ihm schwer gefallen, Nelkes Einladung anzunehmen. Merrys Worte wollten ihn nicht loslassen und immer, wenn er die Augen schloss, sah er, wie sein Vetter blind vor Empörung gegen die Wand schlug. War wirklich er Grund für Merrys Wutausbruch? Er und seine Freundschaft zu Nelke? Frodo hatte den ganzen Vormittag damit verbracht darüber nachzudenken. Ganz allein war er in der friedlichen Stille der Bibliothek gesessen, hatte einzelne Sätze in sein Tagebuch geschrieben, doch zu einem Ergebnis war er nicht gekommen. Er mochte beide, Nelke und Merry, und keiner konnte von ihm verlangen, die Freundschaft des einen aufzugeben, um die des anderen halten zu können.
Silberschweif schnaubte, stupste seinen kleinen Freund mit der Nase und erweckte ihn so aus seiner Tagträumerei. Wiehernd begrüßte er dann das Pony, das sich ihnen trabend näherte. Erst jetzt bemerkte auch Frodo den anderen Reiter und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er Nelke erkannte. Rasch schwang er sich auf Silberschweifs Rücken und winkte ihr zu. "Danke, dass du gekommen bist", sagte Nelke und schenkte Frodo ein Lächeln, das ihn all seine Zweifel vergessen ließ. "Ich muss gestehen, dass ich dein Rätsel nicht sofort gelöst habe", gestand er, während sie im Schritt nebeneinander her ritten "Es musste leider sein", entgegnete das Mädchen mit verlegenem Ausdruck, ließ ihre Stimme jedoch ernst und entschlossen klingen. "Ich wollte nicht, dass außer dir jemand davon erfährt."
Frodo erstarrte. Er war froh, dass das andere Pony die Führung übernommen hatte und Nelke den Schmerz, der für einen Augenblick in seinem Gesicht sichtbar wurde, nicht erkennen konnte. Sie wusste von Reginard. Der Herr hatte ihm seinen Wunsch nicht gewährt. Die Boffins hatten erfahren, was vorgefallen war und Nelke hatte ihn nur treffen wollen, um ihm zu sagen, dass sie ihm von nun an aus dem Weg gehen würde. Reginard hatte gesiegt und er war wieder alleine. Betrübt blickte er auf ihr schimmerndes Haar, das sie im Nacken mit einer Spange zusammengenommen hatte. "Sprichst du von deinem Bruder?" Nelke wandte sich verwundert um, die Stirn in Falten gelegt. Ihre Augen blickten tief in die seinen, als prüfe sie, was er mit seiner Frage bezweckte. Ein unangenehmes Kribbeln ging durch seinen Körper und nach einigem Zögern senkte Frodo den Kopf und räusperte sich, um der Stille, die sie für einen flüchtigen Augenblick umgeben hatte, zu entrinnen. Sein Mund war trocken. Furcht ergriff ihn und er wünschte sich plötzlich, er wäre nicht hergekommen oder hätte wenigstens geschwiegen. Ihr Blick hatte gezeigt, dass sie nicht wusste, wovon er sprach. Er hatte sich durch dieselbe Dummheit verraten, mit der er sich am Abend zuvor dessen beraubt hatte, was er liebte. War er selbst zu seinem größten Feind geworden? Seine Finger schlossen sich krampfhaft um die Zügel. Was tat er hier nur? "Ich spreche von Rubinie", drang Nelkes Stimme an sein Ohr. Verwundert hob er den Kopf. "Sie weiß jetzt schon zuviel", fuhr das Mädchen mit einem bitteren Lächeln fort. Nun war es an Frodo, die Stirn zu runzeln und sie eingehend zu betrachten, doch Nelke erlaubte ihm gar nicht erst, in ihr Gesicht zu blicken, sondern trieb ihr Pony zu einem wilden Galopp, ehe er mehr als einen sorgenvollen Ausdruck in ihren grünen Augen erkennen konnte.
Nelke zügelte ihr Pony erst, als sie eine Stelle erreichte, an der die Bäume weniger dicht standen. Sie erinnerte sich, wie sie zu Beginn des Jahres hier gewesen war und Frodo sie auf die kleine Bank, die zwischen den Bäumen verborgen lag, hingewiesen hatte. Frodos verwirrte Fragen, was sie hier wollten und was denn überhaupt geschehen sei, beachtete sie nicht, als sie sich aus dem Sattel gleiten ließ und ihr Reittier in den Wald führte, wo unter einer Trauerweide eben jene Bank zum Vorschein kam. Mit einem Seufzen ließ sie sich darauf nieder und richtete den Blick auf die schimmernden Baumkronen. Obschon kein Luftzug zu spüren war, ging ein leises Flüstern durch die Blätter der Weide. Einer der langen, dünnen Äste verfing sich in ihrem Haar. "Was ist denn los?" Frodos völlig verdutzte Stimme drang an ihr Ohr. Sie spürte seinen Blick auf sich, wusste um die in Falten gelegte Stirn, doch verdrängte sie das Bild, indem sie reglos sitzen blieb und der Trauerweide und den Vögeln lauschte, die das kleine Waldstück nicht mehr lange besiedeln würden. Das morsche Holz der Bank knarrte leise. Frodo hatte sich neben sie gesetzt. "Wir waren unvorsichtig", sagte sie dann. Ihre Worte fielen ihr nicht leicht. "Rubinie weiß davon und wenn sie es weiß, werden bald alle erfahren, dass wir zusammen sind und ich will nicht, dass es dazu kommt." Nelke hatte lange darüber nachgedacht, wie sie ihre Worte kleiden sollte, hatte es jedoch aufgegeben. Worte, die traurig stimmen und verletzen würden, blieben traurig, auch wenn sie mit Bedacht gesprochen wurden. Frodos Ausdruck war von Empörung gezeichnet und Nelke wandte den Blick ab, um seinen Schmerz nicht zu sehen. Er ahnte bereits, worauf sie hinaus wollte.
"Weshalb?" Frodos Stimme klang überraschter, als er gewollt hatte. Natürlich hatten sie ihre Freundschaft geheim gehalten, weil sie um das Getuschel wussten, das unweigerlich folgen würde, sobald jemand davon wusste, doch etwas in ihren Worten ließ ihn unsicher werden. Es schien mehr als nur das Gerede der anderen dahinter zu stecken. Seine Furcht, für einen Augenblick durch Sorge um Nelke abgelöst, kehrte zurück, umklammerte ihn mit eisernen Fäusten. Bedeuteten ihre Worte, dass sie nicht länger seine Freundin sein wollte? Verzweifelt versuchte er, den Gedanken abzuschütteln. Nelke wusste nicht, dass er geschlagen worden war und Reginard hatte selbst gesagt, dass sie nicht einsehen wollte, dass sie etwas Besseres verdient hatte. Hilflos sah er sie an, doch ihr Gesicht verriet nicht, was in ihr vorging. Als er ihrem Blick, der starr auf ihre im Schoß gefalteten Hände gerichtet war, jedoch folgte, erkannte er, dass ihre Finger zitterten. Zögernd legte er eine Hand auf die ihren, spürte, wie sie unter der Berührung zusammenzuckte. Etwas stimmte nicht, denn so angespannt und bekümmert war sie nicht einmal gewesen, als sie vor acht Monaten das erste Mal hier gesessen waren und sie sich seinetwegen gesorgt hatte. "Was bedrückt dich?", fragte Frodo zögernd und die Fürsorge, die die verzweifelte Überraschung seiner Stimme überdeckte, erstaunte selbst ihn.
Nelke sah ihn verwundert an, doch die Besorgnis in seinem Blick trieb ihr die Tränen in die Augen und sie wandte den Blick rasch wieder ab, damit er ihre Traurigkeit nicht sah. Sie hatte einen schrecklichen Fehler begangen. Ihre Gedanken wanderten um ein Jahr zurück, als Reginard ihre Schlammschlacht auf solch gemeine Weise beendet hatte. Die Behandlung, die ihr Bruder Frodo hatte zuteil werden lassen, war alles andere als gerecht gewesen und Nelke, die den nur wenige Monate jüngeren Hobbit schon damals mehr gemocht hatte, als ihr lieb gewesen war, hatte sich verpflichtet gefühlt, ihn zu verteidigen. Reginard hatte sie des Abends zurechtgewiesen, hatte ihr des Langen und Breiten erklärt, was er von Frodo Beutlin hielt. Schon damals hatte sie geahnt, dass es ein schlimmes Ende nehmen würde, sollte sie sich mit ihm treffen. So hatte sie sich zurückgehalten, ihn heimlich beobachtet, bis das einst so helle Leuchten ganz aus seinen Augen erloschen war. Etwas hatte sein grüblerisches Gemüt noch verschlossener werden lassen und Nelke hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ein wenig Freude in die blauen Augen zurückzubringen. Ohne jenes besondere Licht schienen sie stumpf und leblos und es schmerzte sie, ihn so traurig zu sehen. Merrys Krankheit hatte ihr dann erlaubt, ihn noch besser kennen zu lernen und auch wenn sie viele Dinge nicht verstanden hatte, hatte sie sich nicht wieder von ihm trennen können, nachdem sie das schwache Licht in seinen Augen wieder entdeckt hatte. Sie hatte die Ängste, die sie zurückgehalten hatte, beiseite geschoben, immerhin war sie bald ein Tween und sollte für sich selbst entscheiden. Außerdem hatte sie gehofft, ihre Freundschaft zu Frodo geheim halten zu können. Frodo hatte sie erzählt, sie sorge sich um das Gerede, doch was sie ängstigte, war ihre Familie, die nie sonderlich gut auf den einzigen Sohn der Beutlins zu sprechen gewesen war. Pansy Boffin sagte, er wäre zwar nett, aber auch etwas seltsam, da er nicht immer die Nähe der anderen Kinder gesucht hatte. Nelke erinnerte sich daran, wie sie das einst ebenfalls verwundert hatte. Manchmal war sie ihm sogar nachgelaufen und hatte ihn gedrängt, wieder zu den anderen Kindern zurückzukommen, anstatt alleine unter der großen Eiche zu sitzen und die Wolken zu beobachten. Doch Frodo hatte sich von seinen Träumereien nur selten abhalten lassen. Olo Boffin hatte ähnliche Ansichten wie seine Gattin, glaubte, etwas Unnatürliches an Frodo erkennen zu können. Selbst heute behauptete er noch, der junge Hobbit habe sie alle verzaubert, doch Nelke hatte nie einen Zauber erkennen können. Alles, was sie bisweilen gesehen hatte, war jenes Leuchten gewesen, doch selbst das war nach dem Tod seiner Eltern trübe geworden. Nelke ballte die Hände zu Fäusten, obwohl seine Hände noch immer auf den ihren lagen. Würde sie jenes Leuchten, das zu Beginn des Jahres langsam in seine Augen zurückgekehrt war, nun wieder rauben? Der Gedanke schmerzte sie, doch sie wusste, dass ihr keine andere Wahl blieb, wenn sie nicht wollte, dass es für sie beide noch schlimmer wurde.
"Reginard hat dich verprügelt." Frodo zuckte unmerklich zusammen. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Er hatte sich selbst verraten und seine Worte konnte er nicht zurücknehmen. Mit einem leisen Seufzen wandte er den Blick von ihr ab und ließ ihre Hände los. Er hatte geahnt, dass dieses Gespräch kommen würde, hatte gelogen und sowohl Saradoc, als auch Merry verletzt, um ihm zu entgehen. Und nun saß er doch hier, das Herz voller Schmerz und Sorge um ein Mädchen, das nicht länger seine Freundin sein würde. Er nickte zaghaft. "Ich hätte es wissen müssen." Ihre Worte waren kaum mehr als ein Wispern und sie schüttelte verzagt den Kopf. "Es tut mir Leid, Frodo. Es tut mir Leid, dass ich Reginard Grund gegeben habe, dich zu schlagen." Schon vor einigen Tagen hatte sich ihre Lage zugespitzt, als Reginard sie wegen Frodo zur Rede gestellt hatte. Sie war sich nicht sicher gewesen, woher er um ihre Freundschaft wusste, dennoch hatte sie geahnt, dass es schlimme Folgen nach sich ziehen würde und doch nicht hören wollen. "Du hast…", begann Frodo, doch Nelke schnitt ihm das Wort ab, sah ihm ernst in die Augen. "Ich will nicht, dass so etwas wieder geschieht", sagte sie entschlossen. "Es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen. Das erspart uns beiden eine Menge Ärger."
Nelkes Worte trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er hatte sie geahnt, sie gefürchtet, doch nicht damit gerechnet, dass sie ihn dennoch so sehr schmerzen würden. Seine Hoffnungen, einen weiteren Freund im Brandyschloss gefunden zu haben, zersplitterten und hinterließen tiefe Wunden. Seine Augen suchten die ihren, als hoffe er, in ihnen ein Anzeichen zu finden, dass sie scherzte, doch was er stattdessen in den grünen Augen mit dem braunen Schimmer sah, ließ alle Farbe aus seinem Gesicht weichen. Er sah Schmerz und denselben Kummer, unter dem auch er litt, und der Anblick ließ ihn beinahe verzagen. "Schlägt er dich etwa auch?!" Die Worte hatten seinen Mund verlassen, ehe er sicher gewesen war, dass er sie aussprechen wollte. Nelkes bekümmerter Ausdruck mischte sich mit Entsetzen. "Er ist mein Bruder!" rief sie erschüttert aus und schüttelte den Kopf. "Er will nur das Beste für mich und…", sie stockte, schloss die Augen und wandte das Gesicht ab, ehe sie ihre Aussage mit einem zögernden Flüstern beendete. "Wie es scheint, entsprichst du nicht seinen Vorstellungen." Frodo starrte sie für einen Augenblick sprachlos an, doch Nelke fuhr fort, ehe er etwas erwidern konnte. "Ich denke nicht wie Reginard", erklärte sie, "doch ist es besser, wenn wir uns nicht mehr sehen." Sie sah ihn beinahe flehend an, bat ihn stillschweigend, ihre Worte nicht länger in Frage zu stellen. Zärtlich berührte sie seine Wange, wie sie es schon einmal getan hatte und wieder fühlte sich Frodo unfähig, sich der Berührung zu entziehen. Stattdessen legte er eine Hand auf die ihre. "Ich will nicht, dass er dich verletzt." "Seine Taten verletzen mich nicht mehr, als es deine Worte tun, solltest du diese wirklich ernst meinen", sagte er bekümmert. Ihre Augen schimmerten mit ungeweinten Tränen und obwohl Frodo um ihre Freundschaft fürchtete, wusste er doch, dass nicht sie es war, die sie beenden wollte. Hatte sie ihn nicht erst gestern noch umarmt? Sie durfte ihn nicht wieder alleine lassen, nur weil Reginard ihn schlug. Sollte er ihn verprügeln, wenn es ihm Freude bereitete, doch er durfte ihm nicht Nelkes Freundschaft nehmen. Wortlos stolperte Nelke in einer überstürzten Bewegung zu den Ponys, wo sie ihrer Fuchsstute zärtlich über die Nüstern strich. Frodo blieb hilflos auf der Bank sitzen. Lief er Gefahr Merry und Nelke zu verlieren, wenn er nicht handelte? Doch was sollte er tun, was sollte er sagen, ohne noch mehr falsch zu machen, als er es bereits getan hatte? "Wenn wir uns heimlicher treffen als zuvor?", schlug er schließlich zaghaft und ohne sie anzusehen vor. Er hatte nicht viel Hoffnung, dass sie diesen Vorschlag annahm, doch etwas Besseres fiel ihm nicht ein. "Seit du mit ihr befreundet bist, habe ich das Gefühl, dass du nicht länger mein Freund sein willst." Ein leises Rauschen ging durch die Blätter der Trauerweide. Betrübt dachte er an die Worte, die Merry voller Zorn und Verzweiflung gesprochen hatte und ihm war klar, dass er auch seinen Vetter bei seiner Überlegung nicht außer Acht lassen durfte. Um auch ihm gerecht zu werden, fügte er noch leiser hinzu. "Und uns seltener sehen?"
Nelke hob verwundert den Kopf und bemerkte, dass seine flehenden Augen auf sie gerichtet waren. Nur schwer gelang es ihr, diesem Blick standzuhalten. Beinahe hätte sie gelächelt. Er hielt an seiner Freundschaft fest, ganz gleich, welchen Preis er dafür bezahlen musste. Sie bewunderte das, doch war sie nicht sicher, ob sie seinen Vorschlag annehmen konnte. Wie gerne hätte sie es getan! Es wäre ein Wagnis. Sie würde noch vorsichtiger sein müssen und ihre Ausreden noch besser. Ein Kribbeln durchlief ihren Körper, während er ihren Blick in einer stummen Bitte festhielt. Sie mochte ihn mit jedem Tag mehr, ganz gleich, was andere über Frodo Beutlin sagen mochten. Konnte sie ihre Freundschaft verraten, nur weil sie nicht denselben Mut aufbringen konnte, den er besaß? War es denn Mut und nicht vielmehr Dummheit? Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste, was sie wollte und Frodos Augen ließen ihr das wieder bewusst werden, ganz gleich, was sie zuvor getan oder für richtig befunden hatte. Sie wollte seine Freundschaft nicht mehr missen und doch… "Ich weiß nicht, ob das möglich sein wird." Die Hoffnung, die in Frodos Herzen aufkeimte, wischte alle Anzeichen von Traurigkeit und Grübelei aus seinem Gesicht und brachte einen kindlichen Glanz in seine Augen. "Wir können es versuchen."
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Ein erleichtertes Lächeln lag auf Frodos Gesicht, als er Sattel und Zaumzeug in die dafür vorgesehene Kammer trug. Nelke hatte ihre Zweifel, doch sie hatte heimlicheren Treffen zugestimmt. Wie sie das tun wollten, wussten sie noch nicht, doch Frodo war zuversichtlich, dass ihnen etwas einfallen würde. Die eine Freundschaft hatte er mit Müh und Not gerettet und nun galt es, widergut zu machen, was er am vergangenen Abend verbrochen hatte. Als er zufrieden an Silberschweifs Box trat, kitzelte der Duft von frisch eingetragenem Heu seine Nase. Im trüben Licht, das durch die feinen Risse und Spalten im Holz hereindrang, tanzten kleine Staubkörnchen. Nelke, die dem Pony den Hals klopfte, wandte sich ihm zu. Ihre Blicke trafen sich und Frodo erkannte das Lächeln, das in ihren Augen schimmerte und war glücklich. "Wir werden uns trennen müssen", stellte Frodo fest. Nelke nickte, wobei sie über seine Schulter hinweg zum Stalltor sah, das den Blick zum Bockberg freigab. "Einer von uns wird zu spät zum Abendessen kommen." "Nicht du." Frodo wusste nicht, wie ihm geschah, als sie plötzlich die Arme um seinen Hals schlang und ihn festhielt. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er hielt gespannt den Atem an. Der Geruch von Heu und Ponys mischte sich mit dem ihrer Haare. Hatte er auf dem Rückweg zum Brandyschloss wieder ein angenehmes Kribbeln verspürt, entfachte ihre Berührung ein kleines Feuer, das sein wärmendes Knistern in seinem Körper ausbreitete. Zaghaft legte er seine Arme um sie, um ihre unausgesprochene Dankbarkeit auf dieselbe Weise zu erwidern. Dass sie ihn daraufhin schüchtern auf die Wange küsste, tat nichts dazu, seine Aufregung zu mindern. Wie zart sich ihre Lippen anfühlten! Für den Bruchteil eines Wimpernschlages glaubte er sogar, sich an dieses Gefühl gewöhnen zu können, ganz gleich, was er über das Küssen dachte.
"Nelke Boffin!" Die Röte, die ihm gerade in die Wangen steigen wollte, verblasste auf halber Strecke. Nelke stieß ihn förmlich von sich weg und der Schrecken in ihren Augen ließ jegliches Kribbeln sofort ersterben. Frodo erkannte die Stimme nicht, doch die Strenge und Empörung, die darin lagen, ließen selbst ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Erschrocken wandte er sich um, um die stämmige Gestalt von Nelkes Vater in der Tür zu erkennen. Die Sonne schien ihm in den Rücken, sodass sein Schatten lang und bedrohlich in den Stall geworfen wurde, während der entschlossene Vater seiner Tochter, die angstvoll einige Schritte zurückwich, raschen Schrittes entgegen stampfte. Frodo stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben, denn Olos wutentbrannter Blick galt nicht nur Nelke. Silberschweif schnaubte unruhig und Frodo klammerte sich unwillkürlich an die Box, als ein erstes Gefühl der Angst auch die letzten knisternden Flämmchen erstickte, auf dass nicht einmal die Erinnerung daran zurück blieb. "Wie kannst du es wagen, sie so zu berühren, du Lüstling!" donnerte Olo mit tiefer Stimme, während er Frodos Ohrläppchen packte und es grob verdrehte. Ein leiser Schmerzenslaut entwich Frodos Lippen, als der Hobbit an seinem Ohr zog und ihn schließlich unsanft am Kiefer ergriff, um ihn so dazu zu zwingen, in dunkle Augen zu blicken, die ihn mit Dolchen zu durchbohren schienen. Frodo hielt mit der einen Hand Olos Handgelenk umklammert, war jedoch vor Überraschung wie gelähmt. Mit weit aufgerissenen Augen sah er in das pausbäckige Gesicht, das seinem immer näher kam. Der scharfe Geruch von Branntwein drang in seine Nase, die er angeekelt rümpfte. Er versuchte sich abzuwenden, doch die Hand an seinem Unterkiefer erlaubte ihm die Bewegung nicht. Auch die Finger, die noch immer sein Ohrläppchen gefangen hielten, zerrten mahnend, ließen ihn sich verkrampfen, um dem Schmerz nicht noch einmal nachzugeben. "Solltest du noch einmal wagen, Hand an sie zu legen, werde ich dich lehren, was der Herr offensichtlich versäumt hat."
"Vater!" Nelke war die ganze Zeit über schweigend in der Ecke gestanden, hatte wie erstarrt beobachtet, was geschah. Schließlich löste sie sich aus ihrer Versteinerung, um Frodo zu Hilfe zu eilen, doch ihre Stimme klang verzagt und zitterte. Nichtsdestotrotz legte sie eine schlichtende Hand auf den Arm ihres Vaters, der sie unsanft zur Seite stieß. "Wir sprechen uns noch, junges Fräulein!" fauchte er, warf Frodo einen letzten giftigen Blick zu ehe er von ihm abließ, um Nelke mit dem Handrücken zu ohrfeigen. Sie starrte ihren Vater an, erschüttert und entsetzt. Bevor sie mit einer Hand die Wange berühren konnte, kam bereits der nächste, klatschende Schlag. Frodo zuckte zusammen, als wäre er es, der getroffen worden war, die Lippen zu einem stummen Aufschrei geöffnet. Olo packte Nelkes Oberarm, zog seine Tochter, die den Kopf gesenkt hielt und nicht einmal zurückblickte, mit sich fort, während seine wütende, zurechtweisende Stimme die abendliche Ruhe durchschnitt.
Frodo blieb fassungslos zurück, starrte seiner Freundin mit blinden Augen hinterher. Er war überrascht gewesen, dass Nelkes Vater so grob mit ihm umgegangen war, doch als dieser Nelke geschlagen hatte, hatte für einen Augenblick alles in ihm verzagt. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass Eltern ihre Kinder mit der Hand züchtigten, erst recht nicht wegen einer nett gemeinten Umarmung. Der Schrecken darüber ließ seinen Körper erzittern. Der Gedanke, dass Nelke von ihrem eigenen Vater und nicht etwa von ihrem Bruder, wie Frodo es vermutet hatte, geschlagen wurde, wollte ihm nicht in den Kopf. Es war zu absurd, zu fürchterlich. Seine Knie wurden weich und er ließ sich langsam an der Ponybox zu Boden gleiten, während er endlich den Blick von der Türe abwandte. Deshalb hatte sie sich nicht mehr mit ihm treffen wollen. Aus Angst, ihr Vater könne sie zusammen sehen und sie verprügeln. Frodo schluckte den Kloß, der sich in seinem Hals bildete. Hatte er heute Nachmittag wirklich eine Freundschaft gerettet oder nur die Lage seiner Freundin verschlimmert?
Völlig mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, bemerkte Frodo nicht, wie sich auf dem Heuboden etwas regte. Ein groß gewachsener, kräftig gebauter Hobbit steckte die Gabel ins Heu, ein hinterhältiges Funkeln in den dunklen Augen. Das Licht, das durch ein kleines Loch in der Wand herein drang, zeigte sein nussbraunes Haar und das zufriedene Lächeln, das sein Gesicht zierte. ‚Reginard hatte also doch Recht', dachte der Tween und verschwand im Schatten.
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"Wir haben uns getrennt." Die ausdruckslose Stimme drang durch die stille Dunkelheit des Zimmers an sein Ohr. Trotz ihrer geringen Lautstärke klangen die Worte schwer und Merry konnte sie nicht sofort begreifen. Einen langen Augenblick blieb er reglos liegen, bis deren Bedeutung ihm plötzlich gewiss wurde und er verdutzt die Stirn in Falten legte. Er hatte heute wenig mit Frodo gesprochen, hatte seine Zeit damit verbracht, seine Gedanken zu ordnen. Sein Zorn auf Frodo war zu einer bloßen Erinnerung geworden, auch wenn er dessen Absichten noch immer nicht begreifen konnte. Als er abends die Nähe seines Vetters gesucht hatte, war dieser jedoch sehr schweigsam gewesen und ein Ausdruck von Schwermut, den Merry ebenso wenig begreifen konnte, wie die eben gesprochenen, leisen Worte, war in seinen Augen gelegen. "Weshalb?", fragte er verblüfft und richtete sich auf. "Hast du nicht das gewollt?", fragte dieselbe ausdruckslose Stimme. Merry runzelte die Stirn. "Schon, aber…" "Dann solltest du es hinnehmen, ohne zu fragen." Verwundert blickte Merry dorthin, wo er Frodo vermutete, doch konnte er ihn weder erkennen, noch hören, wie er sich rührte. Er wusste, dass er an dieser Trennung nicht unschuldig war und die Traurigkeit, die nun in Frodos Stimme lag, sorgte dafür, dass er sich schlecht fühlte. "Es tut mir Leid", wisperte er schließlich und überlegte, ob er noch hinzufügen sollte, dass er Nelke nicht ganz so schlimm fand, wie er behauptet hatte, doch behielt er seine Worte für sich. Schwer ließ er den Kopf in sein Kissen sinken.
Eine Träne stahl sich aus Frodos Augenwinkel, lief über seine Nase und tropfte schließlich auf das Kissen. Merrys Freundschaft war ein Preis gewesen, den er nicht hatte bezahlen wollen und nur deshalb hatte er seinen Vorschlag so formuliert, wie er es getan hatte. Nelkes Wohlbefinden war wiederum ein Preis, den er nicht bezahlen durfte und nur deshalb würde er sich von ihr fernhalten und so die unfreiwilligen Absichten verfolgen, zu denen ihm das Mädchen zuerst geraten hatte.
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Mit leisem Klicken fiel die Tür ins Schloss. Frodo nahm den Stuhl, der an der Wand lehnte und trug ihn zögernd zum Schreibtisch. "Einen Augenblick", bat der Herr, ohne von der Tabelle, über der er brütete, aufzublicken. Frodo setzte sich wortlos und ließ den Blick durch das Arbeitszimmer wandern. Ein Strauß weißer und lilafarbener Astern stand auf der Kommode und wurde vom einfallenden Licht der Sonne umschmeichelt. Der Schreibtisch sah weniger einladend aus. Papiere türmten sich darauf und auf den meisten konnte Frodo ähnliche Tabellen erkennen wie jene, die Saradoc studierte. Daneben lagen mehrere Briefe, manche ungeöffnet, die anderen mit erbrochenen Siegeln. Ein kleiner Messingbrieföffner schimmerte im Sonnenlicht. Ein wenig beunruhigt beobachtete Frodo, wie der Herr die Stirn in Falten legte, sich nachdenklich mit der Feder über die Lippen strich. Er wusste nicht, weshalb er hier war. Nach dem Frühstück hatte er mit Merry zum Bruch gehen wollen, doch der Herr hatte es ihm verboten und verlangt, dass er in sein Arbeitszimmer käme, sobald er beim Waschen des Frühstücksgeschirrs behilflich gewesen war. Von zunehmender Unruhe ergriffen, begann Frodo ungeduldig mit den Fingern auf die Schenkel zu klopfen. Die Stille behagte ihm nicht.
Seufzend steckte Saradoc die Feder schließlich zurück in die Halterung, streckte sich kurz und blickte dann auf den jungen Hobbit vor sich, der ihn mit einer stummen Frage im Gesicht ansah. "Weißt du, weshalb du hier bist?" Wie er es erwartet hatte, schüttelte Frodo den Kopf. Geduldig faltete Saradoc die Hände, legte sie auf den Schreibtisch, nachdem er die Tabelle zur Seite gelegt hatte. "Olo Boffin war gestern Abend bei mir und wir haben uns lange unterhalten", erzählte er dem Jungen beiläufig und konnte beobachten, wie sich erst Überraschung, dann Entsetzen und schließlich Sorge in seinen Zügen widerspiegelte. "Er hat mir manches anvertraut und sich über vieles aufgeregt. Er meinte, du hättest keinen Funken Anstand und stiegest den Mädchen nach." Frodos Gesicht wurde erst rot, dann blass. "Zu guter Letzt hat er meine Erziehungsmethoden in Frage gestellt und mir des Langen und Breiten erklärt, was ich bei dir alles falsch gemacht habe."
Frodo senkte den Kopf. Seine Finger hatten aufgehört zu klopfen, suchten nun aber nach einer anderen, unauffälligen Beschäftigung. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt. Er hatte geahnt, dass Nelkes Vater der Grund für seine Bestrafung war und Saradocs Worte ließen ihn bange werden. "Olo Boffin und ich haben sehr unterschiedliche Ansichten", erklärte der Herr und Frodo war überrascht ob des aufmunternden Tonfalles in dessen Stimme. Zaghaft hob er den Kopf, um Saradoc freundlich lächeln zu sehen. "Ich halte dich nicht für einen Lüstling, ebenso wie ich nichts davon halte, Kinder für eine Umarmung zu bestrafen." Erleichterung brachte Frodos Mundwinkel zum Zucken, auch wenn die nervöse Anspannung nicht aus seinem Körper weichen wollte. Würde er das Arbeitszimmer entgegen seiner Erwartungen ohne eine Bestrafung verlassen? Von Saradocs Nachsicht ermutigt, stellte er schließlich die Frage, die ihn beschäftigte. "Weshalb bin ich hier, wenn du mich nicht bestrafen willst?" Saradoc erhob sich und Frodos Hoffnung sank, denn die Gesichtszüge des Herrn wurden ernst. "Olo hat mir ungewollt die Antworten auf jene Fragen gegeben, die du mir auferlegt hattest. Du hast mich belogen, Frodo, und nun weiß ich auch weshalb." Der Herr verschränkte die Arme hinter dem Rücken und wandte sich dem Fenster zu, blieb einen nicht enden wollenden Augenblick wortlos stehen und betrachtete den lauen Morgen. Frodo presste die Lippen aufeinander und starrte zu Boden. Saradocs enttäuschter Tonfall hatte ihm einen schmerzhaften Stich versetzt. Würden ihn die Fehler jenes Abends nicht wieder loslassen? Traurige Verzweiflung schlich in sein Herz und nur seine verkrampft ineinander gefalteten Finger hielten sie davon ab, aus ihm hervor zu brechen.
Ein Zittern ging durch den jungen Körper, als Saradoc sich schließlich umwandte, ein Zeichen, dass Frodo bereits um seinen Fehler wusste. Zufrieden nickte der Herr mit dem Kopf, beinahe so, als bestätige er dadurch die Richtigkeit seines Vorgehens. Frodo sah ihn nicht an. "Du und Nelke, so scheint mir, seid euch näher gekommen und Reginard war nicht sehr glücklich darüber. Hat er dich deshalb geschlagen?" Frodo nickte zaghaft, was Saradoc erleichtert aufatmen ließ. Zumindest war der Junge jetzt ehrlich.
Es hatte keinen Sinn zu leugnen, denn was er zu schützen gehofft hatte, gab es nicht länger. Er hätte niemals lügen dürfen, das war ihm jetzt klar. Wenn er Saradoc den Grund für die Prügelei genannt hätte, hätte das seine Lage nicht schlimmer machen können, als sie es nun war. "Muss ich dich auf Schritt und Tritt beobachten, um sicher zu sein, dass ich dir glauben kann?" "Verzeih mir!" wisperte Frodo und seine Stimme brach, als die Erinnerung an Saradocs Worte andere Bilder zurückrief. Vor sechs Jahren hatten Marrocs Lügen dazu geführt, dass keiner ihm geglaubt hatte und Frodo würde die hilflose Leere, die er damals gefühlt hatte, niemals vergessen können. Seine eigene Lüge sollte nicht dazu führen, dass Saradoc erneut das Vertrauen in ihn verlor. "Verzeih mir", wiederholte er noch einmal und verzweifelte Tränen, die er nicht hatte weinen wollen, traten in seine Augen. "Ich wollte dich nicht belügen. Ich…" Er schnappte zitternd nach Luft. "Bitte, glaube mir, bitte."
Von Mitleid und Schmerz ergriffen, eilte Saradoc um den Schreibtisch. Er hatte den Jungen nur sehr selten weinen gesehen und bisher hatte es ihm jedes Mal das Herz gebrochen. Dieser Morgen sollte keine Ausnahme bilden. Wortlos kniete er sich vor dem Kind nieder, legte tröstend die Arme um die zitternden Schultern und zog den Jungen in eine liebevolle Umarmung. Frodos Finger ergriffen seine Ärmel, hielten sich krampfhaft daran fest. War er womöglich zu streng gewesen? "Sieh mich an, Frodo", bat er und legte die Hand auf dessen Wange, als der Junge ihn aus tränennassen Augen anblickte. "Ich habe dich heute Früh für deine Lüge bestraft und ich sehe, dass du deine Lektion gelernt hast. Ich vertraue dir." Frodo schwieg, seine Unterlippe zitterte. Saradoc schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, während er mit dem Daumen eine Träne wegwischte. Frodo ließ von seinem Hemd ab und nur Augenblicke später hatte er sich ganz aus der Umarmung gelöst. Während Saradoc die nun geröteten Wangen seines angenommenen Sohnes betrachtete, wischte sich dieser mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. Er hatte die Fassung rasch wiedererlangt. Ganz gleich, wie verzweifelt er sich an ihm festgehalten hatte, schien er nicht gewillt, in der Trost spendenden Umarmung zu verweilen. Saradoc hatte das wilde Pochen von Frodos Herzen an seiner Brust spüren können, hätte ihn gerne länger beruhigt, doch wie sollte er das tun, wenn der Junge es nicht zuließ? Er schüttelte den Gedanken ab, als ihm klar wurde, dass Frodo ihn fragend ansah, und erhob sich, um dem Jungen durch das Haar zu streichen. "Olo war, ebenso wie Reginard, nicht erfreut, dich mit Nelke zu sehen", stellte er fest.
Schweigend blickte Frodo auf die Papierstapel auf dem Schreibtisch, die Hände angespannt im Schoß gefaltet. Seine Verzweiflung hatte ihn so plötzlich übermannt, dass ihm erst klar wurde, was geschehen war, als der Herr über seine tränenfeuchte Wange gestrichen hatte. Das Mitgefühl in den grünen Augen hatte neue Tränen in ihm empor getrieben, doch Frodo hatte verzweifelt dagegen angekämpft. Auch jetzt mied er das Gefühl der Sehnsucht, das die Finger, die so tröstlich durch seine Locken strichen, hervorriefen, denn er wusste nicht, wann seine Tränen wieder versiegen würden, wenn er sich ihnen überließ. Zu vieles machte ihm in diesem Sommer das Herz schwer und er vermisste die stille Einsamkeit seines Zimmers in dem jene Tränen, deren Spuren noch in seinen Augen lagen, für gewöhnlich des Nachts sein Kissen getränkt und ihm so das Weitergehen leichter gemacht hatten. Tief Luft holend, antwortete er schließlich auf Saradocs Bemerkung. "Er muss sich nicht sorgen. Wir werden uns nicht mehr treffen." Saradoc sah ihn verwundert an, nickte jedoch. Mit in Falten gelegter Stirn, als würde er seine nächsten Worte bedenken, setzte er sich zurück an den Schreibtisch. Frodo war froh, dass er ihn nicht länger zu beruhigen versuchte, denn es fiel ihm immer schwerer, nicht auf die flehende Stimme seines Herzens zu hören. Er nahm einen weiteren zitternden Atemzug. "Er hat Nelke geohrfeigt. Zweimal", die Stimme leise, zögernd, "und das, obwohl sie nichts getan hat." Frodo hatte nicht vorgehabt, Saradoc davon zu erzählen, doch der Ausdruck stummen Schreckens, der in Nelkes Gesicht gestanden hatte, als Olo aufgetaucht war, ihre zitternde Stimme, als sie ihn zu beschwichtigen suchte und der Ausdruck von Überraschung und Vorahnung, als der erste Schlag unerwartet auf sie niedergegangen war, wollten ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Er musste handeln, und wenn Saradoc ihm nicht helfen konnte, wer dann? "Du darfst das nicht zulassen!" Endlich glaubte er, sich so weit unter Kontrolle zu haben, um den Herrn wieder ansehen zu können, doch gefiel ihm nicht, was er erkannte. Saradoc wirkte zwar erschrocken, doch als er ihm in die Augen sah, legte sich Bekümmerung über dessen Gesicht. "Es tut mir Leid, Frodo, doch ich fürchte, hier sind mir die Hände gebunden, selbst wenn ich sein Handeln nicht gutheiße." Frodos Hoffnungsschimmer verdunkelte sich und zugleich hallte der flache Schlag von Olos Hand in seinen Ohren wider. "Aber du bist Herr von Bockland!" versuchte er ihn zu erinnern, den Blick nun hilflos und ohne Verständnis. "Ich habe dir bereits gesagt, dass Olo und ich sehr unterschiedliche Ansichten haben", begann der Herr ruhig zu erklären, "und das nicht nur, wenn es um die Erziehung geht. Wir gehen unterschiedliche Wege. Ich mag Herr von Bockland sein, doch habe ich nicht das Recht, seine Erziehungsmethoden zu hinterfragen." Frodo konnte es kaum fassen. Seiner anfänglichen Verzweiflung mischten sich Empörung und die Wut der Hilflosen bei. Saradoc konnte dies doch nicht einfach geschehen lassen! "Aber er schlägt sie!" beharrte Frodo mit erhobener Stimme, den Körper gerade, die Muskeln angespannt. Er war ein Bild der Entschlossenheit, doch Saradoc schüttelte den Kopf. "Viele Eltern bevorzugen es, ihre Kinder mit der Hand zu züchtigen, Frodo. So lange er sie nicht grundlos verprügelt, handelt er nicht unrecht. Ich bin davon ebenso wenig erfreut wie du, doch ich fürchte, ich kann hier nicht eingreifen." Frodo erhob sich, die Hände zu zitternden Fäusten geballt, die Augen verständnislos auf den Herrn gerichtet, der ihn entschuldigend ansah. "Warum?", hätte er beinahe gefragt, denn so dankbar er war, dass Saradoc ihm seine Lüge verziehen hatte, so verletzt war er, dass der Herr nicht einmal in Erwägung zog, Nelkes Vater zur Rede zu stellen. Sein aufkeimender Zorn ließ ihn jedoch anders handeln, denn Frodo wusste, dass er seine Worte bereuen würde, sollte er dieses Gespräch fortführen. "Kann ich gehen?", fragte er stattdessen gereizt. Saradocs Ausdruck war unverändert und auf sein Nicken hin, packte Frodo den Stuhl, stellte ihn an seinen Platz an der Wand und stakste schwer atmend aus dem Zimmer.
~*~*~
Als Frodo nachmittags am Zaun der Ponykoppel stand, hatte sich sein Gemüt wieder beruhigt. Er sorgte sich um Nelke, doch Merimas, der an seiner Seite stand und mit einem kleinen Holzpferd spielte, das Marmadas für ihn geschnitzt hatte, lenkte ihn von seinen Gedanken ab. Der junge Hobbit plapperte vergnügt vor sich hin, während er sein Pony über den unteren Balken des Zaunes wandern ließ. Lächelnd blickte Frodo auf ihn hinab, strich ihm durch die hellen Locken. Als Merimas gesehen hatte, dass er ganz alleine unterwegs war, hatte er ihn unbedingt begleiten wollen und nicht nachgegeben, bis Frodo und Adamanta, die auf ihn und ihren eigenen Sohn Berilac Acht gegeben hatte, es ihm erlaubten. Erst hatte Frodo mit ihm Fangen gespielt, dann hatte Merimas nach einer Geschichte über Ponys verlangt und da es sich an der Koppel am besten darüber erzählen ließ, hatte Frodo das Kind hierher geführt. An der Geschichte hatte Merimas jedoch bald das Interesse verloren und war schließlich dazu übergangen, sich mit seinem neuen Spielzeug zu beschäftigen. Frodo spürte ein Kribbeln im Nacken und wandte sich verwundert um, als seine linke Hand, die eben noch durch Merimas' Locken gestrichen hatte, grob am Gelenk gepackt und verdreht wurde. Zischend schnappte er nach Luft, packte den Arm seines Angreifers, nur um von lähmender Angst überwältigt zu werden, als ihn dessen dunkle Augen mit scharfem Blick durchbohrten. Sein Rücken prallte gegen den Zaun, ließ ihn schmerzvoll das Gesicht verziehen, denn seine blauen Flecken waren noch nicht verheilt. Merimas rief ängstlich seinen Namen.
Ein gemeines Glitzern war in Marrocs dunkle Augen getreten, als sie Frodo alleine mit dem Jungen fanden und ein grausamer Plan sich zu entwickeln begann. Welch ein glücklicher Zufall, dass Frodo ausgerechnet auf Marmadas' einzigen Sohn aufpasste. Marmadas Brandybock, einer von zweien, die ihn beim Ausmisten immer zur Ordnung mahnten, ihn bei der Heu- und Strohernte zur Eile trieben und ihm zusätzliche Arbeit aufbürdeten, wenn er nicht fleißig war. Marroc würde sich an ihm rächen und zugleich bekommen, was ihm vor einem Monat verwehrt worden war. Sein eigenes Leben mochte Frodo nichts mehr wert sein, doch das des Jungen war es bestimmt. Leise, wie es nur Hobbits waren, hatte sich Marroc an den Zaun geschlichen, wo er sein Opfer schneller überwältigte, als er erwartet hatte. Rasch hatte er auch Frodos anderes Handgelenk ergriffen und auch wenn dieser sich wehrte, gelang es ihm, ihn festzuhalten. "Bevor du daran denkst, dich mit Gewalt befreien zu wollen", erklärte er mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht, "solltest du die Folgen einer solchen Tat bedenken." Damit ließ er von Frodo ab, packte stattdessen Merimas an der Schulter und zog ihn zu sich heran, sodass das Kind zwischen ihm und seinem eigentlichen Ziel stand. Merimas schrie überrascht auf und Frodo stürzte erschrocken nach vor, um den Jungen zu befreien, doch Marroc drehte sich erst von ihm weg, packte Frodo dann am Schopf und riss ihm den Kopf zurück, gerade als dieser die Hand des Kindes ergriffen hatte.
"Frodo!" Der Angesprochene verbiss sich den Schmerzenlaut, als er die Furcht und den Schrecken in Merimas' Augen sah. Er hatte ebensolche Angst. Kalt und unberechenbar war sie über ihn hereingebrochen, als er in die funkelnden Augen seines Peinigers geblickt hatte, hatte ihm die Luft abgeschnürt und ihn vor Schrecken wie erstarrt sein lassen. Hätte der Ältere nicht plötzlich nach Merimas gegriffen, wäre er nicht in der Lage gewesen, sich zu rühren, doch so hatte er handeln müssen. Was hatte Marroc mit Merimas vor? Er durfte ihm nicht wehtun! "Hör mir gut zu, Beutlin", zischte Marroc in sein Ohr und stieß ihn von sich weg. "Dem Jungen wird nichts geschehen, solange du tust, was ich dir sage und du weißt, was ich von dir will." Frodo stolperte zum Zaun, wo er sich sofort wieder umdrehte, um Marroc stechend anzusehen, doch veränderte sich sein Ausdruck, als er seinen Worten lauschte. Er erinnerte sich noch sehr gut, was Marroc wollte, doch ebenso, wie vor einem Monat, war er nicht gewillt, für den älteren Hobbit zu stehlen. Sein Ausdruck verfinsterte sich. "Und wenn ich das nicht tue?" "Dann werde ich zu härteren Methoden greifen müssen", fuhr Marroc trocken fort und um seinen Worten Ausdruck zu verleihen und den nörgelnden Fratz, der ihm als Druckmittel diente zur Ruhe zu bringen, drückte er die Schulter des Kindes so fest zusammen, bis dieses einen Schmerzenslaut von sich gab. Voller Entsetzen hob Frodo die Hand, gebot Marroc mit einem angstvollen Ausruf zur Einhalt. Merimas sah furchtsam zu ihm auf, wand sich aus Marrocs Umklammerung und versuchte, nach ihm zu treten, doch der Ältere ließ ihn nicht gehen, sondern grinste zufrieden. Die Sonne spielte mit dem nussbraunen Haar Marrocs, während Frodo fieberhaft darüber nachdachte, wie er Merimas aus seiner misslichen Lage befreien konnte. Die Furcht saß ihm kalt im Nacken, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Frodo wollte nicht glauben, dass Marroc dem Kleinen etwas antun würde, nur weil er wollte, dass er für ihn arbeitete, doch dann erinnerte er sich an das verzweifelte Gefühl, nicht mehr atmen zu können, roch den Fluss und schmeckte den schleimigen Geschmack des Wassers. Furchtsam schloss er die Augen. Der Ältere hätte ihn beinahe ertränkt, um seinen Willen zu bekommen, wie sollte er sicher sein, dass Marroc nicht auch dazu fähig war, ein Kind zu verletzen? "Ich will zu meiner Mama!" jammerte Merimas plötzlich. Er blickte Hilfe suchend zu ihm auf, die dunklen Augen mit ungeweinten Tränen angefüllt und Frodo spürte, wie er zu zittern begann. Er wusste, dass es nicht möglich war, jetzt einzuwilligen um Merimas zu schützen und später nicht zu tun, was Marroc verlangte. Sein Wort war bindend und an die Folgen eines Bruchs wagte Frodo nicht einmal zu denken. Merimas durfte nichts geschehen! Nach allem was Marmadas und Hanna für ihn getan hatten, durfte er ihren Sohn nicht unnötig in Gefahr bringen. Das konnte er weder ihnen, noch Merimas antun. Seine Augen fanden die des Kindes und versprachen wortlos, ihn wohlbehalten zu seiner Mutter zurückzubringen und auch später für seine Sicherheit zu sorgen. "Wirst du für mich arbeiten?", forderte Marroc, sein Ton strenger als zuvor. Die Bindung, die für einen Augenblick zwischen Frodo und Merimas bestanden hatte, brach und Frodo hob den Kopf, um seinem Peiniger entschlossen in die Augen zu sehen. Das Blut rauschte in seinen Ohren und das Herz pochte ihm bis in den Hals, denn er wusste, dass er nicht den Mut besaß, den er zu haben vorgab. Plötzlich weiteten sich seine Augen. "Bei allen Auen - ja!" schrie er aufgebracht. "Ja!"
Marroc grinste zufrieden in sich hinein. Er hatte gewusst, dass der Junge seinem Opfer teuer war. Von Merimas unbemerkt, ließ er sein Schnitzmesser, das hinter dessen Krauskopf aufgetaucht war und Frodo so sehr erschreckt hatte, wieder verschwinden. Er hatte nicht wirklich vor, das Kind zu verletzen, doch es gefiel ihm, dass Frodo ihm dies offensichtlich zutraute. Was Marmadas wohl dazu sagen würde, wenn sein kleiner Sohn mit der einen oder anderen Schnittwunde wieder nach Hause käme? Ob er sich diese Tat eher für den kleinen Berilac aufheben sollte, um so auch an Merimac Rache zu nehmen? Er verwarf den Gedanken vorerst, widmete seine Aufmerksamkeit stattdessen Frodo, dessen Augen noch immer vor Angst und Schrecken geweitet waren. Wie er die Furcht in seinem Blick doch liebte! "Eine weise Entscheidung", höhnte er ungetrübt - grinsend. Mit einer Bewegung, so unerwartet, dass Merimas ihr erst gewahr wurde, als es schon zu spät war, entriss er seinem Druckmittel das Holzpferd, das dieser umklammert hielt. Der Kleine schrie entsetzt auf, wand sich, trat und beschimpfte ihn und Marroc konnte ihn kaum wieder zur Ruhe bringen. "Es gehört mir!" rief er immer wieder, sah mit flehendem Blick zu ihm auf und versuchte immer wieder, nach der Figur zu langen. "Gib es zurück!" Doch Marroc dachte nicht daran, warf das Pony stattdessen Frodo zu, der es geschickt auffing. Flinke Hände würde der Junge auch haben müssen, wenn er für ihn arbeitete, dafür würde er sorgen. "Zerstöre es!" verlangte er streng, als er den verstörten Ausdruck im eingeschüchterten Blick seines Opfers erkannte.
Fassungslos sah Frodo von der Figur auf. Das konnte er nicht tun! Merimas hatte das Pferd erst vor kurzem von Marmadas erhalten. Er liebte dieses Spielzeug! Hilflos schüttelte er den Kopf, doch Marrocs Ausdruck blieb unerbittlich. Frodo spürte den hoffnungsvollen Blick des Kindes, der erst ihm galt und dann zu der Holzfigur in seinen Händen wanderte. "Gib es mir!" Die rechte Hand seines Schützlings war ausgestreckt, während die Finger der anderen sich um Marrocs braungebrannten Arm schlossen. "Bitte", flehte der kleine Hobbit, als hinter seinem rechten Ohr plötzlich das Messer aufblitzte. Frodo erstarrte und schnappte nach Luft. Alles in ihm verkrampfte sich, als Marroc die Klinge so drehte, dass sie im Sonnenlicht glitzerte. Ein kalter Schauer der Furcht lief ihm über den Rücken und sein Herz verzagte. ‚Vergib mir, Merimas', dachte er verzweifelt, wobei er traurig in die mit Tränen gefüllten Augen des Kindes blickte. ‚Vergib mir, doch ich muss es tun, um dich zu schützen.' Frodos Herz brach, als sich ein Bein mit einem leisen Knacken vom Körper der Holzfigur trennte. Merimas schrie entsetzt auf und die ersten Tränen liefen über sein Gesicht. Frodo grub sich die Nägel der freien, zur Faust geballten Hand ins Fleisch, blickte verbittert zu Marroc und seine Augen weiteten sich, als dessen Lippen die Worte "alle vier" formten. "Nein", wisperte er tonlos, schüttelte den Kopf und die Messerklinge glitzerte. Von Schmerz erfüllt und begleitet vom lauten Weinen des Kindes, drehte Frodo zaghaft die Figur in seinen Händen, hielt den Atem an, als er mit langsamen Bewegungen das zweite Bein vom Körper trennte. Das verzweifelte Rufen und Schreien des Kindes trieben ihm die Tränen in die Augen. Wie kalt und grausam Marroc doch war, dies von ihm zu verlangen! Verletzt und ohne Hoffnung kniff er die Augen zusammen. Er drehte das Holzpferd weiter in seiner Hand, als Marroc das wild um sich schlagende Kind nicht länger festhalten konnte. Der Kleine stürmte sofort auf ihn zu, bat ihn verzweifelt, aufzuhören und ihm sein Spielzeug zurückzugeben, versuchte jedoch zugleich, es ihm zu entreißen. Frodo hielt das Holzpferd in die Höhe, hörte das leise Knacken, als das dritte Bein brach. Mit der linken Hand, hielt er Merimas davon ab, an seinem Hemd zu reißen, doch wandte er den Blick ab, als er die verzweifelten Tränen sah, die über die Wangen des Kindes liefen. Merimas konnte nicht verstehen, weshalb er sein Spielzeug vernichtete und Marroc hätte sich keine grausamere Folter ausdenken können, um ihn seinen Dienst antreten zu lassen. Merimas trat ihn und zerrte an seinem Hemd, als auch das letzte Bein brach und Frodo kraftlos den Arm sinken ließ. Ohne den Jungen anzusehen, gab er ihm zurück, was sein war, doch sein Herz war gebrochen, ebenso, wie die Beine des Tieres. Voller Entsetzen blickte Merimas auf die Splitter, sah Frodo einen langen Augenblick verständnislos und mit zitternder Unterlippe an, entriss ihm schließlich die zerstörte Figur. "Ich hasse dich!" schrie er empört, ehe er laut schluchzend davon stürmte. Seine Worte trafen Frodo wie ein Dolchstoß. Sein Gesicht verzog sich zu einer Maske des Schmerzes und er richtete den Blick bekümmert auf das Gras zu seinen Füßen. Seine Augen drohten überzulaufen, doch hielt er seine Tränen verbissen zurück und ballte die Hände zu Fäusten. Was hatte er getan, dass die Welt ihm alles nahm, was er liebte? "Warum tust du das?", fragte er mit erstickter Stimme, als Marroc an ihn herantrat. "Das war gute Arbeit." "Warum?!" schrie er und funkelte Marroc trotz seiner Hilflosigkeit zornig an.
Marroc packte ihn grob an der Schulter. Er hatte erreicht, was er wollte, doch konnte es nicht schaden, Frodo dennoch zu zeigen, wo sein Platz war. Ein siegreiches Grinsen erschien auf seinen Zügen. Er hatte nie zufriedener ausgesehen. "Weil ich sicher sein muss, dass der Junge sein kleines Geheimnis für sich behält und du nicht willst, dass ihm etwas geschieht, nicht wahr?"
Frodo zeigte keine Regung und auch, als Marroc seinen Griff noch verstärkte, veränderte sich sein Ausdruck nicht. Er spürte den Schmerz, hieß ihn sogar willkommen. Nach allem, was er Merimas angetan hatte, hatte er es verdient, verletzt zu werden. Fast wünschte er sich, Marroc würde ihn schlagen, doch er wusste, dass er Merimas seinen Schmerz nicht würde nehmen können, indem er selbst Schmerz empfand. Er hasste Marroc für das, was er ihm angetan hatte. Sein Peiniger wusste, dass Merimas kein Wort über ihn verlieren würde, sondern die Tatsache, dass sein Pony kaputt war, nun viel wichtiger für ihn war. Und er hasste Marroc dafür, ebenso, wie er sich selbst dafür hasste, dass er Merimas in seine Probleme mit dem Tween hineingezogen hatte. "So lange du tust, was ich sage, wird dem Kleinen nichts geschehen", sagte Marroc und Frodo hätte das hämische Grinsen am liebsten aus dessen Gesicht geprügelt. "Ich werde Reginard informieren, auf dass auch er dich in Zukunft in Frieden lässt. Du kannst dich von nun an getrost mit Nelke treffen, schließlich bist du jetzt einer von uns." Der Ältere lachte und ging davon. Frodo blieb reglos stehen, ordnete Marrocs letzte Worte und sank schließlich weinend auf die Knie, das Herz blutend und die Gedanken voller Bitterkeit. Er war einer von ihnen.
~*~*~
Als Frodo abends im Wohnzimmer saß, kam Hanna zu ihm und befragte ihn wegen des Pferdes. Lange Zeit sah er sie schweigend an, wäre ihr beinahe weinend in die Arme gefallen. Er hatte gesehen, wohin ihn seine Lüge geführt hatte, doch nun würde er wieder lügen müssen, ganz gleich, wie viel Schmerz es ihm bereitete. Er spürte Marrocs Blick auf sich ruhen, als er zu einer zaghaften Antwort ansetzte. "Es war ein Versehen. Ich habe mich darauf gesetzt. Es tut mir Leid." Er konnte sie nicht ansehen und auch, als sie ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte und erklärte, dass dies halb so schlimm sei und Merimas es bald vergessen haben würde, hob er den Kopf nicht. Er war ein Verräter. Er betrog sie alle, denn auch wenn er nicht vorgehabt hatte, wieder zu lügen, tat er es, indem er schwieg. Er konnte es verantworten, wenn Marroc ihm etwas antat, doch nicht, wenn dieser seinen Zorn gegen Merimas richtete. Er musste schweigen, um den Kleinen nicht in noch größere Gefahr zu bringen. Wortlos stand er auf, ehe Hanna seine Verzweiflung spüren hätte können und verließ das Zimmer. Nach allem, was er an diesem Tag getan hatte, konnte er es nicht ertragen, in ihrer Nähe zu sein. Er konnte ihren Trost nicht in Anspruch nehmen, wo er doch das Unglück ihres Sohnes war.
Kapitel 70: Zug um Zug
Nachjul 1388 AZ
Der Herbst zog ins Land und färbte die Blätter bunt. Im Winterfilth wurden die letzten Felder und Gemüsebeete abgeerntet und jene Äpfel und Birnen, die sich nicht von den Ästen trennen wollten, von den Bäumen geschüttelt. Es war ein reiches Jahr gewesen und die Vorratskammern Bockenburgs und des Brandyschlosses waren bis zum Bersten gefüllt. Als das Vieh in die Ställe zurückgetrieben und die Schafe geschert wurden, bemerkte keiner, dass einer der Stallburschen nicht fleißig bei der Arbeit war, sondern sich ein noch warmes, großzügig geschnittenes Kuchenstück gönnte, über dessen Verbleib sich die Küchen-Mimi bereits den Kopf zerbrach. Sie gab die Schuld einem der Kinder, doch wurde der Übeltäter nie gefasst, auch nicht, als eine Woche später ein weiteres frisch gebackenes Kuchenstück verschwand. Gegen Ende des Monats bedeckte der erste Frost die Wiesen und die Kinder wussten, dass die Zeit des Unterrichts bald anbrechen würde. Manche, so wie Lily Brandybock, Frodos Cousine zweiten Grades, die erst in diesem Monat ihren zehnten Geburtstag gefeiert hatte, freuten sich darauf, während andere dieser Zeit des Jahres weniger begeistert entgegenblickten. Frodos Vetter Marmadoc war aus ihrer kleinen Gruppe der Einzige, der sich freute, denn in diesem Jahr stieg er in die höchste Stufe auf. Die ersten Wochen fielen jedoch auch ihm nicht leicht und jeder war froh, als der Vorjul anbrach. Ab Mitte des Monats wurden die Jul-Vorbereitungen zum Hauptgesprächsthema und die Belehrung der Kinder verlor an Bedeutung. Dies änderte sich erst, als die Feierlichkeiten vorüber waren. Dann wurde die Klasse jedoch gefordert, denn scheinbar erwartete jeder, dass die Kinder im neuen Jahr bereit waren, ihre Vormittage zu opfern und ihren Geist mit begrifflichem Wissen anzufüllen.
Die Klasse bestand, sehr zum Verdruss des unterrichtenden Hobbits, aus allen im Brandyschloss lebenden Kindern im Alter zwischen zehn und fünfundzwanzig, und es fiel nicht leicht, eine solch große Gruppe bei Laune zu halten. Aus diesem Grund war vor vielen Jahren beschlossen worden, die Klasse in unterschiedliche Stufen zu teilen. Während die Kleinsten, im Alter von zehn bis dreizehn, lernten mit der Feder umzugehen, sofern ihnen das nicht bereits von den Eltern beigebracht worden war, halfen die Ältesten, jene im Alter von zweiundzwanzig bis fünfundzwanzig, die in keiner Lehrverpflichtung standen, dem unterrichtenden Hobbit bei der Belehrung der Jüngsten. Vor allem jene waren nicht leicht zu unterweisen, da manche ihre Buchstaben bereits von den Eltern gelernt hatten, während andere nicht einmal wussten, wie sie eine Feder zu halten, geschweige denn zu verwenden hatten. Die Kinder im Alter von vierzehn bis siebzehn perfektionierten ihre Schrift, übten das Lesen und lernten zudem zu rechnen. Außerdem wurde ihnen ein wenig Grundwissen zur Vegetation mitgegeben, all dies, was sie in den langen Sommern auf den Feldern und in den Wäldern meist übersahen. Die übrig bleibende Gruppe, jene Kinder von achtzehn bis einundzwanzig, durften sich mit schwereren Rechenaufgaben quälen, denn ihre Buchstaben beherrschten die meisten. Außerdem wurden sie in der Geschichte und Geografie instruiert, lernten nicht nur, wo welche Ortschaften lagen, sondern auch, wer die Bewirtschaftung der einzelnen Vierteln zu überwachen hatte.
Der Unterricht war ein Sonderrecht, das jedem im Brandyschloss lebenden Kind zuteil wurde, doch war dies nicht alles, was jungen Hobbits mitgegeben wurde. Was sie über die wärmeren Monate auf den Feldern oder während der Tierversorgung lernten, war nicht minder von Bedeutung. Dies waren jedoch Lehrstunden, der sich die Eltern annahmen und somit sahen die Sommermonate bei jedem Kind unterschiedlich aus, da nicht alle Eltern den Umgang mit Booten oder das Scheren von Schafen für wichtig hielten. So nahm die Mithilfe in der Küche bei einem Mädchen mehr Zeit in Anspruch, obwohl gewünscht wurde, dass jeder Hobbit zu kochen lernte. Handarbeit wiederum war eine Beschäftigung, die einzig dem weiblichen Nachwuchs zugedacht wurde, während die Arbeit auf Hof und Feld den Jungen vorbehalten war.
Jenes Wohnzimmer, in dem der Unterricht für gewöhnlich abgehalten wurde, befand sich in einem der westlichen Gänge. Im Raum waren mehrere Tische aufgestellt, um die sich die Kinder versammelten. Die Ältesten ließen sich nahe des Kamins nieder, während die Jüngsten nahe der Türe saßen, da sie meist die Letzten waren, die morgens erschienen und die Ersten, die den Unterricht wieder verließen. Ein Kerzenkronleuchter spendete ausreichend Licht, während das Kaminfeuer für die nötige Behaglichkeit sorgte. Jammern oder Weinen vonseiten der Jüngsten war nichts Ungewöhnliches und störte die anderen nur selten bei der Arbeit. Frodo ließ seinen Blick dennoch in diese Richtung wandern, als Rumil Bolger zu schimpfen begann und Flüche ausstieß, von denen er sich wunderte, woher das Kind sie kannte. Rumil war Drida Bolgers ältester Sohn und Frodos Vetter zweiten Grades. Der Junge war für seine Ungeduld und seinen Trotzkopf, die nicht selten zu einem minderen Wutausbruch führten, bekannt. Marmadoc stand neben dem jungen Hobbit, einen hilflosen Ausdruck im Gesicht, während er versuchte, das Kind zu beruhigen und wieder zum Schreiben zu bewegen. Ein erheitertes Lächeln schlich sich über Frodos Züge. Marmadoc hatte sich seinen Platz in der Lerngruppe wohl nicht so vorgestellt. Ein älteres Mädchen mit dunklem Haar, an dessen Namen Frodo sich nicht sofort erinnern konnte, gesellte sich zu seinem Vetter und ihr gelang es schließlich, den erzürnten jungen Bolger soweit zu beruhigen, dass dieser aufhörte zu schreien. Rumil behielt seinen entschlossenen Ausdruck jedoch bei, verschränkte betont die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf, um klar zu machen, dass er nicht länger Buchstaben kritzeln wollte. "Frodo?" Der Angesprochene erwachte aus seinen Gedanken, als Madoc Platschfuß ihm einen Zettel reichte. Wie in beinahe jedem Winter, hatte sich Frodo auch dieses Jahr mit Nelke, Rubinie, Madoc und Minto an einen Tisch gesetzt. So konnten sie all ihre Rechenprobleme und geografischen Sorgen gemeinsam lösen. Mit leisen Worten bedankte sich Frodo beim Älteren der Platschfuß-Brüder und machte sich daran, das Blatt Papier zu studieren, das Merimac, der für den heutigen Tag durch den Unterricht führte, zuvor ausgeteilt hatte. Es war kein besonders schwerer Text. Auf zwei Seiten waren in kurzen Worten die wichtigsten Ämter innerhalb des Auenlandes zusammengefasst, angefangen von den drei Landbütteln, die in jedem Viertel tätig waren, über die Postboten, bis hin zum Herrn, dem Thain und dem Bürgermeister. Das Meiste war Frodo bereits bekannt, denn wer wusste nicht, was ein Landbüttel war und dass man ihn an der Feder an seiner Mütze erkennen konnte?
Gelangweilt reichte er das Papier an Nelke weiter und versank in Gedanken. Die Stunden des Unterrichts waren für ihn zu einer Zeit der Erholung geworden. Während jener ruhigen Stunden im Lernzimmer gab es für Marroc keine Möglichkeit ihm aufzulauern und ihn zu schändlichen Diebereien zu zwingen. Seit nunmehr über vier Monaten war er dem älteren Hobbit dienlich und brachte ihm Kuchen und andere Leckereien aus den Speisekammern. Frodo war erleichtert gewesen, dass dies alles zu sein schien, was Marroc von ihm wollte, doch kaum hatte sich dieser Gedanke in ihm festgesetzt, hatte der Tween mehr verlangt. Erst hatte Frodo Saradoc Münzen stehlen müssen, die der Tween zweifelsohne für den Genuss von Bier ausgegeben hatte, während er nun vor allem für das Auftreiben von Pfeifenkraut herangezogen wurde. Eine Pfeife hatte Marroc bereits, doch offensichtlich verfügte er nicht über die Mittel, sich das nötige Kraut zu besorgen. So war es an Frodo, Tabakbeutel zu stehlen, wenn keiner ihn beachtete und diese an Marroc weiterzureichen, ehe der Verdacht auf ihn fallen konnte. Zwei Mal hatte man ihn schon beschuldigt, doch hatte er seine Beute rechtzeitig seinem Auftraggeber zukommen lassen, sodass ihm die Tat nicht hatte nachgewiesen werden können und doch wusste Frodo, dass Saradoc und andere ein scharfes Auge auf ihn gerichtet hatten. Da Sadoc und Ilberic nicht länger im Brandyschloss weilten, war es nun vor allem Reginard, der von Marrocs neuster Gemeinheit profitierte. Meist saßen die beiden Vettern gemeinsam auf dem Heuboden und rauchten, während Frodo mit schlaffer Haltung und ausdrucksloser, nüchterner Miene neben ihnen stand, die Angst, er könne auf seinen Diebeszügen erwischt werden, noch immer in den Knochen. Mehrere Male hatte er darüber nachgedacht, dem Ganzen ein Ende zu bereiten, doch verdrängte das Bild eines von Messerschnitten übersäten Merimas diesen Gedanken jedes Mal aufs Neue. Er konnte nicht zulassen, dass ihm etwas geschah und da Frodo die Gewissheit, dass Hannas Sohn in Sicherheit war, niemals haben konnte, schwieg er, auch wenn seine Entwendungen weitaus größere Ausmaße annahmen, als er anfangs gefürchtet hatte. Die Furcht entdeckt zu werden, sei es bei der Ausführung eines Auftrages, oder um einen neuen zu erhalten, war zu seinem ständigen Begleiter geworden. Er war angespannt und dadurch leicht zu reizen. Frodo sehnte sich nach einem Ort, an den er sich zurückziehen konnte, doch auch wenn er jene Erlösung in der Bibliothek fand, war sie nicht von Dauer. Er wagte nicht, sich lange in jenem verstaubten Raum aufzuhalten, denn er fürchtete, Marroc könnte ihn auch dort aufspüren und soweit sollte es nicht kommen. Die Bibliothek hütete noch immer seinen größten Schatz und dessen sollte sein Peiniger nicht gewahr werden. Seine Bindung zu Merimas hatte an jenem Tag auf der Pferdekoppel großen Schaden genommen. Der kleine Hobbit hatte ihm seine Tat zwar verziehen, beobachtete ihn seither jedoch mit kritischen Augen, wann immer Frodo mit seinem Spielzeug spielte. Frodo verbrachte seine Zeit nur mehr selten mit Merimas, denn er wollte nicht, dass das Kind Ziel seiner empfindlichen Laune wurde oder Hanna Fragen über ebenjene stellen konnte. Im Stillen hatte er Abschied von der Familie genommen, die ihm so vieles bedeutete, denn noch mehr Schaden wollte er nicht über sie bringen, auch wenn es ihn schmerzte, nun gar nicht mehr mit Hanna zu sprechen.
Einen Vorteil brachte sein Bündnis mit Marroc jedoch. Reginard duldete seine Freundschaft zu Nelke, wenn auch nur widerwillig und mit einem kritischen Auge. Frodo war fest entschlossen gewesen, Nelke nicht wieder zu treffen, nachdem ihm der Grund für ihren Trennungswunsch klar geworden war. Mit weinendem Herzen hatte er ihr seine Entscheidung mitteilen wollen, doch war es dieses Mal Nelke gewesen, die ihn umgestimmt hatte. Ganz gleich, was Olo Boffin denken oder tun sollte, sie wollte ihn weiterhin heimlich treffen, wie sie es beschlossen hatten. So lange sie vorsichtig waren, konnte ihnen nichts geschehen. Frodo hatte trotz seiner Sorge um Nelke zugestimmt, denn anders als sie, wusste er, dass Reginard nun nicht länger gegen sie war. Nelkes Bruder würde sie nicht noch einmal verraten, so wie er es an jenem Abend, an dem Olo Boffin sie überraschte, getan hatte. Nelke hatte dennoch beschlossen, dass es während der Wintermonate besser war, wenn sie sich nur im Unterricht sahen und Frodo hatte dem zugestimmt. Zwar blieben ihnen persönliche Gespräche verwehrt, doch genügte es ihnen, einen gelegentlichen Blick zu tauschen und nebeneinander zu sitzen.
Nelkes Stimme war es, die ihn wieder in die Wirklichkeit zurückholte und blinzeln ließ. "Ich dachte immer, das Amt des Thains wäre das Wichtigste und doch hat der Bürgermeister mehr Pflichten." Madoc zuckte mit den Schultern, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Nelke reichte das Papier an Rubinie weiter, die es eiligst überflog, als hoffe sie, die Antwort auf die Frage ihrer Freundin in den Zeilen zu finden, doch Frodo kam ihr zuvor. "Das stimmt", sagte er und richtete sich in seinem Stuhl auf, hatte er sich doch davor mit dem Ellbogen vom Tisch abgestützt und das Kinn in den Händen ruhen lassen, "allerdings bleibt der Thain die wichtigste Person." Zweifelnde Blicke trafen ihn, sowohl von den Platschfuß-Brüdern, als auch von Nelke. Einzig Rubinie schien ihm nicht zuzuhören und befasste sich lieber mit dem Zettel, den sie erhalten hatte. Fragend blickte Frodo seine Mitlernenden an und ein Lächeln schlich über seine Züge. Die Aufgaben der einzelnen Ämter waren klar im Text angeführt worden. Sollte er etwa der Einzige sein, der einen Sinn daraus hatte entnehmen können? Sein Standpunkt stand jedenfalls fest und er war durchaus bereit, diesen zu verteidigen, denn die Gesichter der anderen ließen darauf schließen, dass sie nicht derselben Meinung waren. Nelke schüttelte den Kopf und winkte ab. "Im Vergleich zum Bürgermeister macht der Thain nichts." Sie erntete zustimmendes Nicken von den Brüdern, doch Frodo lächelte nur, während er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und zu erklären begann. "Er mag zwar Postmeister und erster Landbüttel sein, doch wenn wir in weniger friedlichen Zeiten leben würden, müsste der Thain das Heer anführen und unser Land verteidigen, denn er ist sowohl Hauptmann der Hobbit-Wehren, als auch der Auenland-Heerschau. An den Bürgermeister würde sich dann niemand mehr erinnern." Minto schüttelte den Kopf, lehnte sich ebenfalls in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Fragend zog Frodo eine Augenbraue hoch, damit rechnend, der Jüngere würde seine Aussage anfechten, doch stattdessen sagte er, sehr mit sich selbst zufrieden: "Ganz gleich, wer das wichtigste Amt hat und an wen man sich erinnern wird, ich werde bei der Post arbeiten." Einen Augenblick herrschte überraschtes Schweigen. Den Blick in die Ferne gerichtet, schaukelte Minto mit seinem Stuhl und hing seinen Gedanken nach. Nelke gab als erste ein leises Kichern von sich, in das kurz darauf auch Madoc, Frodo und sogar Rubinie, die den Jüngeren mit einem skeptischen Blick ansah, einstimmten. Beinahe wäre Minto vom Stuhl gefallen, als das laute Lachen ihn aus seinen Tagträumen riss. Nelke langte über den Tisch, legte tröstlich ihre Hände um Mintos Rechte und sah ihn mit erheitertem Mitleid und einem verkniffenen Lachen an. "Ja, Junge, geh du nur zur Post." Einen Moment sah Minto ihr völlig verdattert in die Augen, bis ihm klar wurde, dass sie sich über ihn lustig machten. Missmutig stieß er Nelkes Hände von sich weg, verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust und blickte griesgrämig in die Runde, wobei er mitteilte, dass es ihnen noch Leid tun würde, ihn belächelt zu haben. "Meine Damen, meine Herren?" Das Lachen ebbte zu einem leisen Kichern ab, während sich die Kinder wieder ordentlich an ihre Plätze setzten und versuchten, möglichst geschäftig zu wirken. Rubinie, die sich kurz zu einem Mädchen am Nebentisch umgewandt hatte, drehte sich rasch wieder um und vergrub die Nase im Zettel, wobei sie beinahe mit Nelke zusammenstieß, die ebenfalls so tat, als würde sie die Zeilen noch einmal überfliegen. "Gibt es Probleme?" Merimac stützte sich auf die Stuhllehnen von Frodo und Madoc und blickte in die Runde. Das Gelächter am Tisch war ihm nicht entgangen und er wollte nach dem Rechten sehen. Minto, der Jüngste in der Gruppe, ließ einen strafenden Blick zu den anderen wandern, ehe er den Kopf schüttelte. Nicht wirklich überzeugt, wollte Merimac der Sache auf den Grund gehen, doch Frodo versicherte ihm, dass alles in Ordnung war, bevor er auch nur den Mund hatte aufmachen können. Madoc nickte ebenfalls beschwichtigend, den Hauch eines Grinsens im Gesicht. "Frodo hat uns nur den Inhalt des Textes erläutert." "Ist das so?", Merimac blickte erst auf Frodo, dann in die eifrig nickenden Gesichter der anderen Kinder. Ein Lächeln stahl sich über seine Lippen und er klopfte seinem jüngeren Vetter anerkennend auf die Schulter. "Gut gemacht!" Frodo strahlte über das ganze Gesicht, wirkte zugleich verlegen und Merimac bemerkte nicht zum ersten Mal den bewundernden Blick, den Nelke ihm zuwarf.
~*~*~
Zufrieden schlenderte Saradoc durch die Gänge des Brandyschlosses, den lang erwarteten Brief endlich in Händen. Er hatte ihn bereits gelesen und dessen Inhalt stimmte ihn froh. Olo Boffin hatte ihn schon im letzten Herbst gebeten, beim Tischler von Bockenburg um eine Lehrstelle für seinen Sohn anzufragen. Da Saradoc den Tischler, Bingo Wühler, persönlich kannte, hatte er sich dieser Sache gerne angenommen, war jedoch mit einer Antwort auf das nächste Jahr vertröstet worden. Das neue Jahr war nun gekommen und Bingo Wühler hatte seine Erwartungen nicht enttäuscht. Bereits im nächsten Monat sollte Reginard Boffin bei ihm in die Lehre treten. Um Olo ebendies mitzuteilen, ging er alle Wohnzimmer ab, in denen er den älteren Hobbit vermutete, als Frodo plötzlich um eine Biegung stürmte und ihm geradewegs in die Arme lief. Der Junge zuckte erschrocken zusammen, verkrampfte sich und wollte sich alsbald aus seinem auffangenden Griff lösen. "Vorsicht!" mahnte Saradoc streng, doch legte er die Stirn in Falten, als er den gehetzten, beinahe panischen Ausdruck in den Augen des Jungen sah. "Ist alles in Ordnung?" Beunruhigt ließ er seinen Blick zur Biegung wandern. "Du rennst, als würdest du verfolgt." "Nein… ja… ich meine", stammelte der Junge und schüttelte den Kopf, als könne er sich dadurch seiner Verwirrung entledigen. "Es ist alles in Ordnung."
Frodo war gleichermaßen erleichtert und entsetzt, ausgerechnet Saradoc in die Arme zu laufen. Der Schrecken vor Marroc, der aus einem Wohnzimmer getreten war und zu seiner panischen Flucht geführt hatte, saß ihm noch im Nacken. Schon seit fast einer Woche hatte er nichts für den Älteren besorgen müssen und so lange er Marroc nicht begegnete, würde dies auch so bleiben. Deshalb war er gerannt, noch ehe er gewusst hatte, ob sein Peiniger ihn überhaupt gesehen hatte und verfolgte. Trotzdem ertappte er sich dabei, wie er über seine Schulter schielte, als auch Saradocs Blick noch einmal prüfend zur Biegung wanderte, doch weder hörten sie Schritte, noch sahen sie den vermeintlichen Verfolger. "Bist du dir sicher?", fragte Saradoc noch einmal und blickte ihm dabei so tief in die Augen, dass Frodo den Kopf abwenden musste, auf dass der Herr der heimlichen Bitte nicht gewahr wurde. Er wollte nicht mehr stehlen müssen, wollte Marroc nicht länger dienlich sein. Er wünschte sich nichts mehr, als die Furcht endlich hinter sich zu lassen. Furcht um Merimas, aber auch Angst um sich selbst. Er hielt es nicht länger aus, für Marroc zu arbeiten und Ziel seiner Wut zu werden, doch es war zu spät, um umzukehren. Dieses Spiel lief bereits zu lange, war schon zu weit gegangen, als dass Frodo es noch hätte stoppen können. So nickte er entschlossen und schenkte Saradoc ein zaghaftes Lächeln. Der Herr schien nicht ganz zufrieden, denn er bedachte ihn einen langen Augenblick, spähte dann noch einmal zur Biegung. Schließlich nickte er und nahm die Hände von Frodos Schultern. "Esmie sucht bereits nach dir. Alleine will sie euer Zimmer nicht aufräumen." Frodo nickte, bedankte sich knapp bei Saradoc und eilte an ihm vorüber, den Blick, der ihm folgte, auf seinem Rücken spürend.
Esmeralda hatte schon vor einiger Zeit angekündigt, dass das Zimmer, das er mit Merry bewohnte, einer gründlichen Reinigung bedurfte. Oberflächen sollten von Staub befreit werden, Schränke von Kleidern, die den nächsten Sommer nicht mehr erleben sollten und Schubladen von überschüssigem Plunder. Merry hatte sich gleich nach dem Mittagessen an die Arbeit gemacht und war bereits fleißig damit beschäftigt, alle Gegenstände von seinem Regal zu nehmen und dieses mit einem feuchten Lappen zu putzen, als Frodo in das Zimmer schlurfte. "Da bist du ja endlich!" Merry hatte seinen schmutzigen Lappen nach ihm geworfen, noch ehe Frodo die Tür hatte schließen können. "Wolltest dich wohl vor der Arbeit drücken." Frodo nahm den Fetzen von seiner Schulter und warf ihn zurück. Ohne auf die Bemerkung einzugehen, setzte er sich auf sein Bett, das seiner Bezüge entledigt worden war, und gähnte herzhaft. Die vergangene Nacht war kurz gewesen, denn wie so oft hatten Merry und er sich in das Zimmer von Madoc und Minto geschlichen, wo sie Karten gespielt hatten, bis Herr Platschfuß sie entdeckt und in ihre eigenen Betten geschickt hatte. Frodo und Merry waren zwar in ihr Zimmer zurückgekehrt, doch hatte sie das Spielfieber gepackt und so waren sie im Licht des ausgehenden Feuers auf dem Fußboden neben dem Kamin gesessen und hatten gewürfelt, lange nachdem es in den Wohnräumen ruhig geworden und die Schlafzimmertür des Herrn und der Herrin mit einem leisen Klicken ins Schloss gefallen war. "Heute Früh hat man davon noch nichts bemerkt", stellte Merry mit einem Zwinkern fest, suchte nach einem neuen Gegenstand, den er nach Frodo schmeißen konnte, um ihn aufzuwecken. Er fand das Kaninchen, das Frodo von Pippin erhalten hatte und warf es ihm zu. Frodo fing das ausgestopfte Tier auf, schüttelte den Kopf und begann dann, den Staub aus dem weichen, braunen Fell zu streicheln, um wenigstens einen geschäftigen Eindruck zu machen, denn auf einen Zimmerputz hatte er keine Lust.
Als Esmeralda in das Zimmer zurückkehrte, nahm sie darauf jedoch keine Rücksicht und verlangte sogleich, dass er seinen Nachttisch ausräumte und darin für Ordnung sorgte. Missmutig machte sich Frodo an die Arbeit, räumte Kerzen, Streichhölzer und andere Kleinigkeiten aus der oberen der beiden Schubladen. Das Feuer schien ihm dabei warm ins Gesicht und Frodo ließ sich vom leisen Knistern und dem angenehmen Duft von Apfelholz beruhigen. Wenn das Glück auf seiner Seite war, würde er Marroc heute nicht mehr begegnen. Erschrocken zuckte er zusammen, als Merry eine kalte Hand an seinen Nacken hielt. Sein Vetter lachte, stellte fest, dass er schon wieder träumte, eine Anschuldigung, die sich Frodo in letzter Zeit häufiger als gewöhnlich hatte anhören müssen, und machte sich dann daran, das Regal wieder einzuräumen. Mit einem Lächeln im Gesicht bemerkte Frodo, wie Merry darauf achtete, dass manche Steine, die er erst im vergangenen Sommer aus dem Brandywein gefischt hatte, dem Blick seiner Mutter verborgen blieben. Einige wurden hinter dem ausgestopften Kaninchen versteckt, andere verschwanden vorübergehend in Merrys Hosentaschen. All die Zeit ließen sie ihr Gespräch immer wieder zur Überflüssigkeit eines Zimmerputzes wandern, bis Esmeralda, die derweil die Kleider im Schrank aussortierte, dem ein Ende setzte und Merry zu sich rief, um einige ältere Hosen anzuprobieren.
Nachdem er den Tisch und die obere Schublade geputzt und alles wieder an seinen Platz gestellt hatte, widmete sich Frodo der unteren Lade. Beinahe zärtlich strichen seine Finger über die alte Holztruhe, die er darin verwahrte, ehe er sie vorsichtig heraushob und auf das Bett stellte. Unter der Truhe kam eine weitere flache, lange Holzkiste mit zwei Messingscharnieren zutage. Frodo nahm auch sie heraus, legte sie auf seinen Schoß und strich mit den Fingern darüber. Das dunkle, geölte Holz war bis auf ein großes ‚B', das in den Deckel eingraviert worden war, unverziert. Die Kanten waren abgerundet. Spuren des Gebrauchs waren genauso wenig zu erkennen, wie solche des Alters. Vorsichtig nahm Frodo den Messingstift am Verschluss heraus, schob den Deckel bis zum Anschlag um den Inhalt zu betrachten. Edles Briefpapier, dessen weißgelbe Farbe einen Kontrast zum dunklen Holz bildete, kam zum Vorschein. Daneben lag eine Fasanenfeder, ebenso unbenutzt wie das Papier. Frodo hatte es von Bilbo an dessen Geburtstag erhalten. Es war ein Dankeschön für die vielen Briefe, die er seinem Onkel über die Jahre hatte zukommen lassen, ebenso wie eine Anregung, jenen Kontakt weiterhin aufrecht zu erhalten. Frodo dachte häufig an den alten Hobbit, schrieb ihm ebenso fleißig wie eh und je, doch seine Worte fielen ihm immer schwerer. Bei jedem Brief erwachte der Schmerz aufs Neue und mit ihm die Gewissheit, dass er Bilbos Liebe erst noch verdienen musste. Manchmal wünschte er sich, er hätte damals nicht nachgefragt, bis die grausame Wahrheit ans Licht gekommen war. Er hatte gespürt, dass Bilbo sein Zuhause war, weshalb also hatte er dennoch eine Bestätigung seines Gefühls verlangt? Hatte er nicht einfach zufrieden sein können? Manchmal wünschte er sich, er könne wenigstens vergessen, dass jene Worte gefallen waren und weiterhin im Glauben leben, Bilbo würde ihn lieben, selbst wenn es eine Lüge war. Bilbos Briefe hatten ihm Mut gegeben, waren etwas, auf das er sich hatte freuen können. Jetzt vermisste er beides. Zwar erhielt er noch immer regelmäßig Nachrichten aus Hobbingen, doch brachten sie statt der Freude zerstörte Hoffnungen und daraus ließ sich keine Kraft schöpfen. Kraft, die er im Augenblick dringend benötigte, doch keiner ihm geben konnte. Hinter ihm lachte Merry auf, schimpfte seine Mutter, sie würde ihn kitzeln und für einen kurzen Augenblick spähte Frodo zu ihnen. Einst hatte er geglaubt, Esmeralda wäre für ihn da, selbst wenn er das nicht sofort bemerkt hatte. Nun war er sich dessen nicht mehr so sicher. In den vergangenen Monaten war ihm klar geworden, dass ihr Merry schon immer wichtiger gewesen war. Frodo konnte ihr deshalb keinen Vorwurf machen, doch es schmerzte ihn dennoch. Sie mochte zwar bei ihm sein, war dies im Grunde aber nur, weil Merry auch hier war. Und selbst wenn sie sich um ihn kümmerte, tat sie das nur, wenn sie sich um ihn sorgte, nicht, weil sie ihn ebenso liebte wie Merry. Dennoch suchte er ihre Nähe, als wolle er seine Beobachtungen Lüge strafen. Er suchte ihre Nähe und wagte doch nicht, auf sie zuzugehen.
"Frodo?" Der Junge war ungewöhnlich still geworden und als Esmeralda eine Hand auf seine Schulter legte, um nach dem Rechten zu sehen, spürte sie die Überraschung, die durch seinen Körper ging. Wie in einem Traum wandte er sich zu ihr um, den goldene Glanz des Feuers in den tiefblauen Augen. Sein Ausdruck war jedoch ein anderer, sprach von Traurigkeit, von Schmerz, die sich so deutlich in seinem Blick spiegelten, dass Esmeralda gezwungen war, die Luft anzuhalten. Ihre Hand schloss sich fester um seine Schulter, zog ihn zu sich. "Was ist geschehen?", wollte sie fragen, doch Merry kam ihr zuvor und seine Worte ließen Frodo vor der Berührung zurückschrecken. "Ich habe ihn gefunden", rief ihr Sohn freudestrahlend, "den Würfel, den wir gestern Nacht verloren haben." Frodo wandte sich von ihr ab, verschloss die Kiste mit dem Briefpapier. Besorgt ließ sie ihren Blick auf ihm ruhen, doch was immer sie gesehen hatte, war aus seinem Gesicht gewichen. Sie blinzelte kurz, als könne sie sich dadurch vergewissern, nicht zu träumen, ehe sie sich zu Merry umdrehte. Ihr Sohn war bis zur Körpermitte unter seinem Bett verschwunden, wobei seine Hände den Boden abtasteten. Mit einem letzten Blick auf Frodo zog sie die Stirn kraus. "Gestern Nacht?" Für den Bruchteil eines Wimpernschlags erstarrte Merry in seiner Bewegung und wäre Esmeralda nicht seine Mutter gewesen, hätte sie jenes kurze Innehalten nicht bemerkt.
"Es war gestern Abend", erklärte Frodo mit ruhiger Stimme, legte die Kiste mit dem Briefpapier ebenfalls auf das Bett und suchte nach dem Lappen. "Merry meint im Moment, alles was nach dem Abendessen stattfindet, wäre nachts." Aus den Augenwinkeln erkannte er, wie sie ihn zweifelnd betrachtete, doch schenkte er ihr keine weitere Beachtung. Sie hatte ihn umarmen wollen und er wusste, dass er es zugelassen hätte. Doch der Augenblick der Schwäche war vergangen, der flüchtige Moment des Erkennens verstrichen und er hatte seine Fassung wiedererlangt, war entschlossen, Esmeralda keine Last aufzubürden, die zu tragen sie nicht bereit war. "So ist es", erklärte Merry, wobei er wieder unter dem Bett hervor kroch. "Schließlich ist es ebenso dunkel wie nachts." Als Frodo sich erhob, bemerkte er den dankbaren Blick seines Vetters, doch gelang es ihm nicht, diesem mit einem Lächeln zu antworten, denn ihm wurde plötzlich klar, dass Esmeralda ihn noch immer fragend ansah. Sein Herzschlag beschleunigte sich, ihm wurde eng um die Brust. Und wenn er sich damals nicht geirrt hatte? Wenn sie ihn trotz allem so liebte, wie Merry, es nur nicht so offen zeigte? Wäre sie am Ende doch bereit, zumindest einen Teil seiner Bürde zu tragen? "Bedrückt dich etwas, Kind?" Sie hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt. Der Feuerschein zeichnete sanfte Schatten auf ihr Gesicht. Ein goldener Schimmer lag in ihren blauen Augen, die ihn eingehend musterten. Frodo spürte, wie die Maske der Stärke bröckelte und sein Geist sich erneut an einen letzten Hoffnungsschimmer zu klammern suchte, dem er doch nicht zu vertrauen wagte. Mehr, als du dir vorstellen kannst. Wie erstarrt sah er sie an, schluckte den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, während er insgeheim darauf wartete, dass sie ihn in ihre Arme schloss, ihm zeigte, dass er mehr war, als nur ein Kind, dessen sie sich angenommen hatte, da kein anderer dazu bereit gewesen war.
"Mama!" Merrys energische Stimme drang an ihr Ohr und die Hand, die sie um Frodos Schultern hatte legen wollen, auf dass sie noch einmal mit mehr Feingefühl hätte nachfragen können, verharrte in ihrer Bewegung. Frodo wandte sich von ihr ab, um den ersten seiner beiden Holzbehälter wieder im Nachtkästchen zu verstauen und Esmeralda wusste, dass was immer er geantwortet hätte, nun wieder tief verborgen lag und es gelang ihr nicht, den Ärger darüber aus ihrer Stimme zu halten. "Was?" Beinahe wäre es ihr gelungen, etwas mehr von Frodo zu bekommen, als die üblichen oberflächlichen und ausweichenden Antworten und sie musste sich zusammenreißen, Merry nicht die Schuld dafür zu geben, dass ihr dies erneut missglückt war. "Hilfst du mir nun, die oberen Fächer einzuräumen?", wollte ihr Sohn wissen, den Blick ein wenig verunsichert auf sie gerichtet. "Ich kann sie nicht erreichen und an Frodos unteres Nachtkästchenfach darf ohnehin niemand ohne seine Erlaubnis. Ihm kannst du also nicht helfen, mir dafür umso mehr. Außerdem warst du es, die den Schrank ausräumen wollte." Esmeralda seufzte schwer, beobachtete ernüchtert, wie Frodo auch die zweite Truhe an ihren Platz zurückstellte, ohne sich auch nur zu ihr oder Merry umzuwenden. Sie hatte ihre Möglichkeit vertan und selbst wenn sie ihren Sohn warten ließ, würde sich ihr keine Neue bieten - nicht heute. So strich sie sich schließlich die Haare aus der Stirn, holte einen ersten Wäschestapel von Merrys Bett und legte ihn zurück in den Schrank.
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Das rote Schimmern der Glut war, abgesehen vom immerwährenden Schein unter der Tür, das einzige Licht, das den Raum erfüllte. Der Duft von Rosen hing an den frischen Laken, umschmeichelte die Nasen der Vettern, die sich darin zur Ruhe gelegt hatten. "Du kannst nicht teilen", brach es plötzlich aus Frodo hervor. Den ganzen Abend hatte er an nichts anderes denken können, als an jenen flüchtigen Augenblick am vergangenen Nachmittag, den Merry so unbedacht zunichte gemacht hatte. Zwar war er wütend auf seinen Vetter, doch seine Worte waren nicht mehr als eine Feststellung, eine Feststellung, die er nicht länger für sich behalten konnte. Der Rahmen von Merrys Bett knarrte und Frodo wusste, dass sein Vetter zu ihm herüberblickte. "Was meinst du damit?" Frodo konnte die Verwirrung in der Stimme des Jüngeren hören und schüttelte den Kopf. Merry verstand nicht, hatte nie verstanden und Frodo wusste, dass es unweigerlich zum Streit kommen würde, wenn er seine Gedanken weiterhin preisgab. Wie schon zu früheren Zeiten würde Merry ihm vorwerfen neidisch und selbstsüchtig zu sein und Frodo wusste nicht einmal, ob die Anschuldigungen seines Vetters nicht ebenso der Wahrheit entsprachen, wie seine eigenen. Tief Luft holend, drehte er sich der Wand zu und hüllte sich in Schweigen. Merry war jedoch nicht bereit, ihn wortlos davon kommen zu lassen, fragte noch einmal eindringlicher nach, was er ihm unterstellen wolle. "Du kannst nicht teilen", wiederholte Frodo ausdruckslos, wandte sich schließlich doch seinem Vetter zu, wissend, dass er diesem Gespräch nicht entgehen würde, nun, da er es begonnen hatte. "Deine Eltern nicht mit mir und…" Plötzlich erinnerte er sich an den vergangenen Sommer und wie oft Merry von ihm verlangt hatte, auf Nelkes Freundschaft zu verzichten. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass Merry nicht nur unfähig war, die Liebe seiner Eltern zu teilen und die Verärgerung, die er zuvor geschluckt hatte, bemächtigte sich seiner Stimme. "… und mich nicht mit Nelke." "Nelke?" Die Verwunderung Merrys hatte zu einem Augenblick der Stille geführt. "Ich dachte, ihr hättet euch getrennt?" Frodo biss sich auf die Lippen, schloss gequält die Augen. Was tat er hier nur? "Ist das wieder eine deiner Launen?", wollte Merry genervt wissen. "Bist du wieder einmal wegen etwas gereizt und brauchst jemanden, an dem du deine Wut auslassen kannst?"
Merry verdrehte die Augen, ließ sich auf sein Kissen fallen, nachdem er sich zuvor auf seinen Ellbogen gestützt hatte. Sein Vetter war in den letzten Monaten häufig grundlos wütend geworden und hatte sich deshalb nicht selten bei ihm entschuldigen müssen. Doch Merry war es leid, Ziel von Frodos Gereiztheit zu sein, wo er nicht einmal wusste, weshalb sein Vetter so angespannt war. Wenn er ihn darauf ansprach, führte es meist zu einer Diskussion wie dieser, in der Frodo seinen Sturkopf beweisen und das letzte Wort haben musste. Er hatte bereits überlegt, zu seinem Vater zu gehen, doch Frodo hatte einst gesagt, dass ihm das nichts helfen würde, womit er Recht behielt. Wie sollte sein Vater herausfinden, was mit Frodo war, wenn sein Vetter sich nicht einmal ihm anvertraute? "Warum nehme ich nicht Merry?", äffte er missmutig. "Ich finde bestimmt etwas, das ich ihm vorwerfen kann. Was war es letzte Woche?", Merry machte eine kurze Pause, in der er nachdenklich zur Decke sah. "Ach ja, letzte Woche bemerkte ich, dass er zu besorgt ist, also muss es heute etwas anderes sein", wieder schüttelte er den Kopf. "Was fiel deinem Adlerauge heute auf, Frodo, dass du glaubst, ich könne nicht teilen?"
Frodo hatte sich von seinem Vetter weggedreht, doch mit jedem Wort loderte mehr Zorn in ihm auf. Merry mochte zwar sein bester Freund sein, doch manchmal hatte er keine Ahnung, was vor sich ging. Wenn sein Vetter es darauf anlegte, Salz in seine Wunden zu streuen, konnte er das auch tun. Er ballte die Hände zu Fäusten, wandte sich ruckartig zu Merry um und stützte sich auf. "Du willst wissen was mir auffiel?", zischte er. "Ich werde es dir sagen. Du kannst es nicht ertragen, wenn Esmeralda mir für einen Augenblick näher ist als dir", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Wut glomm in seinen Augen und seine Finger gruben sich in die Bettdecke. "Du musstest sie sofort zu dir zurückrufen, aus Angst, sie könnte auch mich lieben. Ebenso wie du versucht hast, mich von Nelke fern zu halten, weil du fürchtetest, ich könne in ihr einen weiteren Freund finden." Kaum war das letzte Wort gesprochen, kniff Frodo die Augen zusammen. Seine keuchende Atmung zitterte. Soweit hatte er nicht gehen wollen. Sein Körper verkrampfte sich, als er sich für Merrys Gegenschlag rüstete.
"Wirst du jetzt vollkommen verrückt?" Merry blickte entrüstet auf das schemenhafte Gesicht, das er in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. Seine Brust war wie zugeschnürt. Er wusste nicht, ob er zornig, schockiert oder verletzt sein sollte. Sein Mund öffnete sich, schloss sich wieder. "Du hörst dich an, wie, wie…" Der Satz sollte nie beendet werden, denn Merry war zu empört, um einen Vergleich zu finden. Er konnte kaum glauben, was sein Vetter ihm vorwarf. Was war nur in ihn gefahren? Frodo war es gewesen, der seinen Eltern immer wieder ausgewichen war, wenn sie ihm abends eine gute Nacht hatten wünschen wollen. Frodo war es gewesen, der ihn darum gebeten hatte, all die Geheimnisse für sich zu behalten und vor allem seinen Eltern nichts davon zu erzählen und nun war er plötzlich neidisch auf ihn? Warf sogar ihm vor, eifersüchtig zu sein! Merry konnte seinen Vetter nur anstarren, wusste nichts zu antworten, bis sich ihm die Worte von selbst in den Mund legten. "Ich sag dir was, Frodo: ich brauche keine Angst zu haben, dass Mama dir näher sein könnte als mir. Das wird sie niemals sein, denn sie ist meine Mutter und du hast keinen Anspruch auf sie."
Einen langen Augenblick starrte Frodo in die Dunkelheit vor sich. Merrys Worte brannten sich in sein Herz wie glühendes Eisen. Er hatte mit vielem gerechnet, doch damit nicht. Der Ellbogen, auf den er sich lehnte, drohte nachzugeben und so setzte er sich auf. Seine Finger krallten sich in die Matratze, als ein hilfloses Zittern ihn durchlief. "Denkst du etwa, das wüsste ich nicht?", flüsterte er schwermütig. "Glaubst du, ich würde das nicht jeden Tag aufs Neue spüren?" Dann stand er auf und stolperte mit weichen Knien zur Tür. Er musste hinaus, bevor er mehr sagen und sein Vetter mehr erwidern konnte. Er hörte noch, wie Merry seinen Namen rief, ehe ihn das Licht des Ganges willkommen hieß. Er eilte zur Haupteingangstür, vorbei an den behaglichen Wohnzimmern und Küchen. Manch einer sah ihm verwundert hinterher, ein anderer rief ihn zurück, doch Frodo hörte nicht auf sie, sondern rannte in die Nacht hinaus, hoffend, sein Vetter würde ihm nicht folgen.
Kalt wehte ihm der Wind entgegen, machte ihn frösteln. Sein Atem stieg in dünnen, weißen Wölkchen vor seinem Gesicht empor. Lampen, die im nun gefrorenen Boden steckten, erleuchteten den schmalen Pfad vor dem Schloss zu beiden Seiten. Doch ihr Licht war nur schwach und alles, was dahinter verborgen lag, verschwamm in Dunkelheit. Schwer atmend blieb Frodo stehen, lehnte sich gegen die massive, runde Holztür. Keine Schritte waren dahinter zu vernehmen. Merry war ihm nicht gefolgt. Erleichtert schloss er die Augen. Merrys Worte hatten ihn tief getroffen, doch in seinem Innern wusste er, dass er es nicht anders verdient hatte. Er war es schließlich gewesen, der diesen Streit begonnen hatte und unzählige Wortgefechte davor. Was war nur aus ihm geworden? Wie hatte er zulassen können, dass es ihm immer leichter fiel, Streit mit seinem Vetter zu suchen? Merry war schließlich nicht an seiner Misere Schuld, wusste nicht einmal, dass er wieder in Marrocs Fänge geraten war. Frodo schlang die Arme um die Brust und bibberte. Es war eine kalte, wolkenverhangene Nacht und sein dünnes Nachtgewand reichte nicht aus, um ihn warm zu halten. Hinein gehen wollte er aber noch nicht. Er war verletzt worden und selbst wenn er seine Worte bereute, wusste er, dass er wieder wütend werden würde, sollte Merry seine Entschuldigung nicht sofort annehmen. Kurzerhand entschloss er sich, Silberschweif einen kurzen Besuch abzustatten, begab sich zitternd auf den Weg um das Brandyschloss. Er ging östlich daran herum, wohl wissend, dass kaum jemand durch jene Fenster nach draußen sehen würde. Ein Knistern war zu vernehmen, wann immer seine Füße auf das gefrorene Gras traten. Die Kälte kroch seine Beine empor, bis sein ganzer Körper von einer Gänsehaut überzogen war. Der Wind pfiff in seinen Ohren und Frodo war erleichtert, als sich die Tür zum Ponystall mit einem protestierenden Ächzen und Knarren öffnete und er die kalte Nacht zumindest für einen Augenblick aussperren konnte.
Schlotternd hauchte er sich in die Hände, ging zaghaften Schrittes zur hintersten Box, als ein dumpfes Geräusch ihn herumfahren ließ. "Hallo?", fragte er in die Dunkelheit, die Stimme unsicher. "Merry?" Es war der erste Name, der ihm in den Sinn gekommen war. Der Wind pfiff durch die dünnen Spalten im Holz und Frodo fröstelte, doch nicht mehr nur vor Kälte. Unbehagen erfüllte seinen Magen. Da er sich auf seine Augen nicht verlassen konnte, schärften sich seine anderen Sinne. Die eigene Atmung klang laut in seinen Ohren. Er hörte den Schweif eines Ponys gegen die Box schlagen, während ein anderes der rostigen Wassertränke ein Quietschen entlockte. Frodos Körper verkrampfte sich, sein Herzschlag beschleunigte sich kaum merklich. Der Duft von Heu und Hafer kitzelte seine Nase und über den strengen, unvergleichlichen Geruch der Ponys bemerkte er noch einen anderen, den er in den vergangenen Monaten viel zu oft in den Ställen hatte wahrnehmen müssen: Pfeifenkraut. Frodo sog scharf die Luft ein. "Marroc."
Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, sah er die groß gewachsene Gestalt auf sich zukommen. Ihre Schritte erzeugten kaum ein Geräusch und Frodo spürte die Furcht, die dazu führte, dass sich die feinen Härchen auf seinem Nacken aufrichteten. "Du bist gut, Beutlin", ließ ihn eine Stimme wissen, "aber nicht gut genug." Frodos Herz sank. Die Zeit der Ruhe war vorüber. Er würde einen neuen Auftrag erhalten. Wie in Stein gemeißelt blieb er stehen, die Hände zu Fäusten geballt, den Kopf gesenkt. Er schloss die Augen, als Marroc sich vor ihm aufbaute, eine Hand auf seine Schulter legte und so lange zusammendrückte, bis es wehtat. Es war zu einem Ritual geworden. Bei jedem Zusammentreffen würde Marroc ihm auf die eine oder andere Weise Schmerzen zufügen, doch Frodo hatte gelernt, dies nicht in seinem Ausdruck sichtbar werden zu lassen. Jammerte er oder verzog er auch nur eine Miene, würde Marroc Gefallen daran finden und sein Spiel fortführen. Ließ er sich hingegen nichts anmerken, verlor sein Peiniger rasch die Lust und schickte ihn weg. "Du dachtest wohl, du würdest mir entgehen, wenn du davon läufst", zischte Marroc und Frodos Muskeln spannten sich unweigerlich fester an. "Denk nicht, ich hätte dich nicht gesehen. Eines kann ich dir sagen: wenn du noch einmal wegrennst, wird dein kleiner Schützling dafür bezahlen müssen." Frodo biss sich auf die Lippen, fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Marroc seine Drohung wirklich umsetzen würde. Eine Antwort fand er jedoch nicht, ebenso wenig wie er wagte, es herauszufinden. Dazu war ihm Merimas zu teuer. Dazu traute er Marroc zuviel zu. Erschrocken schnappte er nach Luft, als sich Marrocs Hand plötzlich um seinen Hals legte und er gezwungen war, zu dem Älteren aufzusehen. Er roch nach Schweiß, Pferdemist und Tabak. Frodos Hand umklammerte das Handgelenk seines Peinigers, hoffend, die Angst, die durch seine Glieder jagte, zeige sich nicht in seinen Augen. Marroc verzog die Lippen zu einem Lächeln, das das Blut in Frodos Adern gefrieren ließ. Seine linke Hand wanderte hinter seinen Rücken. "Bis übermorgen hast du mir neues Kraut besorgt, oder dein kleiner Freund…" Frodo war des Schnitzmessers seines Peinigers nicht gewahr, bis der kalte Stahl über seine Wange strich. Kaum merklich zuckte er zusammen, wobei seine Augen jeder Bewegung des Messers angstvoll folgten. Marroc verletzte ihn nicht, ließ die Klinge nur über seine Haut wandern und ergötzte sich an der Furcht, die Frodo nicht länger verbergen konnte. Seine Hand schloss sich fester um das Gelenk des Älteren, bis dieser plötzlich von ihm abließ, das Messer wegsteckte und sich umwandte. "Übermorgen", wiederholte er drohend, während er zur Tür ging und Frodo ihm mit zitternden Knien und klopfendem Herzen hinterher blickte.
Kapitel 71: Fern des Alltags
Frodo saß auf dem Fußboden des östlichsten Ganges, den Rücken an die Wand gelehnt, die Knie angezogen. Sein Blick ruhte auf Hannas Zimmertür. Gleich nach dem Mittagessen war die junge Mutter in ihrem Zimmer verschwunden, um ihre Töchter zur Ruhe zu betten. Frodo war ihr heimlich gefolgt, nur um sich dann auf den Boden zu setzen, weil er nicht den Mut aufbrachte, an ihre Tür zu klopfen. Er wusste, dass sie im Zimmer verweilen und Handarbeiten erledigen würde, bis ihre Töchter wieder aufwachten. Als er ihr noch gegenüber gewohnt hatte, war er um diese Zeit häufig zu ihr gegangen, doch waren inzwischen zu viele Dinge geschehen, als dass er noch wagte, in ihrer oder ihrer Kinder Nähe zu sein. Mit einem leisen Seufzen ließ er sich zur Seite sinken, bis sein Kopf an der Wand ruhte. Ihre Stimme drang leise singend an sein Ohr. Es war ein Kinderlied, dessen Melodie Frodo gut kannte und eh er sich versah, hatte er summend mit eingestimmt. Er genoss die Abgeschiedenheit des östlichen Ganges, die Stille und das spärliche Licht der wenigen Wandlampen. Hier war er vor Marroc sicher, konnte außerdem alleine sein. Kein anderer Ort, an den er sich hätte zurückziehen können, war ihm geblieben. In seinem Zimmer konnte er nichts tun, ohne dass Merry ihm über die Schulter sah. Selbst wenn er einmal alleine war, musste er immer damit rechnen, dass sein Vetter hereinkommen würde. In der Bibliothek hatte Saradoc sich ausgebreitet, weil er die Stammbäume auf den neusten Stand bringen wollte und auf dem Heuboden, wohin er ab und an verschwunden war, konnte er nicht mehr, da dort nun Marroc regierte. Ihm war nichts geblieben. Mit seinem Einzug bei Merry hatte Saradoc ihn seiner Zurückgezogenheit beraubt und ihn dadurch noch einsamer werden lassen. Frodo verstummte, als Hannas Lied endete, blickte lange auf ihre Tür. Nichts rührte sich. All seinen Mut zusammennehmend erhob er sich, tat die wenigen Schritte, die ihn von Hannas Zimmer trennten. Er hob seine Hand um zu klopfen, verharrte einen Augenblick regungslos und ließ sie dann wieder sinken. Es war besser, wenn er nicht zu ihr ging. Mit gesenktem Kopf wandte er sich ab. Er hatte einen Auftrag auszuführen.
Scheinbar gelangweilt schlenderte er durch die Gänge, grüßte Tanten und Onkel und andere Verwandte, die ihm entgegen kamen. In Wahrheit jedoch war jeder seiner Muskeln bis aufs Äußerste angespannt und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Erst am vergangenen Abend hatte Marroc ihm im Badezimmer aufgelauert, hatte ihm aufgetragen, eine süße Kleinigkeit aus der Speisekammer mitgehen zu lassen. Marroc, der diesen Nachmittag die Ställe ausmisten musste, wollte damit verpflegt werden. Frodo hasste Diebstähle am Nachmittag. Jeder war dann auf den Beinen und kaum einer begnügte sich damit, sich in einem Wohnzimmer aufzuhalten. Kinder spielten in den Gängen, Frauen trugen Wäscheberge von einem Waschraum in den nächsten, Zimmermädchen staubten hier und da Lampen ab oder wischten den Boden, während wieder andere durch die Höhle spazierten, weil es ihnen draußen zu kalt war. Ältere Frauen, deren Knochen müde waren, ließen sich von ihren Zofen Tee bringen, der die Schmerzen lindern sollte, und durch die Tür zur Hauptküche konnte Frodo bereits der Diskussion bezüglich des Abendessens lauschen. Es herrschte reges Treiben und selbst abends war es einfacher, einen Beutel Tabak mitgehen zu lassen, als nachmittags. Doch Frodo wusste, wie er vorzugehen hatte und mit geübtem, sicherem Blick gelang es ihm, ungesehen in einer der Speisekammern zu verschwinden.
Den Duft von Lehm und Holz in der Nase, atmete er erleichtert auf und lehnte sich mit dem Kopf gegen die Tür. Den ersten Schritt seiner Aufgabe hatte er hinter sich gebracht. Er lauschte, um sicher zu gehen, dass ihn wirklich niemand gesehen hatte, doch schien alles seine gewohnten Wege zu gehen und er wusste nicht recht, ob er sich darüber freuen sollte. Natürlich würde er mit einem erfolgreichen Diebeszug Marrocs Wut entgehen, doch verstrickte er sich damit nicht immer tiefer im Netz seines Peinigers? Machte er es dadurch nicht immer schwerer, sich selbst und Merimas aus dieser Lage zu befreien? War ihm überhaupt noch zu helfen oder war sein Schicksal bereits besiegelt? Frodo seufzte schwer, während er auf dem Regal neben sich nach einer Lampe suchte. Es hatte lange gedauert, und hätte seine Qual nicht solche Ausmaße angenommen, hätte er noch immer nicht den Mut dazu, doch inzwischen würde er den Kampf gegen Marroc wagen, wenn er nicht ständig um Merimas fürchten müsste. Seine Hände schlossen sich krampfhaft um die gefundene Streichholzschachtel. Wenn Merimas nicht wäre, hätte dieses bittere Spiel womöglich schon längst ein Ende gefunden. Doch es lief weiter, bis er irgendwann einem weitaus bittereren Ende würde entgegentreten müssen. Mit leisem Zischen fing das Streichholz Feuer und einen Augenblick später war die Lampe entzündet, warf ihr flackerndes Licht auf Frodos betrübtes Gesicht. Suchend ließ er seinen Blick durch die kellerartige Kammer gleiten. Der Lehmboden war hier nicht mit Holzdielen verdeckt worden. Der Raum war angefüllt mit Regalen, auf denen Schüsseln und Töpfe mit Getreide gesammelt wurden. Große und kleine Fässer, die Mehl, Salz und Zucker beinhalteten standen gleich hinter der Tür. Ihnen gegenüber war ein weiteres Regal, das die ganze Breite des Zimmers einnahm und mit Marmeladegläsern jeglicher Sorten angefüllt war. Von Marillen über Erdbeeren, Brombeeren, Preiselbeeren und Kirschen war alles zu Konfitüre verarbeitet und in diesem und weiteren Regalen in anderen, kleineren Speisekammern gesammelt worden. Jede Hausfrau wäre mit offenem Mund und starrendem Blick davor stehen geblieben, doch Frodo wusste um die Mengen an Lebensmittel, die im Brandyschloss aufbewahrt wurden und schenkte seine Aufmerksamkeit dem letzten Regal, das nicht minder groß war. Auf ihm waren Einweckgläser mit Kompotten und eingelegten Früchten gestapelt. Sie schienen Frodo genau richtig, um sie Marroc zu bringen, denn er wusste, einen weiteren Kuchen, und sei es nur ein kleines Stück, würde er nicht nehmen können, ohne früher oder später den Verdacht auf sich zu lenken. Kuchen und Kekse hatte er schon viel zu häufig verschwinden lassen und nicht immer nur für Marroc. Schnurstracks ging er auf das Regal zu. Die Lampe stellte er neben sich auf den Boden, während er sich auf die Zehenspitzen stellte, um ein Glas Birnenkompott zu erreichen. Seine Finger streiften das Glas jedoch nur und so stützte er sich an einem Brett ab, wobei er versuchte, seinen Körper weiter zu strecken.
"Frodo?" Entsetzt wandte er sich um, hätte beinahe eines der Gläser zu Boden geschmissen. Die Lampe flackerte, als er mit der Ferse dagegen stieß. Im schwachen Licht erkannte er den einfachen grünen Rock und die weißgelbe Schürze Esmeraldas und verkrampfte sich unweigerlich. Ob sie seinen Lügen glauben würde? "Du hast mich erschreckt." "Was machst du hier?" Ohne auf seine hervor gepressten Worte einzugehen, trat sie auf ihn zu und Frodo erkannte den Argwohn in ihrem Gesicht und schluckte. Sie hatte die Haare zu einem strengen Knoten zusammengenommen. Eine Strähne hatte sich jedoch nicht bändigen lassen und fiel ihr über die Schulter. Angespannt wich Frodo zur Seite, als sie die Lampe aufhob, sodass sie auch in sein Gesicht blicken konnte. Fragend hob sie eine Augenbraue, blickte von ihm auf das Regal und wieder in sein Gesicht. Ein unsicheres Lächeln lag auf seinen Zügen, während er die Hände hinter dem Rücken verschränkte und schüchtern erklärte, dass er sich etwas zu essen habe holen wollen. "Seit dem Mittagessen sind noch nicht einmal zwei Stunden vergangen", bemerkte Esmeralda. "Ich hatte Hunger." Selbst Frodo fand, dass diese Antwort seine Lippen viel zu schnell verlassen hatte, doch er hütete sich davor, sich dies anmerken zu lassen, behielt stattdessen sein unschuldiges Lächeln bei. Er war einen Schritt zurückgetreten, hatte die Finger ineinander gefaltet und presste die Daumen abwechselnd in die Handflächen. Nie zuvor war er auf frischer Tat ertappt worden und die Angst darüber nahm ihm den Atem. Doch was fürchtete er mehr? Marrocs Zorn, sollte er mit leeren Händen zurückkehren, oder die Folgen seines Tuns? Saradoc würde Maßnahmen ergreifen und Merimas würden Dinge blühen, über die Frodo nicht einmal nachzudenken wagte. Unruhig verlagerte er das Gewicht von einem Bein auf das andere, fügte seinen Worten schließlich weitere hinzu. Dieses Mal sprach er mit mehr Bedacht, zeigte die Hektik nur in der rascheren Zuckung der Finger hinter seinem Rücken. "Wenn du nicht willst, dass ich etwas nehme, warte ich bis zum Tee, obwohl ich bis dahin bestimmt halb verhungert sein werde." Scheinbar gleichgültig zuckte er mit den Schultern, wünschte sich jedoch insgeheim, sein Magen würde knurren, um seinen Worten Ausdruck zu verleihen und von seiner Anspannung abzulenken.
"Warte, Frodo!" Esmeralda rief den Jungen zurück, als dieser sich bereits zum Gehen wandte. Die Tür stand einen spaltweit offen, ließ das Licht des Ganges auf Frodos unruhiger Gestalt ruhen. Er hatte in seiner Bewegung innegehalten, sich jedoch nicht umgedreht. Sein Körper stand kerzengerade und Esmeralda war sicher, seine Muskeln gespannt wie eine Bogensehne unter ihren Fingern zu spüren, hätte sie ihre Hände nach ihm ausgestreckt. Doch sie rührte ihn nicht an. Sie kannte jene Körperhaltung. Er würde ausweichen, im schlimmsten Falle sogar weglaufen, sollte sie falsch handeln. Im Stillen fragte sie sich, ob dies wirklich der richtige Augenblick war, das Gespräch mit ihm zu suchen. Seine Reaktion ließ sie an seinen Worten zweifeln und doch war sie bereit, darüber hinwegzusehen, wenn er zuließ, dass sie einige Worte mit ihm wechselte. Sie hatte schon seit dem Zimmerputz mit ihm sprechen wollen, ihn jedoch nie alleine angetroffen. Sie wusste, dass sie mit ihm allein sein musste, wenn sie nicht wollte, dass sich die Ereignisse jenes Nachmittages wiederholten. "Ich mache mir Sorgen um dich", sagte sie dann und es war die Wahrheit. Unruhe hatte sich in ihr geregt, seit Saradoc ihr im Sommer von Frodos Streit mit Reginard erzählt hatte. Lange Zeit hatte sie ihn beobachtet, doch war ihr kaum eine Veränderung aufgefallen. Beinahe hätte sie die Sache auf sich beruhen lassen, doch dann war Hanna zu ihr gekommen und die beiden Frauen hatten sich lange über den Jungen unterhalten, dem sie sich beide verpflichtet fühlten. Hanna hatte berichtet, dass er sich von ihr zurückgezogen hatte und jene Gespräche, die sie zuvor häufig geführt hatten, verstummt waren. Auch sie sorgte sich um Frodo, doch da er ihr auswich, hatte Esmeralda beschlossen, den Jungen im Auge zu behalten. Manchmal, so wie an jenem Nachmittag im Zimmer der Kinder, hatte sie geglaubt, Frodo suche ihre Nähe, doch wann immer sie sie ihm gewähren wollte, schien der Junge furchtsam zurückzuweichen. Sie wusste sich keinen Rat, auch nicht, als Frodo immer angespannter wurde und Seredic ihn der Dieberei bezichtigte. Sein Pfeifenkraut war, neben vielen anderen Dingen, abhanden gekommen, doch wurde es nicht bei Frodo gefunden und Esmeralda traute dem Kind eine solche Tat auch nicht zu. Frodo mochte seine Sorgen vor ihnen verbergen, doch er war ein ehrlicher Junge.
Frodo spürte das Zittern, das bei ihren Worten durch seinen Körper ging. Er wusste nicht, ob es Wut oder Enttäuschung war, die ihn dazu veranlasste, seine Hände zu Fäusten zu ballen. Ein stechender Schmerz rührte sich in ihm, als er seine Beobachtungen ein weiteres Mal bewahrheitet fand. Sie war nur für ihn da, wenn sie sich um ihn sorgte. Er schloss die Augen und presste die Lippen zusammen, ehe er sich langsam zu ihr umwandte. Den Blick auf den Fußboden gerichtet, flüsterte er: "Ihr sorgt euch häufig, nicht wahr, du und Saradoc?"
"Natürlich tun wir das", bestätigte Esmeralda, legte den Kopf schief und hielt die Lampe etwas höher, als er sie zaghaft anblickte. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Sein Gesicht war ebenso ausdruckslos wie seine Augen. "Warum?" Es war keine Frage, auch keine Feststellung, doch der Klang seiner Stimme ließ Esmeralda erschaudern. Wann hatte er gelernt seine Stimme so hohl und leblos klingen zu lassen? Mühevoll widerstand sie dem Drang, ihre Hand nach ihm auszustrecken, aus Angst, er würde zurückweichen. "Du wirktest in den letzten Wochen sehr angespannt", erklärte sie schließlich, "und ich würde gerne wissen, was dahinter steckt." Mit einem Mal loderte ein Feuer in seinen Augen auf und es geschah genau das, was Esmeralda befürchtet hatte. Frodo wich zurück.
Sein Zorn überwältigte ihn so plötzlich, dass Frodo ihn kaum zu kontrollieren vermochte. Er biss sich auf die Lippen. Seine Hände zitterten. Doch wurde sein Ärger alsbald von Gram abgelöst und er wandte den Blick ab. Sagte er ihr, was der Grund für seine Unruhe war, würde sie ihm den Rücken kehren, sobald die Spannungen mit Marroc und Saradoc, die zweifelsohne folgen würden, überstanden waren. Ihre Sorge wäre gelindert und die spärliche Zeit, in der sie sich um ihn kümmerte, würde ebenso vorüber sein, wie Marrocs grausames Spiel. Für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass er bereit wäre, dies zu opfern und sich weiterhin alleine durchzuschlagen, doch dann fühlte er den Schmerz des Alleinseins. Und er sah Merimas, sah die Messerklinge glänzen und fürchtete das Blut, das den kleinen Körper zu bedecken drohte. "Das ist mein Leben", sagte er dann, die Stimme fester, als er vermutet hatte, den Blick entschlossen, "und es geht dich nichts an." Esmeralda starrte ihn entgeistert an. "Das tut es, Frodo!" Ihre Stimme war lauter als zuvor. Es war eine Zurechtweisung. "Ich bin dein Vormund!" Frodo blickte starr in ihre blauen Augen. Die Lampe tauchte ihr strenges Gesicht in ein gelbes Licht. Ihre Worte ließen alle Fasern seines Körpers sich verkrampfen, als sich die Wut erneut an die Oberfläche kämpfte. Wieder ballten sich seine Hände zu Fäusten, wieder begann er zu zittern und Frodo benötigte all seine Willenskraft, nicht zu sagen, was auf seiner Zunge lag. Ruckartig wandte er sich zur Tür, riss sie auf und stolperte in den Gang hinaus, wo sein mühevoll aufrecht gehaltener, undurchsichtiger Gesichtsausdruck in sich zusammenfiel und sich der Drang zu weinen seiner Miene bemächtigte. Du magst mein Vormund sein, doch eine Mutter bist du mir nicht!
Esmeralda wollte ihm hinterher eilen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht und sie blieb reglos zurück, die Lampe flackernd in ihren Händen. Gequält schloss sie die Augen. Erneut hatte sie versagt. Sie spürte, dass der Junge litt und konnte ihm doch nicht helfen, hatte es noch nie vermocht. Einst hatte sie einen großen Fehler begangen, hatte ihrer Trauer erlaubt, über sie zu bestimmen, als dass sie sich jenem zugewendet hatte, der sie zu dieser Zeit am meisten gebraucht hätte. In den schlimmsten Tagen seines Lebens hatte sie Frodo alleine gelassen, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Über die Jahre war ihr klar geworden, dass sie damals die einmalige Möglichkeit gehabt hatte, Frodos Vertrauen zu gewinnen, doch sie hatte sie vertan und musste nun für den Rest ihres Lebens dafür bezahlen. Sie fühlte seinen Schmerz, doch konnte sie ihn weder zuordnen noch lindern, denn wann immer sie glaubte, zu Frodo durchzudringen, wich er zurück, sperrte sie aus. Was sie damals getan hatte, war unverzeihlich, doch es war nicht gerecht, dass nun auch Frodo dafür bezahlen musste. Kraftlos rang sie nach Luft, schüttelte betrübt den Kopf und löschte die Flamme.
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Am Mittag, drei Tage später, verabschiedete sich Saradoc mit einem letzten "Benehmt euch!" von seinen Sprösslingen und wagte nicht, dem eifrigen Nicken, das seiner Mahnung folgte, zu vertrauen. Er war wegen einiger amtlicher Angelegenheiten in Weißfurchen, wollte außerdem vom dortigen Markt einige Lebensmittel besorgen, die im Brandyschloss knapp zu werden drohten. Sehr zum Verdruss seines Sohnes hatte er alleine reisen wollen, doch Esmeralda hatte ihn umgestimmt.
"Nimm ihn mit", hatte sie gesagt, als er sich am vergangenen Abend müde auf sein Bett gesetzt und sich seines Hemdes entledigt hatte. "Ihn und Frodo. Ein Tag fern des Alltags wird den Kindern gut tun." Sie hatte ihre Arme von hinten um seine Brust geschlungen und ihr Kinn auf seine Schulter gelegt. "Ich werde nicht nur auf dem Markt zugegen sein." Ihr warmer Atem hatte einen wohligen Schauer durch seinen Körper gehen lassen, als sie lächelnd einen Kuss auf seinen Hals gehaucht hatte. "Sie sind alt genug, um alleine zurechtzukommen." Saradoc hatte dem nur schwer widersprechen können und die Kinder schließlich lange vor dem Frühstück geweckt. Während Esmeralda dafür gesorgt hatte, dass die beiden warm genug angezogen waren, hatte er ein Pony anspannen lassen und als die Sonne aufging und das Auenland erwachte, hatte er den Wagen bereits auf die Große Oststraße gelenkt. Manch ein Ochsenkarren und Ponyfuhrwerk leistete ihnen auf ihrem weiteren Weg Gesellschaft, denn einige Händler und Bauern aus Stock und den nördlichen Gebieten des Bruchs, wollten sich den Markt nicht entgehen lassen. Während der Dauer ihrer Fahrt, hatte er die Kinder immer wieder ermahnt, sich anständig zu benehmen und auf sich aufzupassen, denn der Gedanke, sie alleine zu lassen, behagte ihm auch am neuen Morgen nicht. Merry und Frodo versicherten zwar, dass ganz bestimmt nichts passieren würde und sie schon wussten, was sie taten, doch war Saradoc durch ihre Worte nicht beruhigt. Auch als er nun mit der Zunge schnalzte und die glücklich winkenden Kinder hinter sich zurückließ, fühlte er sich nicht eben besser.
Kaum war Saradocs Karren hinter der nächsten Biegung verschwunden, wurde aus dem braven, unschuldigen Lächeln, das die Gesichter der jungen Hobbits zierte, ein siegreiches Grinsen. Merry warf den eng um sich geschlungenen Umhang über seine Schultern und öffnete den obersten Knopf seines Wintermantels. "Allein!" triumphierte er. "Und zu allen Schandtaten bereit!" kommentierte Frodo, ein spitzbübisches Glitzern in den Augen. Merry rieb sich ungeduldig die Hände. "Möge das Abenteuer beginnen!" Die Vettern warfen sich ein verschmitztes Lächeln zu, ehe sie der Großen Oststraße den Rücken kehrten und in die Seitengasse abbogen. Um den Marktplatz zu erreichen, brauchten sie nur wenige Schritte zu gehen. Frodo war von Euphorie ergriffen, die ihn zappelig werden ließ, und Merry, der neben ihm her hopste, schien noch viel aufgeregter. Bisher hatte Frodo nur den Markt von Bockenburg alleine besuchen dürfen, denn das Volk dort kannte ihn und der Weg nach Hause war nicht weit. Er hatte nicht damit gerechnet, Saradoc nach Weißfurchen begleiten zu können. Noch weniger hatte er erwartet, dass Merry und er den Markt alleine durchforsten durften. Der Herr hatte sogar jedem einige Münzen gegeben, die sie nach ihrem eigenen Gutdünken ausgeben durften, ehe er sie zur Teezeit wieder an der Kreuzung abholen wollte. "Sieh dir das an!" jubelte Merry, die Augen leuchtend, als hätte er nie zuvor einen Marktplatz gesehen. Ohne eine Reaktion Frodos abzuwarten, eilte er zum Stand eines Glasbläsers um die liebevoll gemachten Figuren, Gläser, Krüge und Kerzenhalter zu begutachten. Als wolle sie diesen Augenblick noch beeindruckender machen, wagte sich die Mittagssonne unter der Wolkendecke hervor und sandte ihre Strahlen durch das Glas, das in allen Farben des Regenbogens funkelte. Die bunten Lichtpunkte malten ein Muster auf das weiße Tischtuch, mit dem der Verkaufstisch abgedeckt worden war und spiegelten sich in den Gesichtern der staunenden Hobbitkinder. "Kann ich den jungen Herren behilflich sein?", fragte der Glasermeister, ein ältlicher Hobbit mit freundlichen graugrünen Augen. Frodo schüttelte lediglich den Kopf, ehe er erneut dem Lichtspiel der Figuren verfiel, während Merry sich nicht einmal die Mühe machte, den Hobbit anzusehen. So verzaubert schlenderten die Hobbits über den Markt, betrachteten Spielzeuge, Kerzen, Handarbeiten, Kleider, Körbe und Schreibwaren. Die ausgestellten Lebensmittel wie Honig, frisch gebackenes Brot und Kuchen ließen ihre Mägen knurren, während Süßigkeiten jeglicher Art sie von einem Stand zum nächsten lockten. Fleisch und Speck wurde ebenso angepriesen wie eine Schar Hühner, deren Eier gleich am Nebenstand gekauft werden konnten. Das Volk von Weißfurchen und der umliegenden Umgebung hatten sich in Massen auf dem Marktplatz eingefunden und keiner wollte mit leeren Händen nach Hause gehen. Nicht selten verloren sich die Vettern für einen kurzen Augenblick zwischen aufgebauschten Röcken und wehenden Umhängen aus den Augen, nur um sich am nächsten interessanten Stand wieder über den Weg zu laufen. Frodo ließ sich von wunderschönen Schnitzereien inspirieren, wobei seine Augen jedoch immer wieder zu den edlen Messern wanderten, die der Händler mitsamt den fertigen Kunstwerken anbot. Welch schöne Figuren er mit einem solchen Messer würde erzeugen können! Bisher hatte er meist Marmadas' Schnitzmesser ausgeborgt, wenn er sich an eine neue Arbeit gesetzt hatte. Ein eigenes zu besitzen reizte ihn sehr, doch er musste der Versuchung widerstehen, denn die wenigen Münzen, die Saradoc ihm gegeben hatte, reichten nicht aus, eines zu kaufen. Außerdem hatte er nicht daran gedacht, seinen Silberpfennig mitzubringen und war nicht einmal sicher, ob er diesen für ein Messer ausgegeben hätte.
Die Sonne war längst wieder hinter den Wolken verschwunden, als die Mägen der jungen Hobbits nach einer Stärkung verlangten. Gemeinsam kauften sie sich zwei große Becher Holundersaft, zwei Käsefladen und ließen sich von einer Bauersfrau zwei mit Nüssen gefüllte Gebäcksstangen geben, die großzügig mit Zuckerguss überzogen worden waren. In der Mitte des Marktplatzes brannte ein Feuer, um dessen warmen Schein es sich die Vettern gemütlich machten. Sie setzten sich Rücken an Rücken auf einen Baumstumpf, der dort lag und beobachteten schmausend das Geschehen. Ein Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie einige Kinder sahen, die an den Händen ihrer Eltern über den Markt gezogen wurden, ohne auch nur einen Blick auf die angepriesenen Leckereien zu erhaschen. Frauen wie Männer standen beisammen und tratschten, einige Tweens saßen auf einem Karren und maßen ihre Kräfte im Armdrücken, während hier und da ein Huhn gackerte oder ein Schwein quiekte. Das Rufen und Lachen der Besucher und Händler mischte sich mit dem Knistern und Knarren des Feuerholzes und unzählige Gerüche umschmeichelten die Nasen der zufriedenen Kinder. Es roch nach Honigwein, Seife, Käse, geräuchertem Schinken und nach den wenig verführerisch duftenden Stalltieren.
Ringlein, Ringlein, du musst wandern, von der einen Hand zur andern. Das ist schön! Das ist schön! Niemand darf das Ringlein sehn.
Frodo wandte sich um, als er den Reim hörte. Unweit des Feuers stand eine Gruppe Kinder in einem engen Kreis beisammen und reichte den vermeintlichen Ring hinter ihren Rücken umher. In der Mitte des Kreises stand ein verloren aussehendes Mädchen, das verzweifelt erhoffte, einen Blick auf den Ring zu ergattern. Frodo lächelte, erinnerte er sich doch nur zu gut an die helle Freude, die ihn ergriffen hatte, als er vor vielen Jahren häufig in der Mitte eines solchen Kreises gestanden und den Ring entdeckt hatte. Inzwischen konnte er einem solchen Spiel jedoch kein Vergnügen mehr abgewinnen. Zufrieden ließ er sich gegen seinen Vetter sinken. "Wir sollten häufiger nach Weißfurchen." "Ja", stimmte Merry zu, wobei er sich genüsslich den Zuckerguss von allen zehn Fingern leckte, "so ein Markt hat seine Vorteile, vor allem, wenn man alleine ist." Frodo nickte, ein ungetrübtes Lächeln im Gesicht. Seine Gedanken wanderten zu all den schönen Dingen, die er gesehen hatte. "Kaufst du dir etwas?", wollte er schließlich wissen. Merry zuckte mit den Schultern. "Dazu muss ich mich noch einmal genauer umsehen."
Als hätten sie es abgesprochen, sprangen die Vettern auf die Beine und stürzten sich ein weiteres Mal ins Marktgetümmel. Wieder führten sie sich begeistert von einem Marktstand zum anderen. Frodo zeigte seinem Vetter das begehrte Schnitzmesser, doch der Jüngere fand wenig Gefallen daran. Merry konnte sich hingegen für einen kleinen Lederbeutel begeistern, in dem er seine schönsten Steine aufbewahren wollte. So verging die Zeit rasch und hatte zum Mittag noch die Sonne zwischen den Wolken hervorgezwinkert, fiel am Nachmittag bereits Schnee. In den vergangenen Tagen hatte es häufig geschneit, doch waren die spärlichen Flocken selten länger als einige Stunden liegen geblieben. Die jungen Hobbits kümmerte das Wetter jedoch wenig. Sie lachten und alberten, spielten mit Kindern ihres Alters, ärgerten die Mädchen und sorgten so für einigen Tumult auf dem Markt. Sie genossen ihre gemeinsame Zeit und Frodo fühlte sich so ausgeglichen wie lange nicht mehr. Merry entschloss sich schließlich dazu, den Lederbeutel zu kaufen, während Frodo mit einem solch wehmütigen Ausdruck vor dem Schnitzmesser stand, dass der Händler sich seiner erbarmte und ihm einen geschnitzten Stern mit fünf Zacken schenkte, den Frodo dankbar annahm. Als der Schneefall heftiger wurde, kletterten die Vettern auf einen Holzbalken nahe einem Milchwarenstand, der in einer windgeschützten Ecke stand. Die Bauersfrau, die diesen führte, war nicht viel älter als Primula Beutlin es gewesen wäre. Ihr dunkles, langes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, den sie unter dem warmen, braunen Wollumhang versteckt hielt. Frodo und Merry grüßten sie freundlich, ehe sie sich über die gebrannten Mandeln hermachten, die Merry mit seinen letzten Münzen gekauft hatte. "Zu einem solchen Mahl gehört auch eine große Tasse Milch", rief die Bauersfrau, die sich später als Bella Kleinbau vorstellte, ihnen zu und bald darauf hatte jeder der Vettern eine ebensolche in der Hand. Bella wies sie jedoch darauf hin, von den fünf großen Kannen Milch, die neben dem Holzbalken standen, fern zu bleiben, denn ihr Gatte Karl sehe Kinder nur ungern in deren Nähe. "Er ist ein wenig empfindlich, seit die Nachbarskinder ihm mal mehr als hundert Liter Milch verschüttet haben." Merry und Frodo versprachen, gut auf die Kannen, die je sechzig Liter Flüssigkeit fassten, Acht zu geben, was Bella zufrieden lächelnd zu ihren Käufern zurückkehren ließ.
Frodo hatte die Kapuze seines grünen Umhangs tief ins Gesicht gezogen. Einige feuchte Haarsträhnen zeigten sich darunter, hingen ihm in die Augen. Eine Schneeflocke landete auf seiner roten Nase, verweilte dort einen Augenblick, schmolz und tropfte ihm schließlich von der Nasenspitze. Seine Hände umklammerten den Holzbalken, während sein Blick gedankenverloren auf seinen baumelnden Füßen ruhte. An den vergangenen Tagen hatte er häufig darüber nachgedacht, Saradoc nach seinem alten Zimmer zu fragen. Er teilte sich gerne ein Zimmer mit Merry, war glücklich, sich jede Nacht mit ihm unterhalten und bis in die frühen Morgenstunden Karten spielen zu können, doch manchmal vermisste er die Abgeschiedenheit seines alten Zimmers. Die Stille jener vier Wände, die alleine ihm gehörten und die Sterne, die ihm des Nachts Trost gespendet hatten. Trost, den er jetzt vermisste und der ihn beizeiten Dinge aussprechen ließ, die er nicht hatte sagen wollen. Merry antwortete darauf mit verständlichem Zorn. Der bittere Beigeschmack ihrer letzten großen Auseinandersetzung war geblieben, ebenso wie der Schmerz, dass ausgerechnet Merry ihm hatte sagen müssen, was Frodo zwar spürte, aber nie ganz zu glauben gewillt war. Er hatte keine Mutter - nicht mehr. Frodo hatte gefürchtet, er und Merry würden sich wegen der Streitigkeiten, die immer häufiger geworden waren, auseinander leben, und Frodo war fest entschlossen gewesen, mit dem Herrn von Bockland zu sprechen. Doch der Marktbesuch hatte ihm gezeigt, dass eine solche Unterhaltung nicht vonnöten war. Der heutige Tag hatte ihm das Gegenteil bewiesen. Er und sein Vetter hatten schon immer zusammengehört und würden auch immer zusammen gehören.
"Ich bin gleich zurück!" ließ Merry ihn wissen, versicherte sich mit einem raschen Blick, dass die Bauersfrau nicht zu ihnen herübersah und hüpfte vom Balken, um in den schneebedeckten Büschen hinter dem Marktstand zu verschwinden. So plötzlich aus seinen Gedanken gerissen, blickte Frodo seinem Vetter verwirrt hinterher, ehe er seinen Umhang enger um sich schlang. Bis zur Teezeit war es nicht mehr lange hin und Frodo hoffte, Saradoc würde sie pünktlich abholen, denn inzwischen sehnte sich sein frierender Körper nach der prasselnden Wärme eines Kaminfeuers. In der Hoffnung, dass ein wenig Bewegung ihn wieder aufwärmen würde, stellte sich Frodo schließlich auf den schmalen Holzbalken. Er hatte keine große Mühe, sein Gleichgewicht zu halten, schwankte aber dennoch einige Male, als er ein wenig in die Knie ging und sich nach vor beugte, um die zwei Tassen aufzuheben, aus denen er und Merry zuvor ihre Milch getrunken hatten. Ein unruhiges Wanken ging durch seine Beine und er verharrte einen Augenblick regungslos, die Finger der einen Hand in den Henkeln der Tassen, die der anderen in einem sicheren Griff um den Balken gelegt. Das Gleichgewicht wieder gefunden, richtete Frodo sich langsam auf, streckte die Arme nach außen und schwankte mit bedachten Schritten an den Milchkannen vorbei auf Bella Kleinbau zu. Ein kräftiger Windstoß wehte ihm die Kapuze vom Kopf und blies ihm Schnee ins Gesicht, doch Frodo ließ sich davon nicht beirren. "Vorsicht, Junge! Nicht, dass du runter fällst", mahnte Bella erschrocken, als sie seiner gewahr wurde. Rasch nahm sie ihm die Tassen ab, die er ihr dankbar reichte. Diese schnell beiseite legend, griff sie nach seiner Hand, stützte ihn, während er sich vorsichtig umdrehte. "Keine Sorge", beruhigte Frodo sie mit einem verschmitzten Lächeln, "ich bin schon auf schmaleren Balken gelaufen, ohne herunterzufallen."
Im vergangenen Sommer hatten Merry und er sich einen Spaß daraus gemacht, auf immer schmaleren und immer höheren Balken und Stangen zu balancieren. Besonders beliebt waren die Bretter der Pferdekoppel gewesen, auch wenn es ihnen meist nur mit der Hilfe des Anderen gelungen war, überhaupt darauf zu stehen. Manchmal waren sie heruntergefallen und noch häufiger herunter gesprungen, wenn das Gleichgewicht sie verlassen hatte, doch Frodo war es zwei Mal gelungen, die ganze Koppel zu umrunden, ohne ein einziges Mal von den Brettern springen zu müssen. Merry hatte ihm nachzueifern versucht, entschlossen, dieselbe Leistung zu erbringen, doch stellten die Eckpfosten ein schier unüberwindbares Hindernis für seinen Vetter dar. Jedes Mal waren sie ihm zum Verhängnis geworden und hatten ihn, sehr zu seiner Verärgerung, zu einem rettenden Sprung ins Gras gezwungen.
Nicht völlig von den Worten des Jungen überzeugt, ließ Bella dennoch von seiner Hand ab, als dieser sich scheinbar sicheren Schrittes aufmachte, seinen Weg zurückzugehen. Lieber wäre sie mit ihm gegangen, um ihn im Notfall aufzufangen oder zumindest zu stützen, doch eine junge Mutter mit zerzausten, kastanienbraunen Locken, einem Kleinkind auf dem Arm und einem zweiten an der Hand, rief sie zu sich an den Verkaufstisch.
Pfeifend trat Merry hinter dem Marktstand hervor, nur um erschrocken zusammenzuzucken, als eine wütende Stimme ihn anfuhr. "Du da! Verschwinde von den Kannen!" Die Stimme gehörte zu einem untersetzten, stämmigen Hobbit, dessen dunkles Haar wirr in alle Richtungen zeigte. Obwohl Merry den Bauer nicht kannte, wusste er sofort, dass es sich um Karl Kleinbau handelte und bemerkte erst, dass sein zorniger Ausruf nicht ihm galt, als mit lautem Klirren und Poltern eine der Kannen zu Boden fiel und ihren Inhalt auf dem gefrorenen Boden verteilte. Frodo stand daneben, einen schmerzvollen Ausdruck im Gesicht und ein Bein angewinkelt. Die Hände hatte er verzweifelt um die daneben stehende Kanne geschlungen, doch sein Blick ruhte verzagt auf der verschütteten Milch. Die Bäuerin stand an seiner Seite, war jedoch im Gegensatz zu Frodo nicht untätig, sondern beeilte sich, die umgefallene Kanne wieder aufzurichten. Merry witterte den Ärger, der auf Frodo zukam, als er das wutentbrannte Gesicht des Bauers sah. Für einen Moment kniff er die Augen zusammen, sammelte so den Mut, um Frodo beizustehen.
Der plötzliche Ausruf ihres Mannes hatte Bella überrascht und als sie sich umwandte, sah sie, dass der ihr unbekannte Junge noch mehr erschrocken war. Wild mit den Armen rudernd, versuchte er, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, und sie eilte zu ihm, ohne über ihr Handeln nachzudenken. Bevor sie ihn jedoch erreichen konnte, rettete er sich mit einem wackeligen Sprung auf de n Boden, stieß dabei jedoch gegen zwei der Kannen. Das Umfallen der einen konnte er gerade noch verhindern, doch die andere fiel auf seine Zehen, noch ehe er sich hatte umwenden können, um auch sie zu retten. Bella hörte das schmerzhafte Zischen, als er seinen Fuß unter der schweren Eisenkanne hervorzog. Darum bemüht, nicht in die verschüttete Milch zu treten und den Schaden so gering wie möglich zu halten, eilte sie erst um das Kind herum und stellte die Kanne wieder auf, als ihr Mann fluchend und schimpfend heran stürmte. "Frodo!" Bella wandte sich zu dem hellhaarigen Jungen um, von dem ihr erst jetzt auffiel, dass er zuvor nicht zugegen gewesen war. Frodo war also sein Name? "Ist alles in Ordnung?" fragte sie besorgt, wusste sie doch nur zu gut um den Schmerz, den eine umfallende Milchkanne verursachen konnte.
Frodo hatte die Milchkanne vor dem Umfallen bewahren wollen, als er so ungeschickt gefallen war, doch jetzt hielt er sich mehr daran fest, während pochende Schmerzen durch seinen Fuß jagten. Ehe er der Bäuerin antwortete, versicherte er sich, ob er noch im Besitz aller fünf Zehen war, denn im Augenblick fühlte es sich an, als wären sie alle noch immer unter der Kanne begraben. Schließlich nickte er jedoch und ließ sich von Merry stützen, als dieser zu ihm kam. Sein Vetter hatte jedoch keine Möglichkeit ihm zu helfen, denn der Bauer kam dem jungen Brandybock zuvor, packte Frodo am Arm und zerrte ihn von den Kannen weg. "Was fällt dir ein, du kleiner Taugenichts!" grummelte er und Frodo zuckte zusammen, als er gezwungen war, mit seinem verletzten Fuß aufzutreten. "Was machst du hier? Wo sind deine Eltern?" "Ich bin mit dem Herrn von Bockland hier", beeilte Frodo sich zu antworten und fügte hektisch hinzu, dass er die Kanne nicht mit Absicht umgeworfen hatte. "Es war ein Versehen." "Du bist der Sohn des Herrn?" fragte Karl verblüfft, ließ von seinem Arm ab und blickte ihn eindringlich an. Frodo schüttelte den Kopf und deutete auf Merry, der sogleich kundtat, dass er Saradoc Brandybocks Sprössling war und dass dieser es ganz bestimmt nicht gutheißen würde, wenn Karl grob mit seinem Vetter umging. Der entschlossene Ausdruck, den Merry dabei aufsetzte, ließ Frodo beinahe laut auflachen, doch gelang es ihm, diesen Ausbruch von Erheiterung zu einem Kichern, das er hinter seiner Hand verborgen hielt, abzuschwächen. Karl Kleinbau ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Er funkelte Merry ebenso zornig an, wie er zuvor Frodo betrachtet hatte. "Dann würde ich vorschlagen, dass du deinen Vater schleunigst hierher holst und er wird dann entscheiden können, was gutgeheißen wird und was nicht. Bis dahin bleibt dein Freund bei mir." "Aber…", wollte Merry protestieren, doch Frodo, der hinter dem Bauern stand, brachte ihn mit einem Kopfschütteln zum Schweigen. Anders als Merry war sich Frodo durchaus bewusst, dass es hierbei nicht um eine Strafe ging, sondern um den Verlust, den sein Ungeschick den Bauer gekostet hatte. Er hatte bestimmt vierzig Liter Milch verschüttet und diese würden bezahlt werden müssen.
Mit einem letzten verzweifelten Blick auf seinen Vetter eilte Merry davon, um am ausgemachten Treffpunkt auf seinen Vater zu warten. Frodo blieb schwer seufzend zurück. Saradoc würde für den Schaden aufkommen, doch er selbst kam bestimmt nicht straflos davon. Ob er seine Schulden würde abarbeiten müssen? "Es war keine Absicht, Karl", beschwichtigte Bella ihren Gatten, als dieser seinen wutentbrannten Blick wieder auf Frodo richtete. Ohne auf seine Frau zu hören, stellte der Bauer den Jungen neben den Markstand, wo er warten musste, bis er abgeholt wurde. Wehmütig blickte Frodo auf seine schmerzenden Zehen, zog sich erneut die Kapuze über den Kopf und hörte zu, wie der Bauer sich über den Verlust seiner Milch beklagte und die Bäuerin sich um neu herangetretene Käufer kümmerte.
Die Zeit verging und Frodo begann, sich zu langweilen. Er war dazu übergegangen, die Besucher des Marktes zu beobachten und Kindern - besonders den Mädchen, die ihn schadenfroh belächelten - Grimassen zu schneiden. Daran verlor er jedoch bald das Interesse, nicht zuletzt, weil Kinder und Eltern alsbald wieder im Marktgetümmel verschwanden, während er an Ort und Stelle gebunden war und schon ermahnt wurde, wenn er nur einen Schritt zur Seite machte. Bella hatte ihm eine weitere Tasse Milch geben wollen, doch Karl hatte sie davon abgehalten und gemeint, er habe schon mehr als genug von ihrer Milch für sich beansprucht, eine Aussage, die Frodo beschämt den Blick senken ließ. "Na wenn das nicht Frodo Beutlin ist!" Frodo hob den Kopf, als die kräftige, tiefe Stimme an sein Ohr drang. "Treibst selbst in Weißfurchen dein Unwesen, was?" "Unwesen?!" zürnte Bauer Kleinbau grimmig. "Der verdirbt mir den ganzen Verkauf, das tut er!" Während Frodo entsetzt einen Schritt zurückwich, führte Karl seinen zornigen Bericht über das Ungeschick des jungen Tunichtguts fort, nicht ohne diesen ein weiteres Mal anzubrüllen, als Frodo beim angstvollen Zurückweichen mit der Ferse gegen eine weitere Kanne stieß und sich für einen Augenblick auf deren Deckel setzte. Als er sich dessen klar wurde, sprang er jedoch sofort wieder auf die Beine, hielt sich aber an der Kanne fest, als könne sie ihn schützen. Vor ihm stand die breitschultrige Gestalt Bauer Maggots, doch seine Aufmerksamkeit galt weder dem Bauern, noch der Geschichte, die dieser mit Herrn Kleinbau austauschte. Sie galt dem Hund, der ihn mit wachsamen Augen beobachtete. Frodo hegte keinen Zweifel, dass jene tiefgründigen, dunklen Augen ihn wieder erkannten und auch wenn er fernab von Maggots Grund und Boden war, verkrampfte er sich, immer damit rechnend, der Hund würde ihn anfallen. Er wagte nicht einmal mehr zu atmen, während er das Tier angespannt beobachtete und seine Pobacken gegen die Milchkanne presste, als könne er dadurch weiter in den Hintergrund verschwinden.
"Dort drüben ist es." Zwischen den Besuchern des Marktes tauchten Merry und Saradoc auf, beide eng in ihre Umhänge gewickelt. Merry hatte seinen Vater bei der Hand genommen und führte ihn eiligen Schrittes zum Verkaufstisch der Kleinbaus, wo sich dieser sofort am Gespräch der Bauern beteiligte. Frodo stand wie angewurzelt, die Augen vor Furcht geweitet. Der Hund saß ihm friedlich gegenüber, blieb an der Seite seines Herrn und wedelte mit dem Schwanz wann immer Maggot mit den Fingern über seinen Kopf kraulte. Das Tier wirkte nicht halb so Furcht einflößend wie an jenem Tag, an dem es ihn knurrend und kläffend die Landstraße entlang gejagt hatte. Frodo schluckte schwer und kniff die Augen zusammen. Ohne sie wieder zu öffnen tapste er zaghaften Schrittes in Merrys Richtung, denn sein Vetter war nicht weniger entsetzt einige Schritte vom Marktstand entfernt stehen geblieben. In den Jahren ihrer Raubzüge hatten beide Hobbits großen Respekt vor Maggots Hunden bekommen. Als sich nichts rührte, wagte Frodo schließlich, seine Augen wieder zu öffnen und rannte mit klopfendem Herzen zu Merry. Der Hund hatte ihn beobachtet, sah nun mit schief gelegtem Kopf zu ihnen herüber, was den Vettern nicht sonderlich behagte.
Nicht lange darauf wanderten die Kinder an der Seite des Herrn über den Marktplatz, erleichtert Abstand zwischen sich und Maggots Hund zu bringen. Frodo hatte den Kopf gesenkt, schielte jedoch ab und an zu Saradoc. Dieser hatte kein Wort mit ihm geredet, seit er die verschüttete Milch bezahlt hatte und Frodo fürchtete, er grüble bereits über eine besonders harte Strafe nach. "Hast du die Münzen noch, die ich dir gegeben habe?" Überrascht hob Frodo den Kopf und nickte. "Nicht mehr alle, aber…", er wühlte in seiner Hosentasche, um sie dem Herrn zu präsentieren. Saradoc betrachtete sie einen langen Augenblick, rümpfte die Nase, als sich eine Schneeflocke darauf niederließ. Wortlos nahm er dann den Beutel von seinem Hosenbund und öffnete die dünne Lederschnur. In Gedanken sah Frodo schon, wie er in zehn Jahren noch wehmütig auf das begehrte Schnitzmesser blickte, doch ließ er die Münzen mit einem tiefen Seufzen zurück in den Beutel fallen. Saradoc hatte um einiges mehr ausgeben müssen, um den Schaden wieder gutzumachen, den er angerichtet hatte. Der Herr nickte zufrieden. "Ich nehme an, bis auf dieses kleine Missgeschick habt ihr euch gut gehalten?" Überrascht runzelte Frodo die Stirn, denn Saradocs Worte klangen trotz seiner vorherigen Schweigsamkeit fröhlich. Er tauschte einen verwunderten Blick mit Merry, der nur mit den Schultern zuckte, sah dann zum Herrn auf. Ein Lächeln zeigte sich auf dessen Zügen und Frodo atmete erleichtert auf. Saradoc hatte nicht vor, ihn strenger zu bestrafen. "Wir haben uns sehr gut benommen", versicherte Merry. Frodo nickte bekräftigend und spürte plötzlich wieder denselben Übermut, der ihn zu Beginn des Tages ergriffen hatte. Ein breites Lächeln ließ sein schneenasses Gesicht erstrahlen, doch verschwand dieses, als er schwer seufzend den Kopf schüttelte. "Wenn ich gewusst hätte, dass ohnehin ein Unglück passiert", tat er kund, während Saradoc ihn verwundert und mit einem Hauch von Sorge betrachtete, "und dass du heute mit Strafen gnädig bist, hätte ich es nicht dabei belassen, den Mädchen Grimassen zu schneiden und mit Stroh nach ihnen zu werfen." Frodo bemerkte, wie die Besorgnis in Saradocs Gesicht der Erheiterung wich und zuckte schmunzelnd zusammen, als der Herr ihm strafend auf den Hinterkopf schlug. "Ich glaube, bis wir zu Hause sind, werde ich mir wohl doch eine härtere Strafe für dich ausdenken müssen", meinte er augenzwinkernd. "Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?" Merry verbiss sich ein Kichern, setzte stattdessen einen nachdenklichen Ausdruck auf. "Da wäre die Prügelei mit den Tweens, in die wir hineingeraten sind,…" "… und die Dreckklumpenschlacht hinter dem Hühnerstall", machte Frodo vergnügt weiter. "Die Mädchen haben vielleicht geschrieen!" Merry rollte mit den Augen, hatte jedoch Mühe, ernst zu bleiben. Kopfschüttelnd und mit einem Lächeln im Gesicht legte Saradoc einen Arm um jeden seiner Jungen, während diese munter kichernd fortfuhren, ihm von ihren angeblichen Schandtaten zu berichten.
Author notes: Es tut mir Leid, dass ich mir mit den Updates solche Zeit lasse. Leider wird es auch in Zukunft im Schneckentempo vorangehen. Ich habe neben dem Schreiben noch zu einem neuen Hobby gefunden und spiele jetzt Tin Whistle (oder versuche es zumindest). Außerdem wurde die Zeit allgemein etwas knapper - Studium, Arbeit usw. Nebenbei versuche ich meinen Umzug (oder sollte ich sagen, meine Auswanderung?) nach Schottland zu organisieren. Ab September werde ich im Land der grünen Hügel und der Lochs studieren und mich vielleicht den Rest meines Lebens nur noch besuchshalber in Österreich aufhalten.
Eines kann ich jedoch versichern: ich werde die Geschichte nicht aufgeben. In den letzten Monaten gab es zwar Momente, wo ich es mir habe durch den Kopf gehen lassen (eben wegen dem enormem Zeitmangel und der nicht vorhandenen Energie in ein solches... Epos einzutauchen und den vorangegangenen Kapiteln gerecht zu werden) aber mir wurde klar, dass ich das nicht nur nicht will, sondern auch nicht kann. Ich schreibe seit genau 4 Jahren, 2 Monaten und 1 Woche an den Schicksalsjahren. Mein Herz und meine Seele stecken in der Geschichte. Ich habe mit Frodo gelacht und mit ihm geweint... und nicht selten hat er mich auf Pfade geführt, die ich nicht für ihn geplant hatte. Ja, manchmal frage ich mich sogar, ob ich die Geschichte wirklich schreibe, oder ob sie einfach ihren eigenen Weg geht und ich nur diejenige bin, die sie sich fürs Aufschreiben ausgesucht hat. Meine Korrekturleserin Ivy, die mir auch immer mit Rat und Tat zur Seite steht (und mich nicht selten unfreiwillig auf neue Ideen bringt) hat mir den Spitznamen "Frodos Sekretärin" nicht umsonst gegeben :)
Ja, soviel zur Erklärung für die seltenen Updates. Keine Sorge, die nächsten 30 Kapitel sind schon geschrieben und ich hoffe schwer, dass noch viele weitere folgen mögen. An Ideen mangelt es mir jedenfalls nicht :)
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Kapitel 72: Der letzte Durchgang
"Nein, das geht zu weit!" Ein Kopfschütteln, die Stimme furchtsam, beunruhigt. "Ich entscheide, was zu weit geht und was nicht." Den Blick entschlossen, siegessicher. "Wozu brauchst du es?" Fragend nun, doch einen Schritt zur Seite weichend. "Das geht dich nichts an!" Lodernder Zorn in dunklen Augen. Ein Funke der Beherztheit, ein helles Licht als Spiegel des Zornes. "Ich werde es nicht tun!" Marrocs rechte Hand schoss nach vorne, um Frodo am Hals zu packen, doch der Jüngere wich ihm aus. Anstelle seiner Kehle bekam Marroc seine linke Schulter zu fassen und schlug diese hart gegen den Türrahmen der Abstellkammer. Frodo schnappte nach Luft, als der Schmerz ihn durchfuhr. Die Kerze auf dem Seifenregal flackerte zornig auf, ließ bedrohliche Schatten über die Gestalten wandern. "Du wirst tun, was ich dir sage!" zischte Marroc wutentbrannt. "Ich will dieses Siegel!" Gequält schloss Frodo die Augen, die Hände nutzlos an den Seiten hängend. Er konnte das nicht tun, er wollte nicht. Doch was er wollte, hatte Marroc nie gekümmert. Marroc störte die Gefahr nicht, der Frodo sich seit sieben Monaten immer wieder aufs Neue stellte. Frodo hatte gehofft, mit den ersten warmen Frühlingstagen würde auch Marroc den winterlichen Trott hinter sich lassen und sich neuen Dingen widmen. Doch nun war es bereits Astron und anstatt weniger stehlen zu müssen, waren Marrocs Aufträge immer häufiger geworden. Aufträge, die Frodo nicht länger erfüllen konnte, wenn er nicht wollte, dass er an ihnen zerbrach. Wenn Merimas nur nicht wäre. Ihn zu schützen war alles, was für ihn noch zählte. Merimas. "Hast du mich verstanden?!" Ein grobes Rütteln und ein schmerzhaft fester Griff um seine Schultern ließen ihn die Augen öffnen. Er verstand sehr gut. Marroc würde ihn so lange quälen, bis seine Kräfte aufgezehrt waren. Merimas. Wie konnte er den Kleinen schützen, wenn er nicht einmal sich selbst zu schützen vermochte? Half er ihm wirklich, indem er sich von Marroc ausnutzen ließ? Das Messer, das Blut. Merimas. Frodo kniff die Augen zusammen. Brach er den Kreis, würde Hannas Sohn leiden. Ließ er ihn bestehen, würde Marroc immer stärker werden. Marroc war jetzt schon mächtiger denn je. Alleine würde er ihm nie entkommen. "Das Siegel, Beutlin!" Ein Zischen nahe seinem Ohr. Unverhohlener Zorn, der ihn zittern machte. Er brauchte eine Antwort. Merimas. Ein schwerer Atemzug, Furcht. Nie war er vor einer solchen Entscheidung gestanden. Er konnte nicht entkommen, doch es war an der Zeit, die Worte seines Peinigers einer Prüfung zu unterziehen. Hielt er an seiner Drohung fest? Vergib mir, Merimas, doch ich ertrage es nicht länger. Wenn ich Glück habe, verprügelt er mich, wenn nicht… Er würde ihn aufhalten! Ein weiterer tiefer Atemzug genügte, die Angst zu besiegen und als Frodo seine Augen öffnete, loderte ein Feuer in ihnen, dessen Funke heller strahlte, als jemals zuvor. Marroc antwortete jenem Licht mit verblüfftem Zurückweichen, ehe Zorn die Dunkelheit seiner Augen ausfüllte. Zorn, der ebenso plötzlich von erneutem Erstaunen abgelöst wurde, als Frodo ihn hart gegen das Schienbein trat, um ihm anschließend kräftig mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Das Kerzenlicht flackerte. Marroc taumelte einige Schritte zurück, stieß gegen die Strohbesen an der Wand, ehe er zu Boden stolperte. Frodo nutzte die Möglichkeit, die sich ihm auftat, stieg über Marrocs Gestalt und die umgefallenen Besen hinweg und eilte zur Tür hinaus, bevor sein Peiniger auch nur daran denken konnte, ihn zu packen. Mit wild schlagendem Herzen stürmte Frodo den Gang entlang, hätte beinahe seinen Vetter Milo umgerannt. Die Mahnung, die dieser ihm hinterher rief, hörte er nicht, denn in seinen Ohren rauschte das Blut, dem wilden Tosen eines Sturzbaches gleich. Er war von einem einzigen Gedanken erfüllt: er hatte Marroc geschlagen! Gefangen zwischen überschwänglicher Freude und Schrecken über seine Tat, wagte er kaum zu atmen. Zitternd vor Aufregung lehnte er sich schließlich zwischen dem Licht zweier Lampen gegen die Wand. Die Finger seiner rechten Hand waren taub geworden und pochten mit jedem Herzschlag. Er hatte Marroc geschlagen! Stark genug, dass sein Peiniger hilflos zu Boden gegangen war. Wie gebannt blickte Frodo auf seine schmerzenden Finger. Woher kam dieser plötzliche Mut? Woher die Entschlossenheit, die Kraft? Ein zaghaftes Lächeln bemächtigte sich seiner Züge. Er war stark gewesen. Er hatte die nötige Beherztheit gefunden, um zu tun, was er schon lange hätte tun sollen. Und er hatte gesiegt.
"Denk daran, dich zum Schlafengehen fertig zu machen." Merrys Mutter zerzauste ihm das Haar, um ihn aus seinen Gedanken zu wecken. Frodo sah ihr verwirrt hinterher, denn noch ehe er den Kopf gehoben hatte, waren Esmeralda und ihre Freundin Adamanta bereits lächelnd an ihm vorübergeschlendert. Die Herrin blickte jedoch über ihre Schulter zurück, um sicher zu gehen, dass er ihre Anweisung verstanden hatte. Schlafen! Wie konnte er schlafen, wenn es ihm gerade erst gelungen war, Marroc zu besiegen? Plötzlich weiteten sich seine Augen und wo zuvor noch Unglauben und Freude gewesen waren, machte sich Sorge breit. Kalter Angstschweiß lag mit einem Mal auf seinem Nacken, ließ einen Schauer der Furcht über seinen Rücken laufen. Merimas. Hatte er durch sein Handeln den Jungen in Gefahr gebracht? Frodo wusste es nicht, doch eine Übelkeit erregende Sorge, die sich wie eine große Leere in seinem Bauch ausbreitete, gebot ihm, sicher zu stellen, dass es seinem Schützling gut ging. So schnell ihn seine Beine trugen, rannte Frodo durch das Brandyschloss, wohl wissend, dass Hanna ihren Sohn längst zu Bett gebracht hatte.
Der östliche Gang lag verlassen und als Frodo sein Ohr gegen die Tür von Hannas Zimmer presste, grüßte ihn friedliche Stille. Einen Seufzer der Erleichterung ausstoßend, ließ er sich im Licht einer einzelnen Lampe zu Boden sinken. Dieses eine Mal hatte er gesiegt. Womöglich gelang es ihm doch, Marrocs Kreis zu durchbrechen. Am Ende war er vielleicht stark genug, seinem Peiniger alleine entgegenzutreten. Ein erlöstes Lächeln im Gesicht, schloss Frodo die Augen. "Was glaubst du, was du tust, Beutlin?" Das ungetrübte Lächeln verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Eiligst rappelte Frodo sich vom Boden auf, um die Tür mit seinem Körper zu versperren. Enttäuschung und verlorene Hoffnungen ließen ihn bangen und seine Furcht zögerte nicht, ihn von neuem heimzusuchen. Frodo schluckte sie, dieselbe Entschlossenheit in den Augen wie zuvor, doch seine Stimme zitterte. "Was willst du?" "Was ich will?!" Marroc packte ihn grob am Kragen, hob ihn hoch, sodass er ihm ins Gesicht sehen konnte. "Das weißt du ganz genau, doch du wolltest es nicht anders." "Lass mich!" Frodo presste die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, spürte, wie Angst ihm die Luft abschnürte, doch wollte er sich nicht geschlagen geben. Wie schon zuvor trat er seinem Peiniger gegen die Beine. Dieses Mal war Marroc jedoch darauf vorbereitet und rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen holte er das Schnitzmesser aus einer Halterung am Hosenbund und fuhr damit von Frodos Ohr bis zu dessen Lippen. "Du kannst es mir einfach machen, Beutlin, und verschwinden", versprach er, "oder du bleibst wo du bist, und ich werde mit dir beginnen." Frodos Muskeln verkrampften sich, als er mit dem kalten Eisen in Berührung kam. Ein heimliches Zittern ging durch seinen Körper, das seine Glieder nicht zu zeigen wagten. Seine Hände legten sich nutzlos um Marrocs Handgelenke. Seine Atmung lag still. Alle Beherztheit wich aus seinem Blick und seine Entmutigung machte ihn hilflos. Marroc war tatsächlich bereit, seine Drohung in die Tat umzusetzen. Er war machtlos dagegen.
Kalter Hass loderte in ihm auf, als er jenes abscheuliche Funkeln in den Augen seines Opfers erkannte. Wie konnte er es wagen, sich gegen ihn zu stellen? Wie konnte er es wagen, ihn noch immer so anzusehen? Marroc hatte geglaubt, jenen Funken der Gegenwehr ausgelöscht zu haben und es ärgerte ihn über alle Maße, nun erkennen zu müssen, dass er all die vergangenen Monate falsch gelegen hatte. Aber er würde ihn brechen. Er würde ihn brechen und das Licht in seinen Augen ein für alle Mal auslöschen, ganz gleich, was er dafür tun musste. Marroc musste sich zusammenreißen, ihn nicht an Ort und Stelle zu verprügeln, so wütend war er. Die Finger seiner Rechten schlossen sich beinahe krampfhaft um das Messer. Es wäre so leicht, die Kontrolle zu verlieren, doch vor jenem Bildnis schreckte selbst er zurück und er war froh, als der Funke in den blauen Augen erlosch. Mit einem verärgerten Knurren stieß er den Jungen zur Seite. Frodo sog scharf die Luft ein, als er mit der Ferse auf den Holzdielen aufschlug und mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden landete. "Warte!" rief er aufgebracht und Marroc, der nach dem Türknauf langte, hatte Mühe, sich ein siegreiches Lächeln zu verkneifen. Der Junge war so leicht zu durchschauen. Marroc hatte sofort gewusst, dass Frodos Sorge um Marmadas' Sohn ihn hierher locken würde, ebenso, wie er gewusst hatte, dass er zumindest so tun musste, als wäre er bereit, seine Drohung umzusetzen, wenn er im Spiel bleiben wollte. "Ich besorge dir das Siegel." Die Stimme gebrochen, den Kopf gesenkt. Zufrieden steckte Marroc das Messer weg, wobei er beobachtete, wie Frodo sich wieder auf die Beine kämpfte. Ein Anblick, der ihn seinen Sieg auskosten ließ. "Ich wusste doch, dass du vernünftig wirst", meinte er ölig und legte ihm brüderlich eine Hand auf die Schulter, die er zuvor so grob gegen den Türrahmen gestoßen hatte, wohl wissend, dass er Frodo damit Schmerzen bereitete. Er wurde nicht enttäuscht, denn auch wenn der Kleine dagegen ankämpfte, zuckte er kaum merklich zusammen. Mit einem gewissenlosen Lächeln und einem gezischten "Verdirb es ja nicht!" verabschiedete Marroc sich schließlich von seinem Opfer, sorgte jedoch mit einem kräftigen Faustschlag in den Bauch dafür, dass dieser erneut keuchend zu Boden ging.
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Die Sonne, deren blasses Licht mehr vom Winter sprach, als von der ersten Frühlingswärme, sandte ihre Strahlen durch das nordwestliche Fenster. Ihre Kraft reichte kaum aus, um den großen Raum mit Helligkeit zu fluten. Ein Funke spritzte aus der abkühlenden Glut, erzeugte ein leises Zischen. Einige Himmelschlüssel, die in einer kleinen Vase auf der Kommode platziert worden waren, ließen traurig die Köpfe hängen. Frodo schielte zwischen den ordentlich gestapelten Papieren über die Kante des Schreibtisches, als er Schritte auf dem Gang vernahm. Stimmen näherten sich, ließen ihn die Muskeln anspannen. Wie ihm diese Aufgabe doch zuwider war! Die ständige Sorge erwischt zu werden, über dem Wunsch, Marroc endlich das Handwerk zu legen und wieder frei zu sein. Er verachtete ihn. Kalter, abgrundtiefer Hass ließ ihn den Griff der mittleren Schreibtischlade umklammern, als lege er die Hände um die Kehle seines Feindes. Wenn er die Kraft dazu hätte… Die Stimmen erstarben und Frodo schüttelte die Anspannung von sich ab. Ein Blick auf seine verkrampften Finger ließ ihn entsetzt seine Hände von der Schublade nehmen. Schwer schluckend schloss er für einen Moment die Augen und holte tief Luft. Es erschreckte ihn, dass er solche Verbitterung empfinden konnte, selbst wenn er davon überzeugt war, dass Marroc es verdient hatte. Er wusste, weshalb sein Peiniger von ihm verlangte, das Siegel des Herrn zu besorgen. Marroc mochte ein skrupelloser Schläger sein, der selbst vor Kindern keinen Halt machte, doch er war nicht so dumm, als dass er nicht bemerkt hätte, dass Frodo das Eigentum des Herrn nur ein einziges Mal angerührt hatte und selbst damals nur aus Verzweiflung. Marroc wollte ihn an seine Grenzen treiben, an seine Grenzen und darüber hinaus. Ihn nur zum Dieb zu machen, war seinem Peiniger nicht genug. Marroc wollte, dass er die bestahl, die ihm am liebsten waren, auf dass er den Schmerz fühlte, den ein solcher Verrat mit sich brachte. Selbst jetzt, während seine Finger über Bücher, Briefe, Listen, Federn und Tintenfässchen strichen, spürte Frodo jene Pein. Tat er, was Marroc verlangte, bürdete er sich eine Schuld auf, die er nie vollständig würde abtragen können. Tat er es nicht, würde eine noch größere Schuld auf seinen Schultern lasten, eine, unter der er gewiss zerbrechen würde. Verzweifelt stieß Frodo die Lade zu, wandte sich der obersten und letzten zu. Er atmete erleichtert auf, als sein Auge sah, was er zu finden gekommen war: das Siegel des Herrn von Bockland. Frodo wollte es gerade in seinen Besitz bringen, als die Tür geöffnet wurde. Beim Anblick Saradocs sprang er entsetzt auf die Beine, verharrte dann jedoch regungslos. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab.
"Was hast du hier verloren?" Die Hand noch immer um den Türknauf gelegt, blickte Saradoc verblüfft auf den jungen Hobbit. Die aufkommende Wut, die er über sein Hier sein empfand, vermochte er nicht zu verbergen. Er hatte den Kindern strengstens verboten, sein Arbeitszimmer zu betreten, wenn sie nicht dazu aufgefordert wurden und Frodo sah nicht so aus, als wäre er nur zufällig hier. Ohne den Jungen aus den Augen zu lassen, ging er langsam auf den Schreibtisch zu, trat schließlich darum herum und ließ seinen Blick prüfend über sein Eigentum wandern. All die Zeit stand Frodo stockstill, schien nicht einmal mehr zu atmen und doch rührte er sich kaum merklich, als sein misstrauischer Blick auf die Siegel fiel, sowohl jenes der Brandybocks, als auch das des Herrn. Saradoc wandte sich dem Jungen zu, doch hatte dieser den Kopf gesenkt. Nicht ohne Grund, wie Saradoc glaubte. Achtsam schloss er die Lade, nicht wissend, ob er enttäuscht oder zornig sein sollte, nun, da er langsam zu verstehen begann. "Du steckst hinter den Diebereien, nicht wahr? Du und Marroc." Der Name des Tweens lockte Frodo aus der Reserve. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte er ihn an. ‚Ja, Kind, ich weiß mehr, als dir lieb ist und doch tappe ich im Dunkeln.' "Ich habe euch gestern zusammen gesehen", fuhr Saradoc ruhig fort und beobachtete den Schrecken, der sich immer deutlicher in Frodos Gesicht abzeichnete. "Ich bin mir sicher, dass er seine Finger im Spiel hat. Du schützt ihn." Der Junge wich einen Schritt zurück, als fürchte er die Wahrheit, die in seinen Worten lag. Saradoc spürte, wie Wut und Enttäuschung sich vermengten und stärker wurden, doch er erlaubte ihm den Abstand - vorerst. "Warum, Frodo?", fragte er streng. Ein weiteres Zurückweichen, eine weitere Flucht, wollte er nicht dulden. "Was hat er dieses Mal gedroht?" "Gedroht?" Die Stimme zitternd, doch der Ausdruck entschlossen. "Nichts." Frodo wich einen weiteren Schritt zurück und hatte er zuvor an ihm vorbei gesehen, blickte er nun direkt in seine Augen. Ein Funke der Rebellion lag in seinem Blick, als hätte er an seinem neuen Standpunkt neuen Mut schöpfen können, und als der Junge ihm schließlich klar machte, dass er aus freien Stücken hier war, war seine Stimme fest und furchtlos. Saradoc spürte, wie der Zorn in ihm zu brodeln begann, doch er zwang sich dazu, die Ruhe zu bewahren. Stattdessen verringerte er den Abstand zwischen sich und Frodo erneut, bereit, dem Kind eine letzte Möglichkeit zu geben, das Richtige zu tun. "Erinnere dich an das letzte Mal, als du mich belogen hast und überdenke deine Antwort noch einmal."
Saradocs Worte ließen ihn zurückweichen, bis er mit dem Rücken gegen das Fenstersims stieß. Was hatte er getan? Wie tief war er gesunken? Seine Gedanken wanderten zurück zu jenem Sommerabend, an dem er Saradoc wissentlich belogen hatte. Damals hatte er sich fest vorgenommen, den Herrn nicht noch einmal zu belügen, sollte er in dieselbe Lage geraten und doch tat er es nun erneut. Was als eine Verheimlichung begonnen hatte, war zu einer Lüge geworden. Eine Lüge, die sich einer Schlinge gleich um seinen Hals gelegt hatte und sich, seiner Antwort ungeachtet, zuziehen würde. Hoffnungslos schloss er die Augen und senkte den Kopf. "Wie soll ich dir vertrauen können, wenn du jetzt schweigst?" Die Enttäuschung in der Stimme des Herrn ließ ihn zusammenfahren. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Die Fäden des Netzes, in das er sich verstrickt hatte, waren gerissen und obschon er noch immer gefesselt war, fiel er bereits einen Abgrund hinab. Er sauste einem unbekannten, dunklen Ziel entgegen, unfähig, sich zu befreien. Er hatte Marrocs grausames Spiel verloren, hatte nie die Möglichkeit zum Sieg gehabt und der letzte Zug würde ihn brechen. "Mir kann niemand vertrauen", wisperte er hilflos und machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen, doch der Herr packte ihn so überraschend an der Schulter, dass ihm ein Schmerzensschrei entwich.
Erschrocken zog Saradoc seine Hand zurück. So fest hatte er nicht zupacken wollen und, als er darüber nachdachte, war er sich sicher, dass er das auch nicht getan hatte. Frodo stand reglos vor ihm, war sich offensichtlich bewusst, dass er dieser Unterhaltung nicht entgehen konnte. Einer Ahnung folgend, trat Saradoc um den Jungen herum, bat ihn, sein Hemd auszuziehen. Das Kind tat nichts dergleichen, starrte nur in einer völlig verkrampften Haltung zu Boden. Erst als Saradoc seine Forderung mit Nachdruck wiederholte, öffneten Frodos Finger zögernd die drei obersten Knöpfe. Langsam und mit Bedacht schob er seine Hände unter den Stoff seines Hemdes, strich es mitsamt den Hosenträgern von der linken Schulter, um einen faustgroßen Bluterguss zu entblößen. Saradoc stockte der Atem. "War er das?" Der Junge antwortete nicht, sah ihn nicht einmal an. Wortlos beobachtete Saradoc, wie er sich das Hemd wieder zuknöpfte und doch sahen seine Augen noch immer das Dunkelrot und Blau des gepeinigten Fleisches. Der Zorn in ihm begann zu kochen. Die Hitze, die ihn seine Muskeln anspannen ließ, zeigte sich in seinen Augen, doch er wusste nicht, ob er seine Wut gegen Frodo oder gegen Marroc richten sollte. Weshalb schützte Frodo jene, die ihm Gewalt antaten? Warum ertrug er lieber den Schmerz, als sich ihm anzuvertrauen? War er mit seinem Sturkopf am Ende davon überzeugt, das Richtige zu tun? Saradoc wollte das nicht glauben, kannte er den Jungen doch schon sein Leben lang und hatte bisher immer geglaubt, ihn zumindest ein wenig zu verstehen. Sollte Frodo jedoch tatsächlich von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt sein, sollte er weiterhin schweigen, so würde Saradoc einsehen müssen, wie wenig er von dem Jungen wusste und wie unähnlich sie sich waren. Er zwang sich zur Ruhe, doch in seiner Hilflosigkeit gelang ihm das nicht und eh er sich versah, schrie er seinen Ziehsohn an, wie er ihn nie zuvor angeschrieen hatte. "Warum, Frodo? Weshalb schweigst du? Antworte!"
Frodo kniff furchtsam die Augen zusammen und schnappte nach Luft. Die Schlinge zog sich bereits zu, der Grund kam immer näher. "Zwing mich nicht, mit dir zu sprechen", flüsterte er, die Stimme gebrochen, tränenerstickt. Ein Zittern ging durch seinen Körper. Marrocs Messer blitzte auf, Merimas schrie und das Blut… Frodo schlug die Hände vor sein Gesicht und schüttelte vehement den Kopf, als könne er sich so der grausamen Vision entledigen. Er zuckte zusammen, als sich Saradoc zu ihm herabbeugte und ihm vorsichtig eine Hand auf die unverletzte Schulter legte. Verzweifelt hob er den Kopf, blickte in die hilflosen, doch fordernden Augen des Herrn. "Zwing mich nicht", wiederholte er leise, kopfschüttelnd, "denn dann wird er ihm wehtun und soweit soll es nicht kommen. Er kann nichts dafür und soll nicht darunter leiden, wenn ich mich Marroc widersetze." "Wer, Frodo?" Die Stimme streng, die Augen funkelnd. Der Griff um seine Schulter wurde fester und Frodo wusste, dass er das Ende des Abgrunds erreicht hatte. Würde er Saradocs Zorn und seine Enttäuschung auf sich nehmen oder das Leid, das Merimas blühte? Gequält schloss er die Augen, holte tief Luft, wobei plötzlich unlängst gefallene Worte in seinen Ohren widerhallten.
"Muss ich dich auf Schritt und Tritt beobachten, um sicher zu sein, dass ich dir glauben kann?" Saradocs Blick verzweifelt, ernst und dem, mit dem er ihn jetzt bedachte nicht unähnlich. Doch der Ausdruck in den grünen Augen veränderte sich, wurde zu einem voller Güte und Verständnis. "Ich sehe, dass du deine Lektion gelernt hast. Ich vertraue dir."
Frodo biss sich auf die Lippen und ballte die Hände zu Fäusten. Saradoc vertraute ihm. Ein Vertrauen, das ihm so wichtig war und welches er doch so leichtsinnig aufs Spiel setzte. Ein Vertrauen, das er nicht länger verdient hatte, denn er war zum Lügner geworden und wusste richtig nicht länger von falsch zu unterscheiden. Selbst ein Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte, hatte er gebrochen und um jetzt noch den Weg der Ehrlichkeit zu gehen war es bereits zu spät. Oder etwa nicht? Zaghaft hob er den Kopf, sah Hilfe suchend in Saradocs Augen. "Wenn ich es dir sage, versprichst du dann, dass du es für dich behältst?" Wie er es gefürchtet hatte, schüttelte Saradoc den Kopf. "Nein, Frodo, du weißt, dass ich das nicht kann." Frodo nickte und Tränen sammelten sich in seinen Augen, die er alsbald wegblinzelte. Kalte Angst umklammerte sein Herz, machte ihm das Atmen schwer, doch er hatte sich für einen Weg entschieden und würde ihn nun bis zum bitteren Ende gehen müssen. Er hoffte, Merimas würde ihm seine Selbstsucht vergeben. "Marroc wird Merimas verletzen, wenn ich ihm das Siegel nicht bringe." Saradoc stutzte. "Merimas? Weshalb er?" Frodos Mund verzog sich zu einem gequälten Lächeln. "Weil ich nicht für ihn gearbeitet habe, als er mich bedroht hat. Er weiß, dass Merimas mir lieb ist und", verzweifelt sah er zum Herrn auf, "du musst ihn aufhalten, Saradoc, ehe er ihm wehtun kann." "Erst wirst du mir erzählen, was vor sich geht", erklärte der Herr streng und holte einen Stuhl an den Schreibtisch, auf dem sich Frodo niederlassen sollte, "danach werde ich weiter sehen."
So erzählte Frodo schließlich, was vorgefallen war und mit jedem Wort, das seine Lippen verließ, wurde Saradoc zorniger. Immer wieder unterbrach er ihn mit aufbrausendem Ton, fragte nach dem Grund, doch Frodo konnte nur sagen, was er dem Herrn schon zuvor mitgeteilt hatte. Er hatte Merimas geschützt, indem er getan hatte, was von ihm verlangt worden war. Doch das war dem Herrn nicht genug. Frodo spürte seine Erregung, sah das zornige Funkeln in den grünen Augen, während Saradoc unermüdlich vor ihm auf und ab ging, die Hände unruhig zuckend hinter dem Rücken verschränkt. Der Zorn wartete nur darauf, aus ihm heraus zu brechen und Frodo fürchtete den Augenblick, an dem der Herr die Geduld verlor. Er wagte kaum, seinen Bericht fortzusetzen und eingeworfene Fragen zu beantworten oder mit einem hilflosen Schulterzucken abzutun. Die Unruhe Saradocs ging auf ihn über und während er auf seinem Stuhl kauerte, klopfte ihm das Herz bis zum Hals und seine Augen wanderten immer wieder von einer Ecke des Zimmers zur anderen, als wüssten sie nicht, worauf sie ihren Blick richten sollten. Seine Finger spielten mit einem Knopf seines Hemdes, knöpften ihn auf, nur um ihn kurz darauf wieder zu schließen. Er hatte Saradoc schon häufig wütend erlebt, doch der Herr hatte sich immer zu beherrschen gewusst und eine Ruhe bewahrt, die Frodo jetzt vermisste. Beinahe hätte er erlöst aufgeatmet, als der Herr schließlich verkündete, dass er hier zu warten habe, bis er Marroc gefunden hatte und auch dessen Gründe kannte. Doch die Erleichterung währte nicht lange. Zweifel schlichen sich in sein Herz und er fragte sich, ob er richtig gehandelt hatte. Saradocs unverhohlener Zorn ängstigte ihn und er fürchtete die Strafe, die ihm drohte. Er wusste, dass er niemals hätte stehlen dürfen, doch was hätte er sonst tun sollen? Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Plötzliche Panik ergriff ihn und Frodo sprang entsetzt auf. Seine Atmung ging schwer, seine Knie zitterten. Er hatte falsch gehandelt. Marroc würde Saradoc sehen und wissen, dass er geredet hatte. Merimas würde… Frodo verdrängte das Bild von Marrocs Messer im Körper seines Schützlings und stürmte aus dem Zimmer. Er musste Merimas beschützen, so lange er es noch konnte.
"Frodo, ins Arbeitszimmer!" Frodo erstarrte vor Schreck, schnappte entsetzt nach Luft, als er beinahe mit Saradoc zusammenstieß. Der Ausdruck des Herrn war grimmig. Seine linke Hand hatte er kraftvoll um Marrocs rechten Oberarm gelegt, zerrte ihn so grob den Gang entlang. "Ins Arbeitszimmer!" wiederholte er noch einmal barsch, den funkelnden Blick auf Frodo gerichtet. Angstvoll wich Frodo einen Schritt zurück, tastete mit der rechten Hand nach dem Knauf, vergessend, dass er die Tür nicht geschlossen hatte. Um ein Haar wäre er gefallen, doch Saradoc packte ihn rechtzeitig am Oberarm, um ihn auf den Beinen zu halten. "Setz dich!" zürnte er und Frodo stolperte rückwärts zu seinem Stuhl, unfähig, die weit aufgerissenen Augen von Saradoc zu nehmen. Er hatte Saradocs Wut häufiger gefürchtet, doch jetzt wurde ihm klar, dass er den Herrn niemals wirklich wütend erlebt hatte. Verärgert, verletzt, enttäuscht, sogar aufgebracht, doch niemals zornig, und ihm wurde klar, dass er ihn fürchtete - mehr noch als Marroc. Mit wild pochendem Herzen kauerte er auf dem Stuhl, die Hände auf dem Schoß gefaltet, den Blick auf den Boden gerichtet und die Augen furchtsam zusammen gekniffen.
"Warum?!" Saradocs Frage donnerte durch den Raum und Frodo schluckte, froh, dass die Worte nicht an ihn gerichtet waren. Der Herr war wieder dazu übergegangen, im Zimmer auf und ab zu gehen, die Hände vor Wut zitternd. "Ich weiß, weshalb Frodo gestohlen hat", erklärte er dann mit einer Stimme, gerade ruhig genug, um nicht wie eine Drohung zu klingen, "und ich weiß, was du getan hast. Ich weiß auch, dass es für solche Dinge immer zwei braucht: einen wie dich und einen, der dumm genug ist, auf dich zu hören." Frodo hob empört den Kopf, öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch wandte er den Blick ab und ließ die Schultern hängen, als der Herr für den Bruchteil eines Augenblicks zu ihm herübersah. "Was ich jedoch nicht weiß", fuhr Saradoc fort und blieb vor Marrocs Stuhl stehen, "ist: warum? Warum tust du das? Gefällt es dir, einen anderen zu beherrschen oder ging es dir nur um die Münzen, die du dadurch gespart hast?"
Marroc saß auf dem Stuhl neben dem Kamin, demselben Stuhl, auf dem er vor fast drei Jahren schon einmal gesessen war. Sein auf Frodo gerichteter Blick war finster und voller Hass. Der Kleine hatte es verdorben. Er hätte wissen müssen, dass Frodo früher oder später aufgeben würde, selbst auf die Gefahr hin, dass seinem kleinen Schützling etwas geschah. Er besaß keinen Mut, besaß keine Stärke. Er verkroch sich in seinen Träumereien, wo er über die Grausamkeit seines Lebens jammerte. Wie er ihn hasste! Marrocs Hände ballten sich zu zitternden Fäusten, während sein Blick Frodo förmlich zu durchbohren schien. "Sieh nicht ihn an", forderte Saradoc streng, "sieh mich an!" Ruckartig wandte Marroc sich um und das Funkeln in seinen Augen stand dem des Herrn in nichts nach, doch besaß der Tween nicht das Durchhaltevermögen des Schlossherrn. "Das Muttersöhnchen hat es nicht anders verdient!" presste er schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und sandte einen weiteren giftigen Blick in Frodos Richtung. "Er hat alles und ist dennoch unzufrieden! Ich gebe ihm nur einen Grund unzufrieden zu sein. Was ist er denn schon wert? Ohne seine Eltern noch weniger als zuvor. Er hätte uns einen Gefallen getan, wäre er mit ihnen umgekommen!"
Der dumpfe Schlag einer Ohrfeige brachte den Wortschwall zu einem jähen Ende. Saradoc lehnte keuchend über dem Tween, die Hände krampfhaft um die Stuhllehne gelegt. Er zitterte am ganzen Leibe, benötigte all seine Willenskraft, den Jungen nicht noch einmal zu schlagen. Marroc hatte den Kopf überrascht der Wand zugewandt. Auf seiner Wange zeichnete sich ein weißroter Handabdruck ab. Seine Worte hatten sich einer Messerklinge gleich in Frodos Herz getrieben, hatten alten Schmerz zum Leben erweckt und vergessene Trauer wieder in Erinnerung gerufen. Doch die ungeweinten Tränen waren vergessen, als Schrecken ihn so plötzlich packte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Frodo zum Herrn von Bockland und seinem Peiniger. Die kalten Finger der Furcht strichen über seinen Rücken, ließen eine Gänsehaut zurück. Ein Mantel der Stille senkte sich über den Raum, machte selbst das Atmen schwer. Die Zeit stand still.
"Was lässt dich solchen Hass empfinden?", fragte Saradoc fassungslos und schüttelte den Kopf. Es war ihm unbegreiflich, wie Marroc so leichtsinnig über den Tod von Frodos Eltern sprechen konnte, wie er dem Jungen so offensichtlich den Tod wünschen konnte. Angeekelt wich er vor dem Tween zurück, versuchte, seinen Zorn und seine Empörung unter Kontrolle zu bringen, ehe sie ihn beherrschen konnten, denn dann, so wusste er, würde Marroc um die Ohrfeige, die er soeben erhalten hatte, betteln. "Geh in dein Zimmer, Frodo", keuchte er schließlich, ohne das Kind anzusehen. "Warte dort auf mich." Ohne zu antworten wich der Junge zur Tür zurück und eilte aus dem Raum. Das Opfer war außer Gefahr. Saradoc war mit dem Täter allein und wusste doch nicht, wie er mit solcher Gefühlskälte umzugehen hatte ohne seiner Entrüstung freien Lauf zu lassen. Doch konnte Gewalt mit Gewalt besiegt werden? Saradoc schüttelte den Kopf und holte tief Luft, um den Aufruhr in sich zu bezwingen. Fäuste und Schläge würden Marroc ebenso wenig lehren, wie sie einem Kind die Tränen trockneten.
Kapitel 73: Bittere Unterhaltungen
Ein Feuer prasselte im Kamin. Sein warmer Schein tauchte den gemütlichen Raum in ein angenehmes Licht. Frodo saß mit überkreuzten Beinen auf seinem Bett, den Blick leer und ausdruckslos. In den Händen hielt er das Bild seiner Eltern, doch seine Augen sahen durch die Zeichnung hindurch. Tief in Gedanken summte er eine leise Melodie, die seine Mutter häufig gesungen hatte. Sein Herz pochte aufgeregt in seiner Brust, während er gegen die aufkommende Unruhe ankämpfte und wünschte, die Einsamkeit würde nicht länger andauern. Es war nicht so, dass er die Stille, die ihn umgab, fürchtete, doch der Sturm, den sie ankündigte, behagte ihm nicht. Wie Saradoc es verlangt hatte, war er in sein Zimmer gegangen, um zu warten. Seine Furcht war bald verflogen und als Merry zu ihm gekommen war und er seinem Vetter erzählen konnte, was er zuvor dem Herrn mitgeteilt hatte, hatte er sich beinahe beruhigt gefühlt, auch wenn Merry mit demselben Unverständnis reagiert hatte, wie auch sein Vater. Frodo hatte die Reaktion seines Vetters wortlos hingenommen, wohl wissend, dass er Merry nicht hätte von seiner Sicht der Dinge überzeugen können. Für seinen Vetter war Saradoc die Lösung aller Probleme. Für ihn gab es nichts, das sein Vater nicht hätte in Ordnung bringen, oder verhindern können. Dennoch hatte Merry mehr Mitgefühl gezeigt, als es Saradoc getan hatte und ihn nach einem langen Augenblick des Schweigens in die Arme geschlossen, ehe er schließlich seinen Kopf auf Frodos Schoß gelegt hatte, als wäre er es, der getröstet werden musste. So zog der Nachmittag dahin und als Saradoc noch immer nicht aufgetaucht war, gingen die Vettern dazu über, Karten zu spielen, bis Esmeralda sie unterbrach. Mit einem Tablett in den Händen, auf dem eine großzügige Portion des Abendessens angerichtet war, war sie in das Zimmer getreten und hatte Merry zum Essen gerufen. Frodo musste alleine bleiben. Dies hatte selbst Merry beunruhigt und während er das Zimmer verließ, hatte er seine Mutter mit Fragen gelöchert. Fragen, deren Antworten Frodo nicht mehr hatte hören können. Schweigend und mit knurrendem Magen hatte er sich an den Schreibtisch gesetzt. Sein Appetit hatte unter der Aufregung nicht gelitten und so hatte er den Eintopf und die zwei Scheiben Brot gierig verspeist. Gerne hätte er nach einer zweiten Portion verlangt, doch hatte er nicht gewagt, gegen Saradocs Wunsch zu handeln.
Ein Scheit knackte, ließ Frodo aus seinen Gedanken erwachen. Sein Blick glitt erst zur Tür, dann zurück zu seinem Bild. Ein schwerer Seufzer entwich ihm. Zärtlich strichen seine Finger über den Holzrahmen, als wollten sie sich an das Gefühl der Nähe jener beiden Lieben erinnern. Doch sie blieben fern, eingesperrt hinter Glas und Holz; Kohlestriche auf weißem Pergament, die trotz allem soviel mehr waren, als nur ein Bildnis. Betrübt schloss Frodo die Augen, versuchte, sich an die gemütlichen Abende im Zimmer seiner Eltern zu erinnern. Das leise Knistern des Feuers, die erzählende Stimme seines Vaters, das Gefühl der Geborgenheit in der schützenden Umarmung seiner Mutter. Ein Zittern durchlief ihn und sein Herz weinte, ob dem unerwarteten Verlust der flüchtigen Bilder. Er vermisste sie, vermisste sie noch immer und glaubte nicht mehr daran, dass die Zeit seine Wunden würde heilen können, wo sie doch in Augenblicken wie diesem so frisch schienen wie am ersten Tag. Liebevoll hielt er das Bild an seine Brust, ehe er es auf den Nachttisch stellte. Bekümmert schlang er die Arme um seine Beine, ließ das Kinn auf seinen Knien ruhen, während seine Gedanken zum vergangenen Nachmittag wanderten. Der lodernde Zorn in Saradocs Augen, der Hass in Marrocs Stimme, seine eigene furchtsame Wiedergabe der Ereignisse und das Gefühl der Zerrissenheit über die Richtigkeit, die Falschheit seines Tuns. Und er dachte an Merimas. Seinem Vetter zufolge ging es dem Jungen gut, doch Frodo war sich dessen nicht sicher.
"Ich weiß auch, dass es für solche Dinge immer zwei braucht: einen wie dich und einer, der dumm genug ist, auf dich zu hören."
Saradocs Worte hallten in Frodos Ohren wider und er ballte die Hände zu Fäusten. Wie konnte der Herr so etwas sagen, wo er doch wusste, was auf dem Spiel stand. Es schmerzte ihn, dass Saradoc so über ihn dachte und er fragte sich unwillkürlich, ob sein Vater auch so gedacht hätte. Hätte Drogo Beutlin ihn als dumm bezeichnet oder hätte er ihn verstanden? Eines stand fest: sein Vater hätte ihn nicht so lange im Ungewissen warten lassen. Sein Vater wäre niemals so wütend geworden, dass Frodo ihn hätte fürchten müssen. Sein Vater hätte niemals zugelassen, dass Marrocs grausames Spiel überhaupt einen Anfang fand. Marroc hätte nicht einmal gewagt, ihm zu drohen, wenn sein Vater noch leben würde. Frodos Traurigkeit schürte den Groll, den er in sich trug. Seine Wut richtete sich auf Saradoc. Saradoc, der Merry bevorzugte. Saradoc, der nie die Zeit fand, auch ihn zu loben. Saradoc, den er vergebens zu erfreuen gehofft hatte. Saradoc hatte nicht das Recht, so mit ihm zu sprechen, denn Saradoc war nicht sein Vater.
Die Tür protestierte ächzend, als Saradoc den Knauf drehte und in das Zimmer der Kinder trat. Frodo erblickte ihn, drehte ihm jedoch sofort den Rücken zu. Genervt verdrehte der Herr die Augen. Eines Tages würde ihn der Sturkopf dieses Jungen in den Wahnsinn treiben. Er wusste, er würde gegen eine Wand sprechen, wenn er sofort sagte, was er zu sagen hatte. Wenn er sich jedoch lange genug geduldete, würde sich Frodo geschlagen geben und von alleine zu sprechen beginnen, auf dass, auf die eine oder andere Weise, ein Gespräch beginnen konnte. Es verärgerte ihn, doch Saradoc hatte an diesem Nachmittag bereits so viel Zeit ungenutzt verstreichen lassen, dass es auf eine weitere kleine Ewigkeit in ausgedehntem Schweigen nicht ankam. Wortlos schloss er die Tür und setzte sich neben Frodo auf dessen Bett. Der Zorn des Nachmittages hatte sich beinahe verflüchtigt, seit er vor dem großen Fenster gestanden war und die dunkler werdende Nacht betrachtet hatte. All die Diskussionen, die Lügen und den aufgestauten Hass, der ihm in Marroc begegnet war, hatten ihn ermüdet. Dass dessen Eltern seine Taten zwar bedauerten, sie jedoch hinnahmen und nicht in der Lage schienen, den Tween zu rügen, hatte Saradoc zusätzlich erzürnt und an seinen Kräften gezehrt. Schließlich hatte er ein Machtwort gesprochen und veranlasst, dass Marroc den angerichteten Schaden in Münzen auszubezahlen hatte, ganz gleich, wie lange es dauerte, bis seine Schulden abgearbeitet waren. Es war nicht seine liebste Lösung gewesen, denn während er vor Marroc auf und ab gegangen war, hatte er sich daran erinnert, wie er drei Jahre zuvor exakt dasselbe getan hatte. Er hatte an Esmeraldas Worte denken müssen und dieses Mal wäre er bereit gewesen, ihrem Wunsch nachzukommen und Marroc fortzuschicken. Doch auf Bitten der Eltern hatte er dem Tween eine letzte Möglichkeit gewährt, sich zu bessern, hatte jedoch Merimac und Marmadas aufgetragen, ihren Lehrling bis an seine Grenzen zu treiben. Er selbst war ebenfalls fest entschlossen, den Jungen im Auge zu behalten, bereit seine Drohung jederzeit in die Tat umzusetzen, wenn dieser Frodo oder Merimas auch nur schief ansah. Bree schien ihm ein ausgezeichneter Ort für Marroc.
"Du hältst mich also für dumm." Saradoc wurde nicht enttäuscht, obschon ihn die Art, wie Frodo seine Bemerkung präsentierte, ein wenig irritierte. Er schüttelte den Kopf. "Was bleibt mir denn anderes übrig, wenn du so lange über solche Dinge schweigst?" Frodo fuhr herum. Seine Augen funkelten vor Zorn. "Was hätte ich denn tun sollen?", tobte er, "Was soll ich jetzt tun? Er wird ihm etwas antun! Er wird…" Aufgebracht keuchend drehte sich der Junge von ihm weg. "Ich hätte nie mit dir sprechen dürfen." Saradoc hatte geglaubt, sich wieder unter Kontrolle zu haben, doch Frodos Worte ließen den Zorn von neuem in ihm auflodern. Wie konnte der Junge nur so denken? Ohne nachzudenken, packte er ihn an den Oberarmen, zwang ihn gewaltsam, ihm in die Augen zu sehen. Furcht und Bitterkeit gleichermaßen starrten ihm aus den tiefen Abgründen von Frodos Augen entgegen. Vergeblich versuchte sich das Kind aus seinem starken Griff zu winden und zürnte, während Saradoc die Dummheit aus ihm herauszuschütteln suchte. "Denkst du denn, ich halte meine Versprechen nicht?", fragte er aufbrausend. Die Hitze seiner eigenen Wut brannte durch seinen Körper und loderte in seinen Augen, als er Frodos Blick schließlich festhielt, ohne von seinen Arme abzulassen.
Das Feuer knirschte, ließ seine flüchtigen Schatten über ihre grimmigen Gesichter tanzen. Für einen kurzen Moment senkte sich eine vor Spannung knisternde Stille über sie. Saradoc hatte ihn so plötzlich herumgerissen, dass Frodo Mühe hatte, nicht von der Bettkante zu rutschen, doch er rührte sich nicht, hielt dem durchdringenden Blick des Herrn wortlos stand. Furcht und Unmut ließen sein Herz schneller schlagen und ihn noch stärker an seinen Vater denken. Wäre er so mit ihm umgegangen? Hätte Saradoc Merry so grob gepackt? "Ich habe dir einmal gesagt, Marroc würde dir nichts mehr antun", fuhr Saradoc schließlich ein wenig ruhiger fort, "doch wie soll ich daran festhalten, wenn du nicht darüber sprichst?" Ungläubig sah Frodo den Herrn an. Er verstand nicht. Er glaubte noch immer, reden würde alles besser machen, ohne zu begreifen, dass sich dadurch nichts änderte. Missverstanden wandte er den Blick ab. Wut, Schmerz und Traurigkeit ließen ihn zittern, doch hütete er sich, jene innere Unruhe vor Saradoc zu zeigen. "Gegen Marroc kannst du nichts ausrichten", brummte er giftig, entschied sich dann doch dazu, Saradoc erbost anzusehen. "Das konntest du nie!"
"Und du kannst es?!" zischte Saradoc aufgebracht und sein Griff verstärkte sich abermals. Er verspürte den Wunsch, Frodo ebenfalls zu ohrfeigen, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen und benötigte all seine Willenskraft, dem nicht nachzugeben. Was war nur in den Jungen gefahren, dass er so eisern darauf beharrte, mit seinem Problem alleine fertig werden zu wollen? War er nicht dazu da, ihm beizustehen, wenn er in Situationen wie diese geriet? Weshalb lehnte Frodo seine Hilfe so widerspenstig ab? Was ließ ihn so hart und verbittert sein? Auf Frodos starren, entschlossenen Blick hin, der nicht an seiner Überzeugung zweifeln ließ, verzogen sich Saradocs Lippen zu einem humorlosen, traurigen Grinsen. "Nein, Frodo, wenn du weiterhin so mit dir umgehen lässt, kannst du gar nichts tun." Saradoc hatte gehofft, eine weitere Diskussion vermeiden zu können, doch die gereizte Stimmung des Kindes schien eine zu erfordern. Die Erschöpfung des Nachmittags nagte an seinen Gliedern und er seufzte schwer, ließ schließlich von den Armen des Kindes ab und griff sich mit den Fingern seiner linken Hand zwischen die Augen. Wie sollte er Frodo noch klar machen, dass er mit ihm reden musste, wenn er sich nicht in Intrigen dieser Art verstricken wollte? Nachdenklich sah er den Jungen an. Frodo war zum Kopfende des Bettes hinauf geflüchtet, hatte die Arme um seine Beine geschlungen und ließ das Kinn auf seinen Knien ruhen. Die Finger hatte er krampfhaft ineinander geschlungen. Sein Brustkorb hob und senkte sich in raschen Atemzügen und Saradoc wusste, dass die Spannungen noch nicht ausgestanden waren. Frodo würde erneut zürnen, wenn er seine Worte nicht geschickt wählte. Er besaß einen hartnäckigen Sturkopf, den Saradoc nur durchdringen konnte, wenn er Geduld aufbrachte. Geduld und Ruhe, an der es ihm im Augenblick mangelte. Er seufzte schwer. "Durch dein Handeln bringst du Merimas und dich selbst in Gefahr, Frodo. Weiß ich, was vor sich geht, kann ich dafür sorgen, dass…" "… dass was?!" keifte Frodo, schlug mit beiden Händen auf die Matratze und starrte ihn aus funkelnden Augen an. "Du kannst weder mich, noch Merimas, noch Marroc vierundzwanzig Stunden am Tag beobachten. Das ist schließlich der Grund, weshalb ich Marroc immer wieder in die Hände falle. Glaubst du etwa, ich mache das mit Absicht? Glaubst du, es gefällt mir, wie er mit mir umgeht?" Frodo zitterte vor Erbitterung, doch die Mauer der Verärgerung, die er um sich errichtet hatte, drohte einzustürzen. Keuchend und mit zusammengebissenen Zähnen starrte er Saradoc an, wobei sich Tränen in seinen Augen sammelten. Saradoc begegnete diesem Blick betrübt, sagte jedoch nichts, bis Frodo das Gesicht schließlich in seinen Händen vergrub und hilflos zu schluchzen begann. "Wenn er Merimas etwas antut, könnte ich mir das nie verzeihen."
Saradoc tat es im Herzen weh, den Jungen weinen zu sehen. Marrocs Taten waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Der Bluterguss an Frodos Schulter war nur eine äußerliche Wunde, doch der Tween hatte auch andere Waffen angewandt. Mit Grauen dachte der Herr an die Worte, die am Nachmittag gefallen waren.
"Was ist er denn schon wert? Ohne seine Eltern noch weniger als zuvor. Er hätte uns einen Gefallen getan, wäre er mit ihnen umgekommen!"
Marrocs Zunge war gefährlicher als jeder Fausthieb. Schon einmal war Frodo den Einschüchterungen des Tweens erlegen, da Marroc darum wusste, seine Worte geschickt zu verpacken. Selbst er, der Herr von Bockland, war damals von Marroc getäuscht worden, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dieses Mal war es nicht anders, obschon der Tween seine Intrigen heimlich gesponnen hatte. Frodo sollte gebrochen werden, doch nicht durch den Unwillen der anderen, sondern durch sein eigenes Gewissen. Merimas war ein gutes Druckmittel gewesen, doch vermutete Saradoc, dass die Verletzung des Kindes nicht Marrocs einzige Drohung gewesen war.
"Du kannst weder mich, noch Merimas, noch Marroc vierundzwanzig Stunden am Tag beobachten. Gegen Marroc kannst du nichts ausrichten."
Frodos Worte hallten in seinen Ohren wider und für einen kurzen Augenblick glaubte Saradoc, an sich selbst zweifeln zu müssen. Er war in der Tat nicht in der Lage, Frodo den ganzen Tag zu beobachten. Aber er war da! Der Junge konnte immer zu ihm kommen, selbst wenn er nur vermutete, dass Marroc eine neue Grausamkeit plante. Er würde ihm jederzeit Gehör und Hilfe schenken, wenn er ihm nur sagte, was vor sich ging. Betrübt streckte der Herr seine Hand aus, um das Kind in eine tröstende Umarmung zu ziehen und seine Tränen zu trocknen, doch Frodo schlug die Finger weg, noch ehe sie seine Schulter hatten berühren können. Saradoc seufzte leise und schloss die Augen, als seine Gedanken erneut zum vergangenen Nachmittag wanderten.
Aufgebracht war er vor dem Jungen auf und ab gewandert, während er versucht hatte, Ordnung in die Worte zu bringen, die Marroc so hasserfüllt ausgespieen hatte. Schließlich war er vor dem Tween stehen geblieben, hatte tief in die dunklen Augen geblickt und in ihnen zu lesen versucht. "Du verstehst dich nicht besonders gut mit deinen Eltern, nicht wahr? Du bist eifersüchtig auf ihn, weil Frodo jemanden hat, an den er sich wenden, dem er vertrauen kann." Marroc hatte spöttisch aufgelacht und Saradocs Wut zum Lodern gebracht, bis seine Finger sich zitternd um die Armlehne von Marrocs Stuhl gelegt hatten. "Wie sehr er dir vertraut haben wir ja gesehen. Er arbeitet bereits seit beinahe acht Monaten für mich, ohne dass du auch nur davon geahnt hast."
"Warum sprichst du nicht mit mir, Frodo?", fragte der Herr bekümmert und sah den Jungen hilflos an. "Ist dein Vertrauen zu mir so gering?" Verwundert hob Frodo den Kopf, zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Dennoch sah er Saradoc nur kurz an, ehe er das Gesicht erneut hinter seinen Händen versteckte. Der Schmerz und der Kummer, die in den Augen des Herrn lagen, machten ihn elend. So wütend er auf Saradoc war, wollte er ihn doch nicht verletzen. Der Herr mochte nicht sein Vater sein, doch Frodo liebte ihn und war weiterhin darauf erpicht, ihn stolz zu machen, selbst wenn er sein Lob nicht erhielt. Dennoch wusste er die Frage nicht zu beantworten und so schwieg er, lauschte lange dem leisen Knistern des Feuers. Die Ruhe breitete sich aus und beinahe hätte er annehmen können, alleine im Zimmer zu sein, doch als er die Hände vom Gesicht nahm, saß Saradoc noch immer vor ihm und sah ihn mit demselben fragenden Blick an. Frodo schluckte schwer. Was der Herr zu lösen versuchte, war keine Frage des Vertrauens, sondern eine des mangelnden Unterschiedes. Er zögerte und seine Finger klammerten sich in den Bezug seines Kopfkissens, als könne er so die Kraft finden, dieses Gespräch fortzuführen. "Ich mag Marroc nicht daran hindern können, mir wehzutun, doch ich vermag Merimas zu schützen." Saradocs Augen weiteten sich ungläubig. "Der Preis, den du dafür zahlst, ist zu hoch." "Das ist mir gleich", entgegnete Frodo achselzuckend und wäre beinahe erschrocken zurückgewichen, als Saradoc einen Augenblick darauf beide Hände sanft auf seine Schultern legte. Inständig sah der Herr ihm in die Augen, sagte jedoch nichts, denn es bedurfte keiner Worte, um Frodo klar zu machen, was er ausdrücken wollte. Wieder stockte Frodo, wich schließlich dem Blick aus. Er überlegte lange, ob und was er auf die unausgesprochene Bitte antworten sollte, doch am Ende hob er den Kopf und erklärte beinahe zaghaft, dass er an dem Tag mit Saradoc reden würde, an dem dieser ihm versichern konnte, dass Marroc weder Merimas, noch ihm etwas zuleide tun konnte. Der Herr entgegnete nichts darauf, doch schien er mit dieser Antwort einverstanden, denn er nickte, ehe er von seinen Schultern abließ. Frodo atmete erleichtert auf, froh das Ende dieser Unterhaltung erreicht zu haben, doch legte er argwöhnisch die Stirn in Falten, als der Herr sich nicht erhob, sondern gedankenverloren zum Kamin blickte. "Weshalb bleibst du noch hier", wagte er zu fragen.
Saradoc schüttelte den Kopf, als er sich erhob und seinen Rücken streckte. Er wollte sich nicht in eine weitere Diskussion verstricken lassen, denn dazu fühlte er sich bereits zu ausgelaugt. Dennoch wandte er sich dem Jungen noch einmal zu. "Ich frage mich, wann du einsehen wirst, dass dieser Tag bereits gekommen ist. Allerdings hängt es nicht nur von mir ab, ob ich mein Versprechen halten kann. Wenn du von Anfang an gesprochen hättest, Frodo, hättest du uns allen eine Menge Leid erspart. Solange du mit mir redest, kann ich dir helfen, denn, wie du selbst festgestellt hast, kann ich weder dich, noch Marroc, noch einen Anderen ständig im Auge behalten. Doch ich kann dir zuhören und dir helfen, wenn du es nur zulassen würdest." Ohne eine Antwort abzuwarten, verabschiedete sich Saradoc mit einem Kopfnicken und wandte sich zur Tür.
Frodo spürte den Zorn von neuem in sich aufwallen. Seine Hände krallten sich in den Kissenbezug und ein gefährliches Funkeln trat in seine Augen. Ein Zittern ging durch seinen Körper. Der Herr hatte noch immer nicht begriffen, dass er auf Marroc keinen Einfluss hatte. Marroc bekam, was er wollte, ganz gleich, ob der Herr von Bockland über sein Tun Bescheid wusste, oder nicht. Er sollte mit ihm reden? Was glaubte Saradoc, würde das nützen? Wenn Frodo ihm erzählte, dass Marroc ihn verprügelt hatte, war er bereits grün und blau geschlagen. Welches Leid glaubte der Herr, hätte er ihnen durch reden ersparen können? Keines! Saradoc wollte ihm helfen? Er hatte ihm erzählt, dass Marroc sich würde rächen wollen, weil er geredet hatte, doch der Herr hatte dennoch vor, ihn in seinem Zimmer allein zu lassen, auf dass Marroc zuschlagen konnte, sobald Saradoc hinter der nächsten Ecke verschwunden war. Die Röte stieg ihm ins Gesicht. Unentschlossen, ob er seine Gedanken laut aussprechen sollte, grub Frodo seine Finger so fest in das Kissen, bis seine Knöchel weiß hervortraten und biss die Zähne zusammen. Wie konnte der Herr ihn als dumm bezeichnen, wo er es doch war, der nicht verstehen wollte? Die Tür fiel ins Schloss und Frodo sprang von seinem Bett, war einen Augenblick versucht, Saradoc hinterher zu eilen und ihm zu sagen, was er von seinen Worten hielt, doch die Erinnerung an den Schrecken, den Saradocs Zorn bei ihm ausgelöst hatte, ließ ihn sich zurückhalten. Keuchend starrte er auf die Tür. Ein rotgoldener Lichtschein lag auf seiner Gestalt, als er plötzlich das Kissen packte und es mit einem Schmerzensschrei gegen die Tür schleuderte, ehe er selbst auf die Knie sank. Tränen traten in seine Augen, die Frodo erfolglos wegzublinzeln suchte. Weshalb verstand er ihn nicht? Weshalb konnte Saradoc ihn nicht einmal verstehen, wie sein Vater ihn verstanden hatte?
~*~*~
Es hatte nicht lange gedauert, bis Frodo sich wieder beruhigt und seine Tränen getrocknet hatte. Als Merry nach einiger Zeit noch immer nicht zurückgekehrt war, war er schließlich in sein Nachthemd geschlüpft und hatte sich abermals an das Kopfende seines Bettes gesetzt. Den Kopf an die Wand gelehnt, betrachtete er das Bild seiner Eltern, das er in den Händen hielt. War dies das bittere Ende, das er gefürchtet hatte? Ein Ende der Verbitterung, des Zornes und der Furcht? Ein Ende des Schmerzes, des Kummers und der Enttäuschung? Marroc hatte ihm in den vergangenen Monaten häufig genug gezeigt, dass er zu heftigen Emotionsausbrüchen fähig war, doch Frodo hätte nie gedacht, dass er seinen Zorn so gezielt auf Saradoc richten würde. Er wusste, er hätte noch weitaus mehr gesagt, als er es getan hatte, hätte seine Wut sich nicht in einem ständigen Tauziehen mit seiner Furcht befunden. Furcht vor Marroc und Saradoc gleichermaßen hatte zu seinen heftigen Aussagen geführt und der Schmerz, den er in den Augen des Herrn hatte sehen können, verletzte auch ihn. Die Pein war allgegenwärtig, und er zerrissen gewesen. Selbst jetzt wusste er nicht, ob er sich richtig entschieden hatte. Er hatte sich gewünscht, nicht mehr stehlen zu müssen, doch machte das nicht alles nur noch schlimmer? Die Angst, falsch gehandelt zu haben, ließ ihn nicht los, schnürte ihm die Luft ab. Jeder Schritt, den er vernahm, ließ ihn die Muskeln anspannen, aus Furcht, Marroc würde kommen und sich rächen. Und doch hoffte er beinahe, der Tween würde zu ihm kommen und ihn verprügeln, denn dann wäre zumindest Merimas außer Gefahr. Der Gedanke an Merimas ließ ihn verzweifeln und brachte den ganzen Zorn, den er am Nachmittag empfunden hatte, wieder zum Kochen. Zorn auf Saradocs mangelndes Verständnis, Zorn gegen sich selbst, denn er hätte es nie soweit kommen lassen dürfen. Zorn auf Marroc, der durch seine Worte das alte Leid erweckt hatte. Sanft strichen seine Finger über den Rahmen, als sich eine Träne aus seinen Augenwinkeln löste, auf das Bild tropfte und das lächelnde Gesicht des kleinen Jungen bedeckte. Seine bekümmerte. Seele blutete unter der Last erstarkter Trauer und Verzagtheit, sehnte sich nach der Liebe jener Verlorenen und verurteilte die Welt und alles Leben in ihr, da sie ihr nicht geben konnte, was sie so verzweifelt suchte.
Eiligst wischte er sich die Tränen aus den Augen, als es an der Tür klopfte und Hanna eintrat. Der Ausdruck in ihrem Gesicht löste ein ungutes Gefühl in ihm aus und er schluckte schwer, während er sein Bild vorsichtig auf dem Nachttisch platzierte.
Es war das erste Mal, dass sie sich unwohl fühlte, wenn sie Frodo aufsuchte. Unzählige Nächte hatte sie damit verbracht, über den Grund seiner Distanzierung nachzudenken und jetzt, da sie ihn kannte, scheute Hanna sich davor, Frodo zur Rede zu stellen, denn sie wusste nicht, welche Worte ihren Mund verlassen würden, hatte sie ihn einmal geöffnet. Als Marmadas ihr nach dem Abendessen berichtete, was Saradoc ihm zuvor mitgeteilt hatte, hatte sie ihren Ohren erst nicht glauben wollen. Doch dann begann alles Sinn zu ergeben. Wie sie es gefürchtet hatte, hatte sich Frodo gleich nach seinem Umzug ein wenig zurückgezogen. In ihr Zimmer war er nie wieder gekommen, doch hatten sie ab und an abends am Kamin einige Worte wechseln können. Anfangs war er ihr recht fröhlich erschienen und nur manchmal hatten Sorgen seine Augen verdunkelt. Im Herbst war jedoch derselbe undurchdringbare Schatten zurückgekehrt, den sie schon ein knappes Jahr zuvor zu lichten versucht hatte. Zuerst hatte sie geglaubt, es läge an der Jahreszeit, denn am Jahrestag des Todes seiner Eltern und manchmal auch in den Tagen davor und danach, war Frodo noch schweigsamer, als es selbst für ihn üblich war und zog die Einsamkeit jeglicher Gesellschaft vor. Doch seine Distanzierung hatte angehalten und wann immer sie ihn hatte ansprechen wollen, war er noch weiter zurückgewichen, bis sie am Ende Esmeralda damit beauftragt hatte, die Nähe des Kindes zu suchen, da sie nicht mehr in der Lage war, zu ihm durchzudringen. Jetzt verstand sie. Es war alles nur wegen Merimas und Marroc gewesen. Sie hatte den Tween schon verabscheut, als sie damals erfahren hatte, dass er den Rahmen von Frodos Bild vernichtet hatte, doch war dies nichts im Vergleich zum Groll, den sie nun gegen ihn hegte. Insgeheim war sie froh, dass Marmadas es ihr überlassen hatte, mit Frodo zu sprechen, während er Marroc zur Rede stellen wollte.
Frodo betrachtete sie mit einem unsicheren Ausdruck und Hanna holte tief Luft, ehe sie sich auf das Bett zu bewegte. Selbst im schwachen Licht des Feuers konnte sie sehen, dass das Kind geweint hatte. Seine Augen waren geschwollen und seine Wangen trugen den Glanz frisch getrockneter Tränen. Sie konnte sich vorstellen, dass es auch für ihn nicht leicht war und doch konnte sie sein Handeln nicht verstehen. Mitleidig sah sie ihn an, wusste nicht, ob sie ihn trösten oder zurechtweisen sollte. "Bitte sag mir nicht, dass du bereits seit acht Monaten darüber schweigst", bat sie schließlich und unterdrückte Tränen ließen ihre Stimme zittern. "Du setzt Merimas nicht bereits seit acht Monaten einer solchen Gefahr aus."
Frodo schloss gequält die Augen. "Fang du nicht auch noch damit an, bitte." Die Worte hatten seine Lippen verlassen, ehe er gewusst hatte, was er antworten würde. Er hatte genug, genug davon, ein und dieselbe Frage immer wieder gestellt zu bekommen, obschon keiner seine Erklärung hören wollte. Gerne hätte er Hanna eine Antwort gegeben, die sie zufrieden gestimmt und den Kummer aus ihrer Stimme gelöscht hätte, doch war dies der Tag der Wahrheit und er wollte sein Gewissen nicht mit einer neuerlichen Lüge beflecken, ehe es völlig rein gewaschen war. Unruhig rutschte er auf dem Kissen hin und her, den Herzschlag stechend im Hals spürend. Er wusste, dass er Hanna verletzt und ihr Vertrauen missbraucht hatte, und hatte schreckliche Angst davor, sie zu verlieren. Er selbst hatte die Bande zerschnitten, indem er sich von ihr und ihrer Familie zurückgezogen hatte und wusste nun, dass es ein Fehler gewesen war. Er wagte vielleicht nicht daran zu glauben, dass sie ihn liebte, wie Bilbo ihn einst zu lieben vorgab, doch ihre Nähe war ihm immer lieb gewesen und in den vergangenen Monaten hatte sie ihm gefehlt. Hanna durfte nicht auch noch ihre Seite der Bindung zerreißen.
Kraftlos ließ sich Hanna auf das Bett sinken. "Warum, Frodo? Warum schweigst du?", begehrte sie zu wissen. "Du tust damit nicht nur dir selbst weh, sondern auch anderen." Frodo zuckte unter ihren Worten merklich zusammen, sah sie jedoch nicht an. Stattdessen drehte er sich noch weiter von ihr weg, bis sein Blick auf die Wand gerichtet war, und ließ seine Füße unter seinem Nachthemd verschwinden. Hanna glaubte nicht daran, dass Marroc seine Drohung tatsächlich umgesetzt hätte, nicht zuletzt, weil sie der Ansicht war, dass sich dem Tween keine Möglichkeit geboten hätte, doch Frodo war davon überzeugt gewesen und hatte zugelassen, dass Marroc ihn für seine Zwecke benutzte. Ihre Worte mochten ihn schmerzen, doch Hanna hatte nicht vor, ihn zu verletzen. Sie wollte ihm helfen zu verstehen, weshalb es so wichtig war, dass er ihr und seinen Pflegeeltern vertraute. "Rede, Kind! Behalte solche Dinge nicht für dich!" bat sie verzweifelt. "Siehst du denn nicht, wozu das führt? Indem du schweigst, gibst du Marroc Macht. Macht, die er nicht über dich haben sollte."
"Du verstehst nicht, dass mir keiner helfen kann, nicht wahr? Weder du noch Saradoc!" Frodo verabscheute die Verbitterung in seiner Stimme, doch vermochte er diese nicht zu kontrollieren. Sein Körper verkrampfte sich unter verborgenem Zorn. Angespannt presste er die Lippen zusammen. Seine Hände umklammerten den Leinenstoff seines Nachtgewands bis seine Finger zitterten. "Es spielt keine Rolle, ob ich rede oder schweige", ließ er Hanna schließlich wissen und drehte den Kopf, sein Ausdruck ein Bildnis der Verzweiflung. Ingrimm lag in seinen Augen. "Denkst du, ich hätte jetzt Ruhe vor ihm?", er schüttelte den Kopf. "Für einen Monat mag das vielleicht zutreffen, doch dann wird es von vorne beginnen. Er wird fester zuschlagen als zuvor und dieses Mal wird er mich vielleicht nicht rechtzeitig an die Oberfläche reißen, sollte er sich wieder dazu entschließen, mich im Brandywein ertränken zu wollen."
Frodos Stimme hatte mit jedem Wort verzagter geklungen und am Ende lagen Tränen in seinen Augen, die er zu verbergen suchte, indem er das Gesicht erneut der Wand zuwandte. Hanna starrte ihn entsetzt an, unwillig, ihren Ohren zu trauen. "Er hat…", keuchte sie stockend, verstummte dann jedoch, unfähig zu wiederholen, was sie gehört hatte. Die Tränen, mit denen sie schon seit ihrem Eintreten zu kämpfen hatte, drohten sie zu übermannen. Ohne einen weiteren Augenblick zu zögern, rutschte sie an den Jungen heran und streckte ihre Hände aus, um ihn in eine schützende Umarmung zu ziehen. Wie konnte Marroc nur so etwas tun? Wie hatte sie nur einen Moment glauben können, Frodo zurechtweisen zu müssen, wo er doch Trost soviel nötiger hatte?
Einen Augenblick glaubte Frodo, sich der Berührung erwehren zu müssen, doch sein Körper ließ sie willenlos geschehen und seine Seele stürzte sich gierig auf die dargebotene Zuneigung. Hanna stieß ihn nicht von sich, trotz allem, was er getan hatte. Ein Schluchzen der Erleichterung entrang sich seiner Kehle und mit einem Mal erlag er der Hilflosigkeit, gegen die er sich in den vergangenen Monaten so tapfer gewehrt hatte. Bittere Tränen brannten in seinen Augen, flossen über seine geröteten und erhitzten Wangen. Seine Finger krallten sich am Stoff ihrer Bluse fest, als könne er so verhindern, dass sie ihn jemals wieder gehen ließ. "Hilf mir, Hanna!" schluchzte er elend und vergrub den Kopf an ihrer Schulter. "Ich will keine Angst mehr haben, weder vor Marroc, noch um Merimas."
Hanna spürte seine Tränen an ihrem Hals, fühlte das Beben seiner Schultern. Beschützend drückte sie ihn fester an sich, kämmte durch sein Haar und strich zärtlich über seinen Rücken. "Ich bin hier", beruhigte sie, "ich passe auf dich auf." Ihr Herz blutete, als sie seiner Verzweiflung gewahr wurde und sie schalt sich selbst, dass sie nicht schon früher bemerkt hatte, was vor sich ging. Schon als Frodo sich von ihr abgewendet hatte, hätte sie hartnäckiger nachfragen müssen. Womöglich wäre es ihr dann gelungen, Frodo unnötiges Leid zu ersparen und ihren Sohn einer unabsehbaren Gefahr zu entziehen. Ihre eigenen Tränen tropften auf Frodos dunklen Lockenkopf, während sie ihn in ihren Armen wiegte, in der Hoffnung, so seinen Kummer zu lindern.
Das Gefühl der Geborgenheit regte sich in ihm, die schwache Erinnerung an seine Mutter. Frodo wehrte sich dagegen, wissend, dass er Hannas Trost nicht verdient hatte, nicht nach allem, was er ihr angetan hatte. Er wollte sich aus der Umarmung lösen, doch die Stimme seines Herzens zwang ihn, sie nicht gehen zu lassen und so wurde er von Schuld übermannt, denn er stillte seine Sehnsucht, anstatt auf die Rücksicht zu nehmen, die er so gedankenlos belogen und verletzt hatte. In diesem Augenblick verwunderte es ihn nicht, dass Bilbo sich von ihm abgewandt hatte. Wie hätte Bilbo jemanden wie ihn lieben können? Jemand, der sich so selbstsüchtig nahm, was ihm nicht gebührte. Immer mehr Tränen tränkten Hannas Bluse und wieder versuchte er, sich von ihr wegzubewegen, doch hielt sie ihn fest an sich gedrückt und auch seine Finger waren nicht gewillt, ihre verzweifelte Umklammerung zu lösen. "Vergib mir", wisperte er tränenerstickt, "dass ich Merimas mit hineingezogen habe. Du hast jedes Recht, von mir enttäuscht zu sein."
Ein schmerzliches Wimmern entwich ihm, als Hanna ihre Hände auf seine Schultern legte und ihn in eine aufrechte Position brachte. Verunsichert sah sie ihn an, woraufhin Frodo mit einem gequälten Lächeln ihre Hand von seiner linken Schulter schob. Er zitterte, nicht wissend, ob er um die verlorene Wärme trauern sollte oder ob er froh war, sich nicht länger wie ein gemeiner Dieb fühlen zu müssen. Hannas Augen weiteten sich voller Entsetzen, als sich der Stoff von Frodos Nachthemd für einen Moment bewegte und den Blick auf einen dunkelroten Bluterguss freigab, der sich über die gesamte Schulter zu ziehen schien. Sie benötigte keine Erklärungen, um zu wissen, dass Marroc jene Verletzung verursacht hatte und wieder fragte sie sich, wie der Tween zu solchen Taten fähig sein konnte. Rasch biss sie sich auf die Lippen, als sie Zorn in sich aufwallen spürte. Der Schmerz half ihr, sich zu besinnen und so legte sie schließlich ihre Hände auf Frodos Oberarme und hielt seinen Blick fest. "Ich bin nicht enttäuscht", versicherte sie ihm ehrlich. "Du bist jung und machst Fehler. Dein ganzes Leben wirst du Fehler machen, Frodo. Du solltest nur in der Lage sein, aus ihnen zu lernen." Tränen lagen in ihren Augen, die sie vergeblich wegzublinzeln suchte. "Sprich das nächste Mal mit uns, selbst wenn du glaubst, dass keiner dir helfen kann." Wortlos sah Frodo sie an und das blasse Licht des Feuers verhüllte sein Gesicht hinter unwirklich erscheinenden Schatten. Er schluckte schwer, schlug dann die Augen nieder und wollte sich von ihr abwenden, doch Hanna hielt ihn fest. Sie wusste, dass er ihre Nähe brauchte, denn wie schon einmal, hatte sie seine Sehnsucht spüren können und war nun nicht gewillt, diese ungestillt zu lassen. Wortlos legte sie ihre Hände auf seine tränenfeuchten Wangen und zwang ihn mit sanftem Druck, seinen Kopf auf ihren Schoß zu legen. Das Kind erzitterte, als sie ihre Hand auf die Seinen legte und mit der anderen über seine Schläfen strich. Bekümmert schloss sie die Augen, als neuerliches Weinen an ihr Ohr drang und sie leise murmelnd versuchte, den Schmerz des Jungen zu lindern.
Unendliche Dankbarkeit erfüllte ihn, als Hanna ihn neuerlich in ihre Arme schloss und jene Wärme zurückbrachte. Frodo hatte sie nicht verdient, doch Hanna gewährte ihm ihre Nähe trotzdem. Sie hatte ihm verziehen. Er musste an Bilbo denken und der Gedanke ließ neue Tränen in ihm erwachen. Wie oft war er so in Bilbos Schoß gelegen und hatte ein noch stärkeres Gefühl des Geborgenseins empfunden. Dies war nur eine schwache Erinnerung daran, denn bei Bilbo war er Zuhause gewesen, bis sein Onkel beschlossen hatte, ihn zu verstoßen. Er war alleine. Eine einsame Seele in einem überfüllten Heim, das nicht das Seine war. Hanna. Liebte sie ihn, wie er sich wünschte, geliebt zu werden? Frodo wagte nicht, daran zu glauben, denn schon einmal hatte jener Gedanke ihn verraten. Einen weiteren Verlust würde er nicht ertragen und so ließ er sich lieber von der tröstlichen Wärme des Augenblicks umgeben, als von falschen Hoffnungen enttäuscht zu werden. Jetzt war Hanna für ihn da und mehr brauchte er nicht zu wissen.
Als Esmeralda kurze Zeit später mit Merry in das Zimmer zurückkehrte, war Frodo in Hannas Armen eingeschlafen. Hanna war kaum gewillt, ihn wieder alleine zu lassen, doch schließlich bettete sie ihn vorsichtig zur Ruhe. Frodos Schlummer war so tief, dass er nur einmal blinzelte, ohne der Störung wirklich gewahr zu werden und sich sofort zusammenrollte, als Hanna ihn zudeckte und zärtlich über seine Wange strich.
Es war einmal eine epische Geschichte und eine andere Geschichte wurde geschrieben, um dieser vorraus zu gehen. Es war die Geschichte eines Hobbits und es wurde täglich an ihr gearbeitet. Doch dann kam das Wahre Leben und nahm viel Zeit vom Schreiber und ihrer Korrekturleserin. Geschichte wurde Legende. Legende wurde Mythos. Und eineinhalb Jahre lang, wusste niemand mehr um die Geschichte. Doch dann geschah etwas, womit niemand mehr gerechnet hatte. Das neue Kapitel ist endlich da.
Ein herzliches Dankeschön, an alle, die so lange Geduld mit mir hatten. Ich bemühe mich, es micht mehr zu einer solch langen Verzögerung kommen zu lassen, allerdings kann ich nichts versprechen, außer, dass ich trotz mangelnder Zeit und noch mehr mangelnder Zeit nicht zu schreiben aufhören werde.
Zusätzlich gibt es einen neuen Eintrag in den Anmerkungen bezüglich Ortsnamen. Die neue, streng limitierte Ausgabe der alten Carroux Übersetzung des Herrn der Ringe wurde nämlich vor ihrer Veröffentlichung auf Fehler untersucht und manche Änderungen wurden vorgenommen. Leider blieben auch Ortsnamen davon nicht verschont. Diese Änderungen werden jedoch keinen Einfluss auf Schickalsjahre eines Hobbits haben und alle Namen bleiben, was sie in den letzten 50 Jahre waren. Für weitere Informationen, verweise ich auf die Anmerkungen.
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Kapitel 74: Kein Kind mehr
Mit einem angeekelten Laut wich Nelke aus dem eingestürzten Unterschlupf zurück. „Das ist abscheulich!“ klagte sie und rieb vergebens ihre Hände aneinander. „Es ist feucht, es ist verrottet und ich wurde angeschleimt.“ „Angeschleimt?“ Frodo spähte zwischen einigen abgebrochenen Zweigen hindurch und zog eine Augenbraue hoch. „Es sind Schnecken. Was hast du erwartet?“ Mit diesen Worten griff er nach einer Nacktschnecke, die es sich unter dem Dach der einst so behaglichen kleinen Höhle gemütlich gemacht hatte, streckte den Kopf durch das Loch zwischen eingebrochenen Ästen und schmiss das Tier in einen Strauch. Nelke verzog das Gesicht, schüttelte ihre Finger, was jedoch noch weniger Wirkung zeigte, als das vorangegangene Reiben selbiger, und ließ ihren Blick schließlich auf der Ruine ruhen, in der Frodo so emsig beschäftigt war. Ein sanfter Windhauch kam auf, wehte das Stroh vom bereits kaum mehr vorhandenen Dach der kleinen Höhle. Frodos Krauskopf tauchte kurz zwischen den Blättern auf und eine weitere Schnecke flog zum nächstgelegenen Ligusterstrauch, wo sie ein neues Dasein aufbauen konnte, sollte sie ihre Reise dorthin überlebt haben. Nelke schüttelte sich. „Sag nicht, du hast mich hierher bestellt, damit ich dir helfe, dieses erbärmliche Ding wieder aufzubauen.“ „Ich hatte geglaubt, etwas Gesellschaft könne nicht schaden“, erklärte Frodo, wobei er sich nicht anmerken ließ, wie sehr ihn Nelkes geringe Meinung beleidigte. Seit sie vor zwei Jahren das Grundgerüst der Höhle gemeinsam mit Pippin aufgebaut hatten, hatten Frodo und Merry ihren Unterschlupf um einiges beständiger gemacht. Mit Hammer und Nägeln waren sie den Ästen zu Leibe gerückt, hatten hohe Holpflöcke in den Boden gerammt und eine alte Holzplatte, die sie in den Kellern des Brandyschlosses gefunden hatten, zurecht gesägt, um die Wände widerstandsfähiger zu machen. Einzig das Dach, bestehend aus Zweigen, Stroh und großen Blättern, war dasselbe geblieben. Der Sommersturm, der am letzten der Lithefeiertage angebrochen war und für beinahe zwei Tage getobt hatte, hatte jedoch keine Rücksicht auf die Arbeit genommen, die er und sein Vetter in ihren Unterschlupf gesteckt hatten. Jener Teil des Daches, der nicht weggeweht worden war, war eingebrochen und ein vom Baum gebrochener Ast versperrte den Eingang. Frodo war es trotz mehreren Versuchen noch immer nicht gelungen, ihn fortzubewegen und so hatte er sich erst daran gemacht, das einstige Dach aus der Unterkunft zu sammeln und jegliches Getier, das sich inzwischen dort eingefunden hatte, wieder daraus zu entfernen. Anfangs war Frodo verärgert gewesen, über die Arbeit, die ihm nun bevorstand, doch je länger er sich in seiner Höhle aufhielt, umso mehr erkannte er, welch großes Glück er gehabt hatte. Hätte der Wind den Ast nur ein wenig weiter nach links getrieben, wäre auch die Wand zerstört worden.
„Gesellschaft oder Hilfe?“, begehrte Nelke zu wissen, wobei ihre Finger über die am Pfosten eingeritzten Namen von Frodo, Merry und Pippin strichen. Sie erschrak beinahe, als Frodos verschmitztes Gesicht vor dem ihren auftauchte. „Beides“, verkündete der Junge frohgemut, ehe er erneut in den Trümmern verschwand. Nelke lächelte. „Wird mein Name dann auch hier stehen?“ „Nein.“ Die Antwort kam so plötzlich und überzeugt, dass sie verdutzt inne hielt und ihre Hand fast schuldbewusst vom Balken zurückzog. Nach kurzem Zögern wagte sie es, den Kopf erneut in die Höhle zu stecken. „Du müsstest dich mit der Ehre zufrieden geben, die vierte Person zu sein, die von dieser Höhle weiß.“ Verwirrt legte Nelke die Stirn kraus. „Das tue ich bereits.“ Vorsichtig kroch sie tiefer hinein, immer darauf bedacht, weder Hände noch Knie auf eine Nacktschnecke zu legen. „Nein.“ Frodos ganze Aufmerksamkeit war auf eine der hinteren Ecken beschränkt. Er rührte sich nicht und Nelke fragte sich, was es dort Interessantes anzustarren gab. „Du weißt nicht was es heißt, so etwas aufzubauen.“ Er wandte sich um und kroch auf sie zu, die Hände vor seiner Brust verschwörerisch zu einer Kugel geformt. Ein schelmisches Lächeln erhellte seine Züge und sie konnte den Übermut in seinen Augen sehen. Unwillkürlich wich sie zurück, den Blick unsicher auf Frodo gerichtet. Plötzlich streckte dieser seine linke Hand aus und schenkte so einer riesigen Spinne ihre Freiheit zurück. Das Tier ließ sich diese Möglichkeit nicht entgehen, bewegte sich flink an die Spitze von Frodos Finger, wo sie sich mit einem Faden herab ließ, um auf Nelkes Bluse zu landen. Mit einem gellenden Schrei, der selbst die Vögel in den Bäumen aufschreckte, stürzte das Mädchen aus dem Unterschlupf. Verschreckt schlug sie auf ihre Bluse, schrie kurz auf, obschon die Spinne längst verschwunden war und sprang aufgeregt von einem Bein auf das andere. Frodo brach in schallendes Gelächter aus. Nelke mochte seine Freundin sein, doch sie war und blieb ein Mädchen. Somit fürchtete sie alles, was mehr als vier Beine, oder, wie im Falle der Schnecken, gar keine besaß. Er kicherte. Sie war seine Freundin, doch auch Freunde durften geärgert werden. Außerdem wäre es eine Schande, eine solche Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen.
„Du Dummkopf von einem Hobbit!“ Ihr Schrecken verflog rasch, machte Verärgerung Platz. Keuchend stapfte Nelke auf ihn zu, stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. Frodo kannte diesen Ausdruck, hatte ihn nur allzu oft in Marrocs Augen gesehen, doch fürchtete er ihn bei Nelke nicht. Mit einer Unschuldsmiene und einem kaum unterdrückten Kichern sah er zu ihr auf, packte ihre Hände, als sie nach ihm schlagen wollte. Nelke entwand sich seinem Griff jedoch und verlautete, dass er seine Höhle alleine bauen solle, ehe sie beleidigt davon ging, um sich zwischen den Margeriten, deren weißgelbe Blüten die Lichtung bedeckten, niederzulassen. Frodo sah ihr etwas wehmütig hinterher, schüttelte dann jedoch den Kopf. Mädchen waren viel zu rasch beleidigt und Nelke war leider keine Ausnahme. Mit Merry wäre alles viel einfacher, doch er musste mit Nelke vorlieb nehmen, denn sein Vetter war in Tukland. Esmeralda hatte vorgehabt, nach den Lithe-Tagen zu den Smials zu reisen. Ihn und Merry hatte sie mit sich nehmen wollen, doch Frodo hatte sich während der Feiertage eine leichte Erkältung zugezogen und die Herrin hatte es für besser gehalten, ihn zu Hause zu lassen. Glücklich war Frodo darüber nicht gewesen, denn er vermisste Peregrin, den er schon über ein Jahr nicht mehr gesehen hatte. Als Hanna ihm bereits drei Tage später erklärte, dass er wieder völlig gesund war, hatte ihn das noch mehr verärgert. Saradoc versicherte ihm jedoch, dass Pippin noch in diesem Jahr nach Bockland kommen würde und das ließ Frodo sein Schicksal zumindest ein wenig friedvoller annehmen.
Mit einem letzten Blick auf Nelke machte er sich wieder an die Arbeit. Der Nachmittag zog rasch dahin, während er einen Großteil des einstigen Daches am Rand der Lichtung auf einen Haufen legte, neue Äste heranschaffte und diese zum Teil an die Pfosten nagelte, in der Hoffnung, das Dach würde so dem nächsten Sturm standhalten. Mit einem letzten Kraftakt gelang es ihm schließlich auch, den Ast, der den Eingang versperrte, wegzuschaffen, sodass erneut vier sitzenden Hobbits Platz in der Höhle geboten wurde. Zufrieden betrachtete Frodo sein Werk. Die Sonne schien durch das dichte Blätterdach und ließ kleine, glitzernde Lichtpunkte über den Unterschlupf tanzen. Er hatte es geschafft. Sein kleines Reich war wieder aufgebaut und sah nun sogar besser aus als zuvor. Lächelnd wischte er sich den Schweiß von der Stirn. „Warum tust du das?“ Verwundert wandte er sich um und erkannte, dass Nelke, die den ganzen Nachmittag kaum ein Wort mit ihm gewechselt hatte, an seine Seite getreten war. In den Händen hielt sie einen großen, dichten Kranz geflochtener Margeriten. Einige Haarsträhnen hatten sich aus ihrer Spange gelöst, hingen ihr ins Gesicht. Ein seltsamer Ausdruck, den Frodo nicht zu deuten wusste, lag in ihren grünbraunen Augen, die den Blick nicht von der Höhle nahmen. „Weshalb tust du dir all diese Arbeit an, wo die Hütte doch beim nächsten Sturm vermutlich erneut einstürzen wird?“ Frodo sah sie enttäuscht an. Er hatte geglaubt, Nelke würde am Wiederaufbau der Höhle ebenso viel Freude empfinden, wie er und Merry es in den vergangenen Jahren unzählige Male getan hatten. Insgeheim hatte er sogar gehofft, sie mit seinem Schaffen zu beeindrucken. Doch wie es schien, verstand sie von solchen Dingen nichts. Sie war eben doch nur ein Mädchen. Er zuckte mit den Schultern. „Die Höhle hat schon vielen Stürmen getrotzt“, erklärte er nicht ohne Stolz. „Außerdem habe ich sie mit meinen Vettern gebaut. Das macht sie zu etwas Besonderem. Es ist unsere Zuflucht vor dem Rest der Welt.“ Ohne zu fragen nahm er den Blumenkranz an sich und legte ihn auf das Dach. Ein Lächeln huschte über seine Züge, doch Nelke sagte nichts und ihr Ausdruck blieb unverändert. „Wolltest du nie von Zuhause weg?“ Frodo wusste nicht, weshalb er sie das fragte. Er verspürte den Wunsch ihr zu erklären, weshalb diese Höhle ihm so wichtig und die viele Arbeit wert war, und diese Frage schien dem Grund am nächsten. Die Höhle war sein Heim, denn er hatte sie gebaut und niemand konnte ihm darin zu nahe treten, denn niemand, außer seiner liebsten Freunde, wusste von ihrem Vorhandensein. Keiner konnte ihm unter jenem Dach aus Blättern und Zweigen wehtun oder ihn zwingen, über Dinge zu sprechen, über die zu schweigen besser war. Hier fand er Ruhe und Distanz. Hier konnte er zufrieden sein. Nelke schüttelte den Kopf und ihr Blick, der nun auf ihm ruhte, wirkte beinahe bekümmert. Frodo wollte sie fragen, was sie bedrückte, doch sie wandte sich von ihm ab, um sich mitten in die Margeriten zu legen. Verunsichert sah er dem Mädchen hinterher, folgte ihr dann und tat es ihr gleich.
Ein sanfter Windhauch brachte die zarten Blüten zum Schwingen. Die Tannen rauschten leise und ein friedliches Rascheln ging durch das hohe Blätterdach. Vögel zwitscherten, während einige dunkle Wolken über den Himmel zogen und ihre Schatten in die Lichtung warfen. „Etwas hat sich verändert.“ Es war Nelke, die die aufgekommene Stille brach. „Ich kenne dich schon mein ganzes Leben und du warst immer schon verschlossener als andere, doch du warst auch lebensfroh und für jeden Unsinn zu haben.“ Sie lachte und ihr betrübter Ausdruck hellte sich auf, als sie in Erinnerung schwelgte. „Es gab Zeiten, da hätte ich dir am liebsten den Hals umgedreht, so sehr hast du mich geärgert. Und doch habe ich dich gemocht. Du hast etwas an dir, Frodo, etwas Besonderes, und das ist es, was ich an dir mag.“ Frodo hatte die Hände hinter den Kopf gelegt, doch nun richtete er sich auf, stützte sich auf seinen Ellbogen. Mit in Falten gelegter Stirn sah er sie an, wusste nicht, ob ihre Worte ihn beunruhigen oder verlegen machen sollten. Er hatte lange nicht mehr mit Nelke gesprochen, denn seit Marrocs Spiel aufgeflogen war, war auch Reginard wieder gegen ihn. An manchen Abenden hatte er die stechenden Blicke des Älteren auf sich spüren können. Reginard wartete nur auf eine Gelegenheit, ihn erneut ans Messer zu liefern. Anfangs hatte Frodo es für besser gehalten, etwas Abstand zu wahren, doch seit Merry fort war, trafen Nelke und er sich beinahe täglich. Er wusste um die Gefahr, der sie sich dadurch aussetzten und fragte sich unwillkürlich, ob ihre Stimme deshalb so seltsam schwach klang. Unbehagen ergriff ihn und er schluckte schwer, ehe er zu einer zaghaften Antwort ansetzen wollte, doch Nelke kam ihm zuvor. „Das Besondere schwindet, Frodo.“ Ihre Stimme wurde ernst und endlich nahm sie ihre Aufmerksamkeit von den Wolken. Unverhohlen traf ihn ihr Blick, ließ ihn scharf die Luft einziehen. Der braune Schimmer, der sonst unter dem Grün ihrer Augen verborgen lag, ließ deren Schein dunkler wirken, gab ihnen eine schier endlose Tiefe. Frodo blickte in jene Abgründe und die hilflose Angst, die er in ihnen sah, ließ sein Herz schneller schlagen. Er setzte sich auf, wäre zurückgewichen, hätte Nelke seinen Blick nicht festgehalten. Plötzlich fürchtete er sie, fürchtete, was sie mit ihren Worten bezwecken und mit ihren Augen sehen konnte. Sie hatte schon einmal mehr gesehen als die anderen, doch war dies zu einer Zeit gewesen, in der es ihm schlecht gegangen war. Jetzt ging es ihm gut. Es gab nichts zu bemerken, zu besprechen. Er verkrampfte sich, als sie ihre Hand auf die Seine legte und sich ebenfalls aufrichtete. „Das Leuchten erlischt. Beizeiten bist du so lebensfroh wie eh und je, doch immer öfter ziehst du dich zurück. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, der Teil, der dich ausmacht ist vor acht Jahren mit deinen Eltern gestorben und schafft es nun nicht mehr, ins Leben zurückzukehren.“ Frodo stockte der Atem. „Warum?“, wollte er fragen, doch seine Kehle schien wie zugeschnürt. Er entzog ihr seine Hand und wandte den Blick ab. „Das ist er auch.“ Die Stimme war kaum mehr, als ein Wispern. „Ein Teil von mir ist mit ihnen gestorben.“ Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag war Frodo von seinen eigenen Worten überrascht. Er hatte ihr das nicht sagen wollen, selbst wenn er wusste, dass es die Wahrheit war. In den Augen seines Großvaters hatte er oft genug dieselbe Leere gesehen, die er empfand. Sie beide kannten den Schmerz eines solchen Verlustes, doch hatte Frodo gehofft, dies besser verbergen zu können. Häufig hatte er sich gefragt, ob sich seine Trauer ebenso in seinen Augen widerspiegelte und wie schon einmal war es Nelke, die ihm zeigte, dass dem so war. Sie sprach von einem Leuchten. War es das gewesen, das seiner Großmutter gezeigt hatte, dass er unglücklich war? Frodo erzitterte bei der Erinnerung. Mirabellas Worte hatten ihn damals Dinge aussprechen lassen, die besser für immer verborgen geblieben wären. Nelke sollte nicht dasselbe erreichen. Frodo keuchte, während er gegen den Drang ankämpfte, wegzulaufen. In solchen Momenten rannte er immer fort, denn er fürchtete was geschehen würde, sollte er lange genug bleiben, um seine Geschichte zu erzählen. Mirabella hatte geweint. In den letzten Augenblicken ihres Lebens hatte sie seinetwegen geweint und nun sollte es nicht Nelke sein, die Tränen vergoss. Er würde schweigen, schweigen. Doch der Ausdruck ihrer Augen ließ es nicht zu und als Frodo sich noch einmal zu Nelke umwandte, berührte sie wieder seine Hand und er schien in ihrem Blick gefangen. Sein Herzschlag pochte in seinen Ohren und kleine Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. „Du verstehst das nicht!“ wollte er ablenken, doch mit einem Mal machte ihr Blick ihn wütend. Er hatte sich vor ihr nicht zu rechtfertigen. Sie hatte nicht das Recht ihn zu verunsichern, nur weil sie glaubte, Dinge zu sehen von denen sie nichts wusste. Seine Miene verfinsterte sich. „Du hast nie verloren, was dir am Liebsten war“, ließ er sie grimmig wissen. „Du hast nie geglaubt, Trost in einem anderen zu finden, der dir dann wieder genommen wurde. Du bist niemals allein gewesen. Deine Hoffnungen, ein neues Zuhause gefunden zu haben, wurden nicht ebenso zerschlagen, wie die Sehnsucht nach deinen Eltern, die niemals erfüllt werden kann. Du weißt nicht einmal, was Sehnsucht ist!“
Nelke traten bei seinen Worten die Tränen in die Augen. Verurteilte er sie nun dafür, dass sie sich um ihn sorgte? Wollte er sie strafen, weil sie nicht durchgemacht hatte, was er erlitt? Missverstanden wandte sie sich von ihm ab und presste die zur Faust geballte Hand gegen ihre Lippen, um sich davon abzuhalten, den Schmerz, den sie seinetwegen empfand, wieder an ihn zurückzugeben.
Auch Frodo hatte sich von ihr weggedreht, als er das Glitzern in ihren Augen erkannt hatte. Wieder war ihm gelungen, was er hatte vermeiden wollen. Zwar hatte er nicht geredet, wie er es bei seiner Großmutter getan hatte, doch anstatt zu schweigen, wie er es sonst tat, hatte er seinen Kummer genommen, um damit Nelke dafür zu verletzen, dass sie ihm nahe gekommen war. „Es mag sein, dass ich diese Gefühle nicht kenne, doch dein Zuhause ist hier, im Brandyschloss.“ Frodo sah nicht zu ihr hinüber. Unbewusst waren seine Finger dazu übergegangen, einzelne Grashalme auszurupfen. „Nein, das ist es nicht.“ „Wo dann?“ Er konnte die Tränen in ihrer Stimme hören und wusste, dass sie ihn ansah. „Das kann ich dir nicht sagen“, entgegnete er rasch und hoffte inständig, sie würde nicht weiterfragen, denn er wusste, er würde noch einmal zur selben Waffe greifen, um die Distanz zwischen ihnen zu erweitern. „Kannst du oder willst du nicht?“ Nun lag die Anschuldigung in ihrer Stimme. Ihre Worte waren kühl und berechnend. „Vertraust du mir etwa nicht?“ Frodo verkrampfte sich, seine Finger schlossen sich um ein ganzes Bündel Halme, die er mit einer ruckartigen Bewegung abriss. Ebenso plötzlich wandte er sich Nelke zu und ein Funke der Verärgerung lag in seinen Augen. „Ich vertraue dir! Ich erzähle dir mehr, als gut für mich ist!“ Gekränkt schüttelte er den Kopf und stand auf. „Vielleicht sollte ich auch damit aufhören. Du wirst mich ja doch nie verstehen.“ „Frodo, ich…“, wollte Nelke ihn beschwichtigen, während sie ebenfalls auf die Beine sprang, doch Frodo brachte sie mit einer abwehrenden Handbewegung zum Schweigen. „Du solltest jetzt gehen“, verlangte er, ohne sie anzusehen. „Aber…“ „Geh!“ Die Schärfe seiner Stimme ließ keine Widerworte zu. Nelke zögerte dennoch einige Augenblicke, in denen sie ihn bekümmert betrachtete. Wenn Frodo ihren Blick bemerkte, ließ er sich das nicht anmerken. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, stand reglos, während der Wind mit seinen Haaren spielte, und blickte stur in die andere Richtung. Tränen brannten in ihren Augen. Sie hatte gehofft, Frodo würde ihr ihre Sorgen nehmen, doch war sie stattdessen auf eine Gefühlskälte gestoßen, die sie nicht bei ihm kannte. Zaghaft trat sie einige Schritte zurück, hoffte insgeheim, er möge sie aufhalten und seine Worte zurücknehmen, doch Frodo rührte sich nicht. Betrübt ließ sie den Kopf hängen und verschwand schließlich im Wald, wo sie zu laufen begann, während stumme Tränen über ihre Wangen liefen.
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Mit raschem Schritt und einem unbehaglichen Gefühl in der Magengegend eilte Frodo durch den Wald. Ein gewaltiger Blitz erhellte sekundenlang den abendlichen Himmel, während ein ohrenbetäubender Knall und zorniges Donnergrollen die Wolken erzittern ließ. Frodo schreckte zusammen. Das Gewitter war genau über ihm. Er hatte nicht gemerkt, wie rasch sich der Himmel zuzog, während er in der Höhle gesessen und nachgedacht hatte. Zu einem Ergebnis war er dennoch nicht gekommen. Einerseits war er enttäuscht von Nelke, weil sie nicht bemerkt hatte, wie viel er ihr im vergangenen Jahr anvertraut hatte. Wie konnte sie an seinem Vertrauen zweifeln, nur weil er ihr auf eine Frage nicht antworten wollte? Er hatte geglaubt, sie würde ihn inzwischen besser kennen, doch offensichtlich hatte er sich geirrt. Dennoch verunsicherte ihn ihr Verhalten. Er ahnte, dass Nelke bemerkte, was seine Großmutter gesehen haben musste, was er Tag für Tag bei seinem Großvater zu erkennen glaubte. Nach all den Jahren wanderte er noch immer unter dem Schatten seines Verlustes. Manchmal mochte er darüber vergessen, doch wehe dem, der ihn daran erinnerte, so wie Nelke es getan hatte. Seit sie dem Kleinkindalter entwachsen waren, hatte Frodo sie noch nie weinen gesehen, und es bekümmerte ihn, Grund für ihre Tränen zu sein. Wieder zuckte ein Blitz am Himmel und Frodo beschleunigte seinen Schritt noch, kletterte hier über eine Wurzel und schob dort einige Äste zur Seite, um gebückt darunter durchzugehen. Zwar regnete es nicht, doch eine unheimliche Finsternis hatte sich über den Wald gelegt und er war froh, als er schließlich die Wiese erreichte, die den nördlichen Rand säumte. Ohne das schützende Dach der Bäume konnte Frodo den bitteren Geruch eines nahenden Sommergewitters deutlich wahrnehmen. Sorgenvoll blickte er zum Himmel, wo sich dunkle Wolken zu einer schwarzen Masse zusammengefunden hatten, in deren Innerem blaue Blitze aufleuchteten. Er würde sich beeilen müssen, wenn er vor dem Regen zu Hause sein wollte. Frodo setzte sich in Bewegung, als plötzlich etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Hinter einer kleinen Anhöhe bei Bockenburg stieg grauer Rauch zum Himmel und ehe Frodo sich versah, rannte er darauf zu. Für ihn stand außer Frage, dass es sich hierbei um ein Feuer handeln musste und er wollte unbedingt dabei sein, wenn es gelöscht wurde, und seinen Teil dazu beitragen.
Wieder erhellte ein Blitz den Abend und als Frodo schließlich die Straße erreichte, konnte er die Flammen erkennen, die aus den Fenstern eines Stalles schlugen. Es war erschreckend zu sehen, wie machtlos die Bewohner Bockenburgs gegen das Feuer schienen. Viele rannten mit Eimern heran, doch trotz des Wassers schlugen die Flammen immer höher. Züngelnd ragten sie in die dunklen Wolken empor, während dichter Qualm nach oben stieg. Einen Augenblick blieb Frodo stehen, beobachtete das Schauspiel mit geweiteten Augen und offenem Mund. Männer pumpten unentwegt Wasser aus den Pumpbrunnen, während andere mit Eimern hin und her liefen. Frauen mit kleinen Kindern standen vor ihren Höhlen, blickten finster in die Flammen, als können sie sie dadurch davon abhalten, auch ihr Zuhause anzugreifen. Die Luft flimmerte unter der unerträglichen Hitze, während sich immer mehr Hobbits mit Eimern um den Stall einfanden und die Wege zu zusätzlichen Pumpbrunnen immer länger wurden. „Haltet euch von den Fenstern fern!“ brüllte ein Bauer und nur Momente später barst auch die letzte Glasscheibe unter der Kraft des Feuers. Eine Magd, die beherzt gegen die Flammen angetreten war, schrie auf, als die Scherben ihre Wangen zerschnitten. Schützend legte sie die Hände vor ihr Gesicht, achtete nicht weiter auf das mühsam herangetragen Wasser, das mit dem Eimer ungenutzt zu Boden fiel. „Schafft sie fort!“ rief ein anderer und nur Augenblicke später eilte eine weitere Magd heran, die das verstörte Mädchen mit vorsichtigen Schritten vom Stall wegführte.
Frodo löste sich aus seiner Erstarrung, bereit das seine zu tun, um dem Feuer Einhalt zu gebieten. Eilig sprang er den Hügel hinab und mit jedem Schritt den er tat, wurde die Luft stickiger und es fiel ihm schwer zu atmen. Der Qualm brannte sich seinen Hals hinab und in seine Lungen, bis er hustete. Es war die Luft selbst, die zu brennen schien. „Frodo, was machst du hier?“ Frodo war überrascht, Saradoc unter den helfenden Hobbits zu erkennen. Der Herr von Bockland eilte auf ihn zu. Seine hellbraunen Locken klebten an seiner schweißnassen Stirn, schimmerten rot im Licht der bedrohlichen Flammen. „Geh nach Hause!“ „Ich kann helfen!“ schrie Frodo über den Lärm der Löscharbeiten. Der Stall mochte nicht mehr zu retten sein, doch es galt die umliegenden Höhlen und Häuser vor dem Feuer zu schützen. Saradoc schüttelte den Kopf und blinzelte einen Schweißtropfen aus seinem Auge. „Dies ist kein Ort für Kinder. Geh!“ „Herr Saradoc!“ Ein Hobbit, der unweit der Brunnen stand und den Herrn zu sich winkte, verwehrte Frodo seine Antwort. Er konnte nicht erkennen, wer es war, denn der Qualm brannte in seinen Augen, hatte sie zum Tränen gebracht. Mit einer letzten strengen Aufforderung, diesen Ort zu verlassen, rannte Saradoc zu dem Fremden.
Donner grollte und Blitze leuchteten mit den Flammen um die Wette, doch der rettende Regen wollte nicht einsetzen. Frodo öffnete den obersten Knopf seines Hemdes, teils um besser atmen zu können, teils in der Hoffnung, so der brütenden Hitze zu entfliehen. Trotzköpfig blieb er an der Stelle stehen, an der Saradoc ihn verlassen hatte und sah missmutig, wie sich die Bewohner Bockenburgs abmühten. Saradoc behandelte ihn wie ein Kleinkind, und das, obwohl er bereits in zwei Monaten in seinen Tweens und somit dem Erwachsensein einen ganzen Schritt näher war. Selbst jetzt, da Merry nicht zu Hause war, musste er zur selben frühen Zeit zu Bett, wie es für seinen drei Jahre jüngeren Vetter üblich war. Doch er war kein Kind mehr und würde Saradoc dies auch beweisen. „Vorsicht, Junge! Geh weg hier!“ Ein ältlicher Hobbit rempelte Frodo an, brachte das Wasser in seinem Eimer zum überschwappen und fluchte leise, als das kostbare Nass seine Hose anstelle der brennenden Hütte tränkte. Frodo stolperte zur Seite, blickte dem Hobbit griesgrämig hinterher, als sein Blick plötzlich auf den Eimer fiel, den die Magd bei ihrem Unfall hatte liegen lassen. Noch hatte niemand die Zeit gefunden, ihn aufzuheben. Ein arglistiges Lächeln stahl sich über Frodos Züge. Damit würde er Saradoc beweisen können, wie erwachsen er schon war. Unwillkürlich sah er sich nach dem Herrn um, entdeckte ihn, wie er sich einen Eimer mit Wasser füllen ließ. Frodo hatte Mühe seine Augen offen zu halten, denn der Rauch brannte so stark, dass er kaum durch den Schleier aus Tränen zu blicken vermochte. Auch seine Nase hatte bei dem beißenden Geruch, der in der Luft lag, zu laufen begonnen und seine Haut prickelte unter der Hitze der Flammen. Er hatte den Eimer noch nicht einmal erreicht, da war sein Körper schon schweißnass, ließ Hose und Hemd an der glühenden Haut kleben. Seine Lungen schmerzten und er konnte kaum mehr atmen, als er vorsichtig über die Wiese ging, hoffend, keiner Scherbe zum Opfer zu fallen. Es war eine kräftezehrende Aufgabe, doch er war fest entschlossen zu helfen, damit Saradoc aufhörte in ihm ein Kind zu sehen, das er längst nicht mehr war. Mit einem zufriedenen Lächeln nahm Frodo den Eimer an sich, sah sich sogleich nach dem nächstgelegenen Brunnen um, doch konnte er kaum etwas erkennen. Verzweifelt presste er die Augen zusammen, um sich Linderung zu verschaffen, auch wenn der gewünschte Erfolg ausblieb.
„Frodo!“ Saradocs entsetzter, angsterfüllter Schrei übertönte das wütende Zischen der Flammen und das zornige Grollen der Donner. Der Eimer in seinen Händen fiel nutzlos zu Boden. Mit einem Satz spurtete er über die Wiese, stieß andere zur Seite, um den ahnungslosen Jungen rechtzeitig zu erreichen. Das Dach hatte längst Feuer gefangen und während Saradocs hilfloser Blick über den Stall gewandert war, hatte er erkannt, dass einer der Balken bereits im Begriff war zu brechen. Der Warnschrei, den er ausstoßen wollte, blieb in seiner Kehle stecken, als er fassungslos feststellen musste, dass es sein Ziehsohn war, der sich so unbedacht unter das Dach gestellt hatte. Ein Raunen ging durch den Stall, ein Knarren und der Balken brach. Brennend fiel er zur Erde, als Saradoc mit einem beherzten Sprung nach den Schultern seines Schützlings griff und ihn mit sich zu Boden riss. Er kniff die Augen zusammen, um nicht von Funken verletzt zu werden, während er Frodo mit seinem Körper zu schützen versuchte. Scherben schnitten in seinen Handrücken und eine bohrte sich tief in seinen rechten Oberarm.
Instinktiv schloss Frodo die Augen, als er gepackt wurde. Er wollte protestieren, doch sein gereizter Hals war nur zu einem Husten fähig. Er duckte sich, als sich Arme schützend um seinen Kopf legten. Den Eimer ließ er fallen, um seinen Sturz abzufangen, doch dazu bot sich ihm keine Möglichkeit. Er schlug auf dem Boden auf, sanfter, als er es erwartet hatte. Arme legten sich fester um ihn und Frodo blieb, in einem Moment angespannter Stille, reglos liegen, wagte nicht einmal mehr zu atmen. Holzsplitter streiften seine Wange. Nur zaghaft öffnete er die Augen, als sich der Körper, der sich so schützend um ihn gelegt hatte, regte. Beinahe erschrocken wich er zurück, als er Saradoc erkannte. „Ist alles in Ordnung?“, fragte der Herr besorgt und Frodo nickte zögernd. Er spähte über die Schulter des Schlossherrn, dorthin, wo er eben erst gestanden war und sah den brennenden Balken im Gras liegen. Seine Augen weiteten sich, als Saradoc ihn plötzlich auf die Beine zog und nicht sonderlich sanft am Oberarm packte. Frodo wollte protestieren, doch der Ausdruck in Saradocs Gesicht gebot ihm, zumindest für den Augenblick, ruhig zu sein. Der Herr sprach kein Wort, bis sie auf der Anhöhe standen, von wo aus Frodo das Geschehen beobachtet hatte. Inzwischen hatte die Luft auch hier einen stechenden Geschmack, war aber nicht so schwer, wie nahe des Stalls. „Du wartest hier und ich schwöre dir, wenn du dich auch nur einen Schritt zur Seite bewegst, wirst du eine Strafe erhalten, die deine schlimmsten Vorstellungen übersteigt.“ Frodo wagte nicht, diesem zornigen Tonfall zu widersprechen, ein Tonfall, den er bisher erst einmal bei Saradoc gehört hatte, vor zwei Monaten, als er die Wahrheit aus Marroc herausgepresst hatte. Reuig senkte er den Kopf. Saradoc nickte zufrieden, kehrte dann um, um seine Hilfe weiterhin zur Verfügung zu stellen, als sich die Wolken mit einem weiteren Donnerschlag öffneten und der ersehnte Regen in einem wahren Wolkenbruch zur Erde prasselte. Auf der Wiese um den brennenden Stall brach erleichtertes Jubelgeschrei aus und die Löscharbeiten wurden eingestellt. Dem Regen würde gelingen, wozu die vereinten Kräfte der Hobbits nicht ausgereicht hatten. Saradoc hielt in seiner Bewegung inne, blickte erleichtert auf den brennenden Hof, ehe er das Gesicht lächelnd dem Himmel zuwandte und sich vom Regen einen Teil des Schmutzes abwaschen ließ. Als er sich Frodo zuwandte, war sein Ausdruck jedoch wieder ernst und mit einem grimmigen „Nach Hause!“ ergriff er von neuem Frodos Oberarm und führte ihn mit sich fort.
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Der Herr sprach kein Wort, während sie nach Hause gingen und auch Frodo blieb stumm. Er war wütend auf sich selbst, weil ihm nicht gelungen war, Saradoc zu zeigen, dass er kein Kind mehr war. Stattdessen hatte er bewiesen, wie sehr er den Herrn und dessen Schutz brauchte. Es war ihm nicht einmal gelungen, einem herunterfallenden Balken auszuweichen. Er hatte den Balken nicht einmal bemerkt! Das Blut an Saradocs rechtem Arm und seiner Hand bestätigte ihn nur in seiner Unfähigkeit. Bei allen Auen, er war bald ein Tween und konnte nicht einmal auf sich selbst aufpassen! Wie wollte er da beweisen, dass er es nicht länger nötig hatte unter Saradocs Fittichen zu stehen?
Ihr Weg führte sie ohne Umschweife und ohne auf Grüße und überraschtes Lufteinziehen anderer Bewohner einzugehen, in das Zimmer der Kinder, wo Saradoc endlich von Frodos Oberarm abließ. „Bei allen Auen, Frodo!“ rief der Herr aufgebracht, noch ehe er die Tür geschlossen hatte. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“ Frodo entgegnete nichts darauf, nutzte aber die Gelegenheit, um etwas Abstand zwischen sich und den Herrn zu bringen, indem er die Kerzen auf seinem Nachttisch entzündete und so etwas Licht in den dunklen Raum brachte. „Ich bin kein Kind mehr“, gab er schließlich gelassen, doch mit einem trotzigen Unterton zu bedenken, ohne sich umzudrehen. „Ich hätte helfen können, wenn…“ „Wenn was?“, spie Saradoc förmlich. „Wenn du nicht vorher von einem herunterfallenden Balken erschlagen worden wärest?“ Frodo konnte Saradocs Schmerz deutlich in seinen Worten hören und zuckte unwillkürlich zusammen. Nelke war nicht die Einzige, der er heute wehgetan hatte. Schuldbewusst schielte er zu Saradocs blutverschmiertem Arm. Er hatte nicht gewollt, dass der Herr sich verletzte, doch wie sonst hätte er seine Reife beweisen können? Wenn er in einem Gespräch anmerken ließ, dass er nun bald in seinen Tweens war, zog der Herr für gewöhnlich nur eine Augenbraue hoch und meinte, er würde abwarten und prüfen, ob es angebracht war, die Zubettgehzeit auf eine spätere Abendstunde zu legen. „Um ein Haar hätte dich dein Leichtsinn das Leben gekostet.“ Stirnrunzelnd wandte Frodo sich um, überrascht, über die plötzliche Traurigkeit in der Stimme des Herrn, nur um dann entsetzt die Luft einzusaugen. Saradoc war an ihn herangetreten und legte nun die Arme um ihn. „Ich hätte dich verlieren können, Junge.“ Frodo stand reglos, wagte nicht einmal zu atmen. Saradoc hatte ihn noch nie festgehalten, wenn er nicht geweint hatte und Frodo wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Dennoch waren es Saradocs Worte, die ihn daran hinderten, sich aus der Umarmung zu winden. Würde es ihn denn bekümmern, wenn er nicht länger hier wäre? Saradoc hatte ihn gerettet, doch hatte Pflichtgefühl ihn so handeln lassen, oder war es Liebe gewesen? Je länger die Umarmung andauerte, umso mehr wollte Frodo an Letzteres glauben, war schon versucht, die Berührung zu erwidern, als Saradoc überraschend einen Schritt zurückging, die Hände auf seine Schultern legte und vor ihm in die Knie ging. Frodo stockte, suchte in den Augen des Herrn nach einer Erklärung, doch konnte er deren Ausdruck unmöglich erkennen, denn die giftige Luft des Brandes hatte sie blutunterlaufen und geschwollen werden lassen.
Stille breitete ihren Mantel um sie aus. Beide sahen sich in die Augen, während die Kerzen ihre flackernden Lichter über ihre Gesichter tanzen ließen. Frodo wusste auf Saradocs Worte nichts zu erwidern, doch verspürte er im Augenblick auch nicht den Drang, das Schweigen zu brechen. Es war nicht die bedrückende, spannungsgeladene Stille, die für gewöhnlich zwischen ihnen lag und doch wusste er, dass eine ernste Unterhaltung folgen würde, denn Saradoc hatte sich gewiss nicht grundlos auf seine Höhe herabgelassen. „Du bist ein Kind, Frodo“, Saradoc enttäuschte ihn nicht, „und selbst wenn du keines wärest, tätest du gut daran, auf Ältere zu hören.“ Die Stimme war nicht die, mit der der Herr ihn für gewöhnlich auf eine Strafe vorbereitete. Die Milde mit der er sprach, ließ Frodo beinahe beschämt den Kopf senken. „Ich habe dir Erfahrungen voraus und nicht alle waren gut. Hörst du auf mich, kann dir die eine oder andere vielleicht erspart werden.“ Saradoc macht eine kurze Pause, in der er besonnen lächelte. „Meine Kindertage liegen weit hinter mir, Frodo, doch du ahnst nicht, wie oft ich Gorbadoc um Rat frage, in der Hoffnung, er möge seine Erfahrungen mit mir teilen.“ Frodo schloss die Augen. Saradoc wollte ihn mit Belehrung anstelle von Strafe zurechtweisen, doch eine lange Rede half ihm bei seinem Problem noch weniger, als es eine Züchtigung tat. Er sprach von Erfahrungen. Frodo hatte in seinem Leben mehr als genug schlechte Erfahrungen gesammelt und keine von ihnen hätte der Herr ihm ersparen können. „Ich wollte nicht deinen Rat“, sagte er entschlossen. „Ich will, dass du mich nicht wie einen kleinen Jungen behandelst.“ Saradoc neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was ist so schlecht daran, ein solcher zu sein?“ Missmutig sah Frodo den Herrn an. Meinte er diese Frage wirklich ernst? „Ich muss zu Bett, wenn du es verlangst und nicht, wenn ich müde bin“, ließ er ihn grimmig wissen. „Ich muss immer nur tun, was andere mir sagen. Ich will eigene Verantwortung.“ Saradoc wirkte überrascht. „Die hast du wann immer du die Tiere hütest, bei der Heuernte zur Hand gehst oder bei Arbeiten mithilfst.“ „Verantwortung, die du mir auferlegst.“ Er hätte wissen müssen, dass der Herr sein Anliegen nicht verstand. Saradoc war schließlich nicht derjenige, der gesagt bekam, wann er zu Hause oder im Bett zu sein hatte. Saradoc konnte selbst entscheiden, was er tun und was er lassen wollte. „Du willst erwachsen sein und selbst Verantwortung tragen?“ Frodo nickte, überrascht, dass Saradoc sein Gesuch doch zu bedenken schien. Angespannt blickte er auf das nachdenkliche Gesicht des Herrn, wartete ungeduldig auf eine Antwort. Hatte das Feuer am Ende doch dazu beigetragen, dass er bekam, was er mit Gesprächen allein nicht erreicht hatte? „Also gut“, nickte Saradoc und entlockte Frodo dadurch ein Lächeln. „Ich spreche mit Berylla.“ Das Lachen verschwand, um einem Ausdruck der Verwirrung Platz zu machen. Frodo runzelte die Stirn. Was hatte Tante Berylla mit seiner Verantwortung zu tun? „Was das Essen anbelangt, so soll weiterhin sie entscheiden, doch die Verantwortung für die Sauberkeit in der Hauptküche wird in der nächsten Woche bei dir liegen. Das heißt auch, dass du den Raum erst verlassen wirst, wenn alles blitzblank ist, ganz gleich zu welcher Abendstunde.“ Frodo starrte den Herrn entgeistert an. Er hatte mit vielem gerechnet – der Erlaubnis selbst zu entscheiden, wann er zu Bett gehen wollte oder der Bestimmung über die Ordnung in seinem Zimmer, die nicht immer jener entsprach, die Esmeralda dafür vorgesehen hatte – aber nicht damit. Er sollte gleich die Verantwortung über die Mädchen in der Küche übernehmen? Er sollte dafür sorgen, dass es sauber blieb? Frodo wusste nicht, ob ihm das gefiel. Argwöhnisch betrachtete er den Herrn, nicht sicher, ob dies doch nur eine versteckte Art der Strafe war. „Wenn du ‚ganz gleich zu welcher Abendstunde’ sagst, heißt das, dass ich auch selbst bestimmen darf, wann ich zu Bett gehe?“, erkundigte er sich vorsichtig, denn das war es, was ihm bei dieser Angelegenheit schon seit Monaten am wichtigsten war. Saradoc nickte lächelnd. „In der nächsten Woche werde ich kein Wort über Schlafenszeiten verlieren.“ „Und danach?“ „Danach werden wir sehen.“ Frodos hoffnungsvoller, freudiger Ausdruck wurde wieder ernst. Zu oft hatte der Herr schon davon geredet, die Angelegenheit erst genauer betrachten zu müssen, ehe er entscheiden konnte, doch gehandelt hatte er bisher nicht. Saradoc lächelte jedoch auf seinen Ausdruck hin. „Also gut. Hast du mir am Ende dieser Woche bewiesen, dass du verantwortungsbewusst handelst, wirst du eine Stunde länger in den Wohnräumen bleiben dürfen.“ Frodo nickte zufrieden, eine Geste, die ihr Gespräch zu beenden schien, denn Saradoc richtete sich wieder auf und wandte sich zum Gehen. Bevor er das Zimmer jedoch verließ, teilte er ihm mit, dass er Badewasser für zwei aufsetzen würde, denn auch Frodo sollte den Gestank des Feuers von sich abwaschen, nachdem er zu Abend gegessen hatte. Frodo lächelte verschmitzt. Dies sollte der erste Tag sein, an dem er selbst entschied, wann er sich schlafen legte, denn im Zuber vergaß nicht nur er die Zeit.
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Saradoc seufzte erleichtert auf und schloss die Augen, während er sich tiefer in den Zuber gleiten ließ. Das warme Wasser schwappte über seine Brust und er spürte, wie die Erschöpfungen des Tages von ihm abgewaschen wurden. Eine der Zofen hatte mit wenig Mühe den Glassplitter aus seinem Oberarm entfernt und der stechende Schmerz, der ihn seit dem Unfall begleitet hatte, hatte sofort nachgelassen. Das Mädchen wollte die Wunde verbinden, doch Saradoc hatte sie weggeschickt. Nach seinem Bad würde sich zeigen, ob die Verletzung wirklich tief genug war, um einen Verband darum zu legen. Der Duft von Bienenwachs stieg ihm in die Nase, während der Wasserdampf kleine Tröpfchen auf seinen Locken bildete. Der Badesaal, einer der größten des Brandyschlosses, war verlassen, was für die Tageszeit sehr ungewöhnlich war. Saradoc kümmerte dies jedoch wenig. So konnte er seine Gedanken wandern lassen, ohne von Gesprächen abgelenkt zu werden. Sie hatten großes Glück gehabt, denn wäre Wind aufgekommen, hätte das Feuer auch die umliegenden Höhlen und Häuser angegriffen. Mungo Wühler, ein Vetter des Tischlermeisters, hatte zwar seinen Stall verloren, doch das Vieh war ihm geblieben. Die Tiere waren auf der Weide und bis die Tage wieder kälter wurden, würde längst ein neuer Stall für sie bereitstehen. Heustock und Vorratskammern würden ebenfalls gefüllt sein, bis der Winter anbrach, denn der Sommer war noch lang, die Haupterntezeit brach erst an, und Wiesen konnten genügend gemäht werden. Es war alles gut gegangen, wenn auch nur knapp. Saradoc war von einem Besuch am Nordtor zurückgekehrt. Die Grenzer berichteten von einigen zwielichtigen Gestalten und er hatte sichergestellt, dass die Wächter am Tor auf der Hut waren. Er hatte den Blitz gesehen, der das morsche Holz des Stalles entzündete und war einer der Ersten gewesen, der sich einen Eimer genommen und Wasser gepumpt hatte. Als Frodo plötzlich vor ihm gestanden war, hatte er seinen Augen nicht getraut. Er schalt sich selbst, dass er nicht sofort dafür gesorgt hatte, dass der Junge den Heimweg antrat. Doch die Lage war außer Kontrolle gewesen. Er hatte auf Frodos Gehorsam vertraut und seine Neugier und den Sturkopf vergessen. Für einen Augenblick hatte er gefürchtet, ihn zu verlieren. Den Schrecken jenes kurzen Momentes, da er Frodo unter dem brechenden Balken hatte stehen sehen, würde er nie wieder vergessen. Er liebte den Jungen. Frodo mochte nicht sein Fleisch und Blut sein, war ihm bisweilen unähnlicher wie kein anderer, doch er war ein Teil von ihm. Er war der Sohn seines Herzens und er liebte ihn, wie sonst nur Merry. Sein Verlust hätte ihn so tief getroffen, wie sonst kaum ein anderer.
Das leise Klicken der Tür ließ ihn die Augen öffnen. Frodo trat ein, einen zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Wortlos stapfte er durch die dünnen Dampfwolken, legte sein Nachthemd auf die Ablage und machte sich daran, seinen Zuber vorzubereiten. Mit geübten Handgriffen schöpfte er das heiße Wasser aus dem großen Kessel, pumpte schließlich einige Eimer mit kaltem Wasser aus dem Pumpbrunnen, ehe er zu guter Letzt die Temperatur prüfte. Mit einem Nicken erhob er sich dann, entledigte sich seiner Hosenträger, zog das Hemd aus dem Hosenbund und knöpfte es auf. Saradoc ertappte sich dabei, wie er ihn eingehend betrachtete, als er den Stoff schließlich über seine Schultern schob und die bereits sonnengebräunte Haut freilegte. Er bemerkte, dass er Frodos Rücken nach Blutergüssen und Kratzern absuchte, die der Junge nur allzu oft vor seinem Blick verbarg, eine Tatsache, die ihn gleichermaßen schmerzte und erzürnte. Heute konnte er jedoch keine Verletzungen entdecken und es erleichterte ihn ungemein, dass Frodo seine Begegnung mit dem brennenden Balken unbeschadet überstanden hatte und auch Marroc ihm kein Leid zugefügt hatte. Seit jenem anstrengenden Tag im Astron hatte sich die Lage beruhigt, und auch Frodo hatte es nach wenigen Tagen aufgegeben, ihm lediglich mit finsteren Blicken und sturem Schweigen zu begegnen, doch wagte Saradoc nicht durchzuatmen.
Er lächelte, als Frodo schließlich mit demselben erlösten Seufzen in die Wanne kletterte, mit dem er nur kurz zuvor hinein geglitten war. Der Junge schielte kurz zu ihm herüber, schloss dann die Augen, ebenso, wie Saradoc es getan hatte und der Herr von Bockland fragte sich unwillkürlich, was ihm jetzt wohl durch den Kopf ging. Einen Moment war er versucht, ebendies zu erfragen, doch er entschied sich dagegen, dachte stattdessen an die Unterhaltung, die sie eben erst geführt hatten. Frodo hatte schon häufiger anmerken lassen, dass er jetzt alt genug war, manche Dinge selbst zu entscheiden, vor allem dann, wenn es um die Schlafenszeit ging. Im Grunde hatte er Recht, denn noch schickte er Frodo und Merry zur selben Zeit zu Bett. Würde er nicht sehen, dass Frodo den Schlaf benötigte, hätte er ihm eine zusätzliche Stunde im Wohnzimmer längst erlaubt, auch wenn er dadurch zwangsläufig einem Konflikt mit Merry begegnete, der zweifelsohne der Ansicht war, ebenso lange aufbleiben zu können. Frodo war für ihn nun einmal der ältere Bruder, den er nie hatte und Saradoc glaubte, sein Sohn würde nie aufhören, seinem Vetter nachzueifern. Sein Blick wanderte wieder zu dem dunkelhaarigen Jungen, dessen Kopf beinahe hinter dem Zuberrand verschwunden war. „Kein Kind mehr!“ dachte er bei sich. „Oh, wenn du wüsstest, wie jung du noch bist, Frodo, und was es für dich noch zu lernen gibt, ehe du mündig sein wirst. Selbst danach wird es nicht einfacher werden. Sei Kind, so lange du noch kannst, denn in diese Zeit wirst du nicht zurückkehren können, wenn du erst auf eigenen Beinen stehst.“
Als hätte er seine Gedanken gehört, setzte Frodo sich auf und sah fragend zu ihm herüber. Hinter all dem Wasserdampf wirkte er beinahe misstrauisch, und das nicht zu unrecht. Dieses Mal hatte er Frodo erwischt und er fragte sich, ob der Junge immer noch so erpicht darauf sein würde, Verantwortung zu tragen, wenn diese Woche erst um war. Saradoc lächelte. Wenn er es überhaupt so lange aushielt. Er gab ihm drei Tage, höchstens vier, dann würde er mit dunklen Ringen unter den Augen, schmerzenden Füßen und Blasen an den Händen in sein Arbeitszimmer stolpern und bitten, seine Verantwortung wieder abgeben zu dürfen. Die Arbeit der Frauen in der Küche war hart und Frodo würde rasch lernen, dass Verantwortung nicht nur bedeutete, selbst bestimmen zu können, sondern auch darauf zu achten, dass jeder seine Arbeit tat, einschließlich ihm selbst. Es bedeutete Konflikte zu lösen und Kompromisse einzugehen, Entscheidungen zu treffen aber auch zu wissen, wann es besser war, um Rat zu fragen. Beherrschte er das nicht, würde ihm auf der Nase herumgetanzt werden und am Ende stünde er mit seiner Arbeit alleine da. Saradoc war überzeugt, Frodo würde diese Lektion rasch lernen. Erwachsensein war nicht leicht, ebenso wenig, wie die Schritte dorthin. Sollte Frodo diese Woche wider Erwarten durchstehen, hatte er sich eine zusätzliche Abendstunde redlich verdient und Saradoc würde sie ihm gerne gewähren.
Anmerkung: Erst mal ein großes Dankeschön an alle, die trotz der langen Wartezeit immernoch lesen ... und eine Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat, bis es weiter ging. Nach langem hin und her, habe ich beschlossen Shizuka von nun an Korrekturlesen zu lassen, da Ivy leider die Zeit dazu fehlte. Und wo wir bei Zeit sind... mir selber wird auch immer mehr Schreibzeit geraubt und in den letzten Jahren ist so viel in meinem Leben passiert, dass es mir schwer fällt, noch in den Stil und die Charakterisierung dieser Geschichte hineinzufallen. Eines Tages werde ich vielleicht daran weiter schreiben, aber vorerst wohl nicht. Ich habe allerdings geplant, den kompletten (bereits fertiggestellten) Bockland Teil in den nächsten Wochen und Monaten hochzuladen, damit immerhin dieser Teil der Geschichte beendet wird - noch 10 Kapitel ... und theoretisch 19 fertige Kapitel des zweiten Teils, die vermutlich bleiben wo sie sind, weil ich sonst wieder jeden Mitten im Geschehen hängen ließe. Viel Spaß beim Weiterlesen und noch einmal Danke fürs Treubleiben. Das bedeutet mir sehr viel.
Kapitel 75: Verantwortung
Ich war noch nie so erschöpft. In der vergangenen Woche hasste ich Saradoc für die mir anvertraute Verantwortung und ich war mir sicher, dass er all dies geplant hat, um mich zu erniedrigen. Am ersten Tag bin ich viel später als gewöhnlich zu Bett gegangen. Ich habe fast nur alleine geputzt, während Tante Berylla und die Küchen-Mimi zugesehen und die Mädchen dumm gekichert haben. Eines von ihnen –Petty Grabenbuddler, die auf dem besten Weg ist, eines Tages in Mimis Fußstapfen zu treten – hat mich so lange geärgert, bis ich sie angemault habe. Sie hat mich geohrfeigt! Ein Küchenmädchen! Sie meinte, wenn ich ihr und den anderen keinen Respekt entgegenbrächte, hätte ich in der Küche nichts verloren. Ausgerechnet sie maßt sich an, mich zurechtzuweisen! Ich hatte gehofft, Tante Berylla würde sie bestrafen, schließlich wusste sie, weshalb ich hier war, doch sie hat nur genickt und gemeint, dass ich eine solche Verantwortung, wie ich sie mir gewünscht hatte, nur übernehmen konnte, wenn ich meine Mitarbeiter schätzte. Dabei habe ich eine solche Verantwortung überhaupt nicht gewollt! Saradoc hat mich ausgetrickst! Und Mitarbeiter waren die Mädchen keine, das waren Tratschweiber! Meine Finger waren am nächsten Tag noch ganz aufgeweicht und meine Aufgabe entwickelte sich keineswegs besser. Ich ging noch später zu Bett und wurde am nächsten Morgen von Tante Berylla geweckt, weil ich verschlafen hatte. Inzwischen hatte ich Blasen an den Händen und meine Füße schmerzten, als wäre ich um das halbe Auenland gewandert. Ich glaube, an diesem Tag begann ich zu begreifen, was die Küchenmädchen leisten, denn keines schien so erschöpft wie ich. Während dem Mittagessen bin ich fast eingeschlafen und ich war kurz davor, meine Verantwortung abzugeben, doch Saradoc war in Neuburg und ich musste bis zum Abend warten – ein halber Tag, der mir zu dem Zeitpunkt, wie eine Ewigkeit vorkam. Nachmittags half mir Petty beim Abwasch, weil sie, wie sie sagte, um das Geschirr fürchtete. Ausgerechnet sie behauptete, ich sähe aus wie ein Geist und das, wo sie mit ihrem zerzausten, roten Haar, den langen, schlaksigen Fingern, der zu schlanken Figur und den vielen Sommersprossen aussah, wie eine Vogelscheuche! Dennoch reichte ihre Bemerkung aus, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Ich erklärte ihr, weshalb ich alleine arbeitete: ich wagte nicht, den Mädchen etwas zu befehlen. So etwas hätte ich nie gesagt, wäre ich wach und den Tränen nicht so nahe gewesen. Dennoch schienen meine Worte die Richtigen zu sein, denn Petty meinte, ich könne auch einfach um ihre Hilfe bitten, anstatt Befehle zu erteilen. Das überraschte mich und obschon es mich einige Überwindung kostete, wagte ich einen Versuch – und die Mädchen halfen mir! Jedes war plötzlich bereit, einen Waschlappen über die Oberflächen gleiten zu lassen, bis diese glänzten. Das Geschirr wurde ohne mein Zutun gewaschen und poliert und ich glaube, ich habe Tante Berylla anerkennend lächeln sehen. Ich konnte für Sauberkeit sorgen! Mit dieser neuen Gewissheit war ich fest entschlossen, meine Aufgabe zu Ende zu bringen. Ich bin schließlich kein Kind mehr und dies war meine Möglichkeit es Saradoc zu beweisen. Das war der erste Abend, an dem ich die Küche pünktlich verließ – um, ohne Umwege, in mein Bett zu fallen. Aus meinen langen Abenden im Wohnzimmer wurde die ganze Woche nichts, doch was Saradoc mich lehren wollte, habe ich gelernt. Verantwortung zu übernehmen ist nicht leicht und erwachsen sein noch schwerer. Er hat gesagt, ich hätte ihn überrascht. Er hätte es mir nicht zugetraut, sei aber erfreut, dass ich ihm das Gegenteil bewiesen habe. Er gewährt mir jetzt die zusätzliche Abendstunde, ermahnt mich nicht einmal, wenn ich meine Zeit etwas überschreite. Er weiß jetzt, dass ich eigene Verantwortung tragen kann, auch wenn es hoffentlich noch lange dauert, bis ich wieder eine solche übernehmen muss. Wirklich glücklich macht mich das jedoch nicht. Mein Durchhalten hat ihn erfreut, aber hat es ihn auch stolz gemacht? Er hat mich angesehen, als wäre er es gewesen, doch gesagt hat er nichts. Kann, oder will er nicht stolz auf mich sein? Kann, oder will er mich nicht wie Merry lieben? Ich glaube, die Aufgabe war nicht nur eine Prüfung, wie er es nannte, sondern auch eine Strafe dafür, dass ich nicht auf ihn gehört habe. Ich soll auf ihn hören, weil er mir Erfahrungen voraus hat, doch was kann er mir voraus haben? Ich kenne das Leid. Ich kenne den Schmerz. Ich weiß was es heißt, allein zu sein. Ich kannte sogar das Glück, doch ich glaube, ich habe vergessen, wie es sich anfühlt. Ist es gleich der Freude? Denn Freude kenne ich… oder nicht? Saradoc wüsste das vielleicht, aber selbst wenn ich ihn danach frage, hilft es mir nicht. Was nutzt mir das Wissen um Glück, wenn ich es nicht empfinden kann? Ich glaube, ich war schon lange nicht mehr glücklich, denn wenn dem so wäre, würde das Glück überschätzt.
Mit einem leisen Seufzen schloss Frodo das Buch, strich sanft über den ledernen Einband. Er steckte die Feder in die Halterung und streckte sich. In der behaglichen Stille der Bibliothek und dem schwachen Licht einer einzelnen Kerze wurde er oft schon am helllichten Tag von unsagbarer Müdigkeit ergriffen. Gedankenverloren tauchte er seinen Zeigefinger in das heiße Wachs seiner Kerze, bis die Flamme zischend und flackernd protestierte. Es war besser, nicht länger nachzudenken, denn es würde ihn betrübt stimmen. Er war in diesem Sommer schon viel zu häufig seinen Gedanken nachgehangen, denn ohne Merry wusste er nichts mit sich anzufangen. Manchmal verbrachte er seine Zeit mit Madoc und Minto, doch ohne seinen Vetter bereitete ihm das Zusammensein mit den Brüdern nur halb so viel Freude. Sein Vetter Marmadoc hatte sich von der Gruppe getrennt, meinte, er wäre zu alt für ihre Spielereien. Frodo hatte gehofft, Fredegar würde ihn besuchen, doch wie es schien hatten die Bolgers andere Pläne. Seit Merry vor über drei Wochen nach Tukland gegangen war, arbeitete er meist und unternahm lange Ausritte, um sich die Zeit zu vertreiben. Ab und an durfte er sogar Saradoc begleiten, wenn dieser die Arbeiten auf den Feldern überwachte und Höfe fern des Brandyschlosses besuchte. Solche Tage stimmten Frodo besonders froh, denn dann belehrte ihn der Herr, wie er seinen Nachfolger in seine Aufgaben einweisen würde und jegliche Differenzen, die sonst zwischen ihnen lagen, schienen vergessen. Verträumt strich er sich mit dem wachsbedeckten Finger über die Unterlippe, sinnierte über das glatte, warme Gefühl, das er dabei empfand, bis das leise Klicken der Tür seine Ruhe störte. Frodo erstarrte.
„Ich wusste, dass ich dich hier finde.“ Ein Lächeln war nicht, was er erwartet hatte. Frodo schluckte, als sie die Kerzen in den Wandhalterungen neben der Tür entzündete. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, während sie im zarten Licht zu ihm trat und sich, nach kurzem Zögern, neben ihn setzte. Frodo spürte ein Prickeln im Nacken, wandte demütig den Blick von ihr ab. Seit jenem Nachmittag vor zwei Wochen hatte er nicht mehr mit Nelke gesprochen. Er fürchtete sich davor, den Schmerz in ihren Augen zu sehen, Schmerz, den er ihr zugefügt hatte. Seine Worte beschämten ihn, doch sie hatte sein Vertrauen verletzt, Vertrauen, das ihm jetzt fehlte, um das Gespräch mit ihr zu suchen. Verstohlen spähte er in ihre Richtung. Auch sie hatte den Kopf abgewandt, die Hände auf ihrem Schoß gefaltet. Ihr zum Zopf geflochtenes Haar schimmerte im Licht der Kerzen. „Warum bist du hier?“ Frodo kannte die Antwort bereits, doch die Stille, die zwischen ihnen lag, war ihm unangenehm. Nelke richtete sich beim Klang seiner Stimme auf, wirkte ebenso angespannt, wie er. Wieder entstand eine Stille, wie Frodo sie hatte brechen wollen. Schwer lastete sie auf ihren Schultern, schien in der Dunkelheit des Raumes noch undurchdringbarer. Plötzlich drehte sie sich zu ihm um, und Frodo war beinahe versucht, vor ihr zurückzuweichen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Unruhe ließ seine Hände feucht werden. Ohne ihn anzusehen, langte Nelke nach seinem Tagebuch. „Was ist das?“ Ehe sie es auch nur anfassen konnte, riss Frodo das Buch an sich, drückte es besitzergreifend an seine Brust. „Das geht dich nichts an!“ sagte er schnell, wobei er kühl in ihre Richtung blickte ehe er sich erneut abwandte und den ledernen Einband liebkoste, als wolle er dem Buch versichern, dass er es nicht weggeben würde.
Nelke hatte ihre Hand erschrocken zurückgezogen, betrachtete Frodo beinahe furchtsam. Da war sie wieder, diese Kälte, obschon sie dieses Mal mehr von Besorgnis sprach, als von Zorn. Unsicher legte sie ihre Hand auf den langen, kalten Holztisch, blickte in die tanzenden Flammen der beiden Kerzen. Sie hatte lange auf ihn gewartet und wusste, dass sie den ersten Schritt machen musste. Frodos Blick war in den letzten Tagen zwar gelegentlich zu ihr gewandert, doch wich er ihr aus. Er wollte nicht darüber sprechen, das hatte er ihr deutlich gezeigt. „Ich vertraue dir! Ich erzähle dir mehr, als gut für mich ist!“ Er hatte Recht. Frodo hatte ihr in den letzten Monaten mehr erzählt, als sie es für möglich gehalten hatte. Sie hatte keinen Grund gehabt, an seinen Worten zu zweifeln und doch hatte sie es getan. Er mochte sie zuerst verletzt haben, doch sie hatte zurück gebissen und dadurch das Vertrauen gestört, das zwischen ihnen bestanden hatte. „Ich habe einen Fehler gemacht“, gestand sie schüchtern, als sich die Stille auszubreiten drohte, „und ich möchte mich entschuldigen. Es war nicht richtig von mir, dich zu drängen.“
Überrascht wandte sich Frodo ihr zu. Sie senkte beschämt den Kopf, wagte nicht, seinem Blick zu begegnen. „Es gibt Dinge, die niemand je über mich erfahren wird“, sagte er ernst. Weil ich sie selbst nicht weiß. Nelke nickte. „Du sollst deine Geheimnisse wahren. Ich werde dich deshalb nicht verurteilen, wenn du mich nicht für meine fehlenden Erfahrungen bestrafst.“ Frodo stockte. Tauschte er nicht schon wieder Erfahrungen mit ihr aus? Erzählte er ihr nicht bereits erneut Dinge, die er für sich hatte behalten wollen? Was waren Erfahrungen, dass sie plötzlich jedem so wichtig schienen? Nelke hob den Kopf, um ihn fragend anzusehen. Frodo blickte tief in ihre Augen, legte den Kopf schief. Ihr Ausdruck sprach von einer Freundschaft, die der zu Merry nicht unähnlich und doch völlig fremd war. Zögernd legte er eine Hand auf die ihre. „Verzeih“, brachte er zaghaft hervor und hatte kaum den Mut, ihren Blick festzuhalten, „ich hätte so etwas nicht sagen dürfen. Ich war wütend, ich…“ …hatte Angst, beendete er in Gedanken. „Ich wollte dir nicht wehtun.“ Nelke legte ihre Hand auf seine Wange und lachte so strahlend, dass Frodo völlig um seine Unruhe vergaß. Eine Berührung wie diese hatte die Angewohnheit ihn seltsam aufgeregt werden zu lassen. Die Haut unter der ihren kribbelte und eine wohlige Wärme breitete sich in ihm aus, während sich ein entschuldigendes Lächeln auf seinen Zügen zeigte. „Gut, dann wäre alles wieder in Ordnung“, meinte Nelke fröhlich und schielte auf sein Tagebuch, das er noch immer mit einer Hand an seine Brust hielt. „Was liest du?“ Sie langte nach dem Buch, das Frodo kichernd ihrem Griff entzog. Der Vorfall im Wald stand nicht länger zwischen ihnen und er wusste, sie würde das Buch nicht nehmen, wenn er es ihr nicht erlaubte. Spitzbübisch sah er sie an, zwickte sie in die Seite. „Das geht dich immer noch nichts an.“ Nelke schrie erschrocken auf, stieß seine Hand weg und beschimpfte ihn als Dummkopf. Zur Strafe zwickte Frodo sie noch einige Male, bis sie schließlich vom Stuhl springen und vor ihm flüchten musste. Frodo hatte jedoch nicht vor, von seinem Opfer abzulassen und sprang ihr arglistig grinsend hinterher. „Freche…“, schimpfte er und kniff sie in den Bauch, „…neugierige…“ Er stieß ihre Hand weg und zwickte ihre rechte Seite. „…hinterhältige, kleine…“ Nelke kreischte, als er ihre Hände packte, um sie ungehindert kitzeln zu können. „…Kröte!“ „Kröte?!“ rief Nelke entrüstet, starrte ihn für einen entsetzten Augenblick an, ehe sie ihrerseits zum Angriff überging und gemeinsam mit Frodo lachend um den großen Tisch rannte.
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Wo steckte der Junge nur schon wieder? Jeden Augenblick konnten Esmeralda, Paladin und die Kinder ankommen, doch von Frodo, der noch am Mittag entschlossen gewesen war, seine Vettern zu begrüßen, und dessen Hilfe Saradoc jetzt sehr gelegen kommen würde, fehlte jede Spur. Saradoc hatte Anweisungen gegeben, eines der größten Gästezimmer für den Thain vorzubereiten. Bis zum Mittag hätte sich Paladin dieses Zimmer mit seinem Sohn teilen müssen, doch inzwischen hatte Saradoc Frodo nachgegeben, der ihm bereits seit über einer Woche mit der Bitte in den Ohren lag, Pippin möge bei ihm und Merry nächtigen. Saradoc selbst wollte sich um die zusätzliche Matratze kümmern, die dafür in das Zimmer seiner Sprösslinge gebracht werden musste, doch hätte er es gerne gesehen, wenn Frodo ihm dabei zur Hand gegangen wäre und wenigsten saubere Bezüge aus der Wäschekammer gebracht hätte. Schwungvoll öffnete er die Tür zum Matratzenkeller, dem tiefstgelegenen und größten Raum des Brandyschlosses, wo alte Matratzen und ein Großteil der ungenutzten Möbel gelagert wurden. Ein leichter Modergeruch wehte ihm entgegen und feiner Staub kitzelte seine Nase. Der Herr tastete nach dem Regal, um eine dort befindliche Kerze zu entzünden, als ihm auffiel, dass hinter einigen Matratzen bereits ein schwacher Schimmer verborgen lag. Verdutzt legte er die Stirn in Falten, ließ die Hand wieder sinken und bewegte sich stattdessen auf das schwache Licht zu.
„Frodo!“ rief er verblüfft, als er dessen Ursprung erkannte. „Saradoc!“ Die Stimme war nicht minder überrascht, als seine eigene. Frodo saß auf dem steinernen Boden, lehnte gemütlich an einer Matratze. Die Beine hatte er ausgestreckt, die Hände zufrieden über dem Bauch gefaltet und sein Ausdruck sprach von vollkommener Glückseeligkeit. Ein Grinsen lag auf seinen Zügen, das seine Augen ungetrübt funkeln ließ. „Was machst du hier?“, fragte Saradoc noch immer völlig verdutzt. Frodo wirkte verwirrt, als hätte er diese Frage noch gar nicht bedacht, doch es dauerte nicht lange, da hellten sich seine Züge auf und ein überbreites Grinsen spaltet sein Gesicht entzwei. Mit einer Bewegung, die zweifelsohne nicht halb so unauffällig war, wie er es gerne gehabt hätte, ließ er etwas hinter seinem Rücken verschwinden und schüttelte unschuldig den Kopf. „Was war das?“ „Nichts“, war die rasche Antwort. Die Miene blieb unschuldig, das Grinsen ungetrübt. Einer Ahnung folgend beugte sich Saradoc zu dem Jungen hinab und roch an seinem Atem. Frodo, augenscheinlich von seinem Handeln erheitert, gluckste verstohlen in sich hinein. Saradoc äugte ihn kritisch und rümpfte die Nase. „Hast du getrunken?“ Frodos Grinsen wurde zu einem ausgeweiteten Lächeln und die unterdrückte Erheiterung zu einem unkontrollierten Kichern. Übereifrig schüttelte er den Kopf. Mit einer Bewegung die zu Ende war, ehe Frodo überhaupt begriff, dass sie begonnen hatte, langte der Herr hinter den Rücken des Jungen und brachte eine eiserne Schale zutage. Zwei dunkelrote Himbeeren, die nicht mehr sonderlich frisch aussahen, rollten über eine kleine, dunkle Pfütze. „Die gehören mir!“ rief Frodo aufgebracht, als Saradoc sich bereits wieder aufgerichtet hatte und seinen Fund prüfend begutachtete. Entschlossen rappelte er sich auf, warf dabei um ein Haar die Kerze zu Boden. Ein mahnender Blick des Herrn genügte jedoch, um Frodos Vorhaben Einhalt zu gebieten. Mit einem einzelnen Wort forderte Saradoc den Jungen dazu auf, ihm mit der Kerze zu leuchten und war selbst überrascht, als dieser seiner Bitte klaglos nachkam. Als er Frodos Gesicht betrachtete, erkannte er den Grund dafür. Die kurze Entschlossenheit war wieder dem seligen Grinsen und dem fernen Blick gewichen. Es stand außer Zweifel, dass er angetrunken war. Saradoc hoffte inständig, Frodo würde die Kerze in seinem Zustand nicht fallen lassen. Vorsichtig sog er den scharfen Geruch ein, der von den Beeren ausging. Weinbrand. Er tauchte den Finger in die Flüssigkeit und probierte. Zweifellos Weinbrand. Fast anklagend blickte er auf den Jungen, den das wenig kümmerte. War denn gar nichts mehr vor Frodos Naschereien sicher? Heiße, eingelegte Himbeeren mit Schlagsahne würden in den nächsten Tagen wohl nicht als spätes Nachtmahl gereicht werden. Kopfschüttelnd verspeiste Saradoc die übrig gebliebenen Beeren und erntete dafür einen entgeisterten Blick von Frodo, der jedoch nur Momente später von amüsiertem Gekicher abgelöst wurde. Verstohlen lächelnd legte der Herr eine Hand auf die Schulter seines Schützlings. „Da du schon einmal hier bist, kannst du mir auch beim Tragen der Matratze helfen.“ Frodo nickte eifrig und lachte dümmlich, als bei der heftigen Bewegung etwas Wachs von der Kerze tropfte und die Flamme wütend zischte und flackerte.
Später am Nachmittag schloss Saradoc seinen überschwänglichen Sohn freudig in die Arme. Die Sonne lachte vom Himmel und die bunten Sommerblumen zu beiden Seiten des schmalen Pfades vor dem Schloss streckten ihr die leuchtenden Köpfe entgegen. „Wo ist Frodo?“, begehrte Merry sogleich zu wissen, hatte er doch erwartet nicht nur von seinem Vater sondern auch von seinem Vetter begrüßt zu werden, nachdem sie sich so lange nicht gesehen hatten. „Er ist in seinem Zimmer und ruht sich aus“, erklärte der Herr. Merry sah ihn besorgt an, wollte etwas erwidern, doch Gorbadoc erschien in der Tür und rief ihn zu sich. Der alte Hobbit freute sich stets, die ganze Familie unter einem Dach zu sehen und obschon er sich schwer auf seinen Gehstock stützen musste, zu stolz um Saradocs Hilfe anzunehmen, ließ er sich nicht davon abhalten, seinen Urenkel persönlich zu begrüßen. Mit einem lauten Aufschrei eilte ihm der junge Hobbit entgegen, schloss ihn vorsichtig in seine Arme. Pippin folgte ihm. Er wollte eigentlich nur zu Frodo, wusste jedoch, dass er nur über den Umweg einer Umarmung zu seinem Vetter kam, denn Gorbadoc war nicht minder erfreut, entfernte Mitglieder der Familie in seiner Höhle begrüßen zu dürfen. „Geht es ihm nicht gut?“, fragte Esmeralda, während Paladin die Taschen aus dem Wagen nahm und Saradoc ihr vom Kutschbock half. „Er schläft seinen Rausch aus“, berichtete der Herr beiläufig und schickte sich an, seinem Schwager zur Hand zu gehen. „Er macht was?!“ entrüstete sich Esmeralda und Paladin blickte besorgt in das Gesicht seines Schwagers, doch dieser lächelte nur. „Frag lieber nicht“, meinte er mit einem Kopfschütteln. „Frag nicht.“
~*~*~
Ein gellender Schrei ließ Nelke erschrocken herumfahren. Rubinie hielt in ihrer Schwärmerei für Marmadocs strahlende, grüne Augen inne. Ihre geröteten Wangen erblassten. „Viola“, bemerkte sie, sprang auf die Beine und eilte davon. Nelke zögerte, ehe auch sie sich aufrichtete. Ihr Blick ruhte auf dem Steg, wo sie einige andere Kinder herumalbern sah. Madoc ärgerte eines der jüngeren Mädchen worauf prompt beide von den Holzleisten stolperten und im Fluss landeten. Ein Lächeln stahl sich über ihre Lippen. Sie hatte sich mit Rubinie etwas vom Tumult am Ufer zurückgezogen, denn ihre Freundin wollte vor neugierigen Ohren sicher sein, wenn sie sich zu ihrer Schwärmerei für Frodos älteren Vetter bekannte. Im Gegensatz zu Marmadoc, konnte sie Frodo nicht unter den anderen Kindern ausmachen. Zweifellos waren er und seine jüngeren Vettern der Grund für Violas entsetzte Schreie. Seit Pippin Tuk hier angekommen war, taten die drei nichts anderes, als sie zu ärgern. Anfangs war sie gerne Ziel der Neckereien gewesen, doch inzwischen fand sie sie lästig. Frodos gelegentliche Sticheleien gefielen ihr. Tat er sich mit Merry zusammen, waren ihre Streiche zu verschmerzen, doch mit Pippin als Dritten im Bunde, stellten die Vettern eine Übermacht dar, gegen die nicht anzukommen war. Ihr dünnes Kleid wehte ihr um die Beine, als ein Windstoß über den Hang strich. Nelke wusste, wenn sie ihren Freundinnen zu den Büschen im Süden folgte, würde sie dem Ärger zielsicher in die Arme laufen. Allerdings nicht nur dem, sondern auch Frodo. Mit einem verzückten Lächeln setzte sie sich in Bewegung und rannte den Hang entlang nach Süden. Je weiter sie lief, umso lauter hörte sie die Schreie und Beschimpfungen ihrer Freundinnen. Die Vettern mussten sich etwas besonders Gemeines ausgedacht haben.
Nelke hatte sich vom Steg entfernt, war nun in der Nähe der Bockenburger Fähre. Der Hang war hier abgeflacht, ragte erst ein Stück weit zu ihrer Linken in die Höhe. Zwischen den Büschen hatte sich eine kleine Insel gebildet, ein ruhiger, wadentiefer See im sonst gemächlich fließenden Brandywein. Viola stürmte kreischend hinter den Sträuchern hervor, dicht gefolgt von Pippin. Schelmisch grinsend und mit verschwörerisch vor der Brust verschlossenen Händen stolperte der jüngste der Vettern über die Wiese. Er machte nicht den Eindruck, als interessiere er sich für mehr, als nur Viola einzuholen, doch Nelke musste rasch feststellen, dass sie sich irrte. Pippin konnte sie nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen haben, doch er hielt sofort inne und wandte sich ihr zu. Sein Ausdruck hatte etwas Boshaftes. Er war der Fuchs, der den Zaun überwunden hatte und sie wollte nicht die Rolle des dummen, ahnungslosen Huhns übernehmen. Angespannt wich sie einen Schritt zurück. Kalte, nasse Hände legten sich auf ihren Oberkörper und etwas Feuchtes, Glattes, Zappelndes glitt unter ihrem Kleid über ihre Haut. Ein Anflug von Panik jagte durch ihre Glieder, ließ sie entsetzt aufschreien. Im Versuch sich zu befreien, stieß sie mit dem Ellbogen unsanft in den Bauch ihres Angreifers, woraufhin Merry der Atem stockte und er von ihren Armen abließ, anstatt die freche Bemerkung, die auf seiner Zunge lag, kundzutun.
Während Nelke noch kreischend versuchte, herauszufinden, was Merry in ihren Ausschnitt gesteckt hatte, benötigte Viola, nur wenige Schritte weiter, alle Willenskraft nicht in Tränen auszubrechen. Eigentlich hatte sie den Vettern hinterher spionieren und ihre Pläne vereiteln wollen, doch stattdessen war sie in eine bereits gestellte Falle gelaufen. Ihr Kopf glühte von der Hitze ihres Zornes, während sie Frodo, dem allein geglückt war, was die drei Vettern gemeinsam nicht vollbracht hatten, anbrüllte und aufs wüsteste beschimpfte. Ihr Unterkleid tropfte und allein der Gedanke an die Kaulquappen, die sich darin verfangen haben konnten, ließ sie vor Ekel erschaudern. Immerhin zeigte ihre Zurechtweisung Wirkung, denn das dämliche Grinsen und der Blick des Unschuldslammes waren aus Frodos Gesicht gewichen. Viola hatte jedoch nicht vor, ihm jemals zu vergeben, selbst, wenn er sie noch so betroffen ansah. „Ich wünschte, der Blitz würde dich treffen!“ fluchte sie abschließend und stelzte davon.
„Viola, warte!“ Frodo eilte zwischen den Sträuchern hindurch um sie aufzuhalten. Der Glanz ungeweinter Tränen war in ihren Augen gelegen, ein Anblick, der sein schlechtes Gewissen weckte. Es sollte nur ein Streich wie unzählige davor sein, doch womöglich hätte er das Mädchen nicht auch noch in den Teich mit dem Froschlaich schmeißen sollen, nachdem er ihr die Kaulquappen in den Halsausschnitt gesteckt hatte. „Vi--“ Der Rest blieb ihm im Halse stecken. Inzwischen war nicht nur Rubinie zu ihnen gestoßen, auch Nelke stand nahe den Sträuchern und strich sich wiederholt über ihr Kleid. Merry war an ihrer Seite, sein Triumpf offensichtlich, doch wirkte er alles andere als erheitert. Seine Aufmerksamkeit, ebenso wie Frodos, galt Pippin. Sein jüngster Vetter protestierte lautstark gegen das grobe Vorgehen Reginards, der ihn am Ohrläppchen mit sich zerrte. Frodo schluckte. Was machte Nelkes Bruder hier? Hatte er nicht zu arbeiten? „Lass ihn gehen!“ verlangte er mutig, wissend, dass es als Ältester seine Aufgabe war, auf Pippin aufzupassen. Frodo war überrascht, als der Tween tatsächlich tat, was er forderte, auch wenn es ihm nicht zusagte, wie unsanft Pippin zur Seite gestoßen wurde. Mit einem raschen Blick versicherte er sich, dass es dem jungen Tuk gut ging, ehe er sich für das Gefecht mit Reginard rüstete, denn dieser stapfte entschlossen auf ihn zu. Mit angespannten Muskeln und geschärften Sinnen blickte er in die dunklen Augen des Größeren. Reginard trug kein Hemd und der Gestank, der an seiner schweißnassen Brust klebte, umwehte Frodos Nase. Die sonnengebräunte Haut des Älteren glänzte, als er sich vor ihm aufbaute. Frodo wich nicht zurück, ballte stattdessen die Hände zu Fäusten und schob sein Kinn vor. Er wusste, dass die anderen ihn beobachteten und war nicht gewillt, Schwäche zu zeigen. Zu sehr erinnerte ihn dieses Ereignis an ein ähnliches Vorkommen im Sommer vor zwei Jahren, nur dass Frodo damals erlaubt hatte, erniedrigt zu werden. Heute würde er kämpfend zugrunde gehen. „Machst du wieder Ärger, Beutlin?“ dröhnte die tiefe Stimme des Älteren über ihn hinweg, eine Stimme, die der von Olo Boffin nicht unähnlich war.
Seine Finger gruben sich in seine Handflächen. Frodo benötigte allen Mut dem durchdringenden Blick nicht auszuweichen. Anders als Marroc war Reginard während der Zeit in der er gestohlen hatte nie handgreiflich geworden, doch Frodo wusste, dass ihm Nelkes Bruder ebenso überlegen war wie sein Peiniger, schließlich hatte er bereits am eigenen Leib erfahren, wie schmerzhaft und blutig eine Auseinandersetzung mit ihm enden konnte. Reginard mochte seinen Hass zwar besser verbergen als Marroc, doch im Grunde waren sie sich nicht ungleich. Beide wollten ihn schikanieren. Der eine, indem er ihm heimlich drohte und verprügelte, der andere, indem er ihn vor seinen Freunden als Schwächling darstellte, in Ausnahmesituationen jedoch auch bereit war, zuzuschlagen. Das Herz pochte in seinen Ohren wie der Hammer eines Schmiedes, der auf den Amboss schlug. Alle anderen Geräusche verstummten, während Frodo sich fragte, wie weit Reginard jetzt zu gehen bereit war. Die Aufmerksamkeit seiner Freunde gab ihm jedoch die nötige Sicherheit, die Verantwortung des Ältesten anzunehmen und seinen Vetter zu verteidigen, wie es jeder andere in seiner Lage auch tun würde. Ungeachtet der Folgen wollte er zurückschlagen, sollte Reginard zuerst Gewalt anwenden. Mit etwas Geschick glückte ihm vielleicht sogar, was ihm mit Marroc bereits gelungen war. Allen Mut zusammennehmend sagte er: „Du suchst in jeder Gelegenheit einen Grund mich anzugreifen. Du bist kein Deut besser als Marroc.“ Frodo gratulierte sich selbst, dass seine Stimme nicht zitterte. Mit einer Beherztheit, die ihn überraschte, blickte er in die Augen des Älteren, wich nicht einmal zurück, als dessen muskulösen Arme nach vor schossen und ihn grob am Kragen packten. Reginard zog ihn zu sich, bis Frodo nur noch mit den Zehen im Gras stand. „Es ist dein Glück, dass du Unrecht hast, denn sonst hättest du jetzt einige Blutergüsse mehr“, ließ der Tischlerlehrling ihn durch zusammengebissene Zähne wissen.
Frodo war wie erstarrt. Sein Körper spannte sich in Erwartung eines Schlages an. Sein Herzschlag wurde zu einem schmerzhaften Dröhnen. Seine Finger zuckten, doch Frodo zwang sich dazu, nicht nach Reginards Arm zu greifen und so die Angst zu zeigen, die ihn wie ein Schleier umschloss. Abscheu loderte in Reginards Augen, doch Frodo hielt dem Blick stand, auch wenn er sich mit Gewalt dazu zwingen musste, den Kopf erhoben zu lassen. Einen nicht enden wollenden Atemzug schien der Ältere ihn förmlich mit seinen Augen zu durchbohren, ehe er ihn kraftvoll wegstieß. Frodo stolperte rückwärts, ohne seine Aufmerksamkeit von seinem Gegner zu nehmen. Reginard ballte seine Fäuste, lockerte sie wieder und ballte sie erneut, ehe er Frodo angeekelt vor die Füße spuckte. „Du bist den Schmutz an meinen Händen - nicht wert, den es mich kosten würde, dich zu schlagen“, sagte er hasserfüllt und wandte ihm den Rücken zu.
Für einen Moment war Frodo versucht Reginard noch einmal herauszufordern, denn kein anderer würde diese Bemerkung auf sich beruhen lassen, doch Merry, dessen Nähertreten ihm entgangen war, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Nelke warf ihm einen Blick zu, den er nicht zu deuten wusste, ehe sie ihrem Bruder folgte. Erst als sich zu seinem besorgten Vetter umwandte, bemerkte Frodo, dass er am ganzen Leibe zitterte und die Schwäche, die er zuvor nicht hatte zeigen wollen, über ihn hereinzubrechen drohte. Pippin trat mit strahlendem Ausdruck an ihn heran. „Wenn du meine Schwestern auch mit nur einem Blick vertreiben kannst, musst du unbedingt bald wieder zu den Großen Smials kommen“, meinte er begeistert. „Das war große Klasse!“ Stolz und verlegen zugleich ließ sich Frodo von dem jungen Tuk auf die Schulter klopfen. Er hatte Mut bewiesen, hatte Verantwortung übernommen und sich seinen Schwierigkeiten gestellt, wie sein Vater es ihn einst gelehrt hatte. Wenn sogar Pippin ihn bewunderte, durfte er zu Recht stolz auf sich sein. Vom Hochgefühl des Triumphes beflügelt legte er einen Arm um jeden seiner Vettern und lächelte breit. „Suchen wir uns einen ruhigeren Platz“, sagte er dann, führte die beiden vom Flussufer weg und vergaß bald um den Schrecken, der sein Herz so schnell hatte schlagen lassen.
Kapitel 76: Pfeifenkraut und Pflaumenkerne
Der Sommer verwöhnte mit angenehmen Temperaturen. Einzelne Gewitter ließen sich zwar nicht vermeiden, doch zeigte sich die Sonne täglich und war bisweilen fast unerträglich heiß. Paladin entschloss sich, nach nur zehn Tagen Aufenthalt nach Tukland zurückzukehren, denn das warme Wetter erlaubte ihm keine Ruhezeit. Über die Sommermonate gab es auf den Feldern und Höfen des Thains ebensoviel zu tun, wie auf jenen, die der Herr bewirtschaftete und als Oberhaupt der Tuk-Familie hatte Paladin die Geschehnisse gern selbst im Auge. Pippin durfte jedoch bis zum Halimath im Brandyschloss bleiben, vielleicht sogar etwas länger. Paladin machte dies von der Arbeit abhängig, denn nicht immer ließ sich die Zeit für eine mehrtägige Reise nach Bockland, einschließlich eines kurzen Aufenthalts als seiner Schwester Gast, einrichten.
Seinen Sohn kümmerte das wenig, auch wenn er bald lernen musste, dass auch das Leben im Brandyschloss nicht nur aus Spiel und Vergnügen bestand. Merry und Frodo wurden in die Arbeit zu Felde ebenso miteinbezogen, wie jeder andere auch. Pippin war dies zwar von Zuhause gewohnt, hatte jedoch gehofft, seinen Pflichten, wie sein Vater sie nannte, zu entgehen. Erbe des Thains hin oder her, für ihn zählte nur das Vergnügen und von dem hatte er eine Menge, auch wenn es bisweilen in noch mehr Arbeit resultierte, da Saradoc es nicht gerne sah, wenn er und seine Vettern sich nachts aus der Höhle schlichen um am Ufer des Flusses Glühwürmchen zu fangen, sie tagsüber die Mädchen so lange ärgerten, bis eines sie verpetzte, oder sie gar nicht erst zum Abendessen kamen, weil sie in ihrer Höhle im Wald die Zeit vergessen hatten und sich oft erst nach Einbruch der Dunkelheit auf den Heimweg begaben. Seiner Meinung nach nahm sein Onkel diese Dinge viel zu ernst. Frodo war schließlich bei ihnen und passte auf sie auf und sollte er, wie es häufig der Fall war, ebenso mit Streichen und Abenteuern beschäftigt sein, wie er und Merry, konnten sie alle drei aufeinander aufpassen.
Was sein Onkel mit dem Gerede über Vertrauen und Verantwortung bezwecken wollte, das Frodo sich einmal hatte anhören müssen, nachdem er und Merry bereits weggeschickt worden waren, wusste Pippin nicht. Nachdem er das Gespräch belauscht hatte, hatte Merry jedoch besorgt gewirkt und Pippin hatte ihm versprechen müssen, Frodo nicht zu sagen, dass sie die Unterhaltung mit angehört hatten. Er meinte, es würde ihren älteren Vetter verstimmen. Wenn er verärgert gewesen war, hatte sich Frodo das nicht anmerken lassen und auch nach dieser Unterhaltung – und den folgenden – änderten die Vettern ihr Verhalten nicht. Es war Sommer, noch dazu einer der wenigen, den sie zusammen verbringen konnten und nichts konnte sie von ihren Plänen abbringen, selbst wenn diese noch so abenteuerlich waren.
„Pip?“
Frodo wedelte zum wiederholten Mal mit der Hand vor dem Gesicht seines Vetters, doch dessen Augen klebten weiterhin an Marmadoc, wie die Tatze eines Bären am Honig.
„Pergrin Tuk?“, wiederholte er noch einmal fordernder, in der Hoffnung mit dem vollen Namen des jungen Hobbits mehr Erfolg zu haben. „Pippin!“
Verwirrt blinzelnd sah Pippin ihn an.
„Wenn du Marmadoc noch lange anstarrst, fallen dir die Augen aus den Höhlen“, bemerkte Frodo spitz und krempelte sich den heruntergerutschten, linken Ärmel wieder hoch. Merry gluckste in sich hinein und konnte den Grashalm, an dem er schon seit Minuten so genüsslich kaute, als wäre er eine Gebäckstange, gerade noch mit der Zunge am Herausrutschen hindern.
Pippin schnitt beiden eine Grimasse, ehe er seine Aufmerksamkeit von neuem auf Marmadoc richtete, der mit einigen anderen Tweens am gegenüberliegenden Ende der Koppel stand und eine Pfeife herumreichte.
„Vergiss es, Pip!“ Mit einem Schmunzeln war Frodo Pippins Blick gefolgt. Er wusste genau, worauf es sein Vetter abgesehen hatte, konnte die Gedanken förmlich lesen, die im Kopf des Jüngeren umherwanderten. „Sie werden dich nie an der Pfeife ziehen lassen. Sie erlauben es nicht einmal mir.“
Pippin warf ihm einen Seitenblick zu.
„Du hast sie gefragt?!“ platzte es aus Merry heraus, wobei er sich fast an seinem Grashalm verschluckte. „Wann?“
„Vorgestern“, bemerkte Frodo beiläufig und unterdrückte das Lächeln, das seine Mundwinkel zum Zucken brachte. Die Tatsache, dass er Dinge tun konnte, ohne, dass Merry davon erfuhr, entrüstete seinen Vetter immer wieder aufs Neue.
Merry bedachte die Aussage, nickte schließlich und lehnte sich auf dem Holzzaun soweit zurück, wie er es wagte, ohne einen Sturz fürchten zu müssen. Unterdessen stellte sich Frodo vorsichtig auf den Balken. Seit dem letzten Sommer hatten er und sein Vetter ihr Können perfektioniert und Frodo war überzeugt, dass keiner mit solch sicheren und raschen Schritten über den Zaun der Koppel laufen konnte wie er.
Die Sonne schien auf seinen Rücken und er nahm einen tiefen Atemzug der frischen Luft, ehe er sich in Bewegung setzte. Die Koppel war leer. Alle Ponys wurden entweder für die Arbeit gebraucht oder grasten auf einer Wiese weiter südlich, und so hatte er freien Blick auf Marmadoc und seine Freunde. Entspannt lehnten sie an den Holzlatten und lachten, während die Pfeife von einem zum anderen wanderte. Wie gebannt blickte Frodo auf die Rauchschwaden, die vom Wind davongetragen wurden und wusste nur zu genau, wie Pippin sich fühlte. Schon lange hatte er sich gefragt, wie eine Pfeife schmeckte. Er liebte den Geruch des Krautes, der schon sein ganzes Leben ein Gefühl der Behaglichkeit in ihm ausgelöst hatte. Marroc hatte ihm einen Teil jener Empfindung genommen und sie mit Abscheu und Scham ersetzt, doch die Neugier auf den Geschmack des Krautes war geblieben. Bisweilen hatte er schon überlegt, Saradoc nach einem Zug zu fragen, doch sein Mut hatte nicht ausgereicht. Der Herr hätte zweifellos noch barscher reagiert, als es die Tweens getan hatten.
Am äußersten Pfahl angekommen, drehte Frodo sich um und ging zu seinen Vettern zurück. Merry nahm ihn kaum wahr, schien tief in Gedanken und Pippins Blick auf die Pfeife war noch sehnsüchtiger als zuvor. Gelangweilt setzte sich Frodo wieder hin und schloss die Augen. Ein sanfter Luftzug kitzelte seinen Nacken. Der Gesang der Vögel klang in seinen Ohren, mischte sich mit dem gelegentlichen Lachen der Tweens und dem leisen Seufzen seines jüngsten Vetters.
„Ich wüsste, wo wir eine Pfeife finden“, ließ Merry unvermittelt verlauten und Pippins Miene hellte sich sofort auf. Schien er zuvor völlig vertieft in das Objekt seiner Begierde, hing der junge Tuk nun so gebannt an Merrys Lippen, dass er nicht einmal wagte, selbst den Mund aufzumachen und nachzufragen.
Frodo zog eine Augenbraue hoch und blickte seinen Vetter fragend an, doch die Antwort kam ihm von alleine. „Saradocs Arbeitszimmer.“
Merry nickte. „Eine seiner Pfeifen bewahrt er in der obersten Kommodenschublade auf, und da er jetzt auf den Feldern ist, wird er sie nicht brauchen.“
„Das ist ja wunderbar!“ rief Pippin begeistert und sprang vom Zaun. „Worauf warten wir noch?“
Frodo erblasste. Während Merry sich ebenfalls vom Zaun gleiten ließ, klammerte er sich am Balken fest, wurde von Erinnerungen und Befürchtungen gleichermaßen heimgesucht. Bereits jetzt konnte er die Enttäuschung in Saradocs Augen sehen, wusste er doch wie sehr es den Herrn verletzt hatte, als dieser von seinen Diebereien erfahren hatte. Keine von ihnen war ihm leicht gefallen und einzig Verzweiflung hatte dazu geführt, dass er den bestohlen hatte, den er liebte. Er konnte diese Tat weder vergessen, noch wiederholen, denn dann würde er sich jene Schuld von neuem auflasten. Ein ungutes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, als er den Kopf hob um den fragenden Blicken seiner Vettern zu begegnen.
„Ich kann ihn nicht bestehlen.“
Pippin verdrehte die Augen und warf die Hände in die Luft, doch was immer er sagen wollte, Merry kam ihm zuvor.
„Wir bestehlen ihn nicht“, erklärte er sachlich. „Wir leihen uns die Pfeife nur aus. Ehe er merkt, dass sie weg ist, wird sie wieder an ihrem Platz sein.“
Pippin nickte bestätigend, doch Frodo wandte den Blick ab. Gerade von Merry hatte er Verständnis erwartet, schließlich wusste sein Vetter, was vorgefallen war.
„Wenn wir erwischt werden“, wagte er einen weiteren Versuch, in der Hoffnung auch in seinen Vettern jene Sorge zu erwecken, die in ihm tobte.
„… werde ich die Verantwortung auf mich nehmen“, schloss Merry ruhig. „Schließlich war es meine Idee.“
Spannung jagte durch seine Muskeln, ließ ihn ruckartig den Kopf heben. Argwöhnisch und mit beinahe durchdringendem Blick suchte er in den Augen seines Vetters nach einer Erklärung für seine Wortwahl. Wusste Merry am Ende von der Unterhaltung mit Saradoc? Hatte er gehört, wie der Herr ihm vorgeworfen hatte, dass er zwar Verantwortung bei der Arbeit bewiesen hatte, im Alltag jedoch darum vergaß?
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„Ich weiß, ich habe dir mehr Verantwortung geschenkt, indem ich dir erlaubte, eine Stunde länger auf zu bleiben. Doch ich habe diese Verantwortung dir geschenkt und nicht deinen Vettern.“
Der Herr sah ihn nicht an, stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor dem großen Fenster seines Arbeitszimmers und blickte in die sternenklare Nacht hinaus. Endlich wandte er sich um, das Licht der Kerzen flackernd auf seinem Gesicht.
„Ich kann sie dir jederzeit wieder nehmen, wenn ich sehe, dass du ihr nicht gerecht wirst. Verantwortung tritt in vielen Bereichen des Lebens auf, Frodo, nicht nur bei der Arbeit, wo sie klar geregelt ist. Ihr habt vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein und die Höhle danach nicht mehr zu verlassen. Sich an diese Regel zu halten, erfordert ebenfalls Verantwortung.“
„Warum richtest du diese Worte nur an mich? Merry und Pippin waren schließlich auch dabei.“
Ein Lächeln folgte der zaghaften Bemerkung, mitfühlend, fast gütig. „Merkst du denn nicht, dass ich das bereits tat? Im Grunde habe ich dir jetzt nichts anderes gesagt, als zuvor zu euch dreien, nur wählte ich dieses Mal andere Worte. Du bist ein Kind wie sie, Frodo, und doch bist du ihnen an Reife und Alter einen Schritt voraus. Du wusstest es besser, nicht wahr? Allerdings hast du geglaubt, ihr würdet aufeinander aufpassen können und ich bezweifle nicht, dass ihr das auch getan habt. Du weißt jedoch genauso gut wie ich, dass Vergnügen nur allzu leicht über eure Vernunft gewinnt, vor allem, wenn anstelle der zwei dummen Ideen, drei zur Auswahl stehen. Ich vertraue euch, Frodo, dir ebenso wie Merry. Ich vertraue auch Pippin, allerdings ist er von euch dreien derjenige, der sich am schnellsten für unkluge Dinge begeistern kann. Du und Merry tragt beide Verantwortung und ich bin bereit, euch diese zu überlassen, so lange ihr euch an meine Bestimmungen haltet. Tut ihr das nicht, muss ich Verantwortung nehmen und zusätzliche Regeln aufstellen und ich glaube, danach steht keinem von uns der Sinn.“
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Pippin ließ seinen Blick unauffällig von einem zum anderen wandern. An Merrys Stelle hätte er den Kopf schon lange abgewandt und alles zugegeben, was er wusste. Er hatte nicht gewusst, dass Frodo so streng schauen konnte, doch nun verwunderte es ihn nicht mehr, dass Reginard damals am Fluss einfach gegangen war. Frodo wollte er auf keinem Fall zum Feind haben. Insgeheim war er stolz auf seinen Vetter und schätzte sich glücklich, ihn auf seiner Seite zu wissen. Mit Merry wollte er im Augenblick jedenfalls nicht tauschen, aber dieser kümmerte Frodos Blick wenig. Er hielt ihm stand, als wäre er es gewohnt, Dinge vor seinem Vetter zu verbergen und so bereitete es Pippin auch keine Probleme, so zu tun, als wisse er nicht, dass Merry sich verraten hatte.
Frodo rang mit sich selbst, während er in Merrys Augen blickte. Sein Vetter hatte Recht. Der Herr war auf den Feldern und würde nicht vor dem Abendessen zurück sein. Bis dahin wäre die Pfeife längst wieder da, wo sie hingehörte. Dennoch hallten die gefallenen Worte einem bösen Omen gleich, in seinen Ohren wider. Mehr Regeln und weniger Verantwortung. Verantwortung, die er nicht wieder verlieren wollte, wo er sie sich so hart erarbeitet hatte.
Sein Blick wanderte zu den Tweens. Es ging nur um einen einzigen Zug. Konnte es dann wirklich so schlimm sein, sich die Pfeife des Herrn auszuleihen? Immerhin war Rauchen nichts Schlechtes, gab es doch so gut wie keinen Hobbit, der sich nicht gerne eine Pfeife ansteckte. Und wenn sie die Pfeife nahmen, mit der Absicht, sie zurückzugeben, brachen sie dann eine Regel?
Frodo spürte die erwartungsvollen Blicke seiner Vettern auf sich. Merry stand reglos, doch Pippin hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das Andere, konnte schließlich nicht länger an sich halten.
„Komm schon, Frodo. Sei kein Spielverderber!“
Gequält hob er den Kopf. Merry forderte ihn mit seinen Augen förmlich dazu auf, von diesem Zaun zu springen und zu tun, was seine Neugier ihm gebot, denn Frodo war klar, dass seinem Vetter durchaus bewusst war, wie gerne er einen Zug des Krautes nehmen würde.
„Also gut!“ gab er schließlich nach und glitt vom Zaun. Merry ließ er dabei jedoch nicht aus den Augen. „Auf deine Verantwortung!“
Ein Grinsen stahl sich über Merrys Lippen. „Mit dem größten Vergnügen.“
Pippins Jubelschrei ließ selbst die Tweens ihre Unterhaltung unterbrechen und verwundert die Köpfe heben.
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„Pippin, was machst du denn da? Du musst paffen, nicht saugen.“
„Ich paffe“, stellte Pippin fest, ohne von der Pfeife in seinem Mund abzulassen und warf Frodo einen nicht allzu freundlichen Blick zu.
Merry unterdrückte ein Kichern. „Du saugst.“
Mit der Hand vor dem Mund, um sein Lachen zu verbergen, tauschte Frodo einen kurzen Blick mit seinem Vetter, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder dem Jüngsten schenkte. Ihr Vorhaben war ein voller Erfolg gewesen. Keiner hatte sie gesehen und in der obersten Kommodenschublade hatten sie nicht nur die Pfeife, sondern auch das nötige Kraut gefunden. Nun saßen sie im Schatten der großen Eiche und reichten ihre Errungenschaft herum, wie es zuvor die Tweens getan hatten. Zu ihrem Glück hatten sie auch eine volle Streichholzschachtel mitgehen lassen, denn, war das Stopfen der Pfeife noch einfach gewesen, gestaltete sich das Brennen des Krautes als schwierig. Obwohl sie soviel Pfeifenkraut in den Kopf gestopft hatten, wie sie nur konnten, erlosch es nach nur wenigen Zügen und meist war es an Frodo, die getrockneten Blätter wieder zu entzünden.
Den Geschmack hatte sich Frodo schon genüsslich auf der Zunge zergehen lassen. Es war aromatisch, würzig, herb und hinterließ doch einen süßlichen Nachgeschmack. Er konnte es kaum erwarten, einen weiteren Zug zu nehmen und wartete sehnsüchtig darauf, dass Pippin mit was immer er auch tat, fertig war.
„Ich bin jetzt an der Reihe“, bestimmte er schließlich, als Pippin keine Andeutungen machte, die Pfeife jemals wieder aus dem Mund zu nehmen, und nahm sie kurzerhand an sich.
„Hoi…“ wollte Pippin protestieren, doch der Rest ging in einem Hustenanfall unter.
„Siehst du“, meinte Frodo altklug, „das kommt davon, wenn man saugt.“
Merry nickte, als wisse er genau um die Wahrheit in Frodos Worten, während Pippin unter etlichem Husten zu erklären versuchte, dass er nicht gesaugt hatte, und dass Frodo der Grund für seinen Hustenanfall war, da er ihm die Pfeife so plötzlich entrissen habe.
Frodo machte sich unterdessen daran, das ausgegangene Kraut wieder zu entzünden – langsam bekam er Übung darin – und paffte genüsslich. Die Vielfalt an Geschmack überwältigte ihn schier und er schloss die Augen, um keinen auszulassen. Herb und mild, rau und sanft zur Zunge im selben Augenblick. Ein Genuss!
„Warum geht sie bei dir nicht aus?“, beschwerte sich Pippin, der inzwischen wieder atmen konnte und beinahe gierig in den glühenden Pfeifenkopf blickte.
„Ich kann das“, erklärte Frodo, ohne sich anmerken zu lassen, dass ihn das selbst überraschte. „Ich bin dazu geboren, Pfeife zu rauchen.“
Merry prustete los. „Du wurdest höchstens geboren, mir die Pfeife am Brennen zu halten und jetzt gib her.“
Der Sohn des Herrn hatte noch kaum zwei Züge genommen, als Pippin seinen Anspruch geltend machte, doch Frodo kam ihm zuvor. Mit einem frechen „Du kannst das nicht“, nahm er die Pfeife an sich, um von neuem Gebrauch davon zu machen.
„Frodo!“ entrüstete sich Pippin und lehnte sich nach vor, doch sein Vetter drehte sich kichernd zur Seite, die Pfeife im Mundwinkel. „Du kannst nicht erst dagegen sein und mir dann meinen Anteil rauben! Schließlich war es meine Idee.“
„Ich war nie dagegen!“ verteidigte sich Frodo nuschelnd. „Ich habe nur…“
„… auf die Gefahr hingewiesen“, äffte Pippin. „Bla, bla… ich weiß. Aber“, gab er zu bedenken, „sind wir Gefahren begegnet? Nein! Haben wir deine Hinweise gebraucht?“ Er blickte um sich, als warte er auf eine Antwort. Als keine kam, bemerkte er das Offensichtliche. „Nein! Also, meine Idee, meine Pfeife!“
Er musste förmlich über Frodo hinweg klettern, um an das Objekt seiner Begierde zu gelangen, doch schließlich ergatterte er den Kopf der Pfeife und zog sie seinem Vetter unvorsichtig aus dem Mund. Dieses Mal war es Frodo, der von einem keuchenden Hustenanfall heimgesucht wurde.
„Siehst du“, bemerkte Pippin und grinste schadenfroh, „das passiert, wenn man mir meinen Anteil raubt.“
„Eigentlich“, stellte Merry fest, der das Geschehen lächelnd beobachtete, „ist es die Pfeife meines Vaters. Somit hätte ich am meisten Anspruch darauf.“ Er kicherte als Antwort auf Pippins herausfordernden Blick. „Einen Zug werde ich dir wohl erlauben können, ob du es nun richtig machst, oder nicht.“
Pippin schnitt ihm eine Grimasse und nahm den wohlverdienten tiefen Zug. Er schmeckte, wie sich der Rauch in seinem Mund sammelte und grinste zufrieden in sich hinein. Und er wusste doch, wie eine Pfeife zu rauchen war.
„Sagt mir, dass ich das nicht sehe.“
Anstatt ihn wieder auspusten, schluckte Pippin den Rauch erschrocken hinunter und begann sogleich zu husten.
Frodo und Merry sprangen auf die Beine, während Pippin mühevoll versuchte, die kaum mehr glühende Pfeife hinter seinem Rücken zu verstecken. Saradoc stand nur wenige Schritte von ihnen entfernt auf dem Hügel, den Blick eine Mischung aus Unglauben und Zorn. Wutentbrannt stapfte er auf sie zu, entriss Pippin die Pfeife, noch ehe dessen Hustenanfall nachgelassen hatte.
„Ihr raucht?!“ brüllte er entrüstet und sein zorniger Blick traf jedes betroffen geneigte Haupt. Kurz sah er auf die Pfeife und seine Augen weiteten sich. „Ihr raucht meine Pfeife?!“
Frodo zuckte unter der lauten Stimme zusammen und biss sich auf die Lippen. Pippin hatte ihr Glück zu früh gerühmt. Mit einem Mal kehrte das ungute Gefühl zu ihm zurück und sein Magen verkrampfte sich ob der Vorahnung der Enttäuschung und der Strafe, die ihn und seine Vettern erwartete.
Ohne eine Antwort abzuwarten, packte Saradoc ihn und Merry grob am Ohrläppchen und schob Pippin, dessen Atmung sich wieder beruhigte, vor sich den Hügel hinab. Als sie durch den größten der westlichen Eingänge in das Brandyschloss stolperten, ließ der Herr schließlich von ihren Ohren ab und trieb sie alle drei vor sich her in sein Arbeitszimmer.
Pippin wurde mit jedem Schritt blasser um die Nase. Er fühlte sich auf einmal gar nicht mehr so gut und der Geschmack des Krautes, den er zuvor so gepriesen hatte, lag bitter auf seiner Zunge. Doch nicht nur dort schmeckte er Pfeifenkraut, auch in seinem Magen glaubte er, den Geschmack des Krautes zu spüren. Süß, würzig, bitter, herb. Das Aroma, das so mild auf seiner Zunge gelegen war, ließ ihn plötzlich würgen. Er biss sich auf die Lippen, um der Übelkeit Herr zu werden, doch es war bereits zu spät. Noch während er vor seinen Vettern her stolperte, entledigte sich sein Magen des Mittagessens. Nur gedämpft hörte er die angeekelten Laute von Merry und Frodo und das verzweifelte „Oh, Pippin!“ seines Onkels, eh er sich von neuem erbrach. Ihm schwindelte, seine Knie wurden weich und gaben nach, ließen ihn hilflos zu Boden sinken, während sein Magen sich immer wieder krampfhaft zusammenzog.
Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis das Würgen nachließ, doch am Ende blieben nur der säuerliche Geschmack und der Gestank halbverdauter Mahlzeiten. Sein Onkel war an seiner Seite, stützte ihn und strich ihm über den Rücken, bis er sich geschwächt in seine Umarmung lehnte. Wann sich seine Vettern von ihm getrennt hatten, konnte er nicht sagen.
„Ist es vorbei?“ Die Stimme war wieder die tröstliche seines Onkels, nicht die verärgerte und gestrenge des Herrn von Bockland. Pippin nickte, wobei er die Luft in einem langen, keuchenden Atemzug ausstieß. Ein Zittern durchlief ihn und er spürte den Schweiß an seinem Nacken. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so schlecht gefühlt zu haben.
„Nie mehr rauchen“, jammerte er, als Saradoc ihm vorsichtig hoch half und ihn schließlich in sein Zimmer trug, weil seine Knie sein Gewicht nicht tragen wollten. Aus den Augenwinkeln sah er zwei Mädchen mit Eimern heraneilen. Beide trugen Kopftücher, doch unter dem Tuch der Einen schimmerte dunkles Haar wie das seiner Mutter. Leise wimmernd lehnte er den Kopf an Saradocs Schulter, schloss die Augen und wünschte sich in Heiderose Tuks Arme.
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„Ihr lasst Pippin eine Pfeife rauchen?!“ zürnte der Herr von Bockland, während er vor seinen Schützlingen auf und ab stapfte. Die Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt, doch die Finger zuckten, als könne er den Anschein von Ruhe nicht mehr lange wahren. „Was ist nur in euch gefahren?“
Ruckartig blieb er stehen, blickte voller Erwartung auf die gesenkten Köpfe. Wie er es erwartet hatte, hatte keiner der beiden den Mut, ihn anzusehen. Goldbraunes Haar schimmerte im Licht der untergehenden Sonne neben dunkelbraunem. Unter seinem strengen Blick schienen die Kinder noch kleiner zu werden, doch das war Saradoc nur recht. Klein sollten sie werden und sich dessen bewusst. Die Vettern hatten in diesem Sommer schon viele Dummheiten begangen, doch diese übertraf sie alle. Saradoc wusste nicht, was ihn zorniger stimmte: die Tatsache, dass sie überhaupt geraucht hatten, oder dass sie die Dreistigkeit besessen hatte, seine Pfeife zu verwenden.
Das Schweigen, das die Kinder so erfolgreich aufrechterhielten, verärgerte ihn zusätzlich. Wortlos ging er zu seinem Schreibtisch, griff nach der Pfeife, die er dort abgelegt hatte und drehte sie in seinen Händen, ohne sich um das herausfallende, halb verkohlte Kraut zu kümmern. Sie hatten zuviel davon verwendet und es verwunderte ihn, dass sie überhaupt daran hatten ziehen können, ohne blau anzulaufen. Pippin hatte dafür gebüßt und Saradoc ertappte sich dabei, wie er sich wünschte, die anderen beiden würden sich ebenso elend fühlen, denn das, so fand er, war die beste Strafe für unerlaubtes Rauchen.
Beinahe krampfhaft umfasste er den Pfeifenkopf, als die Stille fast unerträglich wurde. Selbst jetzt, da er ihnen den Rücken zugewandt hatte, konnte er die Blicke der Jungen nicht auf sich spüren. Sie wussten genau um ihren Fehltritt, hatten von Anfang an darum gewusst und erwarteten nun ihre Strafe.
„Ist euch übel?“, fragte der Herr unvermittelt und wandte sich um.
Das war eine Strategie mit der sie nicht gerechnet hatten. Zwei Paar blaue Augen begegneten seinem Blick, fragend und unsicher. Ein zaghaftes Kopfschütteln folgt dem anderen, doch beider Ausdruck sprach von Schuld. Schuld an Pippins bedauernswertem Zustand. Saradoc nickte. So gefielen ihm seine Söhne besser. Anstatt eine Strafe über sich ergehen zu lassen, taten sie wohl daran, über ihr Handeln und dessen Folgen nachzudenken.
„Meriadoc!“ Der nachdrückliche Tonfall und der volle Name seines Sohnes verfehlten ihre Wirkung nicht. Merry nahm Haltung an, doch wich er seinem Blick aus. „Hast du die Pfeife genommen?“
Saradoc kannte die Antwort bereits. Es musste Merry gewesen sein, denn Frodo hätte nach den Ereignissen im Frühjahr nicht gewagt, sein Eigentum an sich zu nehmen und Peregrin wusste nicht um die Pfeife. Dennoch wollte er das Geständnis aus dem Mund seines Sohnes hören, wollte vielleicht auch seine Ehrlichkeit auf die Probe stellen.
Merry ließ sich mit der Antwort Zeit und hatte er zuvor gewagt, seinem Blick direkt zu begegnen, hielt er seinen Kopf nun gesenkt. Unter Saradocs Augen wurde er immer kleiner, doch schließlich hatte er den Mut und Anstand gesammelt, den der Herr ihn gelehrt hatte und mit dem letzten Bisschen Haltung, das ihm geblieben war, antwortete er: „Ja.“
Die Stimme war kaum mehr, als ein Wispern, doch Saradoc nickte. „Ich nehme nicht an, dass mir einer von euch erklären will, wie ihr dazu kommt, meine Pfeife zu stehlen?“
Der Herr konnte sehen, wie sich Frodo unter seinen Worten verkrampfte. Wie es schien war er nicht der Einzige, der gehofft hatte, der Junge würde nicht wieder mit schlimmeren Diebstählen, als einem verschwundenen Kuchenstück in Verbindung gebracht werden. Saradoc schüttelte kaum merklich den Kopf, die Enttäuschung, die er empfand, deutlich in seinen Augen. Er hatte gewusst, dass die Frage nach Pfeifenkraut früher oder später aufkommen würde, doch nicht in ihrem Alter, nicht mit Pippin an ihrer Seite und nicht auf diese Art und Weise.
Er erlaubte den beiden einen weiteren Augenblick, über eine Antwort nachzudenken, doch als keine kam, griff er sich mit den Fingern zwischen die Augen und seufzte. „Ihr könnt gehen.“
Noch länger zu warten, hätte keinen Sinn. Die Kinder wussten um ihre Missetat und hielten es nicht für notwendig, weiter darauf einzugehen. Einerseits teilte Saradoc ihr Empfinden, andererseits hätte er zumindest gerne eine Entschuldigung gehört.
Mit gesenkten Häuptern schlurften die Kinder zur Tür und erst als Merry nach dem Knauf griff, wurde Saradoc klar, dass es noch etwas zu besprechen gab, ein Thema, das er in den letzten Wochen und Monaten immer häufiger zu diskutieren hatte.
„Frodo“, der Angesprochene verkrampfte sich, „bleib bitte noch einen Augenblick hier.“
Merry warf seinem Vetter einen sorgenvollen Blick zu, der Saradoc nicht entging. Sein Sohn zögerte einen Augenblick, ehe er langsam aus dem Zimmer ging.
Das Geräusch mit dem die Tür ins Schloss fiel, hatte für Frodo etwas Schicksalhaftes. Reglos blieb er stehen, blickte wie mit blinden Augen auf das feinfaserige Holz der Tür. Im Stillen rief er seinen Vetter zurück, wusste er doch, dass nun folgen würde, was er bereits am frühen Nachmittag gefürchtet hatte: Zurechtweisung, Enttäuschung, der Verlust von Verantwortung. Er wollte nicht mit dem Herrn allein sein, nicht um das zu erblicken, was er so ungern in seinen Augen sah. Sein Herzschlag war ein schmerzhaftes Pochen in seiner Brust, seine Atmung ein schleichender Begleiter seiner Aufregung. Unbewusst ließ er seine Hände in den Hosentaschen verschwinden, auf dass sie seine Ruhelosigkeit nicht verrieten.
Er hörte das leise Zischen eines Zündholzes, als der Herr die Kerzen auf seinem Schreibtisch entzündete und seine Finger umschlossen die kleine Streichholzschachtel, die er seit dem Nachmittag mit sich trug. In gleichmäßigen Bewegungen ließ er sie über und zwischen seinen Fingern hindurch wandern. Er hörte Schritte, spannte seinen Körper an, bis ihm klar wurde, dass sie sich entfernten. Die Stille legte sich schwer auf seine Schultern und Frodo erlaubte sich, von ihr ergriffen zu werden, schloss die Augen.
Plötzlich sah er das Arbeitszimmer vor sich, sah sich selbst an der Tür stehen. Der ordentlich aufgeräumte Kamin lag zu seiner Rechten, daneben war das Gestell für die Zangen, darauf ein Bild von Esmeralda und Merry. Auf der dunklen Kommode lag ein gehäkeltes, weißes Deckchen. Eine blaue Tonvase mit roten Geranien stand darauf. Der Herr stand am Fenster, die Hände hinter dem Rücken, wo er sie in solchen Momenten immer verborgen hielt. Sein Blick war auf ihn gerichtet. Frodo konnte das Kribbeln an seinem Rücken spüren. Nur der bequeme, braune Ledersessel und der große Schreibtisch standen zwischen ihnen. Drei Kerzen flackerten auf dem Halter auf dem Tisch und auch wenn ihr Licht neben dem der roten Sonne kaum auffiel, würden sie bald allein die Dunkelheit vertreiben.
„Willst du nicht zu mir kommen?“
Frodo schreckte aus seiner Starre und riss die Augen auf. Er schluckte, schlurfte mit gesenktem Kopf und zaghaften Schritten auf den Schreibtisch zu. Der Herr sah ihn lange an, als hoffe er, er würde sprechen, und wieder breitete sich Schweigen aus. Mit einer Unruhe, die an Verzweiflung grenzte, bat Frodo, die Stille möge vorüber gehen, denn in ihr, so schien es ihm, fühlte er Saradocs Enttäuschung noch deutlicher.
Mit einem schweren Seufzten entfernte sich der Herr einige Schritte vom Fenster, blieb hinter seinem Schreibtisch stehen.
„Ich möchte ehrlich mit dir sein, Frodo“, sagte er schließlich. „Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. In den vergangenen Monaten warst du häufiger bei mir als jemals zuvor und vor allem in den letzten Wochen scheinen wir ein und dasselbe Gespräch immer wieder zu führen. Was ist nur los mit dir?“
Erwartungsvoll sah er auf den Jungen hinab, doch dieser begegnete seinem Blick nicht. Wie schon zuvor hüllte sich Frodo in Schweigen, bis er schließlich mit einem fast gleichgültigen Schulterzucken antwortete. Saradoc stutzte. Mit einer solch teilnahmslosen Antwort hatte er nicht gerechnet und es verärgerte ihn, dass der Junge seiner Bemerkung keinen Wert zumaß. Wütend schlug er mit den Händen auf den Tisch.
„Keine vier Wochen ist es her, dass wir über genau diese Art von Verantwortung gesprochen haben, wie du sie heute eben nicht bewiesen hast. Hörst du mir denn nicht zu, wenn ich mit dir spreche?!“
Frodo erschrak ob der plötzlichen Lautstärke, doch zuckte er weder zusammen, noch wich er zurück, als sich der Herr nach vor beugte. Er sah keinen Sinn darin. Ganz gleich, was er sagte, ganz gleich, was er tat, er würde Saradoc enttäuschen oder verärgern. Wozu sollte er erklären, dass er nicht wusste, weshalb er in letzter Zeit immer häufiger in diesem Arbeitszimmer stand, wo er am Ende doch nie Saradocs Stolz ernten konnte. Der Herr war niemals stolz auf ihn gewesen. Zorn und Ernüchterung waren alles, was er bei Merrys Vater hervorrief.
„Ich höre zu“, antwortete er leise und fand endlich den Mut, den Kopf zu heben und dem gespannten Blick des Schlossherrn zu begegnen.
Die ausdruckslosen Augen und die Abgestumpftheit in Frodos Stimme, ließen Saradoc an einen anderen Moment denken, da ihn der Junge, ebenso wie jetzt, überrascht und zugleich schockiert hatte. Es war zu Beginn des Monats gewesen, zwei Tage ehe Paladin abgereist war, dass ihm zu Ohren kam, wie Frodo Reginard mit seinem Verhalten zu einer Prügelei herausgefordert haben soll. Es erschien ihm unwahrscheinlich, dass ausgerechnet Frodo, der wusste, dass er dem Älteren unterlegen war, Reginard provozieren sollte, gehörte Reginard schließlich auch nicht zu den Schlägern. Andererseits war es im vergangenen Sommer schon einmal zu einer Auseinandersetzung gekommen und da Saradoc von mehreren Seiten das Gerücht um die stumme Kampfansage hörte, fing er Frodo eines Abends vor dem Essen ab und gab ihm den gut gemeinten Ratschlag, Jungen von Reginards Art nicht übermäßig zu reizen. Frodo hatte ihn daraufhin lange angesehen, ein Funken Trotz in den Augen, hatte schließlich gleichgültig mit den Schultern gezuckt und gemeint: „Das nächste Mal gewinne ich vielleicht.“
Es war weniger die Tatsache gewesen, dass Frodo so etwas glaubte, als die Art, wie er es gesagt hatte, die ihn schockierte. Es hatte beinahe so geklungen, als hätte es ihm nichts ausgemacht, verprügelt zu werden, und sei es nur, um sich selbst zu beweisen, dass er früher oder später vielleicht einmal die Kraft besaß, ebenso stark zurückzuschlagen, wenn er nicht vorher schon am Boden lag.
Saradoc verdrängte die Erinnerung, widmete sich stattdessen dem Jungen, der nun vor ihm stand. Tief Luft holend, schloss er für einen Moment die Augen. Unterhaltungen dieser Art ermüdeten ihn, vor allem, wenn das Gespräch so einseitig verlief. Mit neu gewonnener Ruhe richtete er sich wieder auf, sah fast betrübt auf seinen Schützling. „Was habe ich dir damals gesagt, Frodo?“
„Mehr Regeln, weniger Verantwortung“, wiederholte Frodo, was er bereits gefürchtet hatte und neigte den Kopf. Tränen traten ihm in die Augen bei dem Gedanken, das zu verlieren, wofür er eine Woche lang alles gegeben hatte, doch er blinzelte sie weg, ehe Saradoc sie hätte bemerken können. Er hatte gewusst, dass es falsch war, die Pfeife zu nehmen und hatte sich doch dazu verleiten lassen. Wie hatte er so dumm sein können? Frodo schalt sich selbst, während Saradoc ihm mit ruhigen Worten klar machte, dass er ihm mit seinem Verhalten keine andere Möglichkeit ließe, außer jener, die Drohung in die Tat umzusetzen. In seinen Hosentaschen ballten sich seine Hände zu zitternden Fäusten und Frodo begrüßte den Schmerz, den er empfand, als sich seine Nägel in sein Fleisch gruben. Es wäre soviel einfacher, wenn er seinen Zorn auf den Herrn hätte richten können, doch ihm konnte Frodo nicht böse sein, war es doch seine eigene Schuld, dass er verlor, was er lieb gewonnen hatte. Womöglich verdiente er eigene Verantwortung ebenso wenig wie Bilbos Liebe.
Der Gedanke versetzte ihm einen schmerzhaften Stich und er biss sich auf die Lippen, um seinen Kummer zu verbergen.
Erst vor kurzem hatte er einen Brief von seinem Onkel erhalten, der ihn wissen ließ, dass Bilbo an ihrem Geburtstag wieder keine Zeit fand, nach Bockland zu reisen. Einerseits bekümmerte ihn das, doch andererseits war Frodo erleichtert. So brauchte er keine Fröhlichkeit vorzutäuschen, und musste nicht verzweifelt um eine Liebe kämpfen, von der er nicht wusste, wie er sie zu seiner machen konnte. Konnte ihn denn niemand um seinetwillen lieben? Vermochte es keiner, stolz auf ihn zu sein?
„Frodo? Hörst du mir zu?“
Ein überraschtes Anspannen von Muskeln, ein Nicken, waren alles, was er als Antwort erhielt. Saradoc runzelte die Stirn, musterte den Jungen eingehend. Der Kummer des Kindes war deutlich spürbar und der Herr bereute fast, dass er so hart durchgriff. Er wusste um den Fleiß, die Anstrengung und die Überwindung, die es Frodo gekostet hatte, an sein Ziel zu gelangen und er hätte ihm gerne gelassen, was er sich redlich verdient hatte, doch so wie die Dinge im Augenblick liefen, konnte es nicht weitergehen. Trat eine Besserung ein, würde er Frodo seine Verantwortung sofort zurückgeben, doch vorübergehend mussten sie beide auf alte Gewohnheiten zurückgreifen.
Während er Frodo so betrachtete, verflog seine Verärgerung. Ein blassroter Schimmer lag auf den wohlgeformten Wangen. Lange, dunkle Wimpern an niedergeschlagenen Lidern verliehen ihm eine fast zerbrechliche Schönheit, doch da war noch etwas Anderes. Seine Züge sprachen von Leid, ein Schmerz, der ein solch junges Gesicht nicht zeichnen sollte.
Wieder stutzte Saradoc und runzelte die Stirn. Ihm war, als läge ein Schatten über Frodos Miene, einer, wie er ihn längere Zeit nicht mehr gesehen hatte. Einer, der nichts mit seiner Strafe zu tun hatte. Besorgt ging er in die Knie, legte seine Hände auf die Schultern des Jungen. Als hätte ein Pfeil ihn getroffen, spannten sich Frodos Muskeln an, doch er wich nicht zurück, sah ihn nicht an.
„Ist alles in Ordnung?“
Frodo nickte, ohne die Spannung seines Körpers zu lösen. „Kann ich jetzt gehen?“
Die Stimme gebrochen, kaum ein Wispern. Saradoc zögerte, doch als Frodo schließlich den Kopf hob und ihm in die Augen sah, war es an ihm, zu nicken. Der Junge würde seine Frage ebenso wenig beantworten, wie all die anderen, die an diesem Abend gestellt worden waren. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, wandte sich das Kind um und verließ den Raum.
Von seltsamer Sorge ergriffen, blickte Saradoc lange auf die geschlossene Tür, ehe er sich schließlich erhob. Was immer Frodos Verhalten auslöste, hatte nichts mit seiner Strafe zu tun, die er so gleichgültig angenommen hatte. Der Herr von Bockland schluckte und spürte, wie sein Herz schneller schlug. Diese Teilnahmslosigkeit passte nicht zu Frodo. Nachdem er so inbrünstig für sein neues Recht gekämpft hatte, wären Zorn, Widerworte und Schlimmeres zu erwarten gewesen und Saradoc behagte nicht, dass er nicht einmal einen funkelnden Blick von seinem Schützling geerntet hatte. Seine Sorge mochte unbegründet sein, doch er hatte Angst um Frodo. Er würde den Jungen im Auge behalten, vor allem jetzt, da der Halimath bald Einzug hielt.
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Soll ich euch ein Liedchen singen, Von der Liebe, von dem Wein? Soll es froh zum Herzen dringen Lasst mich singen vom Brandywein. Zwischen seinen gold'nen Reben, Auf des Bocklands sanften Höh'n, Da erwacht ein neues Leben, Am Brandywein, da singt sich's schön!
Während Frodo immer leiser wurde, betonte Merry die letzte Zeile des Liedes besonders stark, ehe sie sich ins Gras zurücklehnten und nach dem Korb mit den Pflaumen tasteten. Pippin kicherte und stopfte sich ebenfalls eine Pflaume in den Mund. Er kannte den Text nicht, doch die Melodie des Liedes war ihm nicht fremd. Sie wurde für viele Gesänge verwendet, nicht nur für das Loblied auf den Brandywein, das zweifelsohne von einem Brandybock geschrieben worden war. Keinem anderen Hobbit würde es einfallen, einen Fluss zu rühmen.
Ein sanfter Wind strich über den Hang, während einige Wolken ihre flüchtigen Schatten über das dunkle Wasser des Brandyweins und die Gestalten der Hobbits wandern ließen. Die Hobbits hatten sich an diesem warmen Nachmittag nördlich des Steges eingefunden, seit langem wieder einmal unbeobachtet. Nur ein Korb voller Pflaumen leistete ihnen Gesellschaft, doch auch dieser leerte sich rasch, während die Kerne des Obstes zu Wettbewerbszwecken überall auf dem Hügel verteilt lagen.
„Fertig?“, wollte Merry wissen und richtete sich auf. Pippin nickte und wartete, bis auch Frodo sich wieder aufsetzte. Einer nach dem anderen spuckte seinen Pflaumenkern in hohem Bogen den Hügel hinab, doch nur der des Ältesten landete mit einem leisen Platschen im Fluss. Frodo nickte zufrieden, während Merry staunend zum Fluss sah und Pippin ihm herausfordernde Blicke zuwarf. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen legte sich Frodo zurück ins Gras und schloss die Augen um nicht geblendet zu werden. Sanft strichen die Finger des Windes über sein Gesicht und er ließ sich von ihnen davon tragen. Enten, die sich im Gebüsch verborgen hielten, quakten und das gemächliche Gurgeln des Flusses klang in seinem Ohr als Merry die nächste Strophe des Liedes anstimmte.
Soll ich stark und feurig trinken, Muss ein Alter Wingert Wein Hell in den Pokalen blinken, Trinken will ich am Brandywein. Schon die Altbocks tanzten, tranken Auf des Bocklands sanften Höh’n, Bis sie still zu Boden sanken, Am Brandywein da trinkt sich's schön.
Merry kannte auch noch eine dritte Strophe, doch diese ersparte er seinem Vetter. Sie handelte von dem Wunsch, am Brandywein begraben zu werden, und würde unnötige Erinnerungen heraufbeschwören. Obwohl er bereits satt war, griff er nach der nächsten Pflaume, um damit eine weitere Runde ihres Kernweitspuckwettbewerbes einzuläuten.
Es war der erste Nachmittag, den sie fernab jeglicher Aufsicht verbrachten. Eineinhalb Wochen lang hatten sie morgens auf den Feldern arbeiten und abends lange vor dem Essen zu Hause sein müssen, nur um anschließend sofort auf ihre Zimmer zu gehen. Der Herr war dieses Mal sehr streng gewesen, hatte nach dem Gespräch mit Frodo auch Merry noch einmal zu sich kommen lassen und ihn, zusätzlich zur Feldarbeit, zu zwei Tagen Küchenarbeit verurteilt. Den Hobbits war dies eine Lehre gewesen. Sie versuchten, sich Saradocs Wünschen entsprechend zu benehmen, und gelang ihnen das nicht, achteten sie genau darauf, dass der Herr sie nicht erwischen konnte.
Entschlossen seinen Vetter dieses Mal zu schlagen, richtete sich Merry wieder auf. Pippin nickte als Zeichen, dass er für einen weiteren Versuch bereit war, doch Frodo blieb liegen.
„Frodo?“, verwundert sah Merry seinen Vetter an, doch dieser hielt die Augen geschlossen, einen abwesenden, undeutbaren Ausdruck im Gesicht. „Geht es dir nicht gut?“
Als erwache er aus einem Traum, öffnete Frodo die Augen, sah erst Merry an, dann Pippin. Er richtete sich auf, den Blick fragend zum Himmel gerichtet, ehe seine Augen zum Fluss wanderten.
Merry legte die Stirn in Falten und neigte den Kopf zur Seite.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er noch einmal, denn sein Vetter schien ihm seltsam verwirrt. Es hatte beinahe den Anschein, als würde Frodo den Fluss zum ersten Mal erblicken und doch lag etwas in seinen Augen, dass…
„Manchmal will ich einfach nur hier weg“, unterbrach Frodo seinen Gedankengang und seine Stimme klang wie die eines Fremden. Ein kalter Schauer lief Merry über den Rücken, denn die Worte standen in keinem Zusammenhang zu seiner Frage und doch wohnte ihnen eine durchdringende Bedeutung inne. Das Gras unter seinen Fingern fühlte sich plötzlich kühl an und der sanfte Windhauch machte ihn frösteln.
Pippin kicherte und spuckte seinen Pflaumenkern aus. „Aber nicht jetzt, nicht wahr?“
Angespannt beobachtete Merry, wie sich Frodo mit einem trockenen Lächeln zu seinem Vetter umwandte. „Nein, jetzt nicht.“
Pippin lachte zufrieden, doch Merry sah sich außerstande es ihm gleich zu tun. Er glaubte Frodo nicht, denn das Lächeln hatte seine Augen nicht erreicht.
„Manchmal will ich einfach nur hier weg.“
Die Worte hallten in Merrys Ohren wider, ließen ihn erschaudern. Frodo wollte ihn verlassen? Er wollte fort? Merry war froh, dass sein Vetter ihn nicht ansah, denn dieser hätte seine Unruhe gewiss bemerkt. Fast angstvoll blickte er zum Älteren und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Frodo war heute noch stiller als gewöhnlich, ließ sich noch häufiger zu Tagträumen verleiten als sonst. Der Klang seiner Stimme war nicht der eines Fremden, ebenso wenig, wie der Ausdruck in seinen Augen undeutbar war. Es waren Zeichen des Kummers, Zeugen des Schmerzes, den Frodo noch immer in sich trug. Nur wenn er sich an zwei erinnerte, fanden sich ihre Spuren in seinem Gesicht wider und keiner sah sie so häufig, wie Merry. Der Sohn des Herrn schluckte. Heute war ihr Todestag. Heute vor genau acht Jahren waren Primula und Drogo Beutlin ertrunken. Das war der Grund für Frodos Abwesenheit.
„Willst du deinen Kern auch wieder ausspucken oder hast du vor zu warten, bis er auf deiner Zunge verrottet?“
Pippin war es, der Merry mit seiner frechen Bemerkung aus seinen Gedanken schreckte. Scheinbar ausgelassen schnitt er dem Jüngeren eine Grimasse, ehe er den Pflaumkern, sehr zu Pippins Verdruss, bis in den Fluss spuckte. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch Frodo und er ertappte sich dabei, wie er sich immer wieder fragte, wie ernst sein Vetter seine Worte gemeint hatte. Wollte er wirklich fort von hier?
Der Nachmittag zog dahin und einzelne Wolken sammelten sich am Himmel. Frodo war es, der als Erstes zum Aufbruch riet. Zwar mussten sie nicht, wie in der letzten Woche, vor dem Abendessen zu Hause sein, doch er meinte, es wäre besser, zu früh zu erscheinen, um so gar nicht erst Gefahr zu laufen, den Herrn von Bockland zu verärgern. Merry gab seinem Vetter Recht, denn er hatte genug von Strafen und wollte seine neu gewonnene Freiheit nicht wieder verlieren. Pippin widersprach als Einziger. Der junge Tuk hatte die Wolken schon einige Zeit fasziniert beobachtet und jetzt, da sich die Sonnenstrahlen darin verfingen und sie sich rötlich färbten, wollte er sich nicht davon trennen.
„Schließlich kann ich die Sonne nicht jeden Abend hinter dem Fluss untergehen sehen“, meinte er. „Der einzige Bach, der sein Bett in der Nähe der Smials hat, liegt im Süden.“
Das stimmte die Vettern um und sie gewährten Pippin, wenn auch nur widerwillig, seinen Wunsch, den Sonnenuntergang zu beobachten.
Es war ein Spiel der Farben. Anfangs waren es nur dunkelblaue Wolken und weiße Sonnenstrahlen, doch diese färbten sich erst golden, dann orange und schließlich rot. Bald hatte es den Anschein, als würden die Bäume am anderen Ufer in Brand stehen und ihre Äste, von züngelnden Flammen umgeben, Hilfe suchend in den dunkler werdenden Himmel strecken. Der ganze Fluss schien zu brennen, denn was sich am Himmel abspielte, spiegelte sich im schimmernden Wasser. Staunend und mit leuchtenden Augen saßen die Hobbits im Gras und blickten nach Westen, zwei von ihnen verzaubert, der Dritte blind für die Schönheit des Abends.
Es war bereits dunkel, als die Vettern schließlich ihren Heimweg antraten. In der Ferne grollte Donner, kündigte ein unerwartetes Gewitter an, eines der letzten in diesem Sommer. Doch dies war nicht das einzige Unheil, das in dieser Nacht heraufziehen sollte.
Schicksalsjahre eines Hobbits
Anhänge und Namenregister
Da in der Zwischenzeit eine Vielzahl von Namen vorgekommen sind, habe ich mir gedacht, ich mache eine Liste davon und gebe das Alter mancher Hobbits im Verhältnis zu Frodo an. Manche der Personen sind bisher noch nicht namentlich erwähnt worden, doch habe ich sie dennoch in der Liste gelassen, damit man sich in etwa ein Bild machen kann, von Frodos engerem Umfeld.
Ebenso findet man hier Monatsnamen und einige andere Dinge, die man vielleicht wissen sollte.
Diclaimer:
Diese Geschichte ist eine Fanfiction, die von John Ronald Reuel Tolkiens unglaublicher Phantasie inspiriert wurde. Zwar ist die Geschichte meinen Gedanken entsprungen, ebenso wie viele der vorkommenden Charaktere, doch bleibt sie in ihrem Grundgeschehen Tolkiens Werken treu und ich erhebe keinen Anspruch auf Schauplätze und Figuren. Ebenso erhebe ich keinen Anspruch auf die Richtigkeit, der vorgenommenen Behandlungsmethoden bei Krankheitsfällen, der Zubereitung von Salbe und dergleichen. Ich habe diese Dinge zwar ebenfalls gründlich im Internet oder in Büchern recherchiert, jedoch kann ich auch hier nicht sicher sein, ob wirklich alles richtig ist.
Rating:
PG-13 aufgrund gelegentlicher heftiger Auseinandersetzungen, Angstzuständen und dergleichen. Sollte für einzelne Kapiteln aus diversen Gründen ein höheres Rating angebracht sein, werde ich dies durch eine Bemerkung am Kapitelanfang kennzeichnen.
Altersänderungen:
Frodo, Merry, Pippin und Sam sind in meiner Fanfiction etwa gleich alt. Das Ganze hat dazu geführt, dass ich auch das Alter einiger anderer Figuren etwas verändert habe, damit die Familienverhältnisse in etwa gleich bleiben. (ein Beispiel wären Pippins Schwester, die eigentlich jünger als Frodo wären, aber durch die Altersangleichung von Pippin nun älter sind als er)
Pippin ist dadurch in etwa 4-5 Jahre jünger als Frodo, Merry knappe 3 und Sam etwas mehr als 1 Jahr jünger.
Wie mir erst im Nachhinein auffiel, dürfte Frodo seine Großeltern Gorbadoc und Mirabella gar nicht kennen. Also habe ich mich entschlossen Rorimac und Menegilda (Merrys Großeltern) namentlich gar nicht zu erwähnen und das Jahr 1408 AZ (das Todesjahr von Rorimac) zu dem Todesjahr von Gorbadoc zu machen, um weitere Veränderungen beim Alter der Hobbits zu vermeiden.
Altersschlüssel:
Da Hobbits erst mit 33 volljährig werden, ist es notwendig einen Altersschlüssel einzusetzen, um auf das entsprechende "Menschenalter" zu kommen. Ich verwende den Altersschlüssel von etwa einem Drittel, das heißt, ich ziehe dem Hobbitalter etwa ein Drittel ab, um das entsprechende Alter eines Menschen zu errechnen. Ich gehe dabei davon aus, dass der Mensch mit 21 volljährig wird.
Hobbit |
Mensch |
10 |
6,5 |
12 |
7,5 |
20 |
13 |
25 |
16 |
30 |
19 |
33 |
21 |
40 |
25,5 |
50 |
32 |
60 |
38,5 |
70 |
45 |
80 |
51 |
90 |
58 |
100 |
64 |
Ortsnamen:
Eine neue Luxusausgabe der alten Carroux Übersetzung kam auf den Markt, streng limitiert auf 7.777 Exemplare. Tolkienexpertin Lisa Kuppler hat sich auch den Übersetzungsfehlern von Margaret Carroux angenommen. Soweit so gut. Allerdings blieben auch Ortsnamen von den Verbesserungen nicht unberührt. Aus "Brandy Hall" wird passender "Brandygut" oder später auch "Gut Brandy". Aber dies ist nur einer von mehreren Namen, die geändert wurden. Das Gebiet mit dem Namen "Das Luch" (orig. "The Yale") wurde in "Die Hugel" geändert, "Buckelstadt" (orig. "Tuckborough") heißt jetzt "Tuckbergen". (Quelle: www.herr-der-ringe-film.de)
Ich stehe diesen Verbesserungen mit gemischten Gefühlen gegenüber. Zum einen finde ich es gut, dass die Übersetzungsfehler behoben wurden - Margaret Carroux war schließlich auch nur ein Mensch - allerdings wäre es mir lieber gewesen, wenn Ortsnamen erhalten geblieben wären. Tuckbergen mag dem englischen Original ähnlicher sein, aber seit Jahrzehnten lebten die Tuks in Buckelstadt und wer die Luxuxausgabe nicht besitzt, wird seine Tuks auch weiterhin in Buckelstadt leben haben. Was den Namen Brandyschloss anbelangt, finde ich die Übersetzung überhaupt nicht gelungen. Ein Gutsherr ist der Herr von Bockland ohnehin und unter einem Gut kann ich mir auch keine Höhle für mehrere hundert Hobbits vorstellen.
Deshalb habe ich entschieden, mich an die "alten" Namen zu halten. Meine Hobbits wohnen weiterhin im Brandyschloss und in Buckelstadt. Ich halte mich an die Übersetzungen des Historischen Atlasses - mit der einen oder anderen kleinen Veränderung, nämlich dann, wenn Namen überhaupt nicht übersetzt wurden, wie "Standelf", das ich dank einer Quelle im Internet (die ich leider nicht mehr finden kann) bedeutungsgetreu ins deutsche "Steingbrube" geändert habe.
Monatsnamen: [Quelle: Herr der Ringe - Anhang D]
Nachjul Solmath Rethe Astron Thrimidge Vorlithe Nachlithe Wedmath Halimath Winterfilth Blothmath Vorjul
Namensregister:
(Alter in Klammern in Bezug auf Frodo's Alter, außer wenn anders angegeben)
einige Hobbits im Brandyschloss:
Frodos Großeltern: Gorbadoc Brandybock und Mirabella Tuk
Frodos Vetter Saradoc Brandybock, Esmeralda Tuk und deren Sohn Meriadoc (genannt: Merry; geboren 1371)
Frodos Vetter Merimac, seine Frau Adamanta und sein Sohn Berilac (geboren 1380)
Frodos Tante Amaranth, ihr Gatte Everard Pausbacken und deren Tochter Adaldrida (genannt: Drida; 30 Jahre)
Frodos Cousine Adaldrida und ihr Gatte Filibert (genannt: Bert) Bolger und deren Kinder Rumil (geboren 1376), Mungo (geboren 1378) und Gormadoc (geboren 1380)
Frodos Onkel Dodinas und Berylla und deren Kinder Orgulas und Belba (beide über 20 Jahre älter)
Frodos Vetter Orgulas Brandybock, seine Gattin Prisca und deren Kinder Lily (geboren 1377) und Togo (geboren 1387)
Frodos Onkel Dinodas und Donnamira (genannt: Donna) und deren Sohn Marmadoc (3 Jahre älter)
Frodos Onkel Saradas und seine Frau Prisca und deren Sohn Seredic (20 Jahre älter)
Frodos Vetter Seredic, seine Frau Hilda und seine Kinder Doderic (geboren 1389), Ilberic (geboren 1391) und Celandine (geboren 1394)
Frodos Tante Asphodel, ihr Gatte Rufus Lochner und deren Sohn Milo (21 Jahre älter)
Frodos Vetter Milo Lochner, seine Frau Päonie Beutlin und deren Kinder: Mosco (geboren 1387), Moro (geboren 1391), Myrtle (geboren 1393) und Minto (geboren 1396)
Hanna und Marmadas Brandybock und deren Kinder Merimas (geboren 1381), Minze (geboren 1383) und Melilot (geboren 1385)
Rosamunde, deren Gatte Willibert Pausbacken (jüngster Bruder von Everard) und deren Töchter Viola ( 2 Jahre jünger) und Rubinie (gleich alt)
Rancho und Linda Boffin, und ihr Sohn Marroc (9 Jahre älter)
Olo (Bruder von Rancho) und Pansy Boffin und deren Kinder Reginard (5 Jahre älter) und Nelke (knapp 1 Jahr älter)
andere Hobbits in und um Bockland:
Brüder Madoc (1 Jahr älter) und Minto Platschfuß (1 Jahr jünger)
Ilberic (8 Jahre älter; guter Freund von Marroc)
Sadoc (7 Jahre älter; guter Freund von Marroc)
Brüder Mungo (1 Jahr alter), Gregory (3 Jahre jünger)
Geschwister Donna (2 Jahre älter), Laura (gleich alt) und Linda (4 Jahre jünger)
Fastred Bolger (Heiler), seine Frau Calendula und deren Töchter Marigold (genannt: Mary; 13 Jahre älter) und Lily (10 Jahre älter)
Familie Maggot und deren Kinder Ferdinand (genannt: Ferdi; 3 Jahre jünger), Prisca (5 Jahre jünger), Belba (7 Jahre jünger), Linda (8 Jahre jünger), Tim (10 Jahre jünger), Tom (12 Jahre jünger) und Laura (13 Jahre jünger)
Togo und Mimosa Braunlock
Hobbits in Tukland und den Großen Smials:
Paladin und Heiderose Tuk, deren Kinder Peregrin (genannt Pippin; geboren 1374), Perle (10 Jahre älter), Pimpernel (6 Jahre älter) und Petunia (etwa gleich alt)
Adelard Tuk, seine Gattin Lila und deren Kinder Reginard (1 Jahr jünger), Asphodel (3 Jahre jünger), Päonie (7 Jahre jünger), Viola (9 Jahre jünger) und Everard (12 Jahre jünger)
Fred Hornbläser, seine Gattin Rosa und deren Sohn Hildibrand (14 Jahre älter)
Hobbits in Hobbingen/Wasserau:
Frodos Vetter Bilbo Beutlin
Bell und Hamfast (genannt: der Ohm) Gamdschie, deren Kinder Hamsen (14 Jahre älter), Halfred (10 Jahre älter) Margerite (7 Jahre älter), Maie (3 Jahre älter), Samweis (genannt: Sam; geboren 1370), Goldblume (4 Jahre jünger)
Lily und Tom Hüttinger, deren Kinder Tolman (genannt: Tom; 3 Jahre älter), Rosie (1 Jahr jünger), Wilkomm (genannt: Jupp; 1 Jahr jünger), Bogenman (genannt: Till; 3 Jahre jünger) und Carl (genannt: Nibbs; 6 Jahre jünger)
Gilly Beutlin (Witwe von Posco Beutlin) und ihre Kinder Ponto (22 Jahre älter), Porto (20 Jahre älter) und Päonie (18 Jahre älter; Gattin von Frodos Vetter Milo)
Frodos Tante Dora Beutlin
Frodos Onkel Dudo Beutlin, seine Gattin Maybell und deren Tochter Margerite (28 Jahre älter)
Griffo Boffin, Ehemann von Margerite Beutlin, deren Sohn Folco (4 Jahre jünger) und deren Tochter Arnika (15 Jahre jünger)
Bob Grünbühl, seine Gattin Camellia und deren Kinder Mungo (4 Jahre älter), Primrose (1 Jahr jünger), Rumil (6 Jahre jünger) und Gregory (10 Jahre jünger)
Odo Stolzfuß und sein Sohn Olo
Olo Stolzfuß, seine Gattin Salvia und deren Kinder Ivy (3 Jahre jünger) und Sancho (5 Jahre jünger)
Ted Sandigmann, seine Gattin Donna und deren Sohn Timm (2 Jahre älter)
Väterchen Zweifuß
Witwe Rumpel
Mungo Kleinbau, seine Gattin Belba und deren Söhne Tobi (1 Jahr älter) und Rudi (3 Jahre jünger)
Hugo Straffgürtel und seine Gattin Pansy
sonstige Hobbits
Odovacar und Rosamunde Bolger mit deren Kinder Fredegar (genannt: Dick; 2 Jahre jünger) und Estella (5 Jahre jünger)
Lobelia und Otho Sackheim-Beutlin und deren Sohn Lotho (genannt: Lotho Pickel; 4 Jahre älter)
Ponto und Lila Beutlin und deren Tochter Angelica (geboren 1381)
Berti Gruber, seine Frau Narzissa und deren Kinder Todd (15 Jahre älter),Ron (14 Jahre älter), Tim (3 Jahre älter) und Bonnie (gleich alt)
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